Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"In einem der Seitentäler des Engadins, zwei Stunden etwa von Sils Maria und ebenso weit von Maloja entfernt, lag das alte 'Haus am Wasser'. Es war ein Engadiner Bauernhaus mit dicken Mauern, winzigen Fenstern, großer Diele und dunklen Stuben und Kammern, in die nur wenig Sonne hineinschien." In diesem Haus ziehen eines Tages der Bauer Peter Larotta und sein deutlich jüngere Frau Therese mit ihren beiden Jungen ein. Eine harte Aufbauzeit beginnt für die Eheleute mit großer körperlichen Anstrengungen, die beide voneinander entfremden. Es gibt nur wenige Momente des Glücks miteinander. Als dann Peter Larotta stirbt, übernimmt die junge, hübsche Witwe alleine die Verwaltung des Bauernhofes. Es kommen Tage, an denen sich Therese wünscht, früh zu altern, damit alles bald ein Ende hat. Aber es gibt auch Momente, die eine glückliche Zukunft versprechen.-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 201
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Walther von Hollander
Ein Roman aus dem Engadin
Saga
Therese Larotta
© 1939 Walther von Hollander
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711474709
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
In einem der Seitentäler des Engadins, zwei Stunden etwa von Sils Maria und ebenso weit von Maloja entfernt, lag das alte „Haus am Wasser“. Es war ein Engadiner Bauernhaus mit dicken Mauern, winzigen Fenstern, grosser Diele und dunklen Stuben und Kammern, in die nur wenig Sonne hineinschien.
Den Namen trug das Haus zu Recht. Denn es lag unweit einer Felswand, über die sich in drei Riesensprüngen ein Wasserfall hinabstürzte, und dicht am Gebirgsfluss, der schäumend und gurgelnd an den Südfenstern vorbeischoss.
Fast hundert Jahre war das „Haus am Wasser“ das letzte Anwesen, das ständig bewohnt wurde. Hundert Meter tiefer und schon ausser Rufweite lag das „Haus am Hang“, ein Bauernhaus mit Stall und Heuschuppen, mit Viehgatter und Tränke genau wie das „Haus am Wasser“, und höher hinauf, an den Hängen des lärchenbewachsenen Tales, kamen nur noch ein paar Hirtenhütten, einige Sommerställe für Weidevieh, ein paar Almen und dann die Felsen.
Wenige Jahre vor dem Kriege wurde das Berghotel in das Tal hineingesetzt, ein Fachwerkbau mit sechzig Zimmern, und ein Fahrweg erschloss das Tal den Bergsteigern und Wintersportlern, den Sonnensüchtigen und Liegestuhlbenutzern, den Städtern, die auf der Flucht vor der Stadt sind.
Nachdem die Strasse bis zum „Haus am Wasser“ fertiggestellt war, starben kurz hintereinander die alten Fenns, die Besitzer. Ein Jahrzehnt hatten sie hier einsam, mit ihren Hunden oder Kühen schwätzend, gehaust, und höchstens hatten sie mit dem Bauern am Hang gesprochen, der ein Sonderling war. Es schien den beiden Alten wohl nicht verlockend, unterhalb des Berghotels und unweit der Sommerfremden und Winterfrischler zu leben, und so gingen sie lieber ganz aus dieser Welt, in der scheinbar für niemanden mehr genug Einsamkeit vorhanden ist.
Da der Weg fertig war, fuhr man die Toten nach Sils hinunter und begrub sie dort, obwohl sie oft gesagt hatten, sie wollten auf dem Grundstück liegen, gesondert von allen anderen, wie sie gelebt hatten.
Das „Haus am Wasser“ stand mehrere Jahre leer. Die Kinder der Fenns, die schon Jahrzehnte im Unterland lebten, wollten nicht heraufziehen. Sie liessen zuweilen ein paar Gäste darin wohnen, um wenigstens die Steuern zu haben, und erschienen ein- bis zweimal in jedem Sommer, um das Heu zu ernten und abzufahren. Endlich, 1917, mitten im Kriege also, von dem hier oben allerdings nicht viel zu bemerken war, erwarb der fünfundfünfzigjährige Bauer Peter Larotta aus Promontogno den gesamten Besitz einschliesslich zweihundert Morgen Almwiesen, zwei Sommerställe und vier Viehgatter. Er bekam noch hundert Morgen von dem höher gelegenen Felsengewirr dazugeschenkt, einen Streifen Land, auf dem auch die bescheidenste Ziege nichts mehr zum Essen finden konnte und auf dem man höchstens Murmeltiere hätte ernten können, die dort mit drolligen Sprüngen und Pfiffen ihr Wesen trieben.
