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Manchmal muss man einen Traum aufgeben, damit sich ein anderer erfüllt
Der Traum von Ellis Wheaton ist wahr geworden: Ryan Van Day ist nach New York und in ihr Leben zurückgekehrt. Endlich haben sich die beiden ihre Gefühle gestanden und können es kaum abwarten, dem Prickeln und der Anziehung nachzugehen. Doch die Folgen eines Skandals werfen noch immer Schatten auf das Luxushotel Van Day - das Zuhause, das Ellis und Ryan lieben und unbedingt retten wollen. Als Hotelerbe muss sich Ryan nun neuen Herausforderungen stellen, die ihm viel abverlangen und ihn langsam verändern. Ellis bemerkt voller Sorge, dass er sich immer mehr von ihr zurückzieht. Aber sie wird nicht noch einmal tatenlos zusehen, wie Ryan aus ihrem Leben verschwindet. Sie ist bereit, für ihre Träume zu kämpfen ...
»Die Geschichte von Ellis und Ryan erzählt echt und doch unfassbar schön von dem Versuch, sich selbst wiederzufinden und einander dabei trotzdem nicht zu verlieren. Ich möchte für immer im Hotel Van Day bleiben.« MERIT NIEMEITZ
Abschlussband der VAN-DAY-Dilogie
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Seitenzahl: 471
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Playlist
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
Nachwort
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Mounia Jayawanth bei LYX
Impressum
Mounia Jayawanth
All Our Golden Dreams
Roman
Der größte Traum von Ellis Wheaton ist Wirklichkeit geworden: Ryan Van Day, ihr bester Freund seit Kindheitstagen, ist nach New York und in ihr Leben zurückgekehrt. Und nicht nur das, endlich konnten die beiden die unausgesprochenen Dinge zwischen ihnen überwinden und sich ihre Gefühle offenbaren. Für Ellis und Ryan beginnt eine Zeit voller gemeinsamer Glücksmomente, in denen sie das Prickeln und die knisternde Anziehung zueinander weiter erkunden. Doch die Folgen des Skandals um den Tod einer bekannten Schau-spielerin in einer der Suiten werfen noch immer Schatten auf das familiengeführte Luxushotel Van Day – das Zuhause, das Ellis und Ryan so lieben und unbedingt retten wollen. Besonders Ryan hat mit den Anforderungen, die seine Rolle als einer der Hotelerben an ihn stellt, zu kämpfen. Und Ellis bemerkt voller Sorge, wie dies den jungen Mann, den sie liebt, verändert und er sich immer mehr von ihr zurückzieht. Aber Ellis wird nicht noch einmal tatenlos zusehen, wie Ryan aus ihrem Leben verschwindet. Sie ist bereit, für ihre Träume zu kämpfen, auch wenn es vielleicht einfacher wäre, sie aufzugeben …
Liebe Leser:innen,
All Our Golden Dreams ist der zweite Teil einer zusammenhängenden Dilogie. Falls ihr den ersten Band All My Golden Memories noch nicht gelesen habt, würden wir empfehlen, das zuerst zu tun, damit ihr Ellis, Ryan und das Hotel Van Day kennenlernen könnt.
Außerdem möchten wir euch darauf hinweisen, dass dieses Buch Themen enthält, die einige Menschen als belastend empfinden können.
Nähere Informationen dazu findet ihr hier.
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Mounia und euer LYX-Verlag
Für alle, die bleiben.
Home Sweet Hotel – New Rules
fake smile – Ariana Grande
willow – Taylor Swift
Tomorrow – Fly By Midnight
universe – thuy
Touch – Little Mix
Teenage Dream – Katy Perry
Hands To Myself – Selena Gomez
8 Letters – Why Don’t We
Paper Planes – Elina
Think About You – Sture Zetterberg, Shy5
Perfect Target – Knightly
I miss you, I’m sorry – Gracie Abrams
you heard me – Heather Sommer
never knew a heart could break itself – Zach Hood
hate myself – Tate McRae
blame’s on me – Alexander Stewart
LET EM GO – Matt Hansen
you were good to me – Jeremy Zucker, Chelsea Cutler
Was bisher geschah:
Ein Skandal brachte Ryan zurück in das berühmte New Yorker Luxushotel Van Day, das seit mehreren Generationen von seiner Familie betrieben wird. Dort traf er auf Ellis, seine ehemals beste Freundin, mit der er zusammen aufgewachsen war und die er seit ihrem großen Streit vor zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Anfangs noch verschlossen und unsicher, näherten sich die zwei wieder an, sprachen sich aus, bekamen eine zweite Chance, verliebten sich erneut.
Doch dann drohte ein noch größerer Skandal an die Öffentlichkeit zu gelangen, und um das Hotel zu retten, machte Ryans Mutter Ellis ein dubioses Angebot.
Als Ryan davon erfuhr, war er rasend vor Wut. Er bat Ellis, das Angebot nicht anzunehmen, und als sie immer noch zögerte, beschloss er, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Ein Tropfen fällt auf meinen Handybildschirm und lässt meine Worte zu einem undeutlichen Brei verschwimmen. Ein Schluchzer klemmt in meiner Kehle, doch ich schlucke ihn runter und wische mit meinem Ärmel über das Handy. Ich will gerade auf Senden Drücken, als ich innehalte, und meine Daumen zum kleinen »x« wandern lasse. Gedrückt halte. Alles wieder lösche. Buchstabe für Buchstabe.
Wen muss ich überhaupt noch updaten? Deb und Rahim wissen es vermutlich sowieso schon. Die ganze Welt weiß es. Weil Ryan den Helden spielen musste. Weil er mich schützen wollte. Und vielleicht auch, weil er sich rächen wollte. An seiner Familie.
Ich verstehe es. Das tue ich wirklich. Doch damit hat er aus dem kleinen Funken, der gerade dabei war zu verglühen, ein riesiges Feuer entfacht, und unser ganzes verdammtes Leben in Brand gesteckt.
Und jetzt sitze ich in einem Taxi und umklammere meine Tasche, in die ich wegen unseres abrupten Auszugs alles ungeordnet reingestopft habe, während die vertrauten weißen Fassaden, die noch immer von Reportern belagert werden, im Rückspiegel kleiner werden, und sich das unsichtbare Band zwischen meinem Körper und meinem Herzen, das ich im Hotel, meinem Zuhause, zurückgelassen habe, immer weiter dehnt.
Bis es schließlich reißt.
Drei Stunden zuvor
»Was hast du getan?«
Ellis’ Stimme lässt die Glasperlen des Kronleuchters in der leeren Lobby klirren. Ihre Augen sind vor Schreck aufgerissen, ihre Unterlippe zittert. Der Saum meines Shirt-Kragens drückt sich in meinen Nacken, so fest zieht sie am Stoff. Und ich kann nichts sagen. Ich will, aber ein Kloß blockiert meine Stimmbänder. Das Blut rauscht in meinen Ohren, mein dröhnender Herzschlag übertönt meine rasenden Gedanken.
»Ryan.« Sie schließt die Augen und schüttelt mehrmals den Kopf, als würde sie gleich die Nerven verlieren. In diesem Moment ist ihre Panik so greifbar, dass sie mich selbst in Besitz nimmt. All der Zorn, den ich gerade noch überall in meinem Körper gespürt habe, wird durch ihre Angst zurückgedrängt.
»Ich …«, beginne ich stockend, da ändert sich ihr Ausdruck. Unglaube erfasst ihren Blick, noch bevor ich irgendwas erklärt habe. Das ist eine Gabe, ganz sicher. Ein sechster Sinn, der es ihr ermöglicht, meine Gedanken zu lesen. Das war schon immer so. Nie musste ich irgendwas erklären, sie wusste es immer schon vorher. Ein Gespräch ohne Worte. Eine Kommunikation aus Blicken.
»Gib mir dein Handy«, verlangt sie, und ich zögere nur kurz, da es jetzt sowieso nichts mehr ändern wird. Der Stein rollt bereits, und ihn aufzuhalten ist unmöglich.
Ich zücke mein iPhone aus meiner hinteren Hosentasche und will es ihr gerade reichen, da zerreißt ein weiterer Laut die Stille.
»Hey!«
Ellis und ich fahren zusammen und drehen uns zu Dennis, der mit einem Kollegen hinter der Rezeption steht. Seine Augen sind vor Ärger zusammengekniffen, das Gesicht fast so rot wie sein Haar.
»Was auch immer das werden soll, besprecht das nicht hier!«
Er hat recht. Am Ende wecken wir noch das ganze Hotel. Ohne ein Wort steuern wir zu den Aufzügen, und mein Herzschlag wechselt den Takt, als Ellis unvermittelt meine Hand in ihre nimmt.
Allerdings nur, um nach meinem Handy zu fischen.
Autsch. Mit einem Stechen in der Brust entkrampfe ich meine Finger und reiche es ihr.
