Die Regengeschichte - Erik Neutsch - E-Book

Die Regengeschichte E-Book

Erik Neutsch

0,0

Beschreibung

Nachdem der erfahrene Betriebsleiter der Chlorfabrik klammheimlich die DDR verlassen hat, wird der junge Wissenschaftler Dr. Bellmann, der keine Praxiserfahrung besitzt, an seine Stelle gesetzt. Nachdem ein Arbeiter durch eigenes Verschulden tödlich verunglückt, wiegelt Meister Kelle, der in der Fabrik alt geworden ist, seine Arbeiter gegen den jungen Chef auf und fordert mit einer Unterschriftenaktion seine Absetzung. Nur einer unterschreibt nicht. Josef Urbanczyk, dessen Rat der Betriebsleiter für eine bedeutende technische Verbesserung einholt, schämt sich später seiner Unterschrift. LESEPROBE: »Ist doch klar«, antwortete er, »die neue Betriebsleitung taugt nichts.« Die Arbeiter nickten. Manche, weil sie darauf schworen, was Kelle sagte. Sie schätzten ihn als erfahrenen Fachmann. Besonders bei den Älteren galt sein Wort. Sie kannten Heinrich Kelle noch aus der Zeit vor dem Kriege, als er wie sie einer Reparaturkolonne angehört hatte. Damals hatte er stets für zwei geschuftet. Die Jüngeren aber, die nach dem Kriege in die Elektrolyse gekommen waren, hatten sich angewöhnt, ihm nicht zu widersprechen. Sie ließen ihm seinen schnurrigen Willen. Manchmal war der Meister wegen Kleinigkeiten empfindlich und nachtragend. Günter Glück stieß Rauchringe vor sich her. »Der Neue hat sich noch nie sehen lassen.« Fenske ließ die Tabaksbüchse zuschnappen. »Auf der Straße hab ich ihn getroffen, sonntags. Gegrüßt hab ich ihn. Nicht einmal gedankt hat der.« Da tauchte Dr. Bellmann in den Gängen zwischen den Zellen auf. Er sah die Arbeiter in dichtem Knäuel an den Spinden stehen. In ihrer Mitte gewahrte er den Meister. Er wollte nicht mit ihm zusammentreffen. Jetzt nicht. Er stockte und wandte sich in eine andere Richtung, die ihn nicht an der Gruppe vorbeiführte. Alle hatten sie ihn entdeckt. Sie hefteten ihre Blicke auf seine schmale, junge Gestalt. Sie bemerkten auch, daß der Doktor rasch abbog. Sie sahen, wie er sich zusammenduckte und vor ihnen davonlief. An der Tür der Halle drehte er sich noch einmal um, verstohlen, wie geprügelt. Sie konnten sich das Gebaren Bellmanns nicht erklären. Der Pilenmann Fenske sagte: »Er will von uns nichts wissen. Wie anders war unser alter Betriebsleiter! Wenn da ein Chlorausbruch war, ging er zu jedem einzelnen und erkundigte sich nach der Gesundheit. Er gab auch jedem die Hand. Ganz glatte Finger hatte er, wie ein Fisch so glatt. Und der da... Der verduftet vor uns.« Irgend jemand sagte: »Wie wenn er was auf dem Kerbholz hat...«

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 85

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Erik Neutsch

Die Regengeschichte

ISBN 978-3-95655-000-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1960 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Auf Wunsch des Autors wurde nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt.

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorspann

Wir gehen zu Heinrich Kelle. Wir gehen auf Geheiß der Tagschichter aus dem Chlorbetrieb. Sie haben uns gebeten, Heinrich Kelle zu ihrem ersten Brigadeabend einzuladen.

Sie schicken Dr. Bellmann, den Betriebsleiter; Josef Urbanczyk, den Anlagefahrer; Fritz Klingbiel, den Nippeleingießer; Günter Glück, den Gewerkschaftsvertrauensmann. Die Mitglieder der Brigade sagten zu ihnen: Wir wollen Heinrich Kelle nicht vergessen; er gehört zu uns, trotz allem. Und sie schicken auch mich, den Parteijournalisten, der zur Zeit bei ihnen arbeitet. Zu mir sagten sie: Geh auch du mit; wenn die anderen ihn nicht überzeugen können, dann redest du.