Peter Larotta nahm die Schenkung dieses Felsstreifens achselzuckend und abwehrend an. Innerlich war er voll Stolz, weil er sich nun mit seinen sechshundert Morgen Land als Grossbauer fühlen konnte.
Im Mai 1917 kamen die Larottas an. Es war ein richtiger Föhntag. Bis Mittag schneite es heftig bei warmem Sturm. Dann brach die Sonne durch. Der Schnee fiel in Brocken und Klumpen von den Bäumen. Es begann mit solcher Heftigkeit zu tauen, dass auf den Strassen die Wasser unter dem Schnee zu fliessen anfingen. Ein schlechteres Wetter zum Umzug hätte sich schwer finden lassen. Langsam stiegen die Larottas vom Tal her hinauf. Voran trappelte der Esel Josef, der auf jeder Seite eine grosse Kiste mit Geschirr trug. Dahinter ging der Bauer, Peter Larotta, trotz der Hitze in seinen Schafspelz gekleidet, die zu langen Beine in Wasserstiefel gesteckt.
Der Schweiss rann ihm aus dem grauen Wirrhaar über das magere Gesicht in den schwarzen, buschigen Bart. Die grosse Peitsche benutzte er als Wanderstab. Mit der linken Hand führte er das geliehene Zugpferd am Zügel, das viel kleiner war als er. Von weitem sah es so aus, als ob der Bauer Pferd und Leiterwagen den Berg hinanzog.
Der Wagen war nicht gut gepackt. Er schwankte bedenklich und drohte immer wieder zu kippen und ausser dem Hausgerät auch Therese Larotta abzuwerfen, die, beide Hände in die Zeltplane verkrampft, sich und ihre Sachen immer wieder ins Gleichgewicht brachte. Die Bäuerin trug einen grünen Lodenmantel. Um den Kopf hatte sie ein rotes kariertes Wolltuch geschlungen, dessen Fransen ihr der Wind immer wieder ins Gesicht wehte. Ihre Wangen waren von der Anstrengung so rot wie das Tuch. Die Stirn war auffällig weiss und sehr hoch. Das gab ihrem Gesicht etwas Nachdenkliches, Abweisendes.
Die Larotta hielt die Lippen fest zusammengepresst. Die dunklen Augen gingen unruhig zwischen dem Bauern, dem Wagen, dem Esel und den beiden Söhnen hin und her, die, Peter und Paul mit Namen, den miserablen Weg ausnutzten, um sich bis zur Nase mit Schneematsch zu beschmieren. Therese musste herzlich über die Kinder lachen. Dabei war ihr recht bange zumut. Was für eine fremde Welt tat sich hier vor ihr auf! Ein Schneegebirge, das ganz dicht dies Tal umschloss, Wiesen, auf denen noch jetzt im Mai der Schnee lag, Hänge, an denen nur wenige Lärchen wuchsen und über die wie Zuckerwerk die erstarrten Wasserfälle gespannt waren, deren Wasser jetzt in der Mittagssonne nur gerade zu sickern und zu flüstern begannen.
Der seltsame Zug der Zuwanderer dröhnte jetzt über die schmale Brücke, unter der der Fluss, an den Rändern noch mit Eis überdeckt, schäumend, gurgelnd, gelb und grau dahinschoss. Und da lag denn das „Haus am Wasser“, unwirtlich, mit geschlossenen Fenstern und Türen, die Stalltore verrammelt und von angewehtem Schnee mannshoch zugedeckt. Man musste sich einen Weg ins Haus schaufeln, und da sie die Türen öffneten, atmete dumpfe unbelebte Luft ihnen entgegen. Therese erschauerte einen Augenblick. Dann ergriff sie Eimer, Scheuertücher, Besen und begann den Dreck, die Verwahrlosung, die Vergangenheit hinauszukehren.
