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Rowohlt E-Book Monographie Alexander von Humboldt hat als Naturforscher, Weltreisender und Schriftsteller Weltruhm erlangt. Seit Daniel Kehlmanns Bestseller «Die Vermessung der Welt» ist er wieder im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit präsent. In dieser Monographie werden die wichtigsten Stationen im Leben Humboldts geschildert und seine wissenschaftlichen Leistungen gewürdigt, insbesondere seine monumentale Studie «Kosmos». Eine kurze Biographie, die alles Wissenswerte über den großen Naturforscher enthält. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
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Seitenzahl: 175
Thomas Richter
Alexander von Humboldt
Ihr Verlagsname
Rowohlt E-Book Monographie
Alexander von Humboldt hat als Naturforscher, Weltreisender und Schriftsteller Weltruhm erlangt. Seit Daniel Kehlmanns Bestseller «Die Vermessung der Welt» ist er wieder im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit präsent. In dieser Monographie werden die wichtigsten Stationen im Leben Humboldts geschildert und seine wissenschaftlichen Leistungen gewürdigt, insbesondere seine monumentale Studie «Kosmos».
Eine kurze Biographie, die alles Wissenswerte über den großen Naturforscher enthält.
30. Juli 1781: Im Bibliothekszimmer auf Schloss Tegel saßen zwei Jugendliche an einem alten Eichentisch. Vor ihnen stand ein hagerer junger Mann, etwa Mitte dreißig. Alle drei schwitzten noch, denn sie kamen von einem Rundgang durch den Garten des Schlosses. Dort hatten sie Pflanzen gesammelt, die neben Pflanzenbüchern und Herbarien auf dem Tisch lagen. Der junge Mediziner, Ernst Ludwig Heim, wirkte angestrengt. Er hatte eine verantwortungsvolle Stelle als Stadtarzt in Spandau, und nur der Frau Majorin zuliebe war er heute hier als Hauslehrer von Alexander und Wilhelm von Humboldt. Hauslehrer, auch Hofmeister genannt, waren oftmals Studenten oder Theologen, die keine Pfarrer werden wollten. Eine undankbare Aufgabe für Geisteswissenschaftler, die einen Brotberuf benötigten. Bei Heim war es jedoch etwas anderes.
Alles hatte vor vier Jahren begonnen. Heim wurde ins Schloss gerufen, da beide Kinder ernsthaft erkrankt waren. Damals lebte der Vater noch, Major a.D. Alexander Georg von Humboldt. Die besorgte Mutter führte den Mediziner sogleich an das Krankenlager. Wie so oft machte ihr der jüngere der beiden Söhne den größten Kummer. Alexander hatte Hustenanfälle, Fieber und keinen Appetit. Er galt als das Sorgenkind der Familie! Sein älterer Bruder Wilhelm war ihm immer weit voraus. Beim Lesen und Schreiben ebenso wie bei den Spaziergängen in der Natur. Auch an diesem Tag war es nicht anders. Während Wilhelm kaum noch Fieber hatte, gelegentlich nieste und im Bett schon wieder Bücher las, stieg Alexanders Temperatur von Stunde zu Stunde. Die Familie war besorgt, doch Heim wusste wie immer Rat und konnte dem jungen Patienten schnell auf die Sprünge helfen.