Während wir auf den Fahrstuhl warten, starren wir einander in der goldenen Spiegelung an. Ellis hält mein Handy fest gegen die Brust gedrückt, als fürchte sie, jemand könnte es ihr wegnehmen. Ihr schwarzes Kleid ist vom Liegen zerknittert, ihr Zopf hängt schief. Mein Blick fällt auf ihre nackten Füße, und das schlechte Gewissen trifft mich wie eine Ohrfeige. Sie muss mir so schnell hinterhergerannt sein, dass sie vergessen hat, ihre Schuhe anzuziehen. Dabei wollte ich sie nicht allein schlafend zurückzulassen, aber im Ballsaal gab es kaum Internetempfang, deshalb musste ich runter, um … zu tun, was ich tun musste.
Das Pliing ertönt, die Türen gleiten auseinander, und erst, als wir im Aufzug sind, löst Ellis den Klammergriff um mein Handy. Ein paar Atemzüge lang betrachtet sie den Bildschirm, beißt sich nachdenklich auf die Unterlippe, und tippt schließlich die Zahlenkombination ein. 0509. Sie entsperrt das Handy beim ersten Versuch. Meine PIN hat sich nie geändert. Und sie hat sie nie vergessen. Kein Wunder, immerhin war sie es, die sie vor langer Zeit erstellt hat.
»Mein Geburtstag«, erklärte sie einst grinsend. »Dann vergisst du ihn nicht.«
Als ob ich das getan hätte. Aber damals wusste ich noch nicht, dass ich nie etwas vergessen würde, das mit ihr zu tun hatte.
Die Twitter App ist noch geöffnet, meine Worte, die ich vor wenigen Minuten veröffentlicht habe, ploppen auf der Startseite auf. Ellis überfliegt die Zeilen, ihr Blick weitet sich, ihre Haltung gerät ins Taumeln. Stolpernd knallt sie gegen ihr eigenes Spiegelbild, fixiert den Bildschirm, ihre Augen werden immer größer.
»Ist das wahr?«, flüstert sie kaum hörbar.
Ich presse die Lippen fest zusammen, antworte nicht.
»Aber … wie … warum solltest du das öffentlich machen?«
Und mit einem Schlag kehrt die Wut zurück. »Um ein einziges Mal die Wahrheit zu sagen.«
»Aber zu welchem Preis? Oh Gott. Nein, das ist nicht wahr. Das kann einfach nicht wahr sein.« Sie schüttelt mehrmals den Kopf, panisch, manisch. Ihre Lider flattern, ihr Atem wird schneller. »Weg. Das muss sofort weg!« Zitternd fliegen ihre Finger über den Bildschirm, und bevor ich ihr das Handy aus der Hand reißen kann, ist der Tweet gelöscht.
Ich lächele dumpf. »Es ist zu spät.«
»Nein.« Sie nickt entschlossen, als wollte sie sich damit selbst überzeugen. »Vielleicht haben wir Glück, und niemand hat ihn gesehen. Und wenn doch … Man kann es noch retten. Ihr … ihr könnt einfach sagen, dass es ein Missverständnis war.«
Ein Missverständnis?
»Wer würde das nach all den Gerüchten noch glauben? Die Wahrheit kennt doch sowieso schon jeder.«
Schließlich ist erst heute Morgen ein alles vernichtender Artikel erschienen, der dem Hotel vorwirft, den Tod von Edith Langston als PR genutzt zu haben. Womit er recht hat. Und den wütenden Stimmen im Internet nach zu urteilen, glauben es alle.
»Nein.« Ellis streicht sich ein paar wirre Haare aus der Stirn, die ihr jedoch sofort wieder ins Gesicht fallen, als sie von Neuem den Kopf schüttelt. »Es gibt einen Haufen Gerüchte, aber keine Beweise. Die ganzen Zweifel um die anonyme, ehemalige Angestellte … Der Artikel … Das ist zwar alles ziemlich scheiße, aber noch gibt es kein richtiges Problem … Gab«, setzt sie mit brüchiger Stimme hinzu. »Denn jetzt hast du es zu einem gemacht!«
Die Aufzugstüren öffnen sich, doch niemand von uns steigt aus. Schweigend starre ich sie an und spüre die Enttäuschung tief in meinem Bauch brennen. Sie gibt mir die Schuld. Nicht ihnen. Mir.
»Ich verstehe ja, dass du sauer bist …«
Ich schnaube leise. Gar nichts versteht sie.
»Und ich weiß, dass du die Lügerei satthast …«
Die Aufzugstüren schließen sich wieder.
»Aber du kannst die Zukunft des Hotels nicht wegen deines persönlichen Zorns auf deine Eltern aufs Spiel setzen. Und die Situation dann auch noch auf eine so persönliche Ebene bringen. Jetzt hast du ein völlig neues Fass geöffnet, eins, das brodelt und …« Sie bricht ab, die Fahrstuhlbeleuchtung fällt in ihre Augen, lässt die Angst darin noch heller flackern. »Ryan, ist dir nicht klar … Es könnte alles zerstören!«
Zerstören. Ich lächele verkniffen. Die Frage ist nur nicht was, sondern wen?
»Mit dieser Enthüllung könntest du das Hotel in einen riesigen …«
»Ein Skandal, ja ich weiß«, falle ich ihr scharf ins Wort. »Und das darf nicht noch mal passieren, denn nichts auf der Welt ist wichtiger als das verdammte Hotel. Nicht mal deine Zukunft, die du einfach so aufs Spiel setzen wolltest.« Wütend reiße ich ihr mein Handy aus der Hand. »Jetzt kannst du die Schuld wenigstens nicht mehr auf dich nehmen, also hatte es zumindest etwas Gutes.«
Ellis öffnet den Mund und starrt mich an, als könnte sie nicht glauben, was sie da hört. »Also ging es hier um mich? Du wolltest mich schützen?«
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Warum, verdammt, kapiert sie es nicht?
»Ich kann nicht mehr länger lügen!«, brülle ich.
Ellis zuckt zurück. Schock verzerrt ihre Miene, wird jedoch sogleich von Zorn vertrieben.
»Aber damit wirst du alles kaputt machen!«
Und wenn ich mich nicht aus dem Teufelskreis befreie, mache ich mich kaputt. Aber das muss ich ihr nicht sagen, denn auch, wenn sie mich sonst immer versteht, diesmal tut sie es nicht, sieht nur das Hotel, ihr Zuhause, das Imperium meiner Familie.
Aber nicht mich.
Müde schieße ich die Augen. Von allen Menschen auf der Welt dachte ich, dass zumindest Ellis auf meiner Seite stünde. Doch meine Hoffnung ist nur auf tiefe Vorwürfe geknallt.
Ein vertrautes Gefühl der Leere erfasst mich, drängt sich gegen meine Organe, breitet sich immer weiter aus. Meine Lunge zieht sich schmerzhaft zusammen, mein Atem gerät ins Stocken.
Die Aufzugstüren öffnen sich wieder, und diesmal steige ich aus, drängele mich an einem Mitarbeiter vorbei und durchquere den Flur mit großen Schritten.
Ich bin schon fast im Treppenhaus, als Ellis nach mir ruft.
Und ich nicht antworte.
@hotelvanday
Die Wahrheit? Niemand wurde ermordet. Edith Langston starb an einem Herzinfarkt und Albert van Day beging Suizid.
Obwohl der Tweet längst gelöscht ist, haben sich die Worte in meine Gehirnwände gebrannt. Ich kann einfach nicht fassen, dass Ryan das wirklich getan hat. Dass er mit der Erwähnung von Grandpa Als Ableben erneut das Feuer der Gerüchte geschürt hat. Es mag die Wahrheit sein, aber die Leute werden sich darauf stürzen wie Geier und so lange mit ihren scharfen Schnäbeln an der Fassade des Hotels herumhacken, bis nichts mehr davon übrig ist. Wie soll es da noch seinen »Todes-Ruf« loswerden? Wer würde das Hotel noch als Wohlfühlort sehen statt als Unglücksort?
Ich presse mein Gesicht gegen das Sofakissen und stoße einen gedämpften Schrei aus. Wie konnte er das nur tun? Wie konnte er so waghalsig, so unberechenbar sein? Das Schlimmste ist, dass er es nicht einmal zu bereuen scheint. Ryan steht zu seiner Entscheidung, und der Schmerz der Enttäuschung ist so erstickend, dass ich kaum atmen kann.
Aber er wollte dich retten, sagt eine leise Stimme in meinem Kopf. Ryan war außer sich vor Wut und wäre niemals so ausgerastet, wenn ich ihm nicht von Jules’ Angebot erzählt hätte, und dass ich tatsächlich mit dem Gedanken spielte, es anzunehmen. Wie hätte ich auch nicht, nachdem sie mir die Möglichkeit geboten hat, Mom von ihren Schulden zu befreien und mir meinen größten Traum zu erfüllen, ein Journalismus Studium an der Columbia? Jeder, der in meiner Lage gewesen wäre, hätte zumindest darüber nachgedacht.