Die Larottas zogen also ein, nahmen Besitz vom Haus, stellten die grossen Schränke und den breiten Esstisch in die Diele, verteilten in den Stuben die Stühle und Sofas, die Anrichte und die Truhen, hingen Bilder von Promontogno, Fotografien ihrer Eltern und kleine Drucke mit bunten Heiligen an die Wände. Sie entzündeten im Eingang das ewige Lämpchen vor einer Mutter Gottes, die eine goldene Strahlenkrone wie eine aufgehende Sonne um ihr Haupt trug, und gleich hinter dem Eingang stellten sie ihren grössten Stolz auf, die Jahreszeitenuhr, eine grosse Standuhr, auf deren Zifferblatt die vier Jahreszeiten dargestellt waren, so dass die Zeiger bei ihrem Tageslauf immer das Jahr durchkreisten, von der Blüte über die Ernte bis zum Schnee.
Die Larottas waren sehr zufrieden, dass die grossen Ehebetten und der Spiegelwaschtisch in die eine Kammer passten und dass zwischen den Kinderbetten in der zweiten Kammer gerade Platz genug blieb, um die leere Wiege aufzustellen.
Nachdem sie sich eingerichtet hatten, gingen die Larottas zu den beiden Nachbarn, zum Bauern am Hang und zu Herrn Guggis und Frau ins Berghotel, um gute Nachbarschaft zu wünschen.
Der Bauer am Hang empfing sie voller Misstrauen. Er war so schwerhörig, dass er die anderen nicht gerne sprechen liess, und so misstrauisch, dass er nur von der Vergangenheit sprach. Er erzählte von den alten Fenns, den Vorgängern der Larottas, die von ihren Kindern genau so verlassen waren wie er selbst. Bergbauernschicksal, das die Larottas auch packen würde. Selten hatte es die zweite Generation der Zugewanderten hier ausgehalten. Die Fenns hatten ihre Kinder zwingen wollen, im Hochtal zu bleiben. Da waren sie nachts im Winter weggelaufen, auf Schneeschuhen. Und niemand konnte sie einholen?!
Der Bauer sprach von den Fenns so, als lebten sie noch, als müssten sie gleich über die Wiesen herunterkommen und „diese fremden Gesichter, diese Eindringlinge“ von ihrem rechtmässigen Besitz vertreiben.
Es war ein etwas ungemütlicher Besuch, da der Bauer immer zwischen den Larottas zum Fenster hinausredete und hinauswinkte und es gar nicht zu bemerken schien, dass sie schliesslich weggingen, nachdem sie vergeblich versucht hatten, ihm die Hand zum Abschied zu reichen.
Dafür war es im Berghotel recht gemütlich. Die Guggis hatten sich sehr auf die Larottas gefreut. Es war gut, dass man nun noch ein Ehepaar in der Nähe hatte für die einsamen Monate zwischen Sommer und Winter und zwischen Winter und Sommer. Sie empfingen die „Neuen“ mit einem riesigen Kuchen und verlangten, dass die beiden Jungen im Verein mit ihren Eltern ihn aufassen. Beim Essen, so meinte Frau Guggis, könne man sich am ehesten kennenlernen. Sie betrachtete ihre Gäste mit unverhohlener Neugier. Das waren also die Larottas! Der finstere zähe Fünfziger und die zarte Dreissigerin mit dem runden Gesicht, der bei grauweissen Haaren dunkle Mann und die bei schwarzen Haaren helle Frau. Kein gutes Gespann!
Herr Guggis fand die beiden vor allem zu schweigsam. Ausser über Heumachen und über Viehpreise, über Melken und Buttern konnte man wenig mit ihnen reden, und die Verständigung wurde noch dadurch erschwert, dass jeder eigentlich einen anderen Heimatdialekt sprach. Die Guggis gebrauchten das Ladinische der eingeborenen Engadiner, Peter Larotta sprach am besten das Italienische aus dem Bergell, und Therese Larotta hatte als Kind das Romanische aus dem Unterengadin gesprochen. Deutsch war ihnen allen ein wenig ungewohnt, und sie gebrauchten es nur, um sich gegenseitig zu verdolmetschen, was sie sonst nicht verstanden.
Die vier versicherten einander immer wieder, wie sehr man aufeinander angewiesen sei. Aber die rechte nachbarliche Wärme wollte sich nicht einstellen. Therese Larotta wurde nur etwas lebhafter, als man die übermodernen Küchenanlagen des Berghotels besichtigte. Sie lachte ein paarmal kindlich erfreut. Was sollten wohl diese Hunderte von Tassen und Kännchen, die Dutzende von Kesseln, Töpfen und Pfannen, die stubengrossen Kochöfen, die Spültische, tief wie Badewannen, und die Tellerwaschmaschine, über die lautlos die Teller wanderten, um sauber geputzt gleich in den Küchenschrank hineinbugsiert zu werden.