Unsere Abordnung ist mit dem Omnibus hierhergefahren, hierher in das Städtchen, dessen einstmals rote Dächer wie die Lungen der Bergleute, die hier wohnen, jahrelang den Staub der Tagebaue geatmet haben und nun grau und schwarz aussehen, als litten auch sie an Silikose. Günter Glück führt uns; seit frühester Kindheit kennt er Heinrich Kelle; er wohnt nur zwei Häuser von ihm entfernt. Fritz Klingbiel, breit und dickbäuchig, hat sogar ausnahmsweise sein faltiges Gesicht ausrasiert. Das tut er sonst nur dreimal im Jahr, zum Ersten Mai, zum Tag der Republik und zu seinem Geburtstag. In der übrigen Zeit läßt er unbekümmert die Stoppeln wachsen und schneidet sie nur sonntags mit der Schere ab. Sein Gesicht wurde daher von der plötzlichen Wohltat mächtig erschreckt. Es hat sich über und über mit Schrunden und Kratzern bedeckt, als habe sich eine Katze mit ihm herumgebalgt. Er aber hält es uns stolz entgegen, als wollte er sagen: Seht her, für den Auftrag der Brigade scheue ich nicht die blutigsten Opfer.

Aus zweierlei Gründen wollen die Tagschichter des Chlorbetriebes ihren Brigadeabend feiern. Vor Wochen haben sie sich zusammengeschlossen, um fortan gemeinsam sozialistisch zu arbeiten, zu lernen und zu leben. Und vor einigen Stunden erst wurde die neue Großraumzelle angefahren, das erste Ergebnis gemeinsamer Forschungen von Chemiearbeitern, Schlossern, Elektrikern, Meistern, Konstrukteuren und Chemikern.

Die neue Zelle wurde ganz hinten in der weiten Elektrolysehalle aufgebaut, sie überragt wohl über einen guten halben Meter die anderen, nunmehr herkömmlichen Bäder. Ihren Vorfahren ist sie in allem überlegen, sie verfügt über eine doppelt so hohe Stromstärke, ihre einzelnen Glieder sind breiter, wuchtiger, sie schluckt die doppelte Menge an Salzlösung, und natürlich stößt sie auch die doppelte Produktion aus. Der chemische Prozeß freilich vollzieht sich in ihrem Innern wie in all den anderen Zellen, wie diese hat sie ebenfalls die Form einer langgestreckten Zigarrenkiste. Über den Boden gleitet das Quecksilber, das von einem zentnerschweren Motor durch die Wanne gepumpt wird, sich an einem Ende des Bades sammelt, von dort durch eine schmale, verschlossene Rinne, die die Arbeiter Pile nennen, zurückfließt, gereinigt wird und von neuem seinen Kreislauf beginnt. Unterhalb des mächtigen Deckels, der mit fingerdicken Schrauben auf der Wanne befestigt ist, hängen die Graphitplatten. Durch Zufuhr elektrischer Energie wird das Quecksilber zur Kathode und das Graphit oder die Kohle zur Anode. Ein gesonderter Kanal beschickt die Zelle mit Kochsalz, das zuvor in Wasser gelöst wurde. Zwischen Anode und Kathode wird diese Lösung nunmehr elektrolytisch zersetzt, und es entstehen Natronlauge, Wasserstoff und Chlor, sämtlich für die verarbeitende chemische Industrie unentbehrliche Grundstoffe, die in langen Rohren abgeleitet werden.

In diesem Betrieb war Heinrich Kelle einmal Meister, geachtet und gefürchtet zugleich, wie ich erfuhr, bis zur Stunde seiner Niederlage. Jetzt lebt er als Rentner in einem verräucherten Häuschen, einsam und still, wie uns Glück berichtete.

Josef Urbanczyk klopft an die Scheibe, dreimal zaghaft.

»Nicht dort«, sagt Glück. »Das ist die gute Stube. Er wird in der Küche sitzen. Das Fenster daneben.«

Urbanczyk klopft ein zweites Mal, härter.

Wir hören einen Stuhl im Zimmer schurren. Eine knochige Hand verschiebt die Gardine. Hinter dem Glas erscheint ein altes, verhutzeltes Gesicht. Es hat einen Bart, fein gezwirbelt, und Augen, müde in den Höhlen. Ich sehe den Doktor an. Er räuspert sich verlegen. Fritz Klingbiel streicht sich über das glattrasierte Kinn. Das Gesicht hinter der Scheibe ist starr. Die Hand an der Gardine zittert. Urbanczyk macht Zeichen. Der Mann soll das Fenster öffnen. Doch er rührt sich nicht. Die Augen mustern mißtrauisch Klingbiel, den Doktor, Urbanczyk und Glück. Allmählich scheinen sie die Situation zu erfassen. Ihr Blick ist mehr erstaunt als müde. Die Gardine fällt wieder zurück.

