Die anderen und ich - Erik Neutsch - E-Book

Die anderen und ich E-Book

Erik Neutsch

0,0

Beschreibung

Nora S. hat Einspruch erhoben. Sie besteht darauf, sie selbst zu sein und jedenfalls nicht so, wie dieser und jener sie gern haben möchte, die Betriebsleitung und BGL eingeschlossen — Nora S. hat eine Erfindung gemacht, die den Leuten nicht ins Konzept passt, und sie fordert nichts, was ihr nicht ohnehin zustünde: Ihr Recht auf Arbeit. Aber gerade da werden die Probleme sichtbar. Ferner ist ein Mädchen verschwunden, Oberschülerin, Tochter eines Straßenbahnfahrers - Brüdering lässt dieses Mädchen suchen. Dabei sollte man meinen, dass ein Oberbürgermeister andere Sorgen hat in diesen drei Tagen unseres Lebens: Konz ist gekommen, der neue Parteisekretär. Er will durchsetzen, was der OB für undurchführbar hält: Schneisen hauen quer durch die Stadt, die in Jahrhunderten gewachsen ist und angefüllt mit Menschenschicksalen, Verkehrsadern schlagen quer durch Häuser und Wohnungen und Plätze. Eine Stadt ist kein Wald. Man kann nicht mit einem Federstrich ausstreichen, was Generationen geschaffen haben. Gibt es einen anderen Weg als den der Feindschaft zwischen den Genossen Brüdering und Konz? Und dann fragt sich einer, was die wahren Geschichten hierzulande sind. LESEPROBE: Ich klopfte mir den Staub von der Hose und fragte: »Sag mal, kennst du nicht Sigrid Seidensticker, das Mädchen aus der Zwölf b? Seit Donnerstag ist sie verschwunden. Hast du keine Ahnung, wo sie sein könnte?« Er starrte mich an. Ein schwer zu deutender Blick. Argwohn oder Betroffenheit. »Sie soll einen Freund gehabt haben. Parallelklasse...« »Wenn Sie mich damit meinen... Ja, das stimmt. Vor drei Wochen aber war Schluß. Hab eine andere jetzt, eine, die nicht gleich ans Heiraten denkt. Faxen sind das. Oder nicht?« Er schwieg und trommelte, ob aus Verlegenheit oder aus Gleichgültigkeit, mit den Fingern auf seinen Helm. Ich aber erschrak. Das hatte ich nicht vermutet, nicht, daß Gerhard das Söhnchen von einem Arzt oder einem Direktor oder was sonst aus einer verwöhnten Familie war. Ich erschrak und fand so schnell keine Entgegnung. Plötzlich sprach Konz. »Sie vernaschen die Mädchen wie andre zum Tee den Würfelzucker, was?« Gerhard grinste. »Und fühlen sich stark dabei, kommen sich vor wie ein Held.« »Na ja... Ich kann’s mir doch nicht durch die Rippen schwitzen.« Konz, bis dahin mit einer betont überlegten Ruhe, wurde wütend. Zum ersten Mal sah ich ihn wütend. Die Adern auf seiner Stirn schwollen an, seine Ohren röteten sich und seine Augen schienen jetzt heller.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 228

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Erik Neutsch

Die anderen und ich

ISBN 978-3-86394-741-5 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1970 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Auf Wunsch des Autors wurde nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt.

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Die anderen und ich

Jukker. Soll das Jukker sein? Nach zwanzig Jahren bekäme man wieder was zu Gesicht von ihm, ein J. U. K. wie damals in einer Zeitung. Wir nannten ihn daraufhin Jukker. Oder Jucker. Ich habe das Wort nie geschrieben gesehen, bis zu diesem Augenblick jedenfalls nicht, da ich es selbst niederschreibe. J.U.K. Jürgen Ulrich Kauffmann.

Ob Arno, der vor meinem Fenster den Kalk mischt und karrt, weiß, ahnt, sich Gedanken darüber machen würde, wenn er wüßte, wer, besser: was Jukker ist? Worin das Problem bei Jukker besteht? Natürlich nicht. Neulich fragte er mich, ob ich mir denken könne, warum er säuft. Nein. Saufen ist dumm, sagte ich, wiederholte die Sprüche Sonjas, Saufen macht immer dümmer. Geh lieber schwimmen oder wenigstens angeln. Leb gesund. Isch will meine Frau loschwerden, sagte er. Gründe gibt’s. Die anderen treiben ihn mit lauten Zurufen an. Du hast den Kalk nicht richtig gemischt. Eine Plempe. Du hast wieder zuviel gesoffen. Deshalb ist uns die Mauer abgesackt. Nun flucht er.