Peter Larotta schüttelte ärgerlich den Kopf. Er begriff nicht, wieso man über diese unnützen Dinge lachen konnte, die zudem allein die Wirtsleute etwas angingen. Mochten die Guggis zusehen, wie sie hier, zwischen Schnee, Gras und Felsen, genug schmutzige Teller für ihre Waschmaschine zusammenbekamen! Ihre Sache!
Er sagte es ihr auf dem Nachhausewege, und Therese nickte gleichmütig, wie sie zu allem nickte, was der Mann sagte. Ausserdem hatte er ja recht. Was ging sie die prächtige Küche in dem fremden Hotel an. Trotzdem erschien ihr nach dieser Begegnung mit einer anderen Welt alles hier oben etwas leichter und lichter. Das enge Tal, in das die Maisonne nur fünf Stunden hineinschien, die Berge, gegen deren silbernen und weissen Glanz die Dunkelheit der Stuben nur noch dunkler sich abhob, das Wasser, das nun endlich zu flüstern und zu reden begann und in der Mittagsglut sogar stürmisch die Felsen beklopfte ... ja selbst das dunkle Haus schien ihr ein wenig heller zu sein, als sie es jetzt, nach dem Besuch im Berghotel, betrat, um wirklich „für immer“ darin zu wohnen.
Kurz danach begann der erste Frühling hier oben. Nach einem Sturm, der donnernd gegen die Stalltore pochte, schmolz der Schnee so schnell weg, dass man ihn schwinden sah, kamen die Gräser und Blumen zum Vorschein, die sicherlich schon lange fertig unter der Schneedecke gelegen hatten. In wenigen Tagen war die Jahreszeit soweit wie unten in Promontogno, nur dass es natürlich keine Obstbäume gab, keine Gebüsche, keine Wälder, keine Nachtigallen, keine Rosen, keine Kartoffeln und kein Getreide. Nur Wiesen gab es und Vieh und wieder Wiesen und darüber Felsen, Wasser, Schnee und Himmel.
Peter Larotta ging das Vieh holen und kam drei Tage später wieder das Tal hinauf mit dreissig Stück Rindvieh und zehn Ziegen aus eigenem Besitz und vierzig Kühen, die er für den Sommer in Pflege genommen hatte. Er kam hinter der Herde her, dürr, gross und dunkel, die Peitsche schwingend und ab und zu mit merkwürdig hellen, singenden Rufen die Hunde antreibend, dass sie die Herde auf der Strasse halten sollten.
Peter und Paul, die beiden Jungen, rannten ihm entgegen, sausten in die Herde hinein, um die bekannten Kühe zu begrüssen und die unbekannten zu betätscheln, und Therese kam auch langsam vom Hause her über den Fusssteg, stand, die Arme leicht ins Tuch geschlagen, und zählte die Tiere, bis der Mann heran war.
„Sie lassen grüssen“, sagte der Bauer, „und sie warten, dass wir wiederkommen.“
Therese antwortete zuerst nicht. Sie grübelte. Man konnte also ins Tal zurück? Sie brauchte nur zu wollen? Der Mann schien auch wieder zweifelhaft geworden zu sein. Wollte sie wirklich zurück? Wollte sie unten im Ackerland, zwischen Wein und Weizen leben wie die anderen? Sicherlich! sicherlich! Aber dann fiel es ihr wieder ein, wie schlimm sie es unten im Tal gehabt hatte, unter den Verwandten, für die sie ihr Leben lang die fremde Viehmagd blieb, als welche sie auf den Hof gekommen war, und so wurde jetzt ihr Gesicht so dunkel wie das ihres Mannes. Ein heftiger Zorn schüttelte sie, ein Zorn, von dem sie auch den Bauern, ihren Mann, nicht ausnahm. Hatte er sie nicht da unten schützen und zu Ehren bringen können? Nein, er hatte es nicht gekonnt.
Sie nahm, nachdem die Herde vorbeigezogen war, ihre beiden Jungen an die Hand und rief heftig: „Ich gehe nicht zurück! Nein, ich will nicht zurück.“
Peter Larotta war schon weitergegangen. Wahrscheinlich hatte er ihren Ausruf nicht mehr gehört. Denn sonst hätte er es wohl nicht so ohne weiteres hingenommen, dass seine Frau Entschlüsse fasste, die doch nur er fassen durfte.