Inzwischen waren einige Jahre vergangen, und Heim saß an diesem sommerheißen Tag den beiden Heranwachsenden gegenüber. Wilhelm folgte aufmerksam, aber distanziert den Ausführungen des Hauslehrers, während Alexander an seinen Lippen hing. Thema war die Linné’sche Pflanzensystematik. Heim forderte seine beiden Schüler auf, die aus dem Schlossgarten mitgebrachten Pflanzen zu bestimmen. Während Wilhelm angestrengt blätterte, um die passenden Abbildungen in Linnés Werk zu suchen, hatte Alexander schon die richtigen Antworten parat. Er deutete auf die Objekte aus dem Garten und war sofort in der Lage, Gattungs-, Art- und Familienname zu benennen. Auch die volkstümlichen Bezeichnungen sowie die Heilwirkungen der Kräuter konnte er benennen, ohne dass eine Spur von Unsicherheit zu erkennen war. Wilhelm war mit dem Unterricht heute gar nicht zufrieden. Lateinische Vokabeln, unregelmäßige Verben, grammatikalische Spitzfindigkeiten – das waren seine Stärken. Aber an diesem Tag hatte der jüngere Bruder seine Sternstunde. Alexander begann ein Herbarium der gesammelten Pflanzen anzulegen. Dr. Heim war begeistert. Sein Kommen hatte sich gelohnt. Die Euphorie des jungen Schülers hielt zwar nicht lange an, aber ein erster Schritt zur Botanik war getan.[1]
Alexander von Humboldt war der jüngere Sohn des preußischen Ehepaars Alexander Georg und Marie Elisabeth von Humboldt. Für die Mutter war es die zweite Ehe. Nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratete die Witwe von Holwede den einundzwanzig Jahre älteren Major und preußischen Kammerherrn von Humboldt. Aus ihrer ersten Beziehung brachte sie einen Sohn in die Ehe mit, Heinrich Friedrich von Holwede (1763–1817). Darüber hinaus erbte sie von ihrem Mann ein großes Vermögen, das die Basis für den Wohlstand der Familie von Humboldt darstellte. Am 22. Juni 1767 kam in Potsdam der erste Sohn der Familie, Wilhelm, zur Welt, zwei Jahre später der zweite. Alexander von Humboldt wird am 14. September 1769 in Berlin geboren und nach vier Wochen im Berliner Dom getauft. Das Familienglück sollte nur knapp zehn Jahre andauern. Der frühe Tod des Vaters am 6. Januar 1779 veränderte die Familie von Humboldt.
Eine Schlüsselstellung nahm nach diesem Schicksalsschlag die Mutter der beiden Söhne ein sowie Gottlob Johann Christian Kunth, «erster» Hauslehrer und Vertrauter der Familie von Humboldt. Aufgrund des geringen Altersunterschieds wurden beide Brüder gemeinsam unterrichtet. Diese Konstellation war für Alexander mit Nachteilen verbunden. Er interessierte sich für Naturwissenschaften wie Botanik, Geologie und Physik. Wilhelms Stärken lagen eher auf dem Gebiet der Sprachen. Da jedoch im späten 18. Jahrhundert die Philologien einen höheren Stellenwert als die Naturwissenschaften hatten, galt Alexander als weniger talentiert im Vergleich zu seinem älteren Bruder.
Gottlob Johann Christian Kunth musste das zwischen beiden Brüdern bestehende Bildungsgefälle ausgleichen. Als Allround-Pädagoge unterrichtete er die Brüder von Humboldt in den Fächern Mathematik, Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch und Geschichte. Zur Rolle des Erziehers kam nach dem Tod des Vaters noch die Aufgabe des Vermögensverwalters. Kunth war ein guter Pädagoge, und er ließ auch andere Gelehrte im Hause Humboldt zu. Dazu gehörte etwa der Mediziner Ernst Ludwig Heim. Dieser vermittelte Wilhelm und Alexander die Grundlagen der modernen Botanik. Heim war auf dem neuesten Stand der Wissenschaft, und in der Mitte des 18. Jahrhunderts faszinierte der Schwede Carl von Linné die Gelehrtenwelt. Ihm gelang der große Wurf, indem er ein neues Ordnungssystem für die Klassifizierung von Pflanzen einführte. Jahrhundertelang hatte man sich darum bemüht, Ordnung in das Pflanzenreich zu bekommen. Nach der Entdeckung der Neuen Welt explodierte das Wissen über neue Arten geradezu, weshalb die Suche nach einer neuen Systematik zu einer zentralen Aufgabe der Botanik wurde. Linné schuf ein System, indem er die Pflanzen nach ihren geschlechtlichen Merkmalen klassifizierte und sie mit einem von ihm entwickelten Nomenklatursystem bezeichnete. An erster Stelle stand der Gattungsname, es folgte der Artname und schließlich die Familienbezeichnung. Auf diese Weise war es möglich geworden, alle Pflanzen auf der Welt in das Linné’sche System einzuordnen.
