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Ausgerechnet in das verfallene Haus direkt neben dem Friedhof ziehen Brad und seine Mutter ein! Sie haben keine andere Wahl, nachdem Brads Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Zuerst hört Brad ein Stöhnen, dann bemerkt er, dass der Totengräber mitten in der Nacht seltsame Rituale an den Gräbern vollzieht.
Ein unheimlich-phantastisches Abenteuer.
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Alfred Bekker
Horror-Roman
© by Alfred Bekker
www.AlfredBekker.de
All rights reserved
Der vorliegende Roman erschien ursprünglich unter dem Pseudonym John Devlin und dem Titel FRIEDHOF DER LEBENDEN TOTEN im Carl Ueberrreuter-Verlag, Wien
Ein CassiopeiaPress Ebook
Ausgabejahr dieser Edition: 2014
Das graue Gemäuer des verwitterten Hauses wirkte düster und abweisend. Eine Aura der Fäulnis und des Verfalls umgab das Gebäude. Der Wind wehte einen leicht modrigen Geruch herüber und die Pflanzen im Vorgarten waren verdorrt, so als hätte jegliches Leben versucht, sich von diesem Ort zurückziehen. Gleich dahinter befand sich eine windschiefe, aus dem gleichen grauen Gestein gebaute Kirche – umgeben von einem Friedhof. Knorrige, seltsam verwachsene Bäume wuchsen dort, die aussahen wie dämonische Wächter, die ein magischer Bannspruch hatte erstarren lassen.
„Es wird dir schon gefallen, Brad!“
„Ja, Mom!“
„Wir machen es uns schön hier!“
„Gleich neben einem Friedhof. Na großartig!“
„Brad…“
„Wenn ich jetzt so ein abgefahrener Gruftie wäre, der sich mit Leichenöl einreibt, das Gesicht weiß anmalt und nachts schwarze Messen auf Friedhöfen feiert – dann würde ich mich freuen!“
„Brad, wir haben das doch alles besprochen.“
„Sicher!“
„Es ist nun mal nicht zu ändern.“
„Ich weiß. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich es deswegen toll finden muss, oder?“
Brad stieg aus der Beifahrertür des Pick Up, dessen Ladefläche mit Umzugskartons beladen war. Eigentlich sogar überladen, aber da ihr altes Haus nur ein paar Straßen entfernt lag, hatte Mom gesagt, dass man es riskieren könnte. Schneller als zwanzig Meilen die Stunde war sie dennoch nicht gefahren. Mit gutem Grund. Unterwegs war ihnen ein kleinerer Karton auf die Straße gefallen und sie hatte anhalten müssen, um ihn wieder auf den Kasten des Pick Up zu hieven.
Brad Walker blickte seufzend zur niedrigen, etwa hüfthohen Mauer hinüber, die das Grundstück, das zu ihrem neuen Zuhause gehörte, vom Friedhof trennte.
Ein Mann war damit beschäftigt, die Gräber zu pflegen.
Brad konnte nur seinen gekrümmten Rücken sehen. Der Rest seiner Gestalt verschwand hinter einer Hecke.
„Der Bus zu deiner High School in Stamford fährt gleich hier um die Ecke“, sagte Mom. „Du wirst in Zukunft also etwas länger schlafen können!“
„Super!“, maulte Brad.
„Man muss eben auch das Positive sehen! Trotz allem!“
„Tut mir leid, wenn ich im Moment nicht so’n sonniges Gemüt habe, Mom.“
„Ach, Brad!“
„Eigentlich hatte ich gedacht, ich kann ab nächstem Jahr mit dem Wagen fahren, sobald ich den Führerschein habe“, gab Brad zurück. Aber er ahnte bereits, dass auch daraus nichts werden würde. Das war nur einer von mehreren Träumen, die er wohl begraben musste.
Mom seufzte.
Das allein hätte als Antwort schon völlig ausgereicht. Den Rest konnte Brad sich denken. Er konnte sich gerade noch zurückhalten und verzichtete darauf, ihre Worte mitzusprechen, was sie immer besonders ärgerte. Aber das hatte sie im Moment nicht verdient, fand er. Immerhin ging es ihr ja auch nicht gut.
„Brad, du weißt doch, wie es finanziell um uns steht.“
Brad verdrehte die Augen.