Der erste Sommer ging schnell hin. Man hatte hier oben mehr Arbeit als unten in Promontogno, wo man zur Not immer eine Hilfe bekam. Hier musste man — ausser bei der Heumahd, zu der man Schnitter bekam —, alles allein machen, einerlei wieviel Arbeit es war. Haus und Stall waren gross und verwahrlost. Die Wiesen waren vermoost und verunkrautet. Über einige war der Steinschlag niedergegangen, als hätte es Kiesel gehagelt, oder als wäre ein Steinfluss hinübergeströmt. Andere Wiesen fingen an morastig zu werden weil die Abzugsgräben verstopft und verschlammt waren.
Therese wusste manchmal nicht, was sie zuerst arbeiten sollte, denn neben der Feld- und Wiesenarbeit musste sie kochen, putzen, melken, buttern, Käse machen und Schweine füttern. Nur gut, dass Hühner, Enten und Gänse, dass Ziegen und Kühe unter Peters und Pauls Leitung ihr Futter selber suchten und dass Peter Larotta gern rechnete und es ihm darum leicht war, auseinanderzurechnen, wieviel Milch die eigenen Tiere gaben und wieviel die Kostgänger, wieviel man für Wartung und Futter einbehalten durfte und wieviel man gutschreiben musste.
In der Abenddämmerung sass er meist vor der Tür an dem Eichentisch und rechnete. Er rechnete in einem merkwürdigen Singsang, halb deutsch, halb italienisch, eine, zwei Stunden lang, und meist war dieser Gesang der Zahlen, war das monotone Absingen der Liter und Pfennige das einzige, was Therese von ihrem Mann zu hören bekam. Die Einsamkeit hatte den Bauern noch schweigsamer gemacht. Früher hatte er wenigstens manchmal noch geschimpft. Aber jetzt sprach er tagelang nichts ... nichts Gutes und nichts Böses. Therese versuchte herauszubekommen, was in den Mann gefahren war, was ihn wohl quälte und wie sie es vielleicht ändern könnte. Schliesslich brauchte sie doch auch mal hier und da ein paar Worte. Wenn man niemanden zum Sprechen hatte, so war es schon beinahe ein Unglück, wenn der Mann gar nichts sprach und sie darauf angewiesen war, allein mit den beiden Jungen zu reden, die aber den ganzen Tag draussen waren. Wenn sie den Mann etwas fragte, nickte er oder schüttelte den Kopf. Wenn sie sich endlich eine Frage ausgedacht hatte, auf die man nicht mit Gebärden antworten konnte, so konnte es vorkommen, dass er einfach die Achseln zuckte und wegging, und wenn sie ihn abends im Bett etwas fragte, weil er da nicht weglaufen konnte, so drehte er sich langsam zur Wand und schien einzuschlafen.
Tatsächlich — das hatte Therese bald heraus — schlief er nicht. Er lag vielmehr mit offenen Augen und starrte ins Dunkle. Er bemühte sich, den Husten zu unterdrücken, der ihn quälte. Manchmal räusperte er sich, manchmal bellte er leise wie ein Schosshündchen in die Kissen hinein, besonders wenn er glaubte, dass die Frau fest schliefe. Aber sie merkte das alles ganz gut. Nur sie begriff nicht, warum er sich so anstrengte, diese „kleine Erkältung“ vor ihr zu verbergen, warum er sich nicht bemühte, sie loszuwerden.
