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"Niemand von uns ist ohne Wunde, niemand ohne Narbe, niemand ganz gerade, niemand ohne Angst und Furcht und schlimme Erinnerungen." Das ist die Erkenntnis, die fast alle Menschen nach dem Ersten Weltkrieg prägt, so auch Gesine Otten, die damals ganz alleine an der Spitze des Gutes Grünwalde steht. Zu dieser Zeit ist es daher auch nicht ungewöhnlich, dass Landstreicher an Haustüren klopfen und um Hilfe bitten. So geschieht es eines Tages auch in Grünwalde, nur dass es sich bei den beiden Männern um Barone aus dem Baltikum handelt, die am Ende der Kämpfe gegen die roten Garden ihre Heimat verlassen mussten. Der jüngere von ihnen, Baron Brincken, ist von der Tuberkulose gezeichnet und so beginnt auf Grünwalde der Kampf um sein Überleben. Für Gesine ist dies eine weitere Aufgabe, die sie meistern muss, aber die Ereignisse der Folgezeit bringen auch Leben in das graue Dasein in Grünwalde. Bis zu dem Tag, an dem die Männer wieder aufbrechen müssen.-
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Seitenzahl: 275
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Walter von Hollander
Roman
Saga
Walther von Hollander: Alle Straßen führen nach Haus. © 1942 Walther von Hollander. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.
ISBN: 9788711474488
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.
In die Seen des pommerschen Landrückens fielen gegen Abend die Taucherenten auf ihrem Frühlingsflug ein und lärmten bis in die Dunkelheit auf der Suche nach den alten Nestern. Die Wälder standen fast bewegungslos, unter dem blanken Sternenhimmel des April, kahl, kühl, mit Schneeflecken auf der Nordseite und den ersten Waldblumen an den Südrändern. Mit undurchdringlichen Tannendichtungen und lichten Kiefern über Heideboden.
Gegen zwei Uhr drehte der kalte Nordwestwind nach Westen ab. Wolken kamen von der See her. Der Regen begann in den Bäumen zu knistern, rann an den Stämmen herab und tropfte schließlich auf die beiden Schläfer im Dickicht.
Der Jüngere rückte vorsichtig von seinem Kameraden ab, wischte mit der Hand über das nasse Gesicht und versuchte den Husten zu unterdrücken, der immer quälender, stechender in der Brust rumorte. Er lag, die Augen offen, den Mund zugekniffen. Das Herz klopfte laut: Fieber. Ekelhaft.
„Huste nur los, mein Junge“, sagte der Ältere aus dem Dunkeln, „die Vögel wachen nicht auf.“
Der Jüngere richtete sich vorsichtig auf, lehnte den Kopf zurück und begann bellend zu husten.
„Greulich“, stöhnte er, „eine richtige Gemeinheit“, und nach einer Weile, wieder in seinem etwas aufgeregten baltischen Dialekt: „Wirklich abscheulich.“
Der Ältere kroch unter der Zeltbahn hervor, deckte den Kameraden zu und fing an Feuer zu machen. Er begleitete seine Handgriffe, nach der Art aller Einsamen, Junggesellen, Landsknechte, mit kleinen knurrenden Anmerkungen, gleichfalls in baltischem Dialekt. „Konnten den Regen noch entbehren“, sagte er, und „gut, daß ich ein bißchen Holz trocken gelegt hatte“ und „Wasser haben wir ja schon. Na dann gibt’s gleich Tee.“
Das Feuer schwelte zuerst, flammte dann prasselnd auf und beleuchtete die Gesichter der beiden Wanderburschen. Der Jüngere hielt die Augen geschlossen. Das blasse lange Gesicht unter der hellen Baskenmütze war naß von Regen und kaltem Schweiß. Auf den vorstehenden Backenknochen brannten zwei Fieberflecken. Der Ältere, ein sehr langer und dürrer Mensch, sah scheinbar gespannt in die Flammen. Sein Gesicht, durch einen ungepflegten Ziegenbart ins Lächerliche oder Unheimliche verlängert, mit kleinen Augen, die rot gerändert und wimpernlos waren, hatte den Ausdruck eines aufmerksamen, sprungbereiten Tieres.
Er war dabei, alle Schwierigkeiten zu durchdenken, die sich aus der Krankheit des Kameraden ergaben. Man war schließlich nicht beinahe zwanzig Jahre in der Welt herumgeschmissen, man hatte sich nicht fast ein Menschenalter mit Feinden aller Art, mit Not jeder Größe herumgebalgt, um hundertfünfzig Kilometer vor einem Ziel — jawohl einem Ziel! — in einem hinterpommerschen Dickicht den Freund zu verlieren. Unsinn.
Aber man hatte auch zu viel durchgemacht, um sich noch was vorzumachen. Der Junge war krank. Schwerkrank, Die Lunge, schon immer schwach, hatte jetzt etwas weg. Man mußte vorsichtig sein. Man mußte ein paar Tage Ruhe haben, Wärme, gutes Essen. Man mußte das haben. Also kriegte man es.
Das Wasser im Kochgeschirr brodelte. Der Ziegenbärtige warf eine ganze Handvoll Tee hinein, den letzten, aber das half nichts, man mußte sich stärken. „Trink, Roland“, sagte er und hielt dem Kranken den heißen Becher an die Lippen.
Der Junge griff gierig nach dem Getränk. „Angenehm“, flüsterte er zwischen den Schlucken, „kochst großartigen Tee, Tungo.“
„Die Meisen zwitschern schon“, antwortete der Ältere, „es ist halb vier. Wenn der Pott leer ist, wird es hell. Dann gehn wir los.“
„Gut“, bellte der Jüngere, „mir ist wieder ganz leidlich. Meine zwanzig bis dreißig Werst mache ich auch heute.
„Und wenn du zehn machst“, murrte der Ziegenbart, „wir haben Zeit.“ Er entfaltete eine Karte, steckte eine Nadel in den Wald, in dem sie saßen, maß mit einem Faden zehn Kilometer ab und schlug einen Halbkreis nach der See zu.
„Keine große Auswahl“, berichtete er, „bei sieben nordwestlich Dorf Wangerin, bei neun westlich Domäne Groß-Schörnitz, bei elf nördlich Vorwerk Brandhoff und bei ungefähr fünfzehn Gut Grünwalde. Kannst dir aussuchen.“
Der Kranke lächelte. „Ich werde mir’s aussuchen. Die sind schon alle ganz wild auf uns. Der Pächter von Rochitz, gestern, hat das sehr hübsch ausgedrückt: ‚Zwanzig junge Leute pro Tag, sechshundert im Monat, ein kriegsstarkes Bataillon Lungerer und Bettler ... Ich kann nicht, meine Herren.‘ Großartig, was? Lungerer und Bettler, meine Herren. Ein Ausgleich. Man kann sich wählen, was man ist.“
„Wir können auch noch mal schlafen“, schloß der Lange, schichtete ein halbes Dutzend ordentliche Knüppel über das Feuer, bettete den andern mit dem Gesicht gegen die Flammen und legte sich hinter ihn. Zwischen Holzwärme und Menschenwärme gebettet schlief der Junge sofort ein. Der Wind ließ etwas nach, der Regen verstärkte sich. In einem sanften, gleichmäßigen Rauschen ging er über den Wald, die Seen, die Felder, die Gehöfte und Dörfer, die langsam vom grauen Tag überhellt wurden.
Am Nachmittag dieses Tages um Punkt vier wurde das alte Fräulein Monica Otten vom Diener Kornmann in das Teezimmer von Gut Grünwalde geführt und in den großen Wartestuhl am Fenster gesetzt. Zum Ausschaun, wie sie sagte. Denn sie gab es den Menschen gegenüber nie ganz zu, daß sie eigentlich blind war oder doch nur noch hell und dunkel unterscheiden konnte. Sie mußte diesmal ziemlich lange auf die Nichte und Herrin Gesine warten. Aber das machte nichts. Durchs Fenster kam der angenehme Duft der beregneten Riesentannen, untermischt mit ein wenig Geruch von Kuhdung, der auf die Felder gefahren wurde. Eine Amsel saß auf dem Wipfel der rechten Tanne und flötete den Frühlingsregen ein, und der Regen selbst klickerte in den Dachrinnen, zischte zart gegen die Fenster ... Ein angenehmes Frühjahrskonzert.
Gegen fünf Uhr hörte das alte Fräulein die Reitstiefel Gesines über den Hof klappern. Sie stand auf und winkte lächelnd hinaus ... ins Leere, denn Gesine Otten war die Anfahrt und die kleine Treppe im Galopp hinaufgesprungen und trat schon ins Zimmer, ehe die Alte sich umdrehn konnte.
„Nanu“, lachte sie, „wem winkst du denn? Gäste? Oder kommt sonst jemand?“
Die Alte ging kopfschüttelnd mit ein paar sicheren Schritten zum Teetisch, setzte sich, tastete nach der Teekanne unter dem Wärmer, nach den Tassen, schenkte ein.
„Hunger“, sagte Gesine, „guter Regen, Ärger.“ Das war ihr Telegrammstil, den sie der Tante gegenüber meist einhielt, weil sie fand, daß sie mit ihren Leuten genug in ausführlichen Sätzen und ständigen Wiederholungen reden mußte.
„Du siehst famos aus“, versuchte Fräulein Otten ein Gespräch, „ausgezeichnet. Dein Kopfschmerz ist also wohl vorbei? Sehr schön. Und diese Farben! Na ja, der Aprilregen macht junge Frauen immer schön.“
„Bis auf die rote Nase“, sagte Gesine, „nein, ich will dich gar nicht aufklären, Tante Monica. Sei froh, daß du mich nicht mehr sehn kannst. So behält mich wenigstens ein Mensch als junge hübsche Frau im Gedächtnis. In Wirklichkeit ... ach du lieber Gott: Die Schläfen sind schon hellgrau, der Mund vor Sorgen zusammengezogen, am Hals, denke dir, Fettansätze und zwei Faltenringe. Kummerrillen um die Augen, kurzum ein altes Weib von fünfunddreißig Jahren. Punkt.“
Sie trank schnell, aß hastig und tastete, den letzten Bissen im Mund, nach dem Zigarettenetui. Tante Monica hatte schon die Streichholzschachtel in der Hand und schüttelte sie. „Also was für einen Ärger hattest du“, sagte sie.
„Ärger?“ Gesine konnte sich schon gar nicht mehr darauf besinnen. „Ärger? Ach so. Lohnt gar nicht, drüber zu reden. Kohlisch hat Pech mit dem Traktor. Steht seit Mittag am langen Hang, bosselt und kriegt natürlich nichts zustande. Hast du schon je erlebt, daß ein Motor anspringt, wenn er erst mal nicht mehr anspringt? Soll doch endlich nach einem Monteur telefonieren, wenn er es nicht kann. Wir haben jetzt keine Zeit, zu warten, bis Herr Kohlisch den Fehler rauskriegt.“
In diesem Augenblick fuhr der Monteur mit dem Traktor, einen Gerätewagen hinter sich, mit großem Radau in den Hof. Gesine Otten trat ans Fenster. „Da ist er ja“, sagte Tante Monica, „also aller Ärger umsonst.“
„Ja“, antwortete Gesine und sah weiter gespannt hinaus, „umsonst. Allerdings ist da noch ...“
Die Tür klappte und schnitt die letzten Worte ab. Monica Otten tastete sich zum Fenster und sah mit ihren blinden Augen kopfschüttelnd hinaus, dann klingelte sie nach Kornmann, dem Diener.