„Ja, sicher…“
„Wir werden den Pick Up verkaufen, sobald der Umzug erledigt ist. Und dann müssen wir mit einem Wagen auskommen.“
Brad schluckte. Seine Stimme klang heiser. „Ja, habe ich mir schon gedacht. Und diesen einen Wagen brauchst natürlich du, um ins Büro zu kommen!“ Zum Glück lagen jetzt erstmal Sommerferien vor ihm, sodass er sich darüber erst in drei Monaten zu ärgern brauchte.
Mrs. Dorothy Walker zögerte mit ihrer Antwort. Sie schluckte. Brad bemerkte, dass ihre Augen rot wurden. Und er selbst fühlte auch einen Kloß im Hals. Dads Tod war erst ein paar Monate her. Er war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und lag jetzt auf dem Friedhof von Willington, Connecticut, einer kleinen Stadt direkt an der Küste des Long Island Sound. Bis Stamford waren es nur wenige Kilometer und um nach New York zu kommen, brauchte man anderthalb Stunden mit dem Wagen.
So fern man einen Wagen hat!, dachte Brad etwas verdrießlich. Willington war ein verschlafenes Nest und Brad hätte heulen können, wenn er daran dachte, dass die coolste Stadt der Welt nur anderthalb Autostunden entfernt lag!
Dad hatte ihm einen Wagen versprochen, wenn er die Fahrlizenz in der Tasche hatte.
Aber für die Walkers hatte sich im Handumdrehen alles geändert.
Dad hatte als Anwalt gut verdient, aber er war nie besonders sparsam gewesen. Drei Autos für eine Familie, in der nur zwei Personen einen Führerschein besaßen, waren schon recht üppig. Mit dem Sportflitzer, den er sich selbst zu Weihnachten geschenkt hatte, war Dad dann auf der Küstenstraße Richtung New York State verunglückt. Er war sofort tot gewesen. Man hatte nichts für ihn tun können. Jetzt lag er auf genau jenem Friedhof, in dessen Nachbarschaft Brad und seine Muter notgedrungen gezogen waren, denn die Villa auf der anderen Seite von Willington war nicht mehr zu halten gewesen. Schon zu Dads Lebzeiten war sie eigentlich eine Nummer zu groß und luxuriös im Vergleich zu den finanziellen Möglichkeiten der Familie. Mom hatte zwar neben ihrem Job in einem Steuerberaterbüro noch versucht, i Versicherungen zu verkaufen, aber es war schnell klar geworden, dass es einfach nicht reichte. Das Haus musste verkauft werden.
Die Miete für das alte Haus am Friedhof war nicht einmal halb so hoch wie die Abzahlungsraten für ihr vorhergehendes Zuhause.
„Auf jeden Fall haben wir auch hier Platz genug!“, meinte Mom und versuchte damit etwas positive Stimmung zu verbreiten.
Zweckoptimismus!, erkannte Brad und dachte nicht im Traum daran, da mitzuspielen. Wenn etwas der totale Mist ist, sollte man es auch so nennen! Jedenfalls hatte Brad keinesfalls vor, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
„Sieht aus wie das Horror-Haus von Norman Bates in den Psycho-Filmen!“, lautete daher Brads bissiger Kommentar. „Pass auf, dass wir im Keller nicht irgendeine mumifizierte Oma finden oder jemand eine präparierte Leiche im Tiefkühlschrank vergessen hat!“
„Ach, Brad!“
„Jedenfalls riecht es selbst hier draußen schon so. Einmal eingetrocknete Leiche mit Spinnwebenüberzug und einer extragroßen Portion Staub gefällig? Kriegst du wahrscheinlich umsonst, wenn du auf den Boden steigst.“
„Jetzt übertreibst du!“
„Das ist noch nett ausgedrückt.“
Mom verdrehte genervt die Augen.
„Brad! Was redest du da? Gib dem Haus `ne Chance!“
Brad zuckte mit den Schultern.
„Klar!“
„Die Alternative ist nur, dass du im Garten dein Zelt aufschlägst!“
„Sicher! Gras und Unkraut stehen so hoch, dass mich dann nicht mal die Zombies bemerken würden, die hier wahrscheinlich nachts aus den Gräbern steigen!“
„Du bist unmöglich!“
„Nein“, sagte er. „Nicht ich bin unmöglich, sondern dieses Haus. Es ist unmöglich, sich in dieser Bruchbude wohl zu fühlen!“
*
Sie gingen zur Tür. Bislang hatte nur Mom das Haus von innen gesehen. Brad war in der Schule gewesen, als sie es besichtigt hatte. In der Zwischenzeit wäre zwar durchaus noch Gelegenheit genug gewesen, sich das neue Zuhause doch noch anzusehen, aber irgendetwas in Brad hatte sich zutiefst dagegen gesträubt. So als hätte er es so lange wie möglich vermeiden wollen, diesen Ort aufzusuchen.