Gegen Ende des Sommers hielt sie die Einsamkeit nicht mehr aus. Sie hielt es nicht mehr aus, dass der Mann dalag und den Husten zu unterdrücken suchte. Zuerst sagte sie noch, dass sie der Frau Guggis bei irgendeiner besonderen Arbeit zur Hand gehen wolle oder dass sie noch Sahne oder Butter schnell hinaufbringen müsse. Langsam aber — auch weil der Mann sie eher ermunterte, hinzugehen — gewöhnte sie sich daran, auch ohne Grund zum Hotel hinaufzuwandern. Sie wurde angezogen von dem merkwürdigen und ihr völlig unverständlichen Leben, das da oben geführt wurde. Es war ein höchst lächerliches Leben, fand sie. Aber doch ein Leben mit sehr viel Licht, mit weissen Tischen und Blumen, die aus dem Unterland kamen, mit fein angezogenen Menschen, mit einer seltsamen Musik, die sie nicht schön fand, mit Tänzen, bei denen sie als Zuschauer erröten musste, und mit lautem Lachen und vielem Geschwätz, das gleichzeitig lustig und langweilig sein musste. Denn bei allem Lärm und allem Lachen waren die Gesichter der Sommergäste merkwürdig starr und wirklich so, wie Therese sie manchmal in den Zeitschriften gesehen hatte, die durch Zufall sich nach Promontogno verirrt hatten. Die Welt der Zeitschriften lebte! Die Menschen, die dort feine Fräcke und wehende Sommerkleider trugen, die dort puppenhaft und starr herumstanden ... hier lebten sie, liefen herum, lachten und sprachen in vielen verschiedenen Sprachen. Merkwürdig!
Meist stand Therese Larotta in der Anrichte und sah durch die kleine, gardinenbedeckte Scheibe in den Speisesaal, in dem die Gäste sechs oder acht Speisen hintereinander assen. Nach dem Essen aber ging sie nach draussen und stellte sich auf den kleinen Felsen, die sogenannte Kanzel, fünf Meter vom Tanzsaal entfernt. Sie stand immer ganz bewegungslos und ernst, die Augenbrauen so zusammengezogen, dass sie als schmale dunkle Grenze das braunrote Gesicht und die weisse Stirn trennten, die Arme fest in das Tuch gewickelt und so um sich selbst geschlungen, dass sie sich wärmen konnte. Denn in dem ersten Sommer fror sie noch bitterlich in den Nächten, die keine echten Sommernächte waren, sondern fast Winternächte mit Tau, Reif und Eiskälte.
Schon im Verlaufe dieses Sommers lernte sie die einzelnen Gäste unterscheiden, erwärmte sich für die einen und fand die anderen langweilig. Sie begriff sogar, dass hinter den Spielen und hinter dem Lachen auch Kämpfe sich abspielten, zum Beispiel der Kampf um die rote Holländerin Frau Wilhelmine Roodeweld, die, wie Frau Guggis erzählte, von ihrem Mann geschieden war und nicht wusste, ob sie den Kommerzienrat, den Schriftsteller oder den Oberingenieur nehmen sollte, und schliesslich mit einem Missionar abreiste.
Manchmal kamen die Fremden auch an der Felsenkanzel vorbei, wenn sie zum Beispiel mit viel Lärm einen Mondscheinspaziergang machen wollten oder ein kleines Feuerwerk anzünden. Sie bemerkten natürlich die stumme Beobachterin und wurden bei ihrem Anblick still, linkisch, übertrieben sorglos, oder sie versuchten sogar mit Witz und Zuruf eine Anknüpfung. Aber Therese Larotta bemerkte das alles nicht. Die Menschen, die an ihr vorübergingen, so nah manchmal, dass sie sie hätte greifen können, waren für sie nicht Menschen von dieser Welt. Genau so gut hätte man ihr raten können, mit den Engeln zu reden, Gabriel und Michael, die von Kindheit an durch ihre Träume gingen, geformt wie die Gestalten des Kirchengemäldes in der Heimatkirche und natürlich auch in einer Sprache sprechend, die sie nicht verstand, und taub für die leisen und seltenen Worte ihrer Sprache.
So blieben ihre Augen starr auf den beleuchteten Tanzsaal gerichtet, wo hinter Scheiben, die im Verlaufe des Abends immer mehr durch Hitze und Zigarrenrauch beschlugen, die fremde bunte Welt sich blütenhaft entfaltete und schliesslich hinter wassertropfenden Scheiben versank und verschwamm.