Wir warten. Wir stehen ungewiß. Jemand sagt: »Alt ist er geworden. ..« Der Doktor flüstert wie zu sich selbst: »Ich glaube, wir sind umsonst gekommen.«

Doch da vernehmen wir schlurfende Schritte. Die Hoftür wird aufgeriegelt. Heinrich Kelle tritt heraus, krumm, gebeugt.

»Mensch, Heinrich«, sagt Urbanczyk. »Du hast dich kaum verändert...« Seine Stimme soll fröhlich klingen. Aber ich kenne Urbanczyks Stimme und weiß, daß er ihr die Ungezwungenheit aufzwingt.

»Wollt ihr ins Haus?« fragt Kelle gurgelnd, als sei ihm die Kehle zugeschnürt.

»Uns schickt die Brigade«, sagt Urbanczyk.

»Die Brigade?«

»Wir wollen Sie einladen, Meister, zum Brigadeabend...«, flötet Glück und tritt von einem Bein auf das andere.

»Bei uns hat sich vieles verändert, Herr Kelle«, erklärt der Doktor. »Sie sollten sich einmal ansehen, was wir in sozialistischer Gemeinschaftsarbeit geschafft haben, die neue Großraumzelle zum Beispiel...«

Der Meister murmelt: »Ich hab schon in der Zeitung gelesen. Und immer nachgegrübelt darüber...«

Nur Klingbiel schweigt. Aber er reicht Kelle die Hand hin. Kelle zögert, schluckt laut, dann schlägt er ein. Schwere Tropfen schwimmen über seine vertrockneten Wangen. Die beiden söhnen sich aus.

Doch jetzt muß ich wohl erzählen, wie die sozialistische Arbeitsgemeinschaft im Chlorbetrieb des Kombinats ihren Anfang nahm, damals, neunzehnhundertsiebenundfünfzig.

1. Kapitel

Draußen rauschte der Regen.

»Je älter, desto dümmer«, schimpfte Anna, Urbanczyks Frau, und rieb mit einem Frottiertuch Josefs dünne Haarzupfen trocken. Die Bluse zitterte über dem Fleisch ihrer sonnverbrannten, ziegelroten Arme. »Hockt sich in den Regen und läßt sich durchweichen.«

Josef knurrte unter dem Handtuch.

»Holst dir ’ne Lungenentzündung an den Hals. Bei der Jahreszeit und dem Alter. Und wer hat den Trasch wieder? Brustwickel machen und Mehlsuppen kochen?«

Josef hob den Zipfel des Tuches hoch. »Der Fenske hat gesagt, der Angler, weißt du, du kennst ihn doch... Der hat gesagt, so ein Landregen geht über die Erdbeeren her. Sie werden schon moschig, wenn sie noch grün sind, die Erdbeeren, hat er gesagt...«

»Der Fenske, der... Und deine Erdbeeren...« Anna knetete noch derber Josefs Kopfhaut.

»Auauau!« schrie Josef. »Du reißt mir am Ende noch den Kopf ab. Alte.«

Anna breitete das Handtuch am Herd zum Trocknen aus und warf Josef ein frisches Hemd zu. »Da«, sagte sie, »zieh über!«

Josef kroch in das Hemd. »Der Fenske hat gesagt, bei so einem Landregen soll man die Erdbeeren mit Draht abstützen. Mit kleinen Drahtresten, hat er gesagt. Dann liegen sie nicht auf der Erde und werden nicht moschig.«

»Was die Erdbeeren damit zu tun haben, daß du dich in den Regen setzt.«

»Bist du aber auch schwer von Begriff. Nach den Erdbeeren wollt ich mal sehen, ob sie schon moschen, wie der Fenske gesagt hat. So ein Landregen, hat doch der Fenske gesagt...« Josef stak im Hemd und ruderte mit den Ärmeln in der Luft. Er mühte sich vergeblich, seinen Schädel durch die Halsöffnung zu zwängen. Er hatte vergessen, den Hemdkragen aufzuknöpfen. »Knöpf doch bloß nicht immer die Hemden bis obenhin zu.«

»Mach mir noch Vorwürfe! Bin ich schuld, daß du pitschnaß bist?« prustete Anna und stemmte die Fäuste auf die Fettpolster ihrer breiten Hüften. »Bei den Erdbeeren bist du ja auch nicht gewesen. Hast im Hof vor der Abflußrinne gehockt.«

»Das verstehst du nicht, Anna«, kam es aus dem Hemd.