Aber Ryan hatte recht. Welche Universität würde mich nehmen, wenn ich die Schuld auf mich nähme und öffentlich zugäbe, dass ich Zeitungen belogen und Gerüchte über das Hotel verbreitet habe? Und wie könnte ich mir danach noch einen Namen als investigative Journalistin machen? Hätte mich die Hoffnung nicht derart benebelt …
Oh Gott. Kälte durchfährt mich, als meine Gedanken eine gefährliche Abzweigung nehmen. Wenn Ryan meinetwegen so wütend wurde, wenn ich es war, die sein Gefühlschaos verursacht hat … ist es dann am Ende meine Schuld?
Mit einem Knall springt die Wohnungstür auf. Erschrocken fahre ich zusammen. »Mom!«
»Ellis?« Sie rollt ihren Koffer in die Wohnung und schlägt die Tür hinter sich zu.
»Du hast mich erschreckt.« Ich presse mir eine Hand auf die Brust.
»Ich dachte, du schläfst noch. Was machst du denn da im Dunkeln? Und warum bist du noch wach? Bitte sag nicht, dass du wieder gearbeitet hast.«
»Hab ich nicht.« Meine Stimme klingt kratzig. »Aber was ist mit dir? Wolltest du nicht schon gestern zurückkommen?« Meine Mutter hat über das Wochenende bei einem Junggesellinnenabschied gearbeitet, und wenn ich mich richtig erinnere, meinte sie, dass sie schon Sonntagabend zurück sein würde.
»Ich hab dir doch geschrieben, dass alles viel länger ging als geplant.«
»Oh.« Ich weiß gar nicht, wo mein Handy ist. Vorhin habe ich es hiergelassen, um Ryans Nachrichten zu entgehen. Weil ich ihn nach dem Gespräch mit Jules nicht sehen konnte, ohne ihn anzulügen. Weil ich ihm die Wahrheit doch gesagt habe und es jetzt bereue.
»Ist alles okay, Schätzchen?«
Mom durchquert den Raum und geht vor mir in die Hocke. Sie sieht müde aus, das Gesicht zerknittert, ihr Augen-Make-up leicht verschmiert. Weil sie das ganze Wochenende durchgearbeitet hat. Unseretwegen.
Ich schließe die Augen und ringe mir ein schwaches Kopfschütteln ab.
»Was ist passiert?«
Langsam öffne ich den Mund, doch kein Laut entkommt mir. Der Raum beginnt sich zu drehen, Schwindel drückt gegen meinen Schädel.
»Ist irgendwas mit Ryan?«
Sie legt eine kalte Hand auf mein Knie, und ich weiß nicht, ob es die Berührung oder der Klang seines Namens ist, der mich zusammenzucken lässt.
»Ich … ich …«
Und dann bricht es aus mir heraus. Wie eine Fontäne schießen heiße Tränen über meine Wangen, während ich ihr alles erzähle – von Ryan, mir, uns, dem Artikel, der das Hotel bezichtigt, für die falschen Gerüchte um Edith Langstons Tod selbst verantwortlich zu sein (was leider stimmt) und Jules’ Angebot, dass ich mich im Ernstfall als besagte Angestellte ausgebe, die die Interviews gefälscht und die Presse belogen hat, damit das Hotel aus dem Schneider ist. Ryans Tweet enthalte ich ihr ebenfalls nicht vor. Die Worte sprudeln nur so aus mir hervor, und mit jedem Satz fällt die Last der letzten Stunden immer mehr von meinen Schultern.
Als ich schließe, schweigt meine Mutter ebenfalls. Sekundenlang starrt sie mich an und blinzelt irritiert, als hätte sie mich nicht richtig verstanden. Als müsste sie meine Worte erst in eine andere Sprache übersetzen. Doch dann begreift sie. Und mit einem Schlag wird ihre Miene so hart, dass ich instinktiv zurückweiche.
Dann explodiert sie. »Jules hat was getan?«
Ohne Vorwarnung fliegt meine Tür auf, und meine Schwester platzt herein. »Bitte sag mir, dass das nicht du warst.«
Mein Puls schießt in die Höhe. Also hat es schon die Runde gemacht. Ich wusste, dass es nichts bringen würde, den Tweet zu löschen. Irgendwer hat ihn gesehen und irgendwer gescreenshotet. Was im Internet passiert, bleibt im Internet.
»Was meinst du?«, gebe ich mich dennoch ahnungslos.
»Oh nein, Brüderchen. Nicht mit mir.« Sam schließt die Tür hinter sich und stemmt die Hände in die Hüften. Unter ihrem schwarzen Parka trägt sie ein dünnes Nachtkleid, dazu ausgelatschte Birkenstocks. Ihre kurzen Haare stehen in alle Richtungen ab, ihr Gesicht ist ungeschminkt. Wahrscheinlich ist sie nach der Eilmeldung sofort aus dem Bett gesprungen und mit einem Taxi hierher gerast.
Heiße Schuld kämpft sich durch meine tauben Glieder. Ich weiß, wie ungern sie sich seit dem Tod von Grandpa Al in diesem Hotel aufhält. Dass sie meinetwegen herkommt, wollte ich nicht.
»Warum sagt mir Amy, dass du um vier Uhr morgens nach dem Twitter Passwort gefragt hast?«, setzt sie ihr Verhör fort. »Und warum wird kurz danach ein dubioser Tweet vom Hotelaccount veröffentlicht und Minuten später wieder gelöscht?«
War ja klar, dass die neue Mitarbeiterin aus dem Marketing gepetzt hat. Allerdings war sie auch die Einzige, bei der ich sicher war, sie würde mir das Passwort einfach so geben.
»Sehr mysteriös«, entgegne ich trocken.
»Das ist nicht witzig, Ryan.« Ihre Nasenflügel blähen sich auf, wie immer, wenn sie wütend wird. »Hast du eine Ahnung, was da gerade abgeht?« Sie deutet auf ihr iPhone, als würde sich jenseits des Metallgehäuses ein wütender Mob befinden, der bereits Fackeln und Mistgabeln ausgepackt hat.
»Warum? Der Tweet ist doch sowieso wieder gelöscht worden.«
Ihre Gesichtszüge entgleisen. Mit aufgerissenen Augen starrt sie mich an. »Also warst du es wirklich?«
Sie sieht mich genauso an wie Ellis. Mit derselben Mischung aus Unglauben und Bestürzung. Vermutlich ist das schlimmer als jeder Vorwurf.
»Wie … aber … ich … verstehe nicht.« Sam verzieht das Gesicht und hält sich den Kopf, als wäre irgendwas darin falsch verkabelt. »Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Warum solltest du das tun?«
Weil das nun mal passiert, wenn man sein ganzes Leben lang immer über alles schweigen muss, aus Angst, die Wahrheit würde dem Ruf der Familie schaden. Unter der Oberfläche brodeln die Worte trotzdem weiter, werden heißer, brennender. Erreichen ihren Siedepunkt.
Bis sie aus einem herausbrechen.
»Ryan. Rede mit mir.« Es ist keine Bitte, sondern ein Befehl. »Erklär mir, warum du etwas so Grausames tun solltest.«
Ich bin hier der Grausame, klar …
»Ryan!« Sie sagt meinen Namen wie eine Mahnung.
Ich sehe zur Decke, meine Kiefer mahlen. »Hat dir Mom erzählt, was sie getan hat?«
Meine Schwester runzelt überrascht die Stirn. »Was meinst du?«
Ein plötzliches Poltern erklingt, so laut, als wollte jemand die Tür einschlagen. Sam und ich zucken zusammen, sehen einander an, und lauschen zur Tür, als im nächsten Moment ein schriller Klang die Luft zerreißt.
»WILLST DU MICH VERARSCHEN?«
Ich erstarre. Ist das …
»Kelly …«, höre ich die gedämpfte Stimme meiner Mutter.
»DU ZIEHST MEINE TOCHTER IN KRUMME GESCHÄFTE REIN UND BESTICHST SIE?«
Sam klappt der Mund auf.
»So war das nicht«, entgegnet Mom in einem ruhigen Tonfall. »Ich habe sie nirgendwo reingezogen und auch ganz bestimmt nicht bestochen. Wir haben uns nur über ein hypothetisches Szenario unterhalten.«
»UND WARUM REDEST DU VORHER NICHT MIT MIR?«
»Kelly, bitte … lass es mich erklären.«
Aber Kelly lässt sich nichts erklären. Wie ein Sturm toben ihre Worte durch die Wohnung, lassen die Böden und Wände erzittern. Meine Nackenhaare stellen sich auf, mein Herz zieht sich zusammen. Schock und Angst rauschen durch meine Venen.