Wenn Therese heimkam, wachte der Bauer fast immer, oder man hörte ihn leise in die Kissen husten oder aus schweren Träumen vor sich hinreden. Er sprach über Lawine und Steinschlag, er wehrte Kühe und Ziegen ab, die im Schlaf an seinem Lager standen und ihn anzuknabbern suchten. Wachte er dann auf, so sah er sie an, als ob er und nicht sie von ferne nach Hause kam. Er presste die Hand auf sein Herz und schüttelte abwehrend den Kopf, wenn sie sich über ihn beugte. Einmal, als sie wiederkam, merkte sie, dass er vor Kälte zitterte. Da legte sie sich der ganzen Länge und Breite nach auf den Kranken, deckte ihn ganz und gar mit sich zu und lag still, den runden Kopf unter das Kinn des Mannes geschoben, horchte auf das Rauschen und Brausen der Wasser, das Brüllen einer Kuh, das Klirren der Stallketten, das Rasseln des langsam ruhiger werdenden Atems, und sie schlief — dieses Mal und immer — erst ein, lange nachdem der Mann eingeschlafen war. Hätte sie ihn gefragt, ob er sie bei sich haben wollte, er hätte sie sicher weggeschoben. So aber, da sie ohne zu fragen gekommen war, liess er es sich gefallen und — so schien es — war ihr dankbar. Denn ein paarmal strich er ihr über die Stirn, und einmal, als sie ein wenig später als sonst vom Hotel zurückkam, murrte er: „Endlich.“
Während der zweiten Heuernte, die in diesem ersten Jahr etwas verspätet gegen Ende August begann, schien es mit Larotta etwas besser zu werden. Er schwang die Sense kräftig wie immer. Er schnitt das Gras an den Steilhängen und auf den abschüssigen Halden so schnell wie andere auf ebenen Wiesen. Mit seinem Rechen wirbelte er das Heu so gleichmässig wie eine Wendemaschine, und die riesige Zeltplane mit Heu trug er in den Stall, wie andere ein Brot tragen.
Nein ... er brauchte keinen Knecht zur Hilfe. Als Guggis, der Wirt, einmal das Gespräch darauf brachte — er hatte einen italienischen Hausknecht, der untüchtig war und den er gern losgeworden wäre — lehnte Larotta heftig ab. Platz genug war natürlich im Haus. Zwei von den vier Stuben standen leer, aber sie sollten auch leer bleiben, wenn nicht noch kleine Larottas hineinzögen. Denn es sei noch nicht aller Tage Abend.
Guggis schüttelte lachend den Kopf. Das war ja eine famose Nachricht. Larottas erwarteten Nachwuchs! Er sah Therese den Hang herunterkommen. Von der Erntesonne war sie verbrannt. Der Heustaub hatte die Augenbrauen gelbgrau gefärbt. Ihre Hüften waren breiter geworden. Guggis konnte es gut verstehen, dass Larotta noch Kinder wollte, wenn auch ...
„Larotta hält das Klima nicht aus“, erzählte Guggis nachher seiner Frau, „die kalten Nächte sind nichts für ihn ... und die heissen erst recht nicht.“
Frau Guggis lachte über diesen Witz den halben Tag. Immer wieder kicherte sie: „... und die heissen auch nicht.“
So blitzschnell, wie der Frühling gekommen war, kam auch der Herbst. Oder nicht eigentlich der Herbst, sondern gleich der Frühwinter. Der Schnee rutschte die Berge hinunter, wich noch ein paarmal unter Föhnstürmen zurück und blieb dann. Die letzten Sommergäste reisten ab. Die Veranden im Berghotel wurden zugenagelt, die Fenster mit Säcken verhängt. Larotta aber brachte das fremde Vieh wieder ins Tal.
Therese hätte ihn gern begleitet. Wie wohl eine Birke im Herbst aussah, ein buntes Buchengebüsch, hätte sie gern wieder gesehen. Hagebutten gab es wohl auch in Sils und Vogelbeeren, knallrot, mitten im ersten Schnee. Aber Äpfel gab es nicht, und die gelben süssen Pflaumen waren jetzt in Promontogno reif, und es musste doch merkwürdig sein, wieder durch ein Dorf zu gehen, zwischen hundert neugierigen Fenstern, und die Bekannten herauszuwinken und mit ihnen zu reden.
Sie wäre gern mitgegangen, aber der Mann merkte nichts von ihren Wünschen, obwohl Therese ihn weit über Maloja hinaus begleitete, obwohl sie ihren Lodenmantel anhatte und das rote Tuch um den Kopf, mit dem sie gekommen war. Weil er dann immer noch nichts sagte, musste sie am oberen Ende der Seen stehenbleiben. Sie trug noch allerlei Grüsse auf, klopfte noch dieses oder jenes Tier zum Abschied. Dann ging sie schnell wieder ins Tal zurück. Denn ein Unwetter zog sich vom Berg herunter, streifte mit tiefhängenden Wolkenfetzen den Arvenwald und schlug auf Therese ein mit einem Wind, der von allen vier Seiten gleichzeitig zu blasen schien,