Also: Jukker. Sie waren alle von uns umgetauft worden. Der Direktor hieß Kater, der Lateinlehrer Piccard, der Mathematiklehrer Metze. Oder war das sein richtiger Name? Er verschwand als erster, kurz nach unserem Abitur, aber das störte mich nicht, er hatte ohnehin nur Zahlen im Kopfe gehabt, andauernd die Preise verglichen, ich nahm es zur Kenntnis wie den selbstverständlichen Wechsel von Tag und Nacht. Eines Tages kam Jukker in die Toilette für Jungen, sah uns rauchen, klappte den Deckel eines silbernen Etuis mit mächtigem Monogramm darauf auf, J. U. K., stellte sich hinzu, rauchte und sagte: Warum versteckt ihr euch hier? Machen wir FDJ-Versammlung, machen wir einen Beschluß über das Rauchen, dafür oder dagegen. Wir beschlossen, über die Gegenstimmen unserer paar blassen Mädchen hinweg, in Zukunft ab elfte Klasse auf dem Schulhof zu rauchen, uns nicht mehr ins Pissoir zu verkriechen, eine Zigarette soll nach der Denkarbeit eine Erholung sein. Die Stadt hatte zwar ihr Gesprächsthema, das soll nun die neue Erziehung sein, sagten die Leute, die kurz vor dem Zaun auf die Straßenbahn warteten, aber wir gingen seitdem für Jukker durchs Feuer, diejenigen jedenfalls, denen zum ersten Mal gelungen war, einen FDJ-Beschluß zur Verhaltensnorm an dem altehrwürdigen Gymnasium zu machen. Die Wände schienen zu wackeln.

In einer der nächsten Stunden sagte ich ihm: Das ist doch ganz egal, wie die Wirklichkeit ist, wie der Flieder zum Beispiel blüht. Lila ist sowieso keine Farbe. Wenn ich ihn male, mal ich ihn blau, himmelblau, und den Himmel dahinter, steht mir der Sinn danach, grün. Kunst kommt von innen heraus, nicht von außen. Er lachte sich halbkrank, ging vor den Bänken auf und ab, die wir in seinem Unterricht stets zu einem Halbkreis formierten, und hielt uns einen Vortrag über Erkenntnistheorie. Es war das erste Mal, daß ich darüber etwas erfuhr, Marx und Engels, Hegel und Kant und wieso das ein dialektischer Umschlag von einer alten Qualität in eine neue sei, wenn das Wasser bei hundert Grad Celsius zu verdampfen beginnt. Ich sagte es später dem Physiklehrer, machte mich trotz der warnenden Rippenstöße von Hans-Helmut Kassbaum, Sonjas Bruder, zum Sprecher Jukkers, stritt mich, erhielt daraufhin eine Vier, denn der Physiklehrer sah meine Aufklärungsattacke nicht ein und antwortete: Quatsch, das ist Physik, und unterlassen Sie gefälligst Ihre politischen Extratouren, wenigstens in der schönen Natur exakter Wissenschaften.

Da saß ich nun da mit dickem Kopf, Physik war nicht mein Paradefach, ich benötigte darin dringend eine Aufbesserung meiner Zensuren, ärgerte mich über den Reinfall und sann nach über Jukker, wohl nicht anders als jetzt, allerdings damals ohne den Abstand von zwanzig Jahren und auch nicht vor einem Fenster, durch das der Flieder duftet, der himmelblaue natürlich. Ich starre auf dieses J. U. K., denk mir mein Teil und höre die Maurer fluchen, Hannes und Arno, Erich und Paul, die eine fünfzöllige Wand, die gestern eingestürzt ist, wieder aufzubauen versuchen, diesmal jedoch im Zehnerzoll. Sieh mal, sagt Erich, im Keller die Schwalben.

Soeben war Kassbaum bei mir. Er warf mir die Zeitung vom letzten Sonnabend, in der eine Reportage von mir veröffentlicht ist, auf den Tisch und sprach — Kassbaum spricht immer —, sprach: Drei Telefonanrufe, sechs Briefe, alles Proteste, einer sogar eigenhändig von deinem Helden darunter... Von ihm ? Glaub ich dir nicht. Zeig her. Hab ihn leider vergessen. Und wennschon. War denn vonnöten, daß du von Stepan schreibst, er habe dem Donnergott auf die Hände treten wollen? Vonnöten? Laß deine Stilallüren. Auf die Hände, Menschenskind, in den Hintern vielleicht, ja, aber nicht auf die Hände, auf die Arbeitssymbole... Ich sah ihn entmutigt oder so ähnlich an; wehrte mich: Die Handarbeit wird nach und nach abgeschafft. Er lächelte überlegen: Das wird ohnehin nicht gedruckt. Nicht gedruckt? Ja. Und dann legte er noch die andere Zeitung hinzu, die mit dem J. U. K. auf einer der Innenseiten, und sagte: Hier, ich hab dir was mitgebracht. Erinnerst du dich noch an Jukker? Lies mal. Das ist aus ihm geworden. Jukker interessiert mich jetzt einen Dreck, Helmut. Fest steht jedenfalls, Stepan wollte dem Mann nicht nur auf die Hände treten. Er hat’s getan, begreifst du, er tat es. Versetz dich doch mal in seine Lage. Kassbaum schüttelte den Kopf, hob die Augen zur Decke, stöhnte. Unverbesserlich. Deine Sturheit. Der Flieder ist himmelblau, wenn du es willst.