„Kommen Sie her, Kornmann“, sagte sie, „meine Augen werden doch schwach. Ich kann das nicht genau erkennen, am Traktor.“
„Da steigen“, sagte Kornmann höflich und böse, „zwei Kerle aus dem Anhängewagen, groß und dürr der eine, mit einem Ziegenbart und zwei Höckern, das sind zwei Tornister ... und dann hebt er einen Kleineren heraus. Aber der ist auch noch dürr und lang genug. Schleppt ihn ein paar Schritt. Landstreicher sind es. Lumpen, Hungerbolde, Betrüger.“
Kornmann schrie es immer wütender. Sein Sohn war nämlich auf der Landstraße verschollen. „Ruhig, Kornmann“, sagte Monica, „und was weiter?“
„Nichts“, schloß der Diener, „Kohlisch kommt bekniffen angeschlichen, in der Hand zwei Stücke Papier, und die streckt er der gnädigen Frau hin.“
„Sollen gewiß Postkarten kaufen“, sagte Monica Otten.
„Sieht eher aus wie Visitenkarten“, antwortete Kornmann, der immer in feinen Häusern gedient hatte.
Es waren wirklich Visitenkarten, die Kohlisch, der Monteur, seiner Herrin in die Hand drückte.
„Was ist denn hier los?“ sagte Gesine Otten und hielt die Karten in der Hand, ohne sie anzusehen. „Was machen Sie für Geschichten, Kohlisch? Habe ich nicht hundertmal angeordnet: ein halbes Brot pro Landstreicher, wenn sie es brauchen, und heidi weiter? Habt Ihr nicht genug von dem angekokelten Schuppen in Brandhoff? Ich wünsche ...“
Kohlisch, der Berliner, schlug endlich die pfiffigen Augen auf und sah die Herrin aufmerksam an. Er wußte, man mußte sie ausreden lassen. Nachher konnte man sagen, was man wollte.
„Also reden Sie schon“, seufzte Gesine. Kohlisch zeigte auf die Visitenkarten. Erst mal sollte die Herrin wissen, was er da mitgebracht hatte. Frau Otten las die beiden handgeschriebenen Visitenkarten: Roland Baron Brincken, in eleganter, noch etwas kindlicher Schrift, und Woldemar v. Tungern, Erbherr auf Domingen, Kurland, eng, zierlich, gescheit geschrieben.
„Aha“, sagte Gesine, „Sie glauben natürlich, es ist mir eine ganz besondere Freude und Ehre, wenn Sie mir ein paar adlige Herren von der Landstraße ins Haus holen. Vielen Dank.“
„Wie ich da so an meinem Motor herumpussele und es geht nicht, kommen die beiden Arm in Arm aus dem Gebüsch“, setzte Kohlisch ausführlich an. Aber er kam nicht weiter. Denn jetzt hatte Tungern den Kranken aufs Hofpflaster gelegt und ging auf die Herrin von Grünwalde zu, die ein paar Schritt gemacht hatte und unschlüssig stehngeblieben war.
„Tungern“, sagte der Ziegenbärtige und blieb drei Schritt vor Gesine stehn, „mein Freund Brincken hat Ihren Traktor in Ordnung gebracht. Es hat übrigens nicht viel Mühe gemacht. Er hat es im Gefühl, wo es dem Motor fehlt.“
Gesine hörte nicht zu. Sie musterte den langen dürren Mann, seinen verschossenen dunkelbraunen Rock, die hellgraue Strickweste, die Hose aus bestem englischen Homespun, englische Schnürstiefel bis an die Knie, das war alles von Nächten in Heuschobern, Scheunen, Böden, Wäldern, von Sonne und Regen gebleicht und abgenutzt. Trotzdem blieb der Mann elegant, ein Herr.
Tungern sagte auch nichts mehr, sondern sah die Gutsbesitzerin eindringlich mit seinen wimpernlosen Luchsaugen an. Gesine Otten strich sich das Haar ein wenig aus der Stirn, wie immer, wenn sie scharf nachdachte. „Wieviel wünschen Sie für die Arbeit?“ fragte sie.
„Ein warmes Zimmer“, sagte Tungern, „ein Bett oder, wenn Sie haben, zwei ... aber eins genügt auch. Der da hinten ist schwer krank.“
Die Gutsbesitzerin steckte die Hände in die Hosentaschen und sah angestrengt auf den Boden. Da lag nun wieder Kuhdung überall verstreut. Seit Mittag war man mit dem Fahren fertig. Die Mägde hätten also längst wenigstens das Stück vor dem Herrenhaus fegen können.