Und alles, was ich denken kann, ist: Ellis.
Ich bin nicht sicher, ob mir die Panik nun vollständig den Kopf vernebelt, aber ich meine, mir laute Schreie einzubilden. Oh Gott. Ich wollte Mom schon längst nachgehen, doch der Schock hat meinen Körper paralysiert. Scheiße! Warum habe ich es ihr überhaupt erzählt? War doch klar, dass sie ausflippen würde.
Und doch hat Jules nicht mit der Wimper gezuckt, als sie mir das Angebot unterbreitet hat. Ob sie wusste, welche Folgen das für ihre Freundschaft mit Mom haben würde? Ob es ihr egal war? Oder hat sie einfach nicht nachgedacht?
Mein Zeitgefühl verdichtet sich zu einem dicken Klumpen aus Angst und Panik, und ich habe keine Ahnung, ob Minuten oder Stunden vergangen sind, als meine Mutter wieder in unsere Wohnung stürmt. Ihr ganzer Körper zittert vor Wut.
»Pack deine Sachen«, ruft sie mir auf den Weg in ihr Zimmer zu.
Ich erstarre. »Warum?«
»Wir ziehen aus.«
»Was?« Das Leben kehrt schlagartig in meine Gliedmaßen zurück. Ungelenk springe ich auf und hechte ihr hinterher.
»Beeil dich.« Sie geht auf die Knie und zieht einen Koffer unter dem Bett hervor. Derselbe, mit dem wir vor zehn Jahren angereist sind. »In fünf Minuten sind wir weg.«
Nein. Das passiert gerade nicht wirklich, oder?
»Mom! Wir können doch nicht einfach … Beruhige dich erst mal«, bitte ich, und merke im selben Atemzug, wie sinnlos diese Aufforderung ist. Wann hat sich schon jemals jemand beruhigt, nachdem er höflich dazu aufgefordert wurde?
Mom hält einen Moment lang inne, dann dreht sie den Kopf in meine Richtung. Ihr Blick ist kalt und zornerfüllt.
»Meine beste Freundin hat meiner Tochter ein Angebot gemacht, das ihre ganze Zukunft zerstören könnte.« Ihre Stimme ist gefährlich ruhig. »Sie hat unsere finanzielle Notsituation hinterrücks ausgenutzt. Nein, ich werde mich nicht beruhigen. Ich werde jetzt gehen und die können dann sehen, wo sie ohne Köchin bleiben.«
Die? Sie redet hier vom Hotel – unserem Zuhause!
»Mom …«, sage ich wieder, doch sie schneidet mir das Wort ab.
»Pack. Deine. Sachen«, wiederholt sie, und diesmal sind ihre Worte so scharf, dass sie mir förmlich in die Haut schneiden.
Ohne ein weiteres Wort laufe ich in mein Zimmer.
Sam ist die Erste, die sich aus ihrer Starre befreit. Schweigend reicht sie mir eine Hand und ich ziehe mich an ihr hoch. Zu zweit treten wir aus der Tür und finden unsere Mutter im Salon. Das Gesicht auf die Hände gestützt, sitzt sie in ihrem cremefarbenen Pyjama auf dem Sofa. Der Duft von Kellys Parfüm hängt noch in der Luft, erinnert daran, dass sie wirklich hier war.
»Ist sie weg?«, fragt Sam leise.
Moms Kopf schießt in die Höhe. Sie runzelt die Stirn und blinzelt, als müsste sie sich aus einem störrischen Gedanken befreien. Als ihr Blick auf mich fällt, verfinstert sich ihre Miene.
»Ja. Endgültig.«
»Was?«
»Sie hat gekündigt.«
»Was?«, platzen Sam und ich gleichzeitig heraus. Das Geschrei vorhin wurde irgendwann so undeutlich, dass wir am Ende nichts mehr verstanden haben.
»Und sie will ausziehen.«
Kelly geht weg? Und … Ellis auch?
»Wir haben jetzt keine Köchin mehr. Und so wütend wie sie ist, wird sie uns vermutlich verklagen. Vielleicht nimmt sie ihr Team auch mit, wer weiß. Und wenn sie die Geschichte öffentlich macht, werden wir garantiert keine Sterneköche mehr finden, die hier freiwillig arbeiten wollen.«
Meine Eingeweide verkrampfen sich. War es nicht das, was ich wollte? Das Lügennetz zerreißen, die Wahrheit ans Licht bringen? Selbst, wenn das Hotel daran zerbrechen muss?
Vielleicht. Vielleicht waren mir für etwa zwei Sekunden alle Konsequenzen egal. Dass ich das Imperium meiner Familie mit einem Satz zerstören könnte, war mir egal.
Aber nicht, dass Ellis geht. Nicht, dass Kelly ihren Job an den Nagel hängt. Nicht, dass sich unsere Familien entzweien.
Wie konnte das so schnell passieren? Ein Dominostein hat den nächsten umgestoßen, bis alles in Trümmern lag. Zerstört. Dabei ging es mir nie um Zerstörung. Ich wollte doch nur …
»Alles war gut. Es gab überhaupt kein Problem. Aber dann musstest du diesen Tweet …«
Ich lache ungläubig auf. »Wirklich, Mom? Der Tweet ist schuld, dass Kelly weg ist? Nicht etwa die Tatsache, dass du Ellis die ganze Verantwortung deiner Intrigen zuschreiben wolltest?«
Mom presst die Lippen fest aufeinander, eine winzige Regung flackert über ihr Gesicht, unklar, ob sie Trotz oder Schmerz ausdrückt. »Ich habe sie zu nichts gezwungen.«
Ich seufze resigniert. »War so klar, dass du es nicht einsiehst.«
»Und du? Du glaubst, ich hätte eine Grenze überschritten, aber was ist mit dir?« Tränen blitzen in ihren Augen auf, ihre Stimme klingt erstickt. »Siehst du ein, dass du mit deinem Tweet zu weit gegangen bist? War es wirklich nötig, Grandpas Tod in die Öffentlichkeit zu bringen? Musstest du die alte Wunde unbedingt wieder aufreißen? Alles nur, um dich an mir zu rächen?«
Nun laufen ihr die Tränen richtig über die Wangen, und ein schaler Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Ich habe meine Mutter noch nie weinen sehen. Sie zeigt ihre Gefühle nicht, zeigt sich nie verwundbar. Dass ihre Fassade nun bröckelt, muss bedeuten, dass sie völlig am Ende ist.
Mein Blick geht zu meiner Schwester. Sie sieht zu unserer Mutter, ihr Ausdruck bedrückt und mitfühlend.
Schuld krampft sich in mein Herz. Ich habe nicht damit gerechnet, dass der Tweet meine Mutter derart treffen könnte, aber bei Sam hätte ich es eigentlich wissen müssen. Wie konnte ich nur so gedankenlos sein?
»Sam, ich …«
»Schon gut«, winkt sie ab und greift nach meiner Hand. »Ich bin nicht böse, Brüderchen. Du hast einen Fehler gemacht. Das passiert.«
Erleichterung durchflutet mich. Ich drücke ihre Finger, dankbar, dass sie mir keine Vorwürfe macht, sogar Verständnis zeigt. Das ist mehr, als ich verdiene.
»Na ja, ist jetzt nicht zu ändern.« Mom wischt sich über den Augenwinkel, lockert die Schultern, als wollte sie sämtliche Trauer von sich schütteln. »Jetzt müssen wir das Problem lösen.«
»Wie?«, frage ich heiser.
Als Antwort sieht sie mich einfach nur an. Erst begreife ich nicht, worauf sie hinauswill, doch dann …
»Ist das dein Ernst?«
Ihre Miene bleibt ungerührt. »Es ist die einzige Möglichkeit.«
Wow. Diese Frau kennt wahrhaft keine Grenzen.
»Also?« Sie hebt eine Augenbraue, und ich verstehe nicht, warum ich nicht einfach Nein sage. Sie hat meine Hilfe nicht verdient. Ich schulde ihr nichts und auch nicht dem Hotel.
Aber mir. Ich schulde es mir.
Und Ellis.
Und Sam. Und vielleicht auch Grandpa Al.
»Okay«, sage ich leise. »Aber nur unter einer Bedingung.«
Ich konnte mich nicht einmal vom Hotel Van Day verabschieden. Weder von dem Ort, den ich zehn Jahre lang Zuhause nannte, noch von den Mitarbeitern, meiner Familie. Bestimmt wird Louisa sauer sein, dass ich nicht wenigstens Tschüss gesagt habe, aber Mom hat mir ja nicht mal die Zeit gelassen, um noch schnell aufs Klo zu gehen. Sie wollte einfach nur weg, und ich verstehe es. Ich heiße es nicht gut, doch ich verstehe es.