Konnte Alexander von Humboldt ahnen, dass er eines Tages selbst neue Pflanzenarten entdecken würde, wie beispielsweise eine in den Anden wild wachsende Rosenart? Die Botanik stellte für den Pflanzenliebhaber Alexander jedenfalls eine Leitwissenschaft dar, die ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen sollte. Für die Umwelt waren Alexanders Talente jedoch nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Dem jungen Forscher wurde das Prädikat «Der kleine Apotheker»[1] verliehen. Diese Bezeichnung drückte ein hohes Maß an Geringschätzung sowie an Unverständnis aus. Pflanzen waren am Ende des 18. Jahrhunderts in erster Linie für die Heilkunde interessant. Man suchte nach wirksamen Arzneimitteln in der Natur. Die Botanik war daher ein Bestandteil der Medizin und keinesfalls Selbstzweck. Es gab zu Alexanders Zeiten noch keine naturwissenschaftlichen Fakultäten. Deshalb hatte der jüngere Bruder des philologisch begabten Wilhelm von Humboldt einen schweren Stand. Es war die Ära der Geisteswissenschaften, welche das Denken und die Erziehungsideale bestimmte.
Erziehung und Ausbildung fanden jedoch nicht nur durch Hauslehrer statt. Für die bürgerlichen wie die adligen Kreise waren die gesellschaftlichen Zirkel im späten 18. Jahrhundert ein bedeutender Dreh- und Angelpunkt. Hier tauschte man sich über politisch relevante Themen aus, schloss Verträge und wickelte Geschäfte ab. Söhne und Töchter aus gutem Hause wurden in die Gesellschaft eingeführt und lernten das adäquate Auftreten. Nach dem Ort der Zusammenkünfte sprach man vom «Salon», der vor allem auch ein Ort der Bildung war. In Form von Vorträgen oder Experimenten wurden geistes- und naturwissenschaftliche Themen einem interessierten Zuhörerkreis vorgestellt. Auch die beiden Humboldt-Brüder hatten Verbindung zu einem der führenden kulturellen Zirkel in Berlin. Henriette und Marcus Herz gehörten zur Kulturszene der preußischen Metropole und verkehrten in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Der Mediziner Marcus Herz begeisterte sich vor allem für physikalische Fragen, über die er auch Vorträge hielt. Die Elektrizitätslehre faszinierte ihn ganz besonders. Herz war aber nicht nur an theoretischen Themen, sondern auch an praktischen Versuchen interessiert. So unterstützte er die Familie Humboldt, die einen der ersten Blitzableiter in Berlin auf Schloss Tegel installierte.[2]
Neben der Botanik entdeckte Alexander von Humboldt in seiner Jugend aufgrund des Kontakts zu Marcus Herz ein weiteres wissenschaftliches Betätigungsfeld. Er führte in den frühen neunziger Jahren zahlreiche galvanische Experimente durch. Alexander ging es dabei vor allem um den Einfluss des elektrischen Stroms auf die Muskelbewegungen. Dazu unternahm er nicht nur Versuche an Froschmuskeln, sondern auch an sich selbst. Schloss Tegel ist daher für den jungen Forscher ein bedeutender Ort, wo er seine wissenschaftlichen Neigungen entdeckte. Sie stehen in engem Zusammenhang mit zwei Personen, die eine große Rolle im Leben des Gelehrten spielten: Marcus Herz, dem physikbegeisterten Arzt, sowie Ernst Ludwig Heim, dem botanisierenden Mediziner. Die Verbindung von persönlichen Freundschaften und wissenschaftlichen Interessen war ein charakteristisches Phänomen im Leben Alexander von Humboldts. Das Knüpfen von Netzwerken zog sich wie ein roter Faden durch die Biographie des Naturforschers.
November 1787: Frankfurt, eine graue Stadt an der Oder. Das Wetter war trüb, und es regnete leicht. Zwei junge Männer befanden sich auf dem Weg zur Universität. Beide kamen aus Berlin, sie waren Brüder. Die Bildungseinrichtung zählte keineswegs zu den ersten Adressen in Europa. Der Erzieher und Hofmeister Johann Christian Kunth hatte zusammen mit der Mutter diesen Studienort ausgewählt, denn Frankfurt an der Oder lag nicht allzu weit von Berlin entfernt. Daher konnten Mutter oder Hauslehrer sehr schnell nach dem Rechten sehen. Zudem war die im Jahr 1506 gegründete erste brandenburgische Landesuniversität Kaderschmiede für den preußischen Beamtenstaat, und für die Humboldt-Brüder waren Funktionen in der Verwaltung Preußens vorgesehen. Für den hochbegabten Wilhelm hatte man die Juristerei ausgewählt, für den weniger talentierten jüngeren Bruder das Fach Kameralwissenschaften. Ein Abschluss in diesem Studiengang qualifizierte für eine Position im Staat. Während Mutter und Erzieher den sprachgewandten Wilhelm in der Rolle des Diplomaten sahen, schien für Alexander eine Position in der Verwaltung ausreichend.
Ohne große Motivation studierte Alexander in Frankfurt an der Oder. Ein Gelehrter, Professor Christian Ernst Wünsch, hielt eine Vorlesung für einen ausgewählten Studentenkreis zum Thema «Ökonomie».[1] Zwar berührte der «verrückte Gelehrte»[2] das Thema Botanik. Doch Alexander hörte schon nach wenigen Sätzen nicht mehr zu. Der Student hatte das Bedürfnis, noch mehr über die Welt der Pflanzen zu erfahren. Er liebte die Natur mit all ihren Schönheiten und Geheimnissen. Und Alexander fasste noch einen zweiten Entschluss. Er wollte auf keinen Fall in Frankfurt an der Oder versauern und beschloss, nach den Semesterferien nicht dorthin zurückzukehren.
Zweifellos hätte Alexander von Humboldt gern ein naturwissenschaftliches Studium aufgenommen. Es gab jedoch keine geeignete Fakultät im späten 18. Jahrhundert. Die Medizin wäre sicherlich auch eine Möglichkeit gewesen. Diese stellte jedoch in erster Linie eine Aufstiegsmöglichkeit für Kinder aus bürgerlichem Umfeld dar. Alexander und Wilhelm stammten aus adligem Hause. Daher kam für die Mutter sowie den Hofmeister Kunth für die beiden Söhne nur eine Position im preußischen Staatswesen in Frage. Das Wintersemester 1787/88 wäre für Alexander in seinem weiteren Leben kaum eine Fußnote wert gewesen, wenn man diese Zeitspanne nur im Hinblick auf seine wissenschaftlichen Interessen betrachten würde. Persönlich war die Zeit in Frankfurt aber ein großer Gewinn, denn er schloss mit dem Theologiestudenten Wilhelm Gabriel Wegener einen Freundschaftsbund. Dank eines umfangreichen Briefwechsels zwischen den beiden Studenten ist man über ihre Beziehung in Frankfurt an der Oder gut informiert.[3]
Freundschaften prägen in der Jugend die menschliche Persönlichkeit. Alexander pflegte in seinem Umfeld Freundschaften zu einigen Männern. Da er zeit seines Lebens unverheiratet geblieben ist, wurden Rückschlüsse auf homosexuelle Neigungen des Gelehrten geschlossen. Der emotionale Briefstil Humboldts in der Korrespondenz mit Wegener dient jedoch nicht als Beweis für eine homosexuelle Neigung des Gelehrten. Quellen aus dieser Zeit zeigen, dass ein sehr persönlicher Schreibstil ein Charakteristikum des späten 18. Jahrhunderts ist.[4] Ein Brief Alexanders aus Berlin vom 8. Mai 1788 an Wegener liefert nicht nur Informationen zum Verhältnis zum Studienkollegen aus Frankfurt an der Oder, sondern erwähnt auch Henriette Herz, die Frau des Mediziners Marcus Herz:
Lieber Bruder! […] Daß der Mund am beredtesten ist, wenn das Herz empfindet, davon hat mich der Eingang Deines lezten Briefes, den Du mir mit einer so edlen Wärme geschrieben hattest, auf eine eben so lebhafte, als angenehme Weise überzeugt. Wahr und vorzüglich schön ist Deine Bemerkung über die Weißheit des Schöpfers, der uns im physischen und moralischen mehr vor, als um und neben uns sehen läßt. Ich theilte dieselbe vor wenigen Tagen einer Freundinn mit, deren Urtheil für mich eine große Gültigkeit hat; die Edle sagte, daß sie den Mann wünsche kennen zu lernen, «der so wahr und schön empfände.» Da nannte ich ihr Deinen Namen und erzählte von Dir, was mir die Liebe in den Mund legte. Es ist ein süßes Gefühl, seine Freunde loben zu können […]. Ich will Dir auch die Frau nennen, welche aus Deinen Worten so richtig in Deinem Herzen las. Es ist die schönste und auch die klügste, nein! ich muß sagen, die weiseste unter den Frauen, Henriette Herz.[5]
Dieser Brief ist Ausdruck des sehr innigen Verhältnisses zwischen Alexander von Humboldt und Wilhelm Wegener. Die Freundschaft hat dem Studenten im ersten Semester über den tristen Winter in Frankfurt hinweggeholfen. Humboldts Zeilen verraten aber auch, dass man sich über geistige Themen ausgetauscht hat. Der Theologe legte Wert auf die Meinung des naturwissenschaftlich denkenden Freundes, der in einem kameralwissenschaftlichen Studiengang seine Talente nicht verwirklichen konnte. Theologische Aussagen wie in diesem Brief wird man in den fachlichen Veröffentlichungen Humboldts vergeblich finden. Aus diesem Grund sind die Schreiben an Wegener eine Besonderheit, da sie die religiöse Seite des späteren Naturforschers offenbaren.
Schließlich zeigt der Brief eine weitere typische Eigenschaft Alexander von Humboldts auf: das Spinnen von Netzwerken. In diesem Fall wird Henriette Herz ins Spiel gebracht. Sie war eine beeindruckende Erscheinung, attraktiv und sehr gebildet. Humboldt scheint vor allem diese Kombination fasziniert zu haben. Der Brief, der eher eine geistige «menage à trois» favorisiert, lässt die Frage nach Humboldts sexueller Orientierung offen. Sie hat letztlich auch keine Bedeutung für die Beurteilung seines Lebenswerks.
Der Aufbruch von Frankfurt an der Oder nach Berlin am 23. März 1788 war eine Flucht aus der Enge. Aber auch seinem älteren Bruder Wilhelm schien es im zurückliegenden Wintersemester nicht besser ergangen zu sein. Er wechselte an die Universität Göttingen, während Alexander ein Jahr in Berlin blieb. Diese Zeit nutzte er, um sich unter Anleitung des Hofmeisters Kunth in verschiedenen Wissensgebieten weiterzubilden. Dazu gehörten Physik und Mathematik, ebenso Griechisch und Philosophie. Die Auswahl der Fächer zeigt, dass Alexander noch immer auf der Suche war. Wilhelm wiederum besuchte mit der Universität Göttingen eine der führenden Hochschulen im deutschsprachigen Raum. Noch war der ältere Bruder dem jüngeren weit voraus, sodass Alexander weiterhin im Schatten Wilhelms stand, aus dem er sich nur allmählich lösen konnte.
In einer Vorlesung, die Alexander im Sommersemester 1788 an der Universität Berlin hörte, fiel der Name eines Botanikers, der seine Studien soeben beendet hatte und in die preußische Metropole zurückgekehrt war: Carl Ludwig Willdenow.[6]
Er war ausgebildeter Apotheker und beschäftigte sich mit botanischen Fragestellungen. Typisch für Humboldt war die Kombination von persönlicher Freundschaft und gemeinsamen Forschungsinteressen. Willdenow sorgte dafür, dass sich der Blickwinkel Alexanders erweiterte. Pflanzen wurden jetzt nicht mehr im häuslichen Schlosspark von Tegel gesucht. Der Botaniker nahm den Studenten im Freisemester mit auf botanische Wanderungen durch die Wiesen und Wälder in der Umgebung Berlins. Humboldt erfuhr auf diese Weise, wenn auch noch in bescheidenem Umfang, eine Erweiterung seines Aktionsradius. Er erkannte, dass der Weg zur Erkundung neuer und bekannter Pflanzenarten letztlich sein Ziel war. Damit zeichnete sich auch das Erschließen eines neuen Wissensgebiets ab. Die Pflanze war keineswegs nur als solche ein lohnendes Objekt für den Botaniker, sondern seine Aufgabe würde auch darin bestehen, die Flora am Standort zu erforschen. Diese Erkenntnis war Keimzelle für die Entstehung der Pflanzengeographie, die Humboldt etwa zehn Jahre später auf seiner Reise nach Süd- und Mittelamerika sehr intensiv betreiben sollte.
Carl Ludwig Willdenow, 1765 geboren, stammte aus einer Berliner Apothekerfamilie. Nach der Lehrzeit studierte er Medizin in Halle und wurde dort promoviert. Danach übernahm Willdenow 1789 die väterliche Apotheke. Neben seiner praktischen Tätigkeit beschäftigte er sich mit botanischen Fragestellungen. Aufgrund der gemeinsamen Interessengebiete entwickelte sich eine persönliche Freundschaft zwischen ihm und dem jungen Alexander von Humboldt. Willdenows Werk «Grundriß der Kräuterkunde» wurde ein Standardwerk der Botanik um 1800. Im Jahr 1798 wurde der Apotheker Professor an dem Berliner Collegium Medicorum. Von 1801 bis zu seinem Tod 1812 war er Direktor des Botanischen Gartens in Berlin. Kurz vor seinem Tod besuchte Willdenow Humboldt in Paris und ordnete das von der Tropenreise mitgebrachte Pflanzenmaterial.