„Wir können Ihren Freund nicht liegen lassen“, sagte sie zögernd, „kommen Sie.“
Der Kranke richtete sich mühsam auf die Ellenbogen auf. Er war mit seiner Kraft am Ende. „Brincken“, bellte er. „Entschuldigen Sie bitte.“
Er sah die fremde Dame etwas mißtrauisch an. Kohlisch, der Traktorführer, hatte unterwegs fortwährend von ihr erzählt. Sie sei ein Prachtweib. Streng und gerecht wie ein Mann und trotzdem hübsch wie eine Frau. Brincken fand, daß sie wirklich hübsch war. Aber was ging ihn das an. Er wollte ein Zimmer. Er hatte Angst vor einer neuen Nacht in den naßkalten Wäldern, vor vergeblichen Bittgängen bei mißtrauischen Bauern. Vor dem Marschieren an Tungerns Arm, während die Chaussee sich zu drehen begann und die Bäume hinstürzten, Angst vor dem tückischen Staubwind, Regenwind des pommerschen Höhenrückens.
„Sie kriegen natürlich ein Zimmer“, sagte Gesine Otten, „Sie können beim Inspektor Schönemann wohnen, aber auch das Zimmer des alten Stallschweizers ist frei. Über dem Kuhstall ... hier gleich ...“
„Ja, hier gleich ...“ seufzte Brincken erleichtert, stand auf und ging schwankend auf den Stall zu. Kohlisch, der herangekommen war, stützte ihn.
Am Stalleingang mußte er sich wieder setzen. Tungern raffte die beiden Tornister auf und ging hinterher ... wie Kornmann ihn der Tante Monica beschrieben hatte: ziegenbärtig mit zwei Höckern, dürr, mit der leichten Beugung in Knie und Nacken, die alle zu großen Menschen haben.
Gesine Otten aber bestieg ihr Pferd, den Falben Prinz, den Kornmann schon eine ganze Zeit gesattelt am Herrenhaus auf und ab führte. Sie jagte ihren Kummerweg, den Heideweg über den langen Berg nach Brandhoff hinüber, eine schwarze Baskenmütze schräg auf dem Hinterkopf, eine Windjacke über der roten Polobluse. Sie war unzufrieden mit sich. Mitleid? Na schön. Ganz konnte man das nicht unterdrücken. Aber Mitleid mit Männern war eine verdammt verdächtige und zweischneidige Sache. Hatte sie das nicht gründlich erfahren? Weiß der Himmel, sie hatte es erfahren und sie erfuhr es noch. Nun konnte man natürlich zugeben, daß dieser Kranke rührend, sauber und kindlich einfach war im Gegensatz zu ... Nun, zu gewissen schwierigen Herren, die einmal eine sehr große Rolle gespielt hatten. Die das Leben vergiftet und überwuchert hatten, die man nicht herausjäten konnte aus dem Blut.
Mal ganz ruhig gesprochen: Weshalb hielt sie noch immer zu Schneiwind? Bitte? Das war doch zu einem großen Teil Mitleid. Und was hatte sie von ihrem Mitleid gehabt? Sie war betrogen und ausgenützt. Schützte sie das nun vor neuem Mitleid? Keineswegs. Was für eine lächerliche, überflüssige Einrichtung war doch die Erfahrung.
Der Regen wurde dichter, die Wälder hingen voll nebliger Nässe. Der Sand unter den Pferdehufen pappte schon. Die Äcker dufteten, und die grauen Wiesen bekamen einen leisen grünen Schimmer.
Gesine ritt nicht nach Brandhoff hinunter, sondern bog am hellgrauen Ellernsee ab und ritt langsam nach Grünwalde zurück. Die Taucherenten lärmten vergnügt im Wasser, drei Rehe wechselten über den Weg. Ein paar Dorfkinder, die aus der Schule kamen, stellten sich an den Waldrand und grüßten mit hellen flachen Stimmen. Als Gesine zurück war, dämmerte es schon.
Sie holte ein paar Apfelsinen aus der Küche, Handtücher, Bettwäsche, eine Schachtel Zigaretten, ging zum Stall hinüber. Sie stieg die steile Treppe hinauf, stand im Halbdunkel über den Kühen, die schweigend ihr Heu mahlten, klopfte.
Keine Antwort. Sie klopfte noch einmal. Im Zimmer fing einer an zu singen, mit rauher Stimme, viel zu tief, ein paar Worte nur. Gesine trat ein.
Im riesigen Kachelofen, der mit dem hineingebauten Schornstein zusammen das halbe Zimmer einnahm, prasselten die Birkenkloben. Die Winterluft taute. Schmetterlinge, Pfauenaugen und Trauermäntel waren aufgewacht und schwirrten rasselnd am Fenster. Der Kranke lag bewegungslos, mit offenen Augen in seinem Bett. Jetzt fing er wieder an zu singen. Wirr, in einzelnen langgezogenen Tönen, mit gesprochenen Worten dazwischen:
Es war einmal ein Kriegskamerad,
Zog mit dem Kam’raden von Stadt zu Stadt.
„Ich habe hier ein paar Apfelsinen“, versuchte Gesine schüchtern. Brincken antwortete nicht. Er drehte sich vorsichtig um und sah die Frau mit ausdruckslosen Augen an.
„Nabend“, sagte er. „Sie wünschen bitte?“
„Ein paar Apfelsinen ...“ wiederholte Gesine Otten. „Bitte schön, die werden Ihnen gut tun.“
Brincken schüttelte den Kopf, streckte die Hand nach der Frau aus. „Kommen Sie mal her“, sagte er. „Kommen Sie mal her ...“
Die Frau trat ans Bett. Der Mann packte sie blitzschnell mit beiden Armen, zog sie an sich heran und preßte sein Gesicht an ihre Brust. „Jawohl“, sagte er, und zum erstenmal hörte Gesine seine Stimme so klar und hoch, wie sie eigentlich war. „Jawohl. Wunderbar sind Sie. Wunderbar.“
Damit ließ er sie los, legte sich seufzend wie nach einer schweren Arbeit in die Kissen zurück und sang weiter:
Er sprach zu ihm: die Städte sind gesund,
Nur wir, Kam’rad, wir kamen auf den Hund.