Mit angespanntem Kiefer starre ich auf die vorbeiziehenden Gebäude und weiß gar nicht, wohin wir fahren. Mom hat dem Taxifahrer zwar eine Adresse genannt, aber sie war so aufgebracht, dass ich mich nicht getraut habe nachzufragen, wer oder was sich in der 146 Willow Street, 11 201 befindet. Als Ryan und ich damals versehentlich ihr teures Kleid abgefackelt haben, war sie bereits rasend vor Wut, doch so aufgebracht habe ich sie noch nie erlebt. Niemand von uns sagt ein Wort, selbst der Fahrer unterbricht die Stille nicht, und so rattern wir in unbehaglichem Schweigen über die Brooklyn Bridge, während meine Gedanken zurück zu Ryan wandern. Wir sind im Streit auseinandergegangen – schon wieder. Mein Kopf pocht, meine Emotionen können sich nicht entscheiden, ob Wut oder Trauer oder Enttäuschung die Oberhand gewinnt.
Und dann muss ich lachen. Laut und schrill steigt es aus meiner Brust empor und lässt die Blechwände des Autos vibrieren. Schnell presse ich mir die Hand vor den Mund, kann aber trotzdem nicht aufhören. Das ist so absurd. Gott, das alles hier ist so scheiß absurd! Tränen steigen mir in die Augen, der Taxifahrer sieht verstört zu mir, und ich muss noch heftiger kichern.
Nur Mom sagt nichts. Sie wirkt so in ihre Gedanken versunken, dass sie meinen Ausbruch vielleicht nicht einmal mitkriegt.
Und mit einem Mal erstirbt mein Lachen.
*
Wie es aussieht, handelt sich bei der 146 Willow Street um Dads neue Adresse. Natürlich. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?
In T-Shirt, Schlafhose und Hausschlappen wartet er bereits vor den Treppen eines terracottafarbenen Brownstone Gebäudes. Als ich die Autotür öffne, setzt er sich in Bewegung.
»Shamsi!« Er nimmt mir meine Tasche ab und schließt mich in eine feste Umarmung. Erschöpft lasse ich das Kinn gegen seine Schulter sinken und atme seinen vertrauten Duft ein, während die Kraft immer mehr aus meinen Muskeln weicht.
»Hi, Kells«, begrüßt er meine Mutter, die ebenfalls ausgestiegen ist.
»Hi. Tut mir leid, dass wir dich so früh geweckt haben. Ist es wirklich okay, wenn sie für eine Weile bei dir bleibt?«
»Warum nur sie?«, fragt Dad und lässt mich los, um sich ganz meiner Mutter zuzuwenden. Seine Haare sind noch vom Schlaf zerzaust, die Wangen mit dunklen Stoppeln überzogen. »Du bist natürlich auch willkommen.«
Mom stützt einen Ellenbogen gegen die offene Autotür und sieht meinen Vater aufmerksam an. Dann wechselt sie plötzlich ins Arabische.
»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«
Ich bin überrascht, dass meine Mutter noch ganze Sätze sprechen kann – aber mehr noch, dass ich sie verstehe. Zu sagen, ich wäre bilingual, wäre eine leichte Übertreibung (auch, wenn ich das bei meinen ganzen College-Bewerbungen angegeben habe), aber vor der Trennung meiner Eltern war mein Vater bemüht, uns an die Sprache seiner Heimat heranzuführen, und ein bisschen ist wohl bei uns beiden hängengeblieben.
Dad antwortet ebenfalls auf Arabisch; bei seiner Erwiderung versagen meine Sprachkenntnisse zwar, aber spätestens nach dem vertrauten Blick, den die zwei einander zuwerfen, sollte klar sein, wie sie zueinander stehen. Ich unterdrücke den Impuls, mit den Augen zu rollen. Wem wollen sie hier eigentlich was vormachen?
Es kostet meinen Dad zwar einige Überredungsversuche, doch schließlich knickt Mom ein, und auch ihre Koffer werden aus dem Auto gehievt. Zu dritt halten wir auf den Eingang zu, wobei mich ein heftiges Déjà-vu überkommt, das diesen »familiären« Moment noch verwirrender macht.
Dad wohnt in einem möblierten Brownstone Appartement mit drei Zimmern. Die Einrichtung ist schlicht, aber irgendwie kalt und leblos, wie eine Ansichtswohnung für Makler. Außerdem stehen noch überall Kartons herum – Dad hatte erwähnt, dass er seit seinem Umzug von San Francisco nach New York erst mal nur zur Untermiete hier wohnt und eigentlich nach einer neuen Bleibe sucht. Vermutlich hat er gar nicht vor, alles auszupacken.
»Entschuldigt das Chaos.« Dad schiebt einen Karton zur Seite, und stellt Moms Koffer im Wohnzimmer ab. »Ich hatte nicht mit Besuch gerechnet. Shamsi, dein Zimmer befindet sich ganz hinten rechts gegenüber vom Bad.«
Verblüfft halte ich inne. »Ich habe ein eigenes Zimmer?«
»Natürlich.«
Tatsache. Dad hat mir das Gästezimmer überlassen, dessen Bett sogar mit meiner uralten rosa Bettwäsche bezogen ist. Auf dem Schreibtisch befindet sich ein offener Karton mit Habseligkeiten aus meinem alten Zimmer in San Francisco. Mein altes Kuscheltier, Bücher, Schmuck, Nagellack, Notizhefte und anderer Krimskrams. Wärme flutet mich beim Gedanken, dass mein Vater all diese Kleinigkeiten aufgehoben hat.
Ich durchquere den kleinen Raum und laufe zum Herzen des Zimmers. Ein Erker mit drei großen Fenstern schenkt dem Raum Licht und ein bisschen mehr Größe. Schweigend schiebe ich eines der Fenster hoch – zum ersten Mal habe ich eins, das ich öffnen kann. Obwohl der Fenstersims noch etwas feucht ist, stütze ich die Unterarme darauf ab, und strecke den Kopf heraus, sauge den fremden Anblick in mich auf. Der Himmel ist von grauen Wolken verhangen, die kühle Morgenluft treibt mir Tränen in die Augen. Es ist so still. Kein Stau, keine hupenden Autos. Alles ist ruhig. Brownstone reiht sich an Brownstone. Ich wollte immer mal in einem leben … aber nicht so. Gänsehaut klettert über meinen Körper. Ich streiche mir über die nackten Arme und lasse das Fenster offen, während ich zurück zum Bett laufe, und unter die Decke krieche. Sekundenlang liege ich einfach nur da, fixiere das ausgewaschene Muster des Bezugs, der vor Ewigkeiten mit kleinen Erdbeeren gesprenkelt war, atme den Duft der Bettwäsche ein, der mich im Geiste sofort nach San Francisco katapultiert. Irgendwann schließe ich die Augen, spüre, wie mein Körper mit jedem Atemzug immer schwerer wird, und dann reißt mich der Schlaf so abrupt in seine Tiefen, dass ich es nicht einmal mitkriege.
*
Als ich wieder wach werde, fühle ich mich noch kaputter als zuvor. Stöhnend reibe ich mir über die pochende Stirn und strampele mir die Bettdecke von den Beinen. Vorhin noch war es angenehm kühl, jetzt knallt die schwüle Sommerhitze durchs offene Fenster. Die fremde Matratze, auf der ich liege, bestätigt es: Es war kein Traum. Das alles ist wirklich passiert. Mom hat unsere Sachen gepackt und gemeinsam mit mir das Hotel verlassen. Ich blinzele gegen das Brennen in meinen Augen an und atme mehrmals tief durch. Dann stehe ich auf.
Ich finde Dad in der offenen Küche, die mit ihren mitternachtsblauen Möbeln und der mit weißem Marmor umfassten Kücheninsel viel moderner wirkt als der Rest der Wohnung. Zu Radiomusik singend steht mein Vater vor einem riesigen Topf, aus dem ein würziger Duft herausströmt. Inzwischen hat er sich rasiert, trägt ein dunkles T-Shirt und eine camelfarbene Leinenhose.
»Shamsi!« Er dreht die Musik leiser und hebt überrascht die Augenbrauen. »Warum bist du jetzt schon wach?«
»Konnte nicht mehr schlafen.«
»Zu aufgekratzt, he?« Sein Blick wird mitfühlend.
»Ja, ein bisschen.« Ich stütze die Unterarme auf der Kochinsel ab und linse in den Topf, in dem eine braune Masse karamellisiert wird.
»Aber jetzt verbringen wir den Sommer wohl doch zusammen.« Er lächelt vorsichtig, als wäre er nicht sicher, ob dieser Kommentar angesichts der Situation überhaupt angebracht ist.
»Das stimmt«, sage ich mit belegter Stimme und schließe kurz die Augen, als die unterschiedlichsten Emotionen auf mich einhämmern. Natürlich freue ich mich, bei meinem Dad zu sein. Aber die Umstände machen es auch traurig.