Reiner Stepan ist sozusagen der Held der Reportage, einer, den man einen Schrittmacher nennen könnte, Parteimitglied, Hundertschaftskommandeur, Meister inzwischen, ein Kerl wie ein Kleiderschrank. So steht’s in der Zeitung vom Sonnabend, geschrieben von mir, auch mit dem Klischee am Ende, das ich natürlich ändern werde, bevor meine Reportage in den Druck geht, streichen, einfach weglassen, streichen, und dann steht darin noch: Als sich der Donnergott vor ihm hinkniete, ihm mit ein paar Handgriffen zeigte, wie man die doppelte Menge Stahlplatten in derselben Zeit, die man früher zum Schweißen brauchte, mit dem neuartigen Stoff kleben konnte, schoß Stepan das Blut unter die Haut, und er dachte im ersten Augenblick: Tritt zu, tritt ihm auf die Hände, er vermiest dir dein Ansehen bei sämtlichen Schweißern.

Das war doch schöngefärbt, so schön wie Jukker die Welt gefärbt hatte, die Welt, die nun nicht mehr die seine ist.

Paul, hör ich von draußen, sagt: Mal sehn, wer wohl früher fertig ist, Hannes, die Schwalben mit ihrem Nest oder wir. Und Hannes beschimpft wieder Arno: Deine ewige Sauferei, ich hau dir die Flaschen ins Kreuz, wenn du uns wieder die Mischung verdirbst.

Ich weiß, daß die Schwalben vorgestern im Keller zu bauen begonnen haben. Ich sah ihre roten Kehlen, ihre steilen Flüge, das Flattern und Schnäbeln, die Kopula. Und dann stürzten sie sich von den hohen Bäumen herab auf die Erde und sammelten Stroh ein. Ich schlich ihnen nach. Die ersten Halme klebten bereits an der Wand. Doch wo sie die Nacht verbringen, sagte ich Sonja, weiß ich nicht.

Auch Jukker ist für mich ein Problem. Wir, Kassbaum und ich und die anderen, hatten dergleichen, einen wie ihn, noch nicht erlebt. Der alte Geschichtslehrer war abgelöst worden, ein Jahr vor unserem Abitur, und ihm folgte Jukker. Lehrbücher hatten wir keine, die alten waren eingestampft worden, die neuen noch nicht gedruckt. Jukker legte Broschüren mit roten Umschlägen auf den Tisch, dazu einen Packen Zettel mit Daten und Stichpunkten und später, als er regelmäßig unter dem Zeichen J. U. K. in der Zeitung veröffentlichte, auch seine Artikel, »Lehrbriefe über dialektischen und historischen Materialismus«. Nun los, ihr Analphabeten, was den Marxismus betrifft, nun studiert mal. Das Kommunistische Manifest, aus seiner Privatbibliothek, ging von Hand zu Hand. Manche lasen es nur, um sich nicht die Zensur zu verderben, wir jedoch nicht, Kassbaum nicht, ich nicht. Wir drei, Jukker und er und ich, bildeten bald die engere Leitung, das Triumvirat der FDJ an der Schule, ließen uns wählen, keinen anderen, Jukker schaffte auch das, im Kollegium, bei den Schülern. Er redete, ließ andere reden, redete wieder, niemand war ihm gewachsen. Dank seiner Geschicklichkeit waren wir ein gut funktionierendes Parlament. Er ließ sogar abstimmen, wußte aber genau, glaube ich heute, wann er es wagen konnte, denn nie vereinigte er so viele Stimmen gegen sich, als nötig gewesen wären, einen Vorschlag oder gar einen Beschluß, den er durchsetzen wollte, zu verhindern. Anschließend nahm er uns beide dann in die Lehre und erklärte: Es gehe um die Frage Wer — wen? auch an unserer Penne, und wir lassen uns nicht die Macht nehmen von Leuten, die unwissend sind, die nicht einmal die exakte Wissenschaft vom Klassenkampf in Deutschland begriffen haben. Wer — wen? Seit Thomas Müntzer. Auch das leuchtete uns ein. Engels’ Bauernkrieg zählte inzwischen ebenfalls zu unserer Lektüre. Das Buch steht noch in meinem Schrank, das Eigentum Jukkers, ich hab es ihm nie zurückgegeben.

So wurden wir klüger. Zeitiger schon als Männer wie Stepan. Das verdanke ich Jukker.

Stepan muß noch reichlich unwissend gewesen sein, als er dem Donnergott auf die Hände trat, ja, das ist die Wahrheit, er hat es nicht nur gedacht, er hat es getan, er trat, und ich habe es nur verschwiegen, hab es zurückgenommen, versimpelt in dies: Schoß Stepan das Blut unter die Haut, und er dachte im ersten Augenblick: Tritt zu. Und warum nahm ich’s zurück? Hatte ich schon einkalkuliert: Es wird nicht gedruckt? Als Stepan das dachte, nein, als er es tat, schrieben wir noch das Jahr neunzehnhundertundsechzig. Da kam der Donnergott auf ihn zu, ein Parteiinstrukteur, den sie genauso umgetauft hatten wie wir damals unsere Lehrer. Es war im Walzwerk, wo Stepan heute Meister ist, Hundertschaftskommandeur, doch das spielt keine Rolle — nicht: welche Funktion hat einer, sondern: was für ein Mensch ist der Mensch—, wo Stepan heute die Stahlplatten nicht mehr schweißt, sondern klebt, Stepan, ein Kerl wie ein Kleiderschrank.

Doch ist eine solche Metapher bereits ein Klischee? Und geht es denn nur um eine Metapher? Neulich erhielt ich Besuch von der anderen Seite, und der Kollege, nicht ohne zuvor zu beteuern, daß er uns mag und daß er ein Linker sei, sagte, unsere Bücher läsen sich zwar ganz gut, steckten leider jedoch voller Klischees. Also: Was ist ein Klischee? Der Satz, die Wortstellung oder das Wort? Muß ich die Genitivreihe erfinden oder den Blickwinkel eines Zwerges oder den interpunktionslosen Absatz, wenn ich nicht als hausbacken oder gar konventionell gelten will? Soll ich beim Schreiben dem Leben zuwiderhandeln? Soll ich dem Menschen gar die Perspektive entziehen, die ihm unsre Gesellschaft bietet? Muß ich mich unverständlich machen, um besser verstanden zu werden? Doch von wem? Wer von wem? Es gibt Leute, die entwerfen zwar jedes Jahr eine neue Mode, Literatur zu tragen, aber mit jedem neumodischen Kram beschreiben sie immer dasselbe, das, was man seit hundert Jahren schon kennt, die Vereinsamung des Menschen, die Undurchschaubarkeit der Gesellschaft, in der sie leben, das Klischee. Wir dagegen halten uns lieber an die bewährten Traditionen, machen — vielleicht — den Satz wie von alters her, aber zeigen, daß die Welt nun erst recht durchschaubar geworden und veränderbar ist. Wer also steckt im Klischee? Wenn die Geschichte vom Menschen, die ihn zum Schöpfer seiner selbst werden läßt, ein Klischee sein soll, dann steckt unsere wirklichst voller Klischees.

Stepan hat es mir selbst erzählt. Ich kann nicht glauben, daß er nun dagegen protestiert haben soll: Schoß ihm das Blut unter die Haut, und er dachte im ersten Augenblick... Nein. Ich traue meinem Freund Kassbaum nicht. Den Brief vergessen, von wegen. Er ist von der Sorte, die Dinge erfinden, wenn die Dinge nicht ausreichen. Stepan hat es mir selbst erzählt. Ich trat zu, als ich die flinken Hände des Donnergotts unter mir sah, er mit dem chemischen Zeug zu kleben anfing, die doppelte Menge schaffte, als wir bisher mit unseren Schweißbrennern. Ich muß wohl gedacht haben: Er versaut dir die Normen, die Lohntüte.

Was liegt dazwischen? Was liegt zwischen dem Jukker von damals und dem Jukker von heute? Er ist gewiß nicht der einzige, der mir nach zwanzig Jahren so, völlig verändert, J. U.K. in einer Zeitung, die von drüben stammt, die uns nichts angeht, begegnet ist. Ich möchte nicht aus der Schule plaudern. Helmut Kassbaum, Klassenkamerad, Chefredakteur heute, würde sagen: Das wird ohnehin nicht gedruckt.

Trotzdem. Der Flieder ist himmelblau, wenn ich es will. Einer, der mich damals nicht weniger als Jukker beeinflußt hat, war M. O., der Dichter M. O. Seine Verse kannten wir auswendig, und wenn uns, anders als Jukker, die Argumente ausgingen, zitierten wir sie und hatten wenigstens ein schönes Pathos auf unserer Seite. Erst in diesen Tagen machte ich seine persönliche Bekanntschaft. Ich wollte ihm sagen, wie sehr er uns damals geholfen hat, daß ich auch ihm ein Stückchen meines Weiterkommens verdanke. Doch eh ich zu Wort kam, meditierte er: Sehen Sie, lieber Genosse, die Welt wird mich später einmal zwischen A. und N. einstufen. Das ist meine poetische Leistung. Heute jedoch? Ich bin allein. E. und H. und B., all die Großen der Weltliteratur, meine Freunde, sind von mir gegangen. Pause. Ich atmete tief. Und merken Sie sich: Sollten Sie sich in freien Rhythmen versuchen, dann erst, nachdem Sie den fünffüßigen Jambus erprobt und den Hexameter durchexerziert haben. Leute, die unbedarft freie Rhythmen schreiben, erscheinen mir höchst verdächtig. Das war doch die Sprache meines Lateinlehrers aus Jukkers Zeit. Vor der Strenge Homers und der Reinheit Vergils — er übersetzte die beiden von Kindheit an, ohne Erfolg — verblaßt alles, was danach kommt. M. O. jedoch ist erst knapp über fünfzig. Äußerlich wirkt er sogar noch jünger, trägt vornehmlich gedämpftes Blau, das Haar sorgfältig gescheitelt, wirkt jünger sogar als Arno, der nicht einmal vierzig ist, nie rasiert, dem tiefe Falten um Mund und Nase stehen, kaum noch Zähne im Oberkiefer, und der jetzt seinen Brigadier anzischt: Isch mach misch davon, mach misch davon, war nischt besoffen, du hascht blosch den Druck nischt bereschnet gegen die Mauer. Hannes schweigt, und Paul spuckt sich den Kalkstaub von der Zunge und sagt: Die Vögel sind schneller, verdammt. Und warum sind beide, der Dichter und der Hucker, mit ihrem Leben bereits am Ende?

Jukker hat fatale Sätze in die Zeitung geschrieben. Ich habe ihn einst für so intelligent gehalten, daß ich bei der Lektüre seines Artikels nur annehmen kann, er schrieb sie wider besseres Wissen. Ostexperte, Klassenkampfspezialist, einer — wie einleitend annotiert —, der genau Bescheid weiß. Damals sagte er uns: Das wichtigste ist, daß jeder bereit ist, aus seinem Leben etwas zu machen. Du, Kassbaum, wirst Journalist, du bist schon heute schnoddrig wie eine Lokalspitze, bist auch rhetorisch nicht unbegabt, und du — damit meinte er mich —, wenn ich dir raten darf, werde Lehrer. Lehrer? Ja. Du fragst zuviel, und du mußt endlich das Antworten lernen. Das war für mich, weiß Gott, keine erhebende Aussicht, aber in meinem Vertrauen zu Jukker wäre ich seinem Rate beinahe gefolgt.

Hans-Helmut Kassbaum nun sagte: Stell dir vor, ich hab ihn auch daran erinnert. Mir ging es wie dir. Jukker ist schuld, daß ich mich heute mit deinen Reportagen herumschlagen muß. Als ich das J. U. K. in der Zeitung fand, bin ich sofort in die Redaktion. Ich wollte nicht abfahren, ohne mit Jukker gesprochen zu haben. Ich hatte Glück, ich erwischte ihn, als er gerade aus seinem Wagen stieg.

Ein nazibrauner Porsche, und ich kann nur beten, daß wir hierzulande nicht gar so gedankenlos sind und diese Modefarbe von drüben übernehmen...

Du wolltest von deiner Begegnung mit Jukker erzählen.

Bin doch dabei. Hast du denn keinen Sinn für Details?

Also: nazibrauner Porsche.

Ich ihm nach, bis in den zehnten Stock, sprach ihn an auf dem Korridor, alles Glas, herrlicher Rundblick über den Main...

Bitte, nur solche Details, die die Aussage nicht verdunkeln.

Scheißkunst. Ich erzählte ihm deine Geschichte.

Meine?

Frag nicht so doof.

Wie hört sich denn die an?

Enorm einfach. Da gab es doch mal am Gymnasium in S., Sie wissen, wo Sie einst unterrichteten, einen Schüler mit Namen...

Weiter!

Sie rieten ihm, Lehrer zu werden. Er saß mit Ihnen in derselben FDJ-Schulleitung, oder wie das da drüben heißt. Plötzlich, oder auch nicht plötzlich, lernte dieser Zögling von Ihnen ein Mädchen kennen.

Was? Das hast du ihm ebenfalls unter die Nase gerieben? Die ganze Geschichte mit deiner Schwester? Sei froh, daß sie gerade unterwegs ist. Sie würde dich ohrfeigen.

Halt doch mal den Mund. Ich weiß allein, wie es damals um Sonja bestellt war. Ich sagte dir: Wenn du sie nun nicht heiratest, kriegst du’s mit mir zu tun. Ich breche dir sämtliche Knochen, Casanova.

War ich nicht, bin ich nicht. Liebe nur sie.

Dein Glück. Aber jetzt geht es ja nicht um Sonja, sondern um Jukker.

Hast du denn keinen Sinn für Details?

Wirklich. Du hättest besser Lehrer werden sollen als... Na, als eben das da. Er wies auf die Zeitung vom Sonnabend.

Na gut. Er stand also vor dem Fenster, durch das man den Main sieht. Erinnern Sie sich? Das Mädchen erwartete von ihm ein Kind. Und die Direktion wollte ihn daraufhin von der Schule schmeißen. Nur Ihnen hat er es zu verdanken, daß er sein Abitur machen durfte. Sie haben sich für ihn eingesetzt, haben so lange geredet, bis Ihnen das gesamte Lehrerkollegium zu Füßen lag, das heißt. Sie sind wohl damals zur kommunistischen Kreisleitung gegangen oder zur Vopo oder was weiß ich, wohin, und haben Verstärkung geholt. Da wurde Jukker zum ersten Male konkret.

Was denn! Hatte er die ganze Zeit geschwiegen?

Nein. Natürlich nicht. Aber er gab sich mächtig gelassen. Musterte mich von oben bis unten. Er stellte auch hin und wieder Zwischenfragen, so daß ich mich dauernd unterbrechen mußte. Verfassungsschutz? APO? Thadden? Repklub? Und einmal sagte er: Woher Sie auch kommen, Sie amüsieren mich. Erzählen Sie weiter.

Aha. Aber dann wurde er konkret.

Ja, bei deiner Geschichte..Ich entsinne mich dunkel, sagte er. Doch woher wissen Sie das? Ich entgegnete: Er hat mir geschrieben. Weiß der Teufel, wie, aber er bekam Ihr J. U. K. zu Gesicht und hat sich bei mir nach Ihnen erkundigt. Also doch APO? fragte er.

War er mißtrauisch?

Keine Spur. Eher neugierig. Eher belustigt. Ich bin ein entfernter Verwandter von ihm, sagte ich. Er hat mir geschrieben, daß Sie ihm wie selten einer geholfen hätten. Er wundere sich zwar über die Artikel, die Sie neuerdings veröffentlichen, die von früher seien besser gewesen, aber immerhin, er läßt Sie grüßen.

Na na. Ihn grüßen? Geht das nicht ein bißchen zu weit?

Danke, sagte er. War mir wirklich ein Vergnügen.

Weiter nichts?

Du kannst dir denken, daß ich vor allem darüber enttäuscht war, daß er mich nicht wiedererkannte. Als er sich verabschieden und in sein Zimmer gehen wollte, sagte ich noch schnell: Jukker.

Tut mir leid, mein Herr, antwortete er. Ich hab zu arbeiten. Und das alles liegt so lange zurück. Amüsant die Vergangenheit.

Das Mädchen, sagte ich, hieß Sonja und war die Schwester von einem gewissen Kassbaum oder so ähnlich.

Und er?

Nichts. Absolut nichts. Er hat mich nicht erkannt. Das ist alles.

Und nun diese fatalen Sätze in einer Zeitung von drüben. Ostexperte. Klassenkampfspezialist. Dazu ein bißchen Exhibitionist. Seht mal her, ich war sogar in Ulbrichts Partei. Die Leute kriegen das Gruseln. Dazu noch ein Schuß Narzißmus. Ich gehörte zum Auswahlkader, stand kurz vor meiner Abberufung nach Pankow, was natürlich alles ein Quatsch ist. Und trotzdem: Er wird seine Leser haben. Und trotzdem: Jukker ist ein Problem. Für meinen Schwager seit dessen Erlebnis in Frankfurt am Main wohl nicht mehr, aber für mich. Mag er auch heute Artikel schreiben, unter J. U. K. wie früher, gegen den Klassenkampf, gegen die Volksmassen, die Geschichte machen, gegen den Marxismus und alles, was er uns damals lehrte, mich machte er zum ersten Mal mit dem Marxismus bekannt. Und das haftet, das ist haftengeblieben bis auf den heutigen Tag. Für wie lange muß ich Jukker dafür verpflichtet sein?

Nach dem Fußtritt auf Donnergotts Hände wurde Stepan als Brigadier abgelöst. So einen, der unsere Genossen schindet, können wir nicht gebrauchen. Er knirschte mit den Zähnen. Ich kratze die Kurve. Für zwanzig Pfennig auf’n anderen Erdteil. Na, bitte. Drüben machen sie wieder eine Nazipartei auf. Vielleicht suchen sie da noch einen strammen SA-Mann. Die Antwort genügte. Stepan kochte vor Wut, und ein wenig begann er schon, sich zu schämen. Zwei Wochen später nahm er heimlich ein paar geklebte Stahlplatten mit nach Hause und legte sie in eine Wanne mit Wasser. Nichts geschah. Er traktierte sie mit Hammer und Meißel. Er tauchte sie nochmals in Wasser, goß Schwefelsäure hinzu, hämmerte wieder an ihnen herum. Nichts geschah. Schließlich trug er sie von zu Hause zurück in den Betrieb, schob sie in einen Schmelzofen, ließ sie glühen, zog sie wieder heraus. Nichts. Oder doch. Eine Entdeckung. Eine ganz schmale Naht war da, die von der Hitze unversehrt geblieben war, die nur schwarz in der Weißglut aussah. Sofort fragte er nach dem Donnergott. Der war schon nicht mehr im Walzwerk, Stepan machte ihn ausfindig. Er legte ihm seinen Schweißbrenner auf den Schreibtisch und sagte: Da, den schenke ich dir, und wenn du willst, gravier ich dir auch noch’n Autogramm auf diese mittelalterliche Kanone. Der Donnergott sagte: Nimm das Ding wieder mit. Soll ich es mir übers Sofa hängen? Nein. In zwei Jahren komm wieder. Und dann schenk mir eine Abschrift von deinem Meisterbrief.

Das alles hatte ich niedergeschrieben, stand in der Zeitung vom Sonnabend. Aber seine Bedeutung war nur noch halb soviel wert durch diese Zurücknahme: Er dachte...Und nun war für Kassbaum sogar das noch zuviel. Ich muß es Sonja erzählen. Wenn sie erfährt, was aus Jukker geworden ist... Ihre Eltern hatten sie damals gefeuert. Wir beide krochen für eine Woche bei Jukker unter. Dann schickte der Vater, ein Preuße in allen Belangen, einen Unterhändler, seinen Sohn. Kassbaum kam und sprach: Schönen Gruß von Mutti und Vati, du bist begnadigt und kannst wieder bei uns wohnen. Nur diesen grünen Jungen da — grinsend zeigte er dabei auf mich — sollst du gefälligst lassen, wo der Pfeffer wächst. Sonja schickte ihn zurück. Ebenfalls schöne Grüße. Der grüne Junge da gehört seit fünf Monaten zur Familie. Wiederum kam Kassbaum. Unser Alter hält dich zwar für liebestoll, ist aber einverstanden. Doch wenn der da zur Familie gehören soll, muß er uns für den nächsten Winter wenigstens das Holz hacken. Das Holzhacken nahm daraufhin kein Ende, meine Schwiegereltern, glaube ich, heizen damit noch heute.

Beim zehnten Kubikmeter fotografierte mich Sonja. Das Bild existiert noch. Meine erwachsene Tochter beguckt es sich manchmal ungläubig: Was? So schlank warst du mal? Willst du nicht wieder Holz hacken? Dich vorlautes Wesen, sage ich, das nicht abwarten konnte, bis wir verheiratet waren, hab ich verdammt abschwitzen müssen. Nie wieder. Und nun laß mir gefälligst meinen Bauch.

Erst viel später erfuhr ich, daß Jukker während der Woche, in der wir bei ihm Unterschlupf gefunden hatten, auch zu Sonjas Mutter gegangen war, um sie mit uns zu versöhnen. Sogar der Alte hatte ihm nicht widerstehen können, hatte ihm zugehört und war nicht länger ein Tarpejischer Felsen für seine Lukretia geblieben. Doch von alledem erfuhr ich erst, als Jukker plötzlich verschwunden war, das heißt so plötzlich wohl nicht, denn zuvor hatte er sich vor einem Gericht wegen Spionage verantworten müssen, hatte einige Jahre abgesessen und war danach nach Westdeutschland verdampft, wie das Wasser, bei hundert Grad Celsius, Umschlag von einer Qualität in die andere, die Frage Wer — wen?, wir lassen uns nicht die Macht nehmen von Leuten und so weiter. Sonjas Vater hatte ahnungslos gefragt: Was macht denn der liebe Mensch noch, euer Geschichtslehrer? Von den Feldzügen Friedrichs des Großen hatte er zwar keinen Schimmer, aber... Wieso: lieber Mensch? Da kam es heraus. Schon die Nachricht von seiner Verhaftung hatte mich hart getroffen. Aber ich hielt ihm zugute, daß er sich vielleicht aus Unkenntnis oder gar unter Druck mit einem westlichen Geheimdienst eingelassen hatte. Die Nachricht von seinem Verrat war für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Das kann doch nicht sein, stammelte ich, das kann doch nicht sein... Ohne ihn wäre ich niemals Marxist geworden.

Du betrügst dich selber, sagte Sonja. Das Niemals ist eine deiner üblichen Übertreibungen. Lila ist keine Farbe, den Flieder male ich blau, wenn ich es will, Arno und M. O. sind mit ihrem Leben bereits am Ende, entweder — oder. Dir fehlt jegliches Gefühl für Nuancen, für die Dinge dazwischen. Und wenn ich nicht schon hundertmal und öfter darauf reingefallen wäre, mein Lieber, hätte ich sogar Mitleid mit dir.

Erstens, erwiderte ich, warst du von den Versen M. O.s genauso begeistert wie ich, du hast sie sogar in deiner Tingelgruppe, dem FDJ-Chor damals, im Solopart gesungen, während ich sie nur gelegentlich in den Mund nahm, dann nämlich, wenn uns nichts Besseres einfiel. Zweitens: Mit dem Leben von Arno liege nicht ich dir ständig in den Ohren, sondern du mir. Und drittens, was Jukker angeht, schweigen wir lieber. Ich weiß bis heute noch nicht, warum er uns, als ich das Abitur machen wollte und du mich beinahe, indem du schwanger wurdest, daran gehindert hast, warum er uns also die eine Woche bei sich hat wohnen lassen... Uff.

Erstens, sagte Sonja und äffte mir wieder nach, was stets ein Zeichen ihres Zorns ist, habe nicht ich dich damals ins Gras gelegt, sondern du mich. Zweitens: Nenn unseren Chor nicht andauernd Tingelgruppe. Wir haben zwei Tänzerinnen hervorgebracht, sogar eine Primaballerina, zwei Komponisten und — leider — auch einen Dichter wie dich. Drittens: Wenn du noch immer in deiner Eifersucht, obwohl ich bereits drei Kinder von dir habe, von Jukker glaubst, besser: von mir, nein, doch von ihm, er habe damals auf mich ein Auge geworfen gehabt — uff —, laß ich mich scheiden. Und viertens...