Gesine stand am Fenster. Man sah durch die kleine Scheibe schräg hinüber ins Herrenhaus. Man sah Kornmann im Speisezimmer den Abendbrottisch decken, man sah Tante Monica sich über den Hof tasten. Die Stare lärmten in Scharen auf den beiden Tannen, unruhiges Abendgezirp. Ein Wagen rollte in den Hof, ein Scheck und ein Schimmel davor, ein lustiges Gespann, aber ein wenig lustiger Lenker, Herr von Peipper, Pächter der Domäne Groß-Schörnitz, ein hervorragender Landwirt, leider verliebt.
Gesine wandte sich zu Brincken um. Aus den Kissen kam nur ein kleiner Schopf hellblonder Wolle, Locken, ein wenig strähnig und vom Wetter angegilbt.
„Kann ich etwas für Sie tun, Herr von Brincken?“ sagte Gesine. Brincken antwortete nicht. Er war schon wieder in seinem Gesang. Er lallte:
Wir haben die Städte vier Jahre vorm Feind geschützt,
Sieh dich an, Kam’rad, sieh mich an,
Was hat es uns genützt?
Frau Otten ging vorsichtig am Bett vorbei aus der Tür, stand wieder über den Kühen in der Fellwärme, Milchwärme, Heuwärme.
Drinnen schlug Brincken mit der Faust gegen die Bettwand wie auf eine Pauke und wiederholte schreiend:
Sie dich an, Kam’rad, sieh mich an,
Was hat es uns genützt?
Gesine lief die Treppe hinunter. Hinter dem Stall fand sie Tungern beim Holzhacken. „Er phantasiert, Ihr Freund“, „er singt.“
„Jawohl, gnädige Frau. Er singt ein Marschlied“, antwortete Tungern. „Hören Sie mal zu. Es ist ganz hübsch. Wir beide haben es zusammen gedichtet. Die einzige Poesie unseres Lebens.“
Sie standen still. Immer noch hämmerte Brinckens Faust gegen das Bettholz. Aber die Worte, die er sang, konnte man nicht verstehen.
„Verstehen Sie?“ fragte Tungern. „Kein freundliches Lied.“ Er sang:
Sie jagen uns aus den heilen und sauberen Städten hinaus,
Die Städte leben, Kam’rad, unser Leben ist aus.
Er sang die bitteren Verse fast zierlich, in einer Hand das Beil, in der anderen eine Zigarette.
„Sie werden mindestens noch morgen bleiben müssen“, sagte Gesine Otten etwas schüchtern.
„Jawohl, gnädige Frau“, sagte Tungern ziemlich abwehrend.
Gesine verstand den Vorwurf ganz gut. Sie versuchte sich zu entschuldigen. Tungern müsse doch verstehen. Man könne beim besten Willen nicht ein Sammellager von Landstraßenexistenzen schaffen. Die wenigsten seien auch so alte Soldaten. Die meisten junge Kerle, ziemlich faul, unerzogen, ziellos, sicherlich auch vom Schicksal nicht besonders gut behandelt.
Der Ziegenbärtige nickte. Er stand neben der Gutsherrin, zwei Köpfe größer als sie, die bestimmt nicht klein war, sah auf sie hinunter und sagte: „Wenn wir morgen noch bleiben können, so ist das die Hauptsache für mich. Daß Sie uns loswerden wollten, nehme ich Ihnen nicht übel. Sie haben bestimmt recht. Die Landstreicher sind zu einer gefährlichen Landplage geworden. Eine Armee von Habenichtsen. Aber selbst, wenn Sie nicht recht hätten: Jedes Ding läßt sich solange von vielen Seiten betrachten, bis es nicht mehr da ist.“
„Wir sprechen ein andermal weiter“, sagte Gesine und gab Tungern die Hand. „Jetzt erwartet man mich.“
Herr von Peipper, ein kleiner rundlicher Mann mit Cäsarenkopf, in einem zu hellen Frühjahrsanzug und einem Parteiabzeichen im Knopfloch, unterhielt sich mit Tante Monica über die Lage der Landwirtschaft. Man war nach langen trüben Jahren wieder hoffnungsvoller. Es gab Aussichten, zum Beispiel für Milch und Fett.
Gesine erschien zum Abendbrot in einem einfachen schwarzen Tuchkleid mit weißem Kragen, in dem sie schmaler aussah, als in den Hosen, beinahe schutzbedürftig.
Man sprach von Saatberichten, von den Aussichten der Roggenvorzucht, von der besseren Verwertung der Schweine. Über innere Politik drückten sich alle sehr zurückhaltend aus. Peipper gehörte nämlich zu den weniger Radikalen, während Gesine bekannt war als der erste Ultra im ganzen Kreis. Allerdings hatte sie auch darin ihre besondere Note: sie verfocht die absolute Unabhängigkeit der Frau, was man ihr nach den traurigen Erfahrungen ihres Lebens nicht übelnahm.
Gesine erzählte dann von ihren maroden Baronen. Peipper kannte den Namen Tungern. Mit einem Tungern hatte er 1910/11 bei den Halberstädter Kürassieren gedient. Ein toller Kerl, mit Mühe eingedeutscht. Machte großartige Dummheiten im Jeu und mit Frauen, mußte gehen, nachdem er ein kleines Herzogtum durchgebracht hatte, dreißigtausend Morgen mit ein paar Dörfern, ging ins Baltikum zurück, wurde russischer Offizier und sollte als Adjutant von Rennenkampf bei den Masurischen Seen gefallen sein.