»Wie spät ist es eigentlich?«
»Ich glaube, zwölf. Warum?«
Schon zwölf? Dann habe ich ja doch ein paar Stunden geschlafen.
»Musst du nicht arbeiten?«
»Montags hat das Restaurant geschlossen. Ich arbeite erst morgen wieder.«
»Oh, okay.« Ich schaue mich um. »Und wo ist Mom?«
»Sie hat sich auch hingelegt.«
Mein Blick gleitet zum leeren Sofa, das man durch die geöffnete Tür, die Küche und Wohnzimmer verbindet, sehen kann. »In deinem Bett?«
»Äh, ja.« Dad senkt den Blick und rührt mit dem Löffel schneller die Soße um. »Sie war so fertig, da dachte ich, es wäre bequemer so.«
»Verstehe.« Ich verkneife mir ein Lächeln und belasse es dabei.
»Hast du Hunger? Ich mache gerade Maqluba.«
Maqluba ist ein traditionell libanesisches Reisgericht – und rein zufällig Moms Lieblingsessen …
»Das riecht lecker. Aber vielleicht später?«
»Wie du willst.«
»Hast du mein Handy gesehen?«, frage ich auf dem Weg ins Wohnzimmer.
»Nein, soll ich dich anrufen?«
»Schon gut, hier ist es«, sage ich, als ich es in meiner Tasche finde. Mit angezogenen Beinen mache ich es mir erst auf dem Sofa gemütlich, ehe ich tief Luft hole, und einen vorsichtigen Blick auf meinen Homescreen werfe.
Um von einer Flut an Nachrichten erschlagen zu werden.
Deb:OMG, Ellis!!!
Rahim:Was ist los???
Deb hat ein Foto geschickt.
Rahim:OMGGGGGG!! Ist das echt oder fake?
Rahim:Hab gerade gesehen, dass es keinen Tweet gibt. Wahrscheinlich fake, oder?
Deb:Keine Ahnung! Vielleicht wurde er auch wieder gelöscht!
Deb:@Ellis, weißt du irgendwas?
Deb:Ach du Scheiße! Ihr habt 14 Tausend neue Follower auf TikTok!
Deb hat einen Screenshot geschickt.
Rahim:
Deb:Und das Video im Ballsaal hat über 4 Millionen Views! Ellis, ihr seid schon wieder viral gegangen!
Rahim:Shiiiit! Weißt du, was das bedeutet? Wir kennen jetzt eine Influencerin!
Deb:Und wir kannten sie vor allen anderen!
Rahim:Ellis, ich raste hier aus!! Kannst du bitte antworten?
Die Diskussion geht noch vierundneunzig Nachrichten lang weiter, und am liebsten würde ich mein Handy sofort wieder in den Tiefen meiner Taschen vergraben. Neue Follower? Ein Video, das viral gegangen ist? Alles in mir wehrt sich, diese neuen Informationen abzuspeichern. Ich will mich wieder ins Bett verkriechen und das Chaos verschlafen.
Aber Deb und Rahim sind jetzt schon am Durchdrehen …
»Hey, Leute«, beginne ich eine Sprachaufzeichnung. »Sorry, dass ich mich so spät melde. Es ist so viel passiert … ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Aber die Kurzversion ist, dass Mom sich mit Jules gestritten, ihren Job gekündigt hat, und wir gerade bei Dad sind. Und das mit dem Tweet …« Ein plötzlicher Anflug von Paranoia lässt mich innehalten. Wenn mein Handy geklaut wird und jemand anderes das hört … »Das erzähle ich euch lieber persönlich.« Frustriert schließe ich die Augen. »Gott, ich wünschte, ihr wärt hier.«
Ich sende die Nachricht ab und wende mich den anderen Mitteilungen zu. Emory und Riley haben mich ähnlich zugespamt, und auch ein paar Kollegen. Einige (Louisa) fragen, ob es mir gut geht, während andere (Dennis) wissen wollen, was an den Gerüchten dran ist.
Nur Ryan hat mir nicht geschrieben. Nicht eine einzige Nachricht, und das, obwohl er vermutlich als Erster wusste, dass wir ausgezogen sind. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich hasse es, wenn ich mit irgendwem im Streit bin, und am allermeisten mit Ryan. Die Welt gerät ins Ungleichgewicht, wenn wir böse aufeinander sind. Aber ich will ihm auch nicht hinterherrennen. Nicht schon wieder.
Andererseits … Was bringt es, mich selbst zu quälen und darauf zu hoffen, dass er zuerst schreibt? Wozu dieser Machtkampf?
Eine Weile fixiere ich meinen Bildschirm, dann gebe ich mir einen Ruck, ignoriere meinen protestierenden Stolz und schreibe ihm einfach.
Ich:Können wir uns treffen? Heute Nachmittag, im Alfredo’s?
Wie gebannt starre ich auf den Bildschirm, und warte, dass die Nachricht als Gelesen markiert wird, als währenddessen eine neue Mitteilung von Deb eintrudelt. Ein Link. Ich schlucke. Bitte, bitte nicht noch ein vernichtender Artikel.
Mit angehaltenem Atem klicke ich auf die URL, ein neues Fenster springt auf, und mein Herz bleibt stehen, als ein bewegtes Bild von Ryan auftaucht. Er steht vor einem blauen Hintergrund und trägt einen dunklen eleganten Anzug. Vor sich ein Pult, und im Hintergrund das leise Klicken von Kameras.
Die Presseerklärung. Jules hat mir gestern davon erzählt. Nach dem Artikel, der das Hotel bezichtigt, Edith Langstons Tod als PR genutzt zu haben, wollte das Hotel Stellung beziehen und alle Gerüchte von sich weisen. Aber warum steht Ryan auf dem Podium? Ihn habe ich als Letzten dort oben erwartet.
Der Tweet kommt mir wieder in den Sinn und meine Kehle wird eng. Oh Gott. Was zum Teufel hat er vor?
»Guten Tag.« Ich räuspere mich und richte meine Krawatte, während ich versuche, die vielen sitzenden Menschen mit ihren Kameras und Mikrofonen auszublenden. Ich kann das, rede ich mir innerlich zu. Nichts auf der Welt beherrsche ich mehr als das Zeigen einer Maske.
»Mein Name ist Ryan Van Day. Wie sie alle mitbekommen haben, kursieren seit Beginn des Sommers etliche Gerüchte über das Hotel Van Day, die mit dem Tod der Schauspielerin Edith Langston begonnen haben.« Ich mache eine künstliche Pause, lasse die Worte einen Moment lang in der Luft hängen. »Obwohl die Gerichtsmedizin einen natürlichen Tod feststellte und auch die Polizei von einer Ermittlung absah, schrieb die Presse dennoch von Mord und Geistern.«
Mein spitzer Tonfall sorgt für verhaltene Lacher. Hände schießen in die Höhe, doch ich ignoriere sie.
»Es wurde gefragt, warum sich das Hotel nicht zu den Gerüchten geäußert hat, und die Wahrheit ist …« Ich schließe den Mund, sehe zu meiner Mutter, sehe, wie ihr Lächeln verrutscht und ein winziger Anflug von Panik in ihren Augen aufglimmt. Erneut schießt Zorn durch meine Venen, vermischt sich mit der Macht, die ich in diesem Moment verspüre. Ich könnte es tun. Ich könnte ihr Vertrauen missbrauchen und sie vor aller Welt auflaufen lassen.
Doch dann denke ich an Ellis, daran, dass sie mir jetzt in diesem Moment vielleicht zusieht, und nach zwei tiefen Atemzügen kehrt meine Fassung zurück.
»… dass das Hotel keinen Sinn darin sah, eine Bühne für Lügen und Gerüchte zu schaffen.«
Tiefes Schweigen erfüllt den Raum. Selbst das Kameraklicken ebbt ab. Alle sehen mich an, gebannte Blicke schießen auf mich ein, durchlöchern mich mit ihrer Skepsis.
»Doch jetzt stehe ich trotzdem vor Ihnen, da die Gerüchteküche einen Monat später immer noch brodelt und das Schweigen des Hotels auf unterschiedlichste Weise interpretiert wurde. Insider und Angestellte melden sich plötzlich zu Wort und obwohl sie keine Beweise liefern und auch nicht verraten wollen, wer sie sind, machen ihre Lügen trotzdem Schlagzeilen.«
Gott, ich klinge wie ein populistischer Präsidentschaftskandidat. Aber genau aus diesem Grund sollte ich die Rede halten. Weil diese Art der Emotionalität bei dem Sohn der Hotelerbin verstanden wird. Weil es nicht als unprofessionell, sondern ehrlich wahrgenommen wird.
Ehrlich … Dass ich nicht lache.
»Neueste Vorwürfe behaupten, dass das Hotel diese Art von Aufmerksamkeit befürworten, ja, sogar davon profitieren würde.« Ich lege allen Unglauben, den ich habe, in meine Stimme, während ich gleichzeitig nicht fassen kann, dass ich allen Ernstes diesen Scheiß von mir gebe. »Doch ich kann Ihnen versichern, dass das Gegenteil der Fall ist. Wir alle sehnen den Tag herbei, an dem die Schikane endlich ein Ende hat und das Hotel wieder als das gesehen wird, was es seit 1910 ist: das Schloss von Manhattan. Ein Ort der Erholung und der Ruhe. Ein Ort des Kennenlernens und Zusammenkommens. Das ist das Hotel Van Day.«
Ich senke den Blick auf meine Notizen, während ich um einen Rest Beherrschung ringe. Dabei treffen meine Augen auf ihren Namen, und mein Herz zieht sich zusammen.
»Die Videos von mir und Ellis Wheaton, der Tochter der Hotelchefköchin Kelly Wheaton, waren ein Versuch, dem Hotel wieder zu seinem ursprünglichen Ruf zu verhelfen«, fahre ich fort und spüre ein Kribbeln auf der Zunge, weil es die ersten ehrlichen Worte sind, die ich von mir gebe. »Denn das ist, was wir vermitteln wollen. Ehrliche Geschichten aus dem Hotel, einem Ort, der uns beiden ein Zuhause war.« Ich halte inne. »Und es hoffentlich auch für jeden ist, der hier residiert.«
Kameras klicken, Mikrofone recken sich mir entgegen, Hände strecken sich in die Höhe, Fragen werden in den Raum gerufen. Ich deute auf eine Frau in der zweiten Reihe, die mir nur deshalb aufgefallen ist, weil sie einen grasgrünen Anzug trägt. Vielleicht ist das ja ihre Masche. Sich von den anderen Hemdträgern abheben, um sichtbarer zu sein.
Jemand reicht ihr ein Mirko, und die Frau sieht mir fest in die Augen, während sie ihre Frage stellt.
»Was sagen Sie zu dem Tweet?«
Mein Puls schießt in die Höhe.
»Sie meinen den Hackerangriff von heute früh?« Ich ringe mir ein schwaches Lächeln ab, während mir mein Herz fast aus der Brust springt. »Das müssen Sie den Witzbold fragen, der ihn geschrieben hat.«
Wieder lacht die Menge, während das letzte bisschen Selbstachtung aus meinem Körper schwindet.
»Es war ein Hackerangriff?«, wiederholt die Frau wenig überzeugt.
Nein. Ich war das. Der Tweet kam von mir!
»So ist es«, höre ich mich mit fester Stimme sagen. »Und dass diese Person nun auch den verstorbenen Hotelbesitzer, meinen Großvater, mit reinzieht, ist nicht nur in tiefstem Maße respektlos, sondern schlichtweg menschenverachtend.« Mein Kiefer verhärtet sich, und diesmal ist es nicht gespielt. »Aus diesem Grund wird jeder zukünftige Versuch, das Andenken meiner oder Edith Langstons Familie zu verunglimpfen, harte Konsequenzen nach sich ziehen. Die Schikane muss offiziell ein Ende haben.«
Das meine ich ernst. Es war das schlechte Gewissen gegenüber Grandpa, dem Hotel und Kelly, das mich vor dieses Pult gebracht hat. Aber sollte Mom jemals wieder so tief sinken, werde ich die Wahrheit sagen. Die richtige Wahrheit.
Erneut heben sich Hände, weitere Fragen werden in den Raum geworfen, die ich ruhig und souverän beantworte. Denn ich bin ein Van Day. Ich kann die Leute in meinen Bann ziehen, kann sie überzeugen, kann sie manipulieren.
Vielleicht liegt mir das Lügen und Betrügen ja im Blut. Vielleicht kann ich mich gar nicht gegen diese Seite von mir wehren. Scham pumpt durch meine Adern, setzt meinen ganzen Körper in Brand, und mit einem Mal bin ich nicht mehr sicher, ob das, was ich gerade tue, richtig ist.
Mein Blick wandert zu meiner Mutter. Sie lächelt zufrieden, und die Zweifel in mir werden immer größer.
Ich fahre mit der Linie 4 bis zur 51st. Street und stoße fast mit einem Paar zusammen, als ich die Treppen nach oben hechte. Die ganzen drei Blocks renne ich mit meinem Herz um die Wette und halte erst, als ich das Alfredo’s erreiche. Schwer atmend stütze ich mich auf meine Knie und spähe durch das Fenster zu unserem leeren Stammplatz. Ryan ist noch nicht da, und ein Gefühl von Panik erfasst mich. Er hat nicht geantwortet, also ist es gut möglich, dass er gar nicht kommt. Schwere Hitze breitet sich auf meinen Schultern aus, meine Muskeln vibrieren, als würde jedes meiner Moleküle explodieren, wenn ich ihn nicht gleich sehe. Ryan. Er muss einfach kommen!
Plötzlich erklingt das Surren einer Fahrradkette, und sofort fahre ich herum. Ryan sitzt auf einem der typischen New Yorker Citybikes, trägt noch dieselbe Kleidung wie während der Presseerklärung, und bremst ab, als er mich erblickt. Mir rutscht das Herz in die Hose. Mit schnellen Schritten laufe ich ihm entgegen und verliere kurz den Boden unter den Füßen, als er mich ruckartig an sich zieht. Sehnsüchtig schlinge ich meine Arme um ihn und spüre, wie mein Herz augenblicklich leichter wird. Sein Hemd ist etwas verschwitzt, sein ganzer Körper zittert.
»Es tut mir so leid«, flüstere ich und drücke ihn noch fester.
Ryan schüttelt den Kopf, seufzt müde. »Mir tut es leid.«
Sekundenlang halten wir uns ganz fest, ignorieren den Lärm der 1st Avenue, ignorieren die Passanten, die sich auf dem schmalen Bürgersteig an uns vorbeiquetschen, und verlieren uns in einer trauten Blase, in der nur wir sind und niemand sonst.
»Es war grauenvoll«, erklärt Ryan wenig später. Er hat das Jackett ausgezogen, die Ärmel hochgekrempelt und die zwei oberen Knöpfe seines Hemdes aufgeknöpft. Seine Miene ist leer, der stoische Blick auf die dampfende Calzone gesenkt. »Die Leute habe mir aus den Händen gefressen. Sie haben mir alles geglaubt.«
»Wir alle sehnen den Tag herbei, an dem die Schikane endlich ein Ende hat«, hallen seine Worte in meinem Kopf wider.
Er hat recht. Sein Ausdruck, sein Tonfall … Laut und selbstbewusst kamen ihm die Worte über die Lippen, als würde er nichts auf der Welt ernster meinen. Selbst ich hätte es ihm fast abgekauft, wüsste ich nicht, dass Ryan stottert und Sprachaussetzer kriegt, wenn er die Wahrheit sagt …
»Ich stand einfach da, als hätte ich das schon tausendmal gemacht. Selbstbewusst und souverän habe ich in die Gesichter der Leute geschaut und ihnen mit einem Lächeln auf den Lippen ins Gesicht gelogen.«
»Ryan.« Ich lasse mein Besteck wieder sinken und stupse unter dem Tisch seinen Fuß an. »Du hast das Hotel vor einem riesigen Skandal bewahrt. Du warst unehrlich ja, aber …« Ich mache eine wippende Handbewegung. »Alles stand auf der Kippe. Und du hattest die Wahl. Als du da auf der Bühne warst, hättest du deine Familie so leicht auflaufen lassen können. Aber das hast du nicht.«
»Ich war ja auch schuld, dass …«
»Warst du nicht«, fahre ich dazwischen. »Das mit dem Tweet war falsch, aber das war nicht das eigentliche Problem. Du hattest keine Schuld«, sage ich wieder. »Trotzdem hast du die Pressekonferenz gegeben. Und deine Rede war gut. Ich bin sicher, dass du damit den Ruf des Hotels gerettet hast. Du kannst extrem stolz auf dich sein.«
»Stolz?« Sein Lachen bricht auf halbem Weg.
»Ja, stolz«, erwidere ich mit Nachdruck. »Ich bin es jedenfalls. Und noch mehr, weil ich weiß, wie schwer es dir gefallen ist.«
Ryan sieht mich lange an, betrachtet mich mit diesen verlorenen grünen Augen, die mir geradewegs in die Seele blicken. Schließlich wendet er sich ab, sieht aus dem Fenster, schluckt schwer.
»Was, wenn ich eines Tages so sein werde wie sie?« Seine Stimme verliert sich in den italienischen Radioklängen. »Was, wenn es unvermeidbar ist?«
Entschlossen schüttele ich den Kopf. »Das wird nicht passieren, und weißt du auch warum?« Ich greife nach seiner Hand.
»Weil ich dich habe?« Er senkt den Blick auf unsere verschränkten Finger und lächelt verbittert.