»Ach, versteh ich nicht. Daß in der Rinne auf dem Hof keine Erdbeeren wachsen, versteh ich.«

Josef hatte endlich das Hemd an. Er angelte nach seinen Hosenträgern, sie baumelten ihm in die Kniekehlen. »Ich hab so meine Gedanken dabei. Das Wasser fließt da wie in den Bädern. Wie die Salzlösung über dem Quecksilber fließt das Wasser da.«

»Erdbeeren... Salzlösung... Da soll sich noch wer auskennen. Sag mal, warum hast du dich denn nun wirklich in den Regen gesetzt?«

»Nur so... Ich wollte mal zu den Erdbeeren gucken. Und da hab ich den Regen in der Rinne fließen sehen. Und da ist mir der Gedanke an das Salz in den Bädern gekommen ...«

»Und da hab ich mich hingehockt. Und da hab ich mich durchweichen lassen...«, äffte Anna ihn nach, schüttelte den Kopf und fiepste mit der Zunge.

»Mach dich nur lustig«, brummte Josef und harkte mit einem zahnkranken Kamm durch sein schütteres Haar.

»Soll ich nicht, wo ich immer noch nicht weiß, warum du dich hast vollregnen lassen? Wegen der Erdbeeren nun oder wegen dem Salz?«

Josef schob die Gardine zurück und drückte seine lange Nase gegen die Fensterscheibe. Der Regen sprühte gegen das Glas und rann in die Ritzen der Holzrahmen. Die Tropfen hingen an den Dachziegeln, an den Blattspitzen und zitterten silbrig, bevor sie herunterfielen. Wenn der Wind Schauer in den Hof trieb, wirbelten die Wasserspritzer auf den Scheiben wie auf Trommeln.

»Wegen der Erdbeeren nicht und wegen dem Salz, nicht. Wegen... weil der Betriebsleiter abgehauen ist...«

Anna stellte krachend einen Topf auf die Herdplatte.

»Abgehauen ist der? Wohin ist der denn abgehauen?«

»Nach dem Westen. Wohin denn sonst...«

»Wohin denn sonst... Als ob jeder nur immer dorthin laufen muß, wo es Abend ist. Unsereins rennt doch auch nicht nach dem Westen.«

»Unsereins ist auch kein Doktor.« Josef blickte wieder auf den Regen, der den Abfluß im Hof entlangrann.

»Und da hast du dich wegen der Erdbeeren nicht und wegen dem Salz nicht durchweichen lassen, sondern wegen dem Doktor.«

»Du fragst mir ein Loch in den Bauch. Zu den Erdbeeren wollte ich gucken, ob sie schon moschig sind, wie der Fenske gesagt hat. Und da muß ich ja wohl über den Hof, an der Abflußrinne vorbei, nicht? Wie ich das Wasser dort hab so rieseln sehen, dachte ich so an die Salzlösung in den Bädern, wie sie über dem Quecksilber läuft. Und da hab ich mich hingesetzt in den Regen und mal den Lauf beobachtet. Dabei ist mir dann eine Idee gekommen, ganz plötzlich, nicht? Wie man nämlich die Anodeplatten in den Zellen legen müßte. Weil es doch weitergehen muß bei uns, wenn der Betriebsleiter abgehauen ist... Und dabei bin ich durchgeweicht, und darum machst du nun solch einen Heidenlärm...«

2. Kapitel

Die Luft färbte sich grün. Dichter grüner Nebel stand vor den Fenstern der hinteren Hallenwand. Die Sonnenstrahlen trieben plötzlich milchiggrüne Schwaden vor sich her.

Ein Wehrdeckel polterte von seinem Sitz. Kochende Salzlösung schwappte aus den hinteren Elektrolysezellen. Auf dem Zementfußboden schwammen dampfende Lachen.

Ein beißender, ätzender Gestank schwoll auf. Er drängte sich in jede Ecke der weiten Halle. Er steckte in den Nebelwänden. Er pfiff aus den Glastüten auf den Baddeckeln. Er würgte erstickend die Lungen.

Jemand schrie: »Chlooor!« Sein Warnruf ging unter in quälendem Husten.