Peipper beurteilte alle Balten nach diesem einen, fand deshalb, daß sie allzu leicht in zwei Vaterländern zu Hause seien, daß sie großspurig und großartig zugleich, doch immer Außenseiter des Deutschtums bleiben würden. Grenzlandmenschen, geeignet zur Verteidigung verlorener Posten, unfähig zu zäher, persönlicher Arbeit.
Gesine widersprach etwas gereizt, obwohl sie kaum Balten kannte. Einmal war einer als Inspektor bei dem Nachbarn gewesen, dem Herrn von Berg-Wangerin. Das war ein tüchtiger, stiller Mensch, der durch nichts auffiel, außer daß er alle drei, vier Monate stier betrunken aus einem Bauernkrug nach Hause getragen werden mußte. Sonst wußte sie nur, daß die Balten noch östlicher waren als die Ottens, viel leichtsinniger und vielleicht auch noch melancholischer. Daß sie höflich waren, aber von einer Höflichkeit, die ein bißchen anexerziert wirkte. Daß sie die Reichsdeutschen etwas von oben herab ansahen, daß sie die Reinrassigkeit gepachtet hatten, und daß im allgemeinen die baltischen Männer hübscher waren als ihre Frauen, von denen sie einige als Tanten, Cousinen und Hausdamen in der Umgebung erlebt hatte, wahre Tugendburgen und Kirchenstützen.
Man konnte sich also über die Balten nicht einigen. Über die Grundlagen des Patriotismus auch nicht, weil Gesine ihren besonderen Patriotismus der Landschaft, der Bäume, der Tiere hatte und zum Beispiel von der Sprache überhaupt nichts hielt, mit der man zumeist nichts anderes tun als Lügen, Dummheiten schwätzen, die besten Dinge der Welt in Phrasen verwandeln konnte.
Es war sehr gut, daß Schönemann, der Inspektor, ein kleiner schwarzhaariger und bärtiger Mann, zum Bericht erschien. Man konnte ein Glas Bier zusammen trinken und eine Stunde lang einen richtigen Männerskat dreschen. Die drei Spieler hatten kurze Stummelpfeifen im Mund, aus denen sie einen scharfen englischen Navycut rauchten, Tante Monica füllte die Gläser und klingelte, wenn die letzte Bierflasche unter ihrem Stuhl angebrochen wurde. Ein Fenster des niedrigen Zimmers stand auf. Denn der riesige Ofen entfaltete eine höllische Wärme, und draußen war es milder geworden.
Der Regen ließ allmählich nach. Die neuangekommenen Taucherenten, Schwarm zwei, gaakten aufgeregt auf dem Schermsee. Der Viertelmond schien, als sie aus dem Hause traten.
Schönemann ging mit kurzem Gruß schnell weg. Herr von Peipper holte unter dem Kutschersitz eine Orchidee heraus, die er selbst gezüchtet hatte und reichte sie Gesine. „Danke sehr“, sagte Gesine und war gerührt darüber, daß der dicke Mann nichts sagte. Sie überlegte einen Augenblick, wie es sein würde, wenn er sie wieder und wieder rühren würde. Wenn er wieder- und wiederkommen würde, sich streiten, Skat spielen und dann nachher irgendeine Überraschung hervorziehen. Wirklich: er hatte ein liebenswürdiges Herz. Oder liebte er sie nur und wurde dadurch besser?
Sie reichte ihm die Hand. „Gute Nacht, Peipper“, sagte sie. „Und hübsch, daß Sie da waren.“
„Wirklich?“ fragte Peipper. Gesine antwortete nicht. Das blasse Fiebergesicht Brinckens erschien neben Peippers Cäsarenkopf. Der Pächter mit dem zu kleinen Jägerhütchen und den verliebten Augen sah nicht verführerisch aus. „Auf Wiedersehn“, sagte er und hob die Peitsche. Der Wagen ratterte über den Hof und verschwand im Dunkeln.
Gesine Otten ging langsam zur Inspektorwohnung. Sie wollte Schönemann noch die beiden Balten ans Herz legen. Man mußte ein bißchen für sie sorgen. Warum? Man mußte eben. Dumme Fragerei!
Aus der Wohnung des Inspektors schrie der Lautsprecher. Noch lauter aber war Frau Schönemanns Stimme. Sie schluchzte wilde Anschuldigungen. Sie war hysterisch eifersüchtig, sobald Schönemann länger als zehn Minuten im Herrenhaus blieb. Gesine hörte zwei Minuten lang zu. Sie wartete, ob der Inspektor irgend etwas antworten würde. Aber er sagte nichts. Er saß nun (Gesine wußte das, allmählich kennt man alles von den paar Menschen, mit denen man lebt), er saß in seinem Plüschstuhl, den dunklen vollbärtigen Kopf sehr gerade über den Schultern, den Blick ins Leere und ließ die Frau schreien. Was sollte er auch sagen? Daß er Gesine in seiner Art verehrte, konnte er nicht verheimlichen. Daß ihre Eifersucht Wahnsinn war, mußte die Frau wissen. Da Eifersucht wie Wind kommt und geht, muß man sie aushalten.
Einmal hatte Gesine in eine solche Szene eingegriffen, hatte lange mit der Frau gesprochen, eindringlich, freundlich. Die Inspektorin hatte genickt, geweint, außen geglaubt, und innen, wo kein Wort hinkommt, gezweifelt. Sie war eine Polin, mit fünf Jahren als Landarbeiterskind über die Grenze gekommen. Jetzt mit fünfundvierzig noch fremd in Deutschland. Sie hatte eine einzige Verbindung zum Leben, einen einzigen Besitz, den Mann, den sie sich vor fast dreißig Jahren eroberte. Mußte sie nicht Angst haben?