Jetzt gab es keine Ausflucht mehr.
Und kein Zurück.
Schmerzlich wurde ihm dies bewusst und er fühlte einen dicken Kloß im Hals, sodass er kaum zu schlucken vermochte.
Vielleicht hatte er es insgeheim einfach nicht wahrhaben wollen, dass diese Bruchbude demnächst sein Zuhause sein sollte.
Mom schloss die Tür auf.
Mit einem Knarren öffnete sie sich.
„Na großartig, wenn jetzt gleich ein Gespenst mit rasselnden Ketten um die Ecke kommt, wundere ich mich über gar nichts mehr!“
„Ein bisschen Öl wird es schon richten, Brad!“
„Wenn man diese Wände zu streng ansieht, fallen sie doch in sich zusammen!“
„Du übertreibst!“
Innen herrschte Halbdunkel. Ein eigenartiger, feuchter und leicht modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Wie in einer Gruft!, dachte er. Alles abgestanden und modrig. Wahrscheinlich gammeln irgendwo noch ein paar mumifizierte Ratten vor sich hin…
Es hatte hier seit Jahren niemand mehr gewohnt und das bedeutete, es konnte Wochen dauern, bis dieser Gestank verschwunden war. Brad drückte auf den Lichtschalter. Nichts geschah.
Tot.
„Toll, Mom! Du kannst gleich den Elektriker anrufen – mal vorausgesetzt, die Telefonleitung ist überhaupt noch in Ordnung – was ich sehr bezweifle.“
„Das Telefon wird erst nächste Woche angeschlossen“, erwiderte Mom. „Aber da wir beide ein Handy haben, dürfte das auch kein Problem sein.“
Brad sah sich die leeren Räume einen nach dem anderen an. Sie waren sehr hoch und jeder Schritt hallte darin auf gespenstische Weise wider.
Mom redete irgendetwas davon, dass man eigentlich zusätzliche Decken einziehen müsste, zum die Heizkosten im Griff zu behalten, aber Brad hörte ihr nicht weiter zu.
Er ging hinauf ins Obergeschoss. Überall lag eine dichte Staubschicht. Spinnenweben spannten quer über die Treppe.
„Mom, das ist ekelhaft hier!“, beklagte sich Brad.
„Wenn alles hergerichtet ist, wird es richtig gemütlich“, antwortete sie aus der Küche.
„Leere Versprechungen!“
„Was hast du gesagt?“
„Nichts, Mom.“
Schließlich hatte Brad das Obergeschoss erreicht. Er betrat eines der Zimmer. Ein Schrank war dort vom Vorbesitzer zurückgelassen worden. Das dunkle Holz wies Verzierungen in Form von chinesischen Drachen auf, deren Gesichter wie die Fratzen missgünstiger Geister wirkten.
Er konnte nicht anders, trat an den Schrank heran und versuchte vorsichtig, ihn zu öffnen. Aber er war verschlossen. Dort wo seine Hände das Holz berührt hatten, entstanden Linien in der Staubschicht. Linien, die für den Bruchteil einer Sekunde die Konturen eines Gesichts zu ergeben schienen.
Brad zuckte zusammen. Er fühlte einen Schauder wie nie zuvor in seinem Leben. Für einen kurzen Moment war er unfähig zu atmen. Der Puls schlug ihm bis zum hals. Ein stöhnender Laut drang von Ferne in sein Bewusstsein.
„Brad!“, kreischte eine Stimme.
„Brad!“
„Brad!“
Erst beim dritten Mal begriff er, dass es seine Mutter war.
Die Konturen im Staub waren plötzlich nicht mehr da.
Fängst du jetzt schon an zu spinnen?, ging es ihm durch den Kopf. Ist vielleicht doch alles ein bisschen viel gewesen in letzter Zeit? Dads Tod und alles, was damit zusammenhängt, hat unser Leben ziemlich durcheinander gewirbelt.