Typisch, unterbrach ich sie. Du hast immer das letzte Wort. Viertens ist noch gar nicht an der Reihe.

Und viertens: Du hast recht, die Schwalben in unserem Keller sind Rauchschwalben, und ich habe zwei Namen für sie, Hermann und Dorothea.

Wie bitte?

Hermann und Dorothea. Idylle für deutsche Bürger. Aber immerhin klassisch.

Als ich ihr vorgestern mitgeteilt hatte, daß sich die Schwalben in unserem Keller häuslich einrichten wollen, war sie sofort mit dem Einwand gekommen, an einer der Schulen, die sie betreute, hätten einmal so viele Schwalben ihre Nester gebaut, daß davon das Dach eingestürzt sei, und sie hatte mich aufgefordert, die Tiere zu vertreiben. Das Dach? Und von den Schwalben? Haha. Wenn du’s nicht glaubst, erkundige dich bei dem dortigen Direktor. Den kenn ich, der hat doch keine Ahnung von Biologie. Wo sollen die Schwalben gebaut haben? Unter dem Dach natürlich, du Dummkopf, wenn das Dach davon eingestürzt ist. Unsere, sagte ich, sind Rauchschwalben, Hirundo rustica, falls du das noch nicht wissen solltest. Die in der Schule können höchstens Mehlschwalben gewesen sein, Delichon urbica. Nur Delichon urbica nistet unter Dächern. Sie traute meinen ornithologischen Kenntnissen nicht, vermutete wieder, daß die Phantasie mit mir durchgegangen war, und kam nun mit Hermann und Dorothea.

Aber den Vorwurf, daß nicht ich ihr, sondern sie mir mit der Geschichte von Arno in den Ohren liegt, bestritt sie nicht. Saufen ist dumm, Saufen macht immer dümmer, das stammte von ihr, und Arno hatte es auch sofort gemerkt und gezischt: Dasch ischt wie von deiner Frau. Sie setzte auch Hannes zu, dem Brigadier, der nun schweigt, nachdem er gesagt bekam, die Mauer sei abgesackt, weil er den Druck darauf nicht berechnet habe. Neulich schüttete er mir sein Herz aus. Deine Frau fällt mir auf die Nerven. Aller zehn Tage, pünktlich wie die Kasse mit dem Zaster, verlangt sie von mir eine Beurteilung über Arno. Was soll ich denn jedesmal schreiben? Er schuftet wie’n Pferd. Wenn er nicht wie’n Pferd schuften würde, hätten wir ihn, das arme Luder, schon längst aus der Brigade geschmissen. Doch was wäre dann? Bestell ihr, wir haben noch Hoffnung. Wenn Sonja nach Haus, kommt, sucht er das Weite. Die Landgräfin, sagt er. Sie ist keine Landgräfin, sage ich, sondern Jugendfürsorgerin und außerdem ein ganz lieber Kerl. Kann sein, sagt er, zu mir aber nicht. Er nimmt einen abgeputzten, aus den Trümmern geretteten Stein in die Hand, haut die Kelle voll Mörtel, bestreicht damit eine Ecke, klatscht ihn auf die wieder wachsende Mauer, drückt den Stein darauf, nimmt den nächsten und winkt mir durchs Fenster zu. Erich sagt: Wer unser Handwerk erfunden hat, der hat’s bestimmt den Schwalben abgeguckt. Die haben ihren Mörtel schon in der Spucke. Und Paul fährt fort: Kunststück, daß sie schon weiter sind. Die brauchen keinen Hucker wie wir, der immer besoffen ist.

Ich sollte den Flieder, wenn ich ihn male, doch besser lila malen statt blau. Ich sollte vor allem, wenn ich über Stepan schreibe, nicht schreiben: Er dachte... Zum Teufel mit Kassbaum und seinem: Es wird nicht gedruckt. Die Wahrheit muß her.

Also: Jukker... Nein. Zuvor möchte ich wissen, wieso ich übertreibe, wieso ich kein Gefühl habe für die Dinge dazwischen. Im Falle Stepans habe ich ganz erbärmlich untertrieben. Und im Falle von Arno, meiner Frau und Hannes?

Hermann und Dorothea fliegen und fliegen. Sie gönnen sich keine Ruhe, schuften wie Schwalben. Durch den lila Fliederbusch seh ich sie hin und wieder mit ihren kurzen Beinen und langen Flügeln ungelenk, unbeholfen über die Erde trippeln und nach trockenen Gräsern suchen. Meist aber schießen sie in weitem Bogen von oben herab, die Schnäbel voller Halme, flattern nur kurz vor dem Kellerfenster und tauchen dann durch die schmale Öffnung. Erich und Paul haben Sorge, sie einzuholen. Und warum kann Arno nur das, was die Vögel können? Nicht einmal das? Ein solches Nest zum Beispiel kann er sich nicht einrichten.