Das Radio verkündete jetzt Wetter- und Sportnachrichten. Frau Schönemanns Stimme glitt zum Schluchzen herab und verstummte. Gesine wandte sich seufzend um. Vielleicht mußte eine Frau wirklich ihren Mann mit Klauen und Zähnen und Tränen verteidigen. Vielleicht mußte sie ihn anbinden und beschimpfen, damit er blieb. Denn wenn sie es nicht tat (sie fuhr mit den Händen an den kräftigen Hüften hinab), sie suchte die Hosentaschen (sie war nicht an Kleider gewöhnt), wenn sie es nicht tat und wartete was der Mann tun oder lassen würde, dann ...
Sie ging schnell ins Haus zurück. Sie fühlte sich sehr einsam. Es war auch kühl.
Gegen zwei Uhr in der Nacht wachte Gesine auf. Jemand rüttelte an der verschlossenen Tür des Herrenhauses. Kornmanns wütende Stimme kam von der Dienerwohnung. Lord, der Schäferhund, und Thekla, die Dackelin, lärmten wie die Verrückten in der Diele.
Gesine sah hinaus. Tungern stand unten im Nachtzwielicht. „Bitte, kommen Sie“, rief er, „bitte, ich brauche Sie dringend.“
Sie war ein paar Sekunden später unten, in Pyjama und Pelzjackett, öffnete. Die Hunde umtanzten sie, bellten den Eindringling an. Tungern war wachsbleich, griff nach Gesines Arm. „Kommen Sie bitte“, sagte er, „ich habe Angst bekommen. Der Junge ... ihr Frauen versteht doch Kranke zu heilen. Bitte schnell.“
Sie ließen die Türen offen. Liefen hinüber. Die Hunde sprangen mit, der Regen ging wieder sanft prickelnd durch den Hof. „Es ist wirklich schlimm“, berichtete Tungern. „Man kann ihn nicht mehr im Bett halten. Er will fort. Er will nach Haus.“
„Nach Haus?“ fragte Gesine, während sie die Treppe über den schlafenden Kühen hinaufstiegen, „nach Haus? Wohin denn?“
„Ja wohin?“ antwortete Tungern aus dem Dunkeln, „wohin? Nach Haus eben. Nach Kurland, obwohl ...“
Sie traten ein. Das Fieber Brinckens hatte seinen Höhepunkt erreicht. Er saß halbnackt auf dem Bett und schnallte an seinem Tornister herum. Er sprach eifrig mit sich selbst, wirr, fast unverständlich.
„Nein, nein“, knurrte er, „können nicht bleiben ... höchste Zeit ... was die Beine tragen ... wie bitte? ... natürlich, Goldingen haben wir gleich ... Sie müssen aufpassen ... Galopp und gleich in den Keller hinunter ... Verstanden? ... Da liegen sie. Verstanden ... Alles klar? Jawohl, Kommandeur ... Das kriegen wir schon ... Los ...“
Er stand schwankend, warf den Tornister über die nackten Schultern und versuchte ein, zwei Schritt. Jetzt endlich bemerkte er die beiden oder vielleicht auch nur Verzerrungen von ihnen, bekannte Gestalten mit fremden Gesichtern oder anwesende Menschen mit den Gesichtern Abwesender oder Toter. Wer weiß es? Er streckte jedenfalls die eine Hand gebieterisch gegen die Tür aus, sagte „Natürlich, da sind sie schon“, und fiel wie ein gefällter Baum ins Zimmer. Tungern fing ihn katzenschnell dicht über dem Boden auf, schleifte ihn zum Bett, nahm ihm den Tornister herunter, bettete ihn.
„Tungern“, sagte der Kranke, „was wollen Sie denn jetzt noch hier? Kann man sich denn auf niemanden verlassen?“ Und plötzlich wieder die Zeit wechselnd, lallte er: „Sing, Mensch! Man kommt besser vorwärts. Sing!“
Tungern sang nicht. Er redete etwas hilflos auf Brincken ein, er solle sich beruhigen. Er solle still sein. Aber es war ins Leere geredet. Der Fiebernde hatte keine Ohren und Augen für die Außenwelt. Nur zufällig drang etwas von dieser Wirklichkeit auf ihn ein. Er selbst ging in ganz anderen Wirklichkeiten spazieren. Auf einem Totenacker schien es. Er hielt mit einer Hand den Kameraden fest. Mit der anderen begann er wieder die Bettlade zu bearbeiten und das alte Lied zu singen.
Er sprach zu ihm, die Städte sind gesund,
Nur wir, Kam’rad, wir kamen auf den Hund.
„Singen Sie doch mit, Herr von Tungern“, sagte Gesine von der Tür her. „Vielleicht beruhigt ihn das.“
Tungern stimmte wirklich den zweiten Vers an:
Wir haben die Städte vier Jahre vorm Feind geschützt,
Sieh dich an, Kam’rad, sieh mich an,
Was hat es uns genützt?
Die Bettlade dröhnte. Die Hunde draußen bellten. Die Kühe unten im Stall wurden unruhig und rissen an den Ketten. Drüben im Herrenhaus erschien das helle Gesicht Monica Ottens im Fenster und starrte herüber, als könnte sie den Gesang sehen.