Nach dem Jahr in Berlin folgte Alexander seinem Bruder an die Universität Göttingen, der dort schon zwei Semester studiert hatte. Auch wenn die Kameralwissenschaften an einem anderen Studienort nicht weniger trocken waren als in Frankfurt an der Oder, so gab es an der Georg-August-Universität doch Kapazitäten, die die Hörer in ihren Bann zogen. Einer der besten Köpfe in Göttingen war der Altphilologe Christian Gottlob Heyne. Er war einer der Ersten, der seinem Hörerkreis ein spannendes Gebiet erschloss: die griechische Mythologie. Viele Professoren übersetzten vor allem die antiken Werke in die deutsche Sprache. Heyne ging einen Schritt weiter und beschäftigte sich mit den Göttern und Helden Griechenlands sowie Roms. Dabei bezog er sich nicht nur auf schriftliche Quellen, sondern setzte sich auch mit archäologischen Zeugnissen auseinander. Heynes Art der Antikenforschung löste gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Gelehrtenwelt eine Begeisterungswelle aus, die als «Klassizismus» in die Geschichte einging. Auch die beiden Humboldts wurden von den Göttinger Vorlesungen zur Antike in ihren Bann gezogen: Wenn man Heynens Homer hört, die Art wie er die ältesten Mythen interpretirt, seine Art über die Kindheit des Menschengeschlechts zu raisonniren und seine immerwährenden Vergleichungen des Homers und Moses – so sieht man die richtige Erklärung des Alten Testaments gleichsam von selbst entstehen. Heyne ist der Mann, dem unser Jahrhundert gewiß am meisten verdankt, religiöse Aufklärung durch eigene Lehre und Bildung junger Volkslehrer, Liberalität im Denken, Anfang einer gelehrten Archeologie und erste Verbindung des Aesthetischen mit dem Philologischen.[7]
Humboldts Beurteilungen von Heyne, die aus einem Brief an seinen Freund Wegener vom 17. August 1789 stammen, sind eine Zusammenfassung seines wissenschaftlichen Glaubensbekenntnisses. Es ist eine Absage an jede Art von Scheuklappendenken. Vergleiche zwischen dem Alten Testament und der Antike dürfen gezogen werden. Die Mythen sind in den Augen Heynes und somit auch Humboldts ein multikulturelles Phänomen. Damit wurde in Göttingen die Basis für Humboldts Verständnis der Kulturen auf der ganzen Welt gelegt. Archäologische Zeugnisse, wie beispielsweise die Büste einer aztekischen Priesterin in Mexiko, die er einige Jahre später in seinen Reisewerken beschreiben wird[8], stehen für den Naturforscher auf der gleichen Ebene wie die antiken Denkmäler.
Dieses Denken ist eine Absage an jede Form kolonialer Arroganz gegenüber der Kultur aus der Neuen Welt. Es verwundert nicht, dass in diesem Brief die Liberalität im Denken ein Schlüsselbegriff ist. Es ist kein Zufall, dass nur wenige Wochen vor dem Verfassen des Briefes mit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 die Französische Revolution begann. Humboldt wurde in Göttingen von einem geistigen Veränderungsprozess erfasst, dessen Auswirkungen auf seine Biographie ihm zum damaligen Zeitpunkt noch keineswegs bewusst waren.
Ein anderer Gelehrter, dessen Vorlesungen Alexander in Göttingen hörte, war der Physiker Georg Christoph Lichtenberg. Er war seit 1770 Professor für Physik, Mathematik und Astronomie an der Georg-August-Universität. Lichtenberg vertrat ein weites Spektrum an naturwissenschaftlichen Fächern, denn er hielt auch Vorlesungen zur Meteorologie sowie in Astronomie und Chemie. Seine besondere Liebe galt aber der Experimentalphysik. Diese wurde den Studenten nicht als trockene Materie vermittelt, sondern anschaulich und lebendig. Dazu baute Lichtenberg viele praktische Versuche in seine Unterrichtsveranstaltungen ein. Für die Demonstration der Gewitterelektrizität benutzte er beispielsweise fliegende Drachen.