„Brad, warum gibst du eigentlich keine Antwort?“, rief Mom ziemlich sauer. „Muss ich erst die ganze Nachbarschaft zusammenschreien, damit du mir die Gnade einer Gesprächsaudienz gibst?“
Brad atmete tief durch und blickte zur Seite aus dem Fenster, von wo man einen hervorragenden Rundumblick über zwei Drittel des Friedhofs hatte. „Diese Nachbarschaft hört dich sowieso nicht, gleichgültig, wie laut du schreist!“, murmelte er.
„Was ist?“, rief Mom.
„Ich komme gleich!“, antwortete Brad.
„Du könntest mir mal anfassen! Allein schaffe ich diese Kiste nicht!“
„Sofort!“, sagte Brad nun leicht genervt.
Sein Blick blieb nun bei dem Mann hängen, dessen Rücken er hinter einer Hecke hatte hervortauchen sehen. Brad trat näher an die Fensterfront heran. Jetzt sah er den Mann von oben. Er war inzwischen an einem anderen Grab damit beschäftigt, die Blumen wieder in Ordnung zu bringen.
Es war allerdings nicht irgendein Grab, sondern das seines Vaters. Das ist vielleicht das einzig gute an diesem Umzug, dachte Brad. Dad ist uns auf diese Weise nahe. Dass sein Vater nicht mehr am Leben war, hatte Brad noch lange nicht verarbeitet. Wenn er allein war, sprach er manchmal mit ihm, so wie er es früher getan hatte, als er noch lebte. Manchmal half ihm das. Aber es kam auch vor, dass die Traurigkeit dadurch nur noch schlimmer wurde. Er hatte dann ein Gefühl, als würde ihm jemand die Luft abschnüren und den Brustkorb zusammendrücken. Irgendwann, so hoffte er, würde das aufhören. Allerdings hatte er bis jetzt eher das Gefühl, dass es von Mal zu Mal schlimmer wurde und nicht schwächer.
Mit Mom konnte er im Moment über viele Dinge nicht sprechen – und über seine Trauer schon gar nicht. Sie hatte Dads Tod selber noch nicht einmal ansatzweise verwunden.
„Wo bleibst du denn, Brad?“
Brad starrte zu dem Grab seines Vaters hinunter.
JEFFERSON R. WALKER – den Namenszug konnte man sogar hier oben noch lesen. Der Grabstein war frisch und sauber – im Gegensatz zu den verwitterten Exemplaren, die man ansonsten überwiegend hier finden konnte.
In diesem Augenblick blickte der Mann, der sich um die Blumen kümmerte, auf.
Sein Gesicht war bleich und eingefallen wie ein Totenschädel. Die Gesichtsknochen traten deutlich hervor. Die Haut war pergamentartig. Er hatte so gut wie keine Haare mehr auf dem Kopf und wirkte uralt.
Der Mann trug eine Sonnenbrille mit pechschwarzen Gläsern und schien Brad zu mustern. Dieser war für einen Moment wie hypnotisiert.
Dann nahm der Mann die Brille ab.
„Der Elektriker kommt erst morgen“, sagte Mom. „Es scheint wirklich ein Fluch auf diesem Haus zu liegen. Die Toilette funktioniert übrigens auch nicht.“
„Gott sei Dank haben wir noch bis Ende der Woche Zeit“, erwiderte Brad.
Mom nickte. „Ja. Aber diese Zeit werden wir auch brauchen, um alles herzurichten.“
„Hast du Reverend Donaldson mal gefragt, wer vorher hier gewohnt hat?“
„Nein. Warum sollte ich?“
Brad zuckte die Achseln „Nur so. Würde mich halt interessieren.“
„Soweit ich weiß, steht das Haus schon länger leer, als wir in Willington wohnen.“
Eine Antwort, die Brad abwimmeln sollte. Aber so leicht ließ er nicht locker. „Könnte es vielleicht sein, dass dafür ein triftiger Grund existiert?“
„Was denn für ein Grund?“
Die zu einem Gesicht geformten Staubspuren fielen Brad wieder ein – und plötzlich veränderten sich vor seinem inneren Auge dessen eher unklare Konturen zu den Gesichtszügen des alten, bleichen Mannes mit der Sonnenbrille.
Brad versuchte den Gedanken daran so gut es ging zu verscheuchen. Was er da auch gesehen hatte – an übernatürliche Erscheinungen glaubte er nicht.
„Was für ein Grund? Mom, das dürfte sogar dir aufgefallen sein! Dies ist eine Bruchbude. Beim ersten Sturm fliegt das Dach weg oder es stürzt wie ein Kartenhaus in sich zusammen!“
„Das stimmt nicht, Brad.“
„So?“