Brincken brach plötzlich ab. Er richtete sich im Bett auf. Ein schrecklicher Hustenanfall schüttelte ihn. Er umklammerte den Freund mit beiden Armen, so wie er am Nachmittag Gesine umarmt hat. „Versprich mir“, sagte er mit einemmal ganz klar, „versprich mir, daß du mir nicht davonläufst. Schwör es mir. Wir beiden halten zusammen. Nicht wahr? Wir beiden. Tungern und Brincken. Schwöre.“
„Gut“, sagte Tungern, der nicht für so feierliche Dinge war. „Gut, ich schwöre es dir vor Zeugen. Und nun, mein Sohn, legst du dich hin und schläfst. Verstanden? Los.“
Brincken schlief wirklich ein. Den Kopf konnte er nicht stillhalten. Er rieb ihn auf dem Kissen hin und her, schwenkte ihn, so wie Eisbären das tun, wenn sie im Sommer sich abzukühlen suchen.
Gesine ging ins Herrenhaus hinüber, zog sich schnell an, weckte Berta Fink, das Hausmädchen, und Frau Kornmann, die Köchin, ließ heißes Wasser aufsetzen, suchte alles zusammen, was man für eine Packung braucht und kam zurück.
Tungern saß am offenen Fenster und rauchte. „Schläft noch“, sagte er und starrte weiter hinaus. Der Regen in den großen Herrenhaustannen, die spärlichen Lichter im Haus, das Gebell der Hunde ... alles war wunderbar für ihn. „Ich möchte auch rauchen“, sagte Gesine und setzte sich zu ihm auf das kleine Fensterbrett. Tungern rückte beiseite. Trotzdem saßen sie Knie an Knie. Brincken stöhnte, drehte sich.
„Wir werden ihm eine Packung machen“, sagte Gesine. „Das Wasser kommt gleich. Wir kriegen auch einen Kaffee.“ Pause. „Er phantasierte vorhin von einem Keller“, versuchte sie, „es klang unheimlich. Was wollte er?“
Tungern zog die mageren Schultern hoch, sah die Frau prüfend an. Sie war, schien es, eine ordentliche, tüchtige Frau. Man konnte mit ihr reden.
„Erinnerungen“, sagte er, „es sind Erinnerungen.“
„Ein Keller ...“, fragte Gesine, „ein Name ... Gold ...“
„Goldingen“, nickte Tungern, „das ist eine kleine Stadt in Kurland, und im Keller steckten Geiseln. Deutsche ... Balten ... Weiße ... Er hatte jemanden dabei.“
„So ... er hatte jemanden dabei“, wiederholte Gesine erschrocken. „Was war denn das? Krieg oder Revolution oder ...“
„Krieg und Nachkrieg und Revolution gleichzeitig“, antwortete Tungern, „wir hatten 1919 eine kleine Armee aufgestellt, Landeswehr genannt, die gegen die Bolschewiken zu Felde zog. Es waren Halbsoldaten gegen Halbsoldaten.“
„Und die im Keller?“
„Alte Männer und junge Frauen und alte Frauen und ein paar Kinder, wie es gerade kam. Ja. Man hat es schon fast vergessen, und es ist auch nicht mehr wichtig.“
Gesine sah den hageren Mann fragend an. Nicht mehr wichtig? Komischer Ausdruck. Gab es unter den schlimmen Erinnerungen wichtige und unwichtige?
„Es war nicht das Schlimmste“, antwortete Tungern trocken und leise. „Lange nicht das Schlimmste. Damals kamen nur wenige um. Die andern haben wir herausgeholt. Wir haben viel schlimmere Erinnerungen. Den ganzen Kopf voll. Verstehen Sie? Es gibt Dinge, die uns nie loslassen. Die immer da sind. Auch wenn wir nicht fiebern.“
Das Hausmädchen Berta Fink kam mit Frau Kornmann die Treppe herauf. Sie schleppten einen großen Kessel mit heißem Wasser, brachten dann eine flache Badewanne, ein Tablett mit einem zierlich angerichteten Frühstück darauf. Sie sahen scheu nach dem Kranken, der gerade aufgewacht war und an allen Anwesenden vorbei unheimlich ins Leere starrte. Tuschelnd stiegen sie wieder die Treppe hinunter. Gesine schüttete das heiße Wasser in die Wanne. Das Zimmer füllte sich mit Dampf. „Los“, sagte sie, „stecken Sie ihn hinein.“ Sie selbst setzte sich ans Fenster und sah hinaus.
In der Wanne kam Brincken zur Besinnung. Mit halb geschlossenen Augen plätscherte er ganz behaglich. „Ich bin wohl ein bißchen krank?“ fragte er, „sag die Wahrheit, Tungo. Komm her, Mensch.“
Jetzt bemerkte er die Frau im Fenster. Er sprang aus dem Wasser, wollte nach seinen Kleidern greifen, wankte.
„Albern“, sagte Tungern und hielt ihn fest. Gesine hatte ein Laken ins Wasser getaucht, breitete es über das Bett. „Hier hinein“, sagte sie, „und fest zuwickeln.“
Tungern legte seinen Freund auf das Laken, wickelte, machte alles falsch. Gesine mußte zufassen, den Kranken wie eine Mumie einwickeln. Das war nicht einfach. Denn Brincken wehrte sich empört. Er sei kein Kind. Er verbitte sich weibliche Bedienung. Tungern könne es ebensogut. Gesine beruhigte ihn mit erstaunlicher Kraft und zäher Sanftmut. Er wurde still, ließ sich mit drei Federbetten zudecken, ein Handtuch um die Stirn wickeln und schlief ein.