»Ja, das auch.« Ich drücke seine Hand. »Aber vor allem, weil du dein Verhalten reflektierst. Du weißt jetzt schon, wer du niemals sein willst, und wirst ganz bestimmt nicht so werden wie deine Eltern. Niemals.« Ich lege alle Zuversicht, die ich habe, in meine Stimme.
Ryan schließt die Augen, sein Brustkorb hebt sich, während er mehrmals tief durchatmet. Schließlich führt er meine Hand zu seinem Mund und drückt seine Lippen auf den Handrücken.
»Danke«, flüstert er gegen meine Haut, und sein heißer Atem trifft mich bis ins Mark.
»Immer«, verspreche ich und greife nach meiner Gabel, als er meine Hand wieder freigibt.
Eine Weile essen wir schweigend, wobei eigentlich nur ich esse und Ryan seit Ewigkeiten an einem Stück Champignon rumstochert.
»Hast du keinen Hunger?«, frage ich mit einem Blick auf seine Calzone.
Ryan betrachtet den leicht angeschnittenen Halbmond vor sich und zuckt mit den Schultern. »Irgendwie nicht.«
Ich nicke verständnisvoll, da kommt mir ein neuer Gedanke, der auch mir den Appetit verdirbt. Ich räuspere mich. »Übrigens, ähm, willst du vielleicht über … diese Sache reden?«
Ryan mustert mich verständnislos.
»Der Tweet«, sage ich vorsichtig. »Also, was passiert ist, mit …«
Ryan zuckt zusammen, als hätte er in eine Steckdose gefasst. »Nein«, wehrt er sofort ab und verzieht das Gesicht, als bekäme er riesige Kopfschmerzen. »Ich … danke für das Angebot, aber ich will nicht darüber reden.«
»Okay.« Ich wollte es auch nur in den Raum geworfen haben. Er soll nicht denken, dass ich das, was ich erst heute über seinen Großvater erfahren habe, ignoriere.
»Mir geht’s gut, wenn es das ist, was dir Sorge bereitet. Bei Sam war es eine Zeit lang echt schwer, aber auch die ist inzwischen über den Berg.«
Verständlich. Sam und ihr Grandpa waren ein Herz und eine Seele. Jetzt glaube ich umso mehr, dass Ryan für seine Schwester aufs Internat gewechselt ist. Bis gestern hielt ich es immer für eine Ausrede, weil ich dachte, dass er nach unserem großen Streit vor zwei Jahren von mir wegkommen wollte …
»Gott, warum habe ich diesen Tweet überhaupt veröffentlicht? Was ist bloß in mich gefahren?« Er fährt sich frustriert durch die Haare.
»Du warst eben aufgebracht. So was passiert schon mal.«
»Das einzig Gute an diesem ganzen Scheiß ist, dass ich wenigstens deine Mom von ihren Schulden befreien konnte.«
Er sagt es völlig beiläufig, daher braucht es einen Moment, bis die Worte zu mir durchdringen. Zumindest versuchen sie es, stoßen aber nur gegen eine bröselige Wand aus Fragezeichen.
»Wie?«, bringe ich heraus.
»Ah, das habe ich noch gar nicht erzählt. Ich habe der Presseerklärung nur zugestimmt, wenn Mom den Kredit von Kelly abbezahlt.«
»Was!« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie ein paar Köpfe in unsere Richtung schießen. Ryan und ich ignorieren sie.
»Und sie war einverstanden«, fährt Ryan fort. »Jetzt muss nur noch deine Mom zustimmen.«
»Moment.« Ich spule seine Worte erneut im Kopf ab. »Bedeutet das, die … die Schulden wären … weg?« Das letzte Wort flüstere ich fast.
»Ja.« Ryans Kiefer verhärtet sich, als wären dies keine guten Nachrichten, sondern das Mindeste.
»Und … all das Geld, das wir bislang gespart haben, würde nicht mehr benötigt werden?«
»Nein.«
Ich blinzele mehrmals. »Weiß meine Mom schon davon?«
»Das müsste sie eigentlich, ja. Ich bin erst auf die Bühne gegangen, nachdem meine Mutter ihr geschrieben hat.«
»Wow.« Langsam lege ich die Gabel wieder ab und lehne mich gegen das steife Linoleumpolster.
»Ich hoffe nur, dass Kelly nicht zu stur ist, um das Geld anzunehmen.«
Eine berechtigte Sorge, da meine Mutter sehr stolz und sehr prinzipientreu ist.
»Das hoffe ich auch«, murmele ich und verstehe nicht, warum sich meine Hände mit einem Mal ganz klamm anfühlen. Moms Schulden könnten morgen weg sein. Sollte ich nicht vor Erleichterung umherspringen? Warum freue ich mich nicht?
»Alles okay?« Ryan klingt besorgt.
»Keine Ahnung. Ich … das ist gerade ein bisschen viel«, gestehe ich und reibe mir über die erhitzte Stirn. »Frag mich lieber morgen noch mal.«
Ryan mustert mich ein paar Atemzüge lang schweigend, dann steht er plötzlich auf und läuft um den Tisch herum zu meiner Seite. Automatisch rutsche ich zum Fenster, und im nächsten Moment sitzt er neben mir, einen Arm um mich gelegt.
Ich lächele schwach. »Jetzt bist du es, der mich tröstet.«
»Sieht wohl so aus.« Schmunzelnd zieht er mich fester in seine Arme.
»Tut mir leid.« Ich verschränke meine Hand mit seiner, die an meiner Schulter baumelt.
»Es gibt nichts, was dir leidtun müsste.«
»Dann … danke. Du weißt schon, für …«
»Es gibt auch nichts, wofür du dich bedanken musst«, schneidet er mir das Wort ab. Sanft, aber bestimmt.
»Ich wollte sagen für die Pizza, auf die du mich einlädst.«
»Ich weiß.«
Ja klar. Lächelnd lasse ich den Kopf gegen seine Halsbeuge sinken.
*
Wir bleiben so lange im Alfredo’s, bis die Sonne untergeht. In unserer Nische eingekuschelt sitzen wir vor den halb aufgegessenen Pizzen und reden über alte Zeiten – die Phase, in der Dennis lange Haare hatte und aussah wie ein übel gelaunter Wikinger. Louisas Faible für Hypnose, und wie wir uns als Kinder immer fragten, ob wir die ganze Zeit in einer Hypnose lebten, und es bloß nicht wussten. Meine liebste Geschichte ist die, in der Zendaya bei einem Dinner im Hotel war, und ich Ryan dazu überredete, uns unter einem der Tische zu verstecken, um der Unterhaltung zu lauschen. (Wir wurden nicht erwischt!) Ryans Favorit ist nach wie vor die, in der Dennis an Halloween high war.
Es ist schön, in alten Erinnerungen zu schwelgen und die neuen für einen Moment beiseitezuschieben. Allerdings wird die Sehnsucht nach dem Hotel und seinen Mitarbeitern noch größer, sodass wir irgendwann einfach nur in einvernehmlichem Schweigen dasitzen. Ich könnte das ewig tun, doch je später es wird, desto voller wird das Lokal, und als die Leute bereits Schlange stehen, bitten wir um die Rechnung, und machen den Tisch frei. Hand in Hand treten wir aus dem Restaurant und spazieren die 1st Avenue entlang, vorbei an vergilbten Häuserfassaden und leuchtenden Reklametafeln, deren Licht auf den Straßen reflektiert wird. Der kulinarische Duft von Küchen aus aller Welt erfüllt die Luft, ein lateinamerikanisches Lied schallt aus einem 7-Eleven, vermischt sich mit dem Heulen einer vorbeifahrenden Polizeisirene.
»Soll ich dich noch nach Hause bringen?«
Ein fragender Blick von der Seite und ein kleines Lächeln, das meinen gesamten Körper unter Strom setzt. Ich nicke, spüre zugleich aber auch ein drückendes Ziehen in der Brust. Weil wir nicht mehr denselben Rückweg haben. Weil sein Zuhause nicht mehr meins ist.
Wir laufen bis zum St. Vartan Park und kommen an einer Fahrradstation vorbei, bei der sich Ryan erneut eins leiht. Ich könnte mir auch eins nehmen, aber Ryan scheint nichts einzuwenden zu haben, als ich mich auf den vorderen Gepäckträger setze. Im nächsten Moment radeln wir über die Promenade des East Rivers, und die Nostalgie dieses Moments umschließt mich wie eine vertraute Umarmung. Trotzdem ist es anders als früher. Wir sind keine Kinder mehr, verstecken unsere Gefühle nicht mehr länger, sondern zeigen sie, teilen sie. Keine Ahnung, ob es was Schöneres gibt, als wenn die Person, die alles für dich ist, genauso empfindet. Zur richtigen Zeit. Am richtigen Ort. Irgendwie schon ein kleines Wunder.