Der Granatapfelbaum - Walther von Hollander - E-Book

Der Granatapfelbaum E-Book

Walther von Hollander

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Beschreibung

Henri Wyndthausen, der vielgerühmte Schauspieler, schenkt seiner jungen Kollegin Christine Meßwarb zu Beginn ihrer Begegnung, aus der bald eine tiefe Liebe wird, einen Granatapfelbaum – Symbol der Liebe, der Vergänglichkeit und des Todes. Der Roman erzählt die Geschichte dieser Liebe, die unbedingt und vorbehaltlos ist, eine zeitlose Leidenschaft, ernst und heiter zugleich. Zugleich wird in diesem Buch der antike Mythos von Persephone, die im Winter in der Unterwelt weilt und nur im Sommer zu ihrem irdischen Gemahl aufsteigen darf, auf doppelter Ebene neu erzählt: Denn den Rahmen des Geschehens bildet eine Reisebühne, die mit dem antik-modernen Stück "Persephone" durch die Lande zieht. Ein zugleich heiteres und besinnliches Spätwerk eines großen deutschen Erzählers.-

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Seitenzahl: 315

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Walther von Hollander

Der Granatapfelbaum

Roman

Saga

Der Granatapfelbaum

© 1961 Walther von Hollander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711474556

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Wieder unter schwarzen Wimpern

Mit betörenden Augen

Schaut mich Eros an.

Ibykus, griechischer Lyriker, 6. Jahrhundert vor Christo.

Tän toon toiutoon pathematon katharsinτην των τοιουτων παδηματων χαϑαρζιν

„Die Reinigung von derlei Leidenschaft.“

Aristoteles über den Begriff des Tragischen.

Persephone steigt aus dem Hades herauf

1

»Da – gleich am Teich rechts«, sagte der Rentner mit der blauen Schirmmütze und zeigte auf das alte Fachwerkhaus. »Sie gehören wohl auch zu denen?« – «Ja, ich gehöre auch zu denen«, antwortete Christine vergnügt. Der kleine, tomatenfarbene Wagen schoß auf Hennekes Gasthof zu und hielt am Hoftor.

Die mächtigen, eichenen Torflügel standen offen. Eine schwarze Blechhand wies mit ausgestrecktem Zeigefinger in den schattendunklen Hof. »Ausspann«, stand darunter. Christine zögerte. Die Märzsonne schien so angenehm durch das offene Wagenfenster. Der Dorfteich, noch milchig-weiß zugefroren, blendete hell herauf. Aber erst mal hinein in die Schatten, in den Hades! Vorsichtig fuhr sie über das Kopfsteinpflaster und parkte zwischen einem großen, weißen Wagen aus Glas und Chrom und einem olivgrünen Autobus. Drei ältere Schauspieler, wahrscheinlich die drei Totenrichter, lagen in den zurückgelehnten Sitzen und schliefen. Ein gelber Kater überquerte, auf der Suche nach Sonne und Mäusen, den Hof. Er lief die kleine Außentreppe hinauf, schlüpfte durch eine angelehnte Tür. Christine folgte ihm, trat ein.

Der große Wirtshaussal war dunkel. Zwei rotglühende Eisenöfen flankierten die kleine Bühne, die von vier heruntergezogenen Lampen kalkig beleuchtet war. Und auf der Bühne ... da stand er also: Henri Wyndthausen, der Triptolemos, der irdische Mann Persephones, ihr Partner, vor dem ihr Mann, ihre Mutter, ihr Agent sie gewarnt hatten.

Sie hob ihr schildpattgefaßtes Lorgnon an die etwas kurzsichtigen Augen. Sie kannte ihn aus drei oder vier ziemlich mäßigen Filmen. Sie hatte viele Bilder von ihm gesehen. Aber der da oben war ... nun er war »ganz anders«. Ein knabenhafter Mann, ein männlicher Jüngling, überschlank, verhältnismäßig klein, mit einem breiten Schädel, bräunlich-goldenen Haaren und erstaunlich dunklen, kohlschwarzen Augen. Wyndthausen trug verknüllte, flaschengrüne Cordhosen, einen gelben Pullover, ein chinesisch getuschtes Seidentuch. Er hatte die Arme um zwei ruschelhaarige Schauspielerinnen gelegt. Mit der einen flüsterte er. Sie lachte albern, schlüpfte aus seinem Arm und lief in die Kulissen. Wyndthausen schickte die andere mit einem Klaps auf die prall sitzende Nietenhose hinterdrein. »Also der Monolog«, rief er. Einen Augenblick stand er bewegungslos, stampfte ungeduldig auf und schrie: »So geht’s bestimmt nicht. Ständig krabbelt da jemand im Dunkeln rum. Kannst du deine paar Mannen nicht raussetzen?« – »Mach’s nicht so spannend«, rief der Regisseur ungeduldig.

Wyndthausen stand in übertriebener Versunkenheit (fand Christine), die Augen geschlossen, eine Hand auf die Hüfte gestemmt. Dann machte er überraschend eine heftige Drehung. Er schleuderte die Arme von sich, als müsse er einen freien Raum um sich schaffen. Jetzt verstand Christine: das war die Einleitung zum Monolog des Triptolemos. In der wildschwingenden Drehung wurde die kommende Szene vorbereitet, der Schrei nach der in die Unterwelt verschleppten Persephone, der Ruf in die echolosen, rauchschwarzen Kessel der Vulkane, die den Eingang zum Hades bilden. Er beugte sich, die Hände trichterförmig an den Mund gelegt, über den Abgrund. Seine Stimme färbte sich (wie Rauchtopas, dachte Christine), wurde dunkler, als er ihren Namen schrie, heisehend, bittend, flehend immer wieder: »Persephone! Perphone!«

Mitten in der ungeduldigen, ungehemmten Raserei der Rufe brach er ab. Triptolemos, der irdische Gemahl Persephones, der vom Feuer gehärtete, von Nektar und Ambrosia ernährte, verwandelte sich in den Schauspieler Wyndthausen zurück, den berühmten, groben Mimen. Er knipste, von der Kulisse aus, das Licht im Zuschauerraum an. Er sagte wütend und leise: »In diesem Laden scheint’s nicht möglich zu sein, ungestört zu probieren. Wer hockt da noch herum? Was wollen Sie denn hier?« Arno Petersen, der dicke Regisseur, hatte gerade Christine entdeckt. Er lief, die Hände zum Willkomm ausgebreitet, auf sie zu. Er begrüßte sie pathetisch, überschüttete sie mit nichtigen Fragen, billigen Lobsprüchen, gutgemeinten Redensarten. Er hakte sie unter, lief mit ihr die Treppe zur Bühne hinauf und stellte sie vor Wyndthausen hin. »Das ist sie«, rief er mit seinem sächsisch angefärbten Orgelbaß. (Er röhrte, wenn er aufgeregt war, wie ein Elefant und wurde deshalb Mumbo genannt.)

Wyndthausen reichte ihr die Hand. Er sah die Partnerin mit schiefem Kopf an. Die Prüfung schien »einigermaßen« auszufallen. Er nickte, griff nach ihrer linken Hand, drehte die Handfläche nach oben und studierte aufmerksam die Handlinien. Man hatte Christine genug von den Kapriolen Wyndthausens erzählt. Sie war also nicht überrascht. Die seltsame Begrüßung gefiel ihr sogar. Wie er hin- und herschauend ihr Gesicht, ihre Augen und ihre Handlinien verglich, das fand sie gleichzeitig kurios und anmutig, gleichzeitig frech und scharmant. Er war nur ein wenig größer als sie. Deshalb begegneten sich die Augenpaare, die klematisblauen, leuchtenden Augen Christines und die dunklen, funkelnden Henri Wyndthausens. Christine dachte an ihren Schuldirektor, bei dem sie das Abitur »gebaut« hatte. Sie erinnerte sich, daß er ihr kurz vor der Prüfung riet, den gefürchteten Schulrat Menneke möglichst freundlich anzulächeln. »Durch ein Lächeln kann man nicht hindurchschauen«, hatte der Direktor gesagt. Es war sicher gut, wenn der »seltsame Knabe« Henri Wyndthausen sie nicht durchschauen konnte. Sie lächelte also und sagte freundlich: »Na ... stimmt’s?« Wyndthausen ließ ihre Hände fallen. Er murrte: »Genaueres ein andermal«, und zu Petersen, dem Regisseur, recht von oben herab: »Die Stimme stimmt. Du hast nicht zuviel versprochen, Arno.«

2

Es war Abend. Aus der Ecke der Gaststube dampfte es wie aus einem Vulkan der Unterwelt. Die drei Totenrichter saßen dort. Der massige Kumminghaus, der dürre, langnasige Gernke und der ehemalige Bösewicht, Jan Schröder, dessen Bösigkeit längst in die Fettfalten seines Gesichts eingeschmolzen war. Deshalb mußte er, der noch vor wenigen Jahren die Hauptverbrecher in Kriminalfilmen gespielt hatte, jetzt eine drittklassige, eine Fünfzigworte-Rolle, eine Dreißig-Mark-Rolle spielen. Deshalb schielte er, der sonst beim Skat nicht links, nicht rechts schaute, immer wieder auf den Prominententisch, an dem die Götter und Helden, die Herren und Damen der Oberwelt sich versammelt hatten. »Die kommen noch alle zu uns runter«, räsonierte er, »in die Unterwelt mit Zigarre, hellem Bier und Kartenfreuden.« Er hieb dabei den Pik-Buben auf den Tisch und sammelte durch ihn die noch fehlenden »Augen«.

Am Prominententisch saß Christine mit Mumbo Petersen, dem Regisseur, mit Ellen Heß, seiner kornblonden Frau, der Demeter, mit Bossard, dem schwarzbärtigen Pluto. Neben Pluto Olga Berliner, eine rundliche Fünfzigjährige, die »Dame aus der Unterwelt«, die Souffleuse, die bald zu den Skatspielern hinüberzog.

Alle aßen Hennekes Beefsteak, die Spezialität des Hauses, die zum Ruhme des Dorfes Riedingen viel beigetragen hatte, ja vielleicht entscheidend für die Wahl des Dorfes als Probenort gewesen war. Es waren handgroße Beefsteaks mit Ananasscheiben belegt, mit krachendkrossen Bratkartoffeln geschmückt. Das Essen beanspruchte alle Seelenkräfte der Esser. Ellen Heß konnte nur die Hälfte bewältigen und legte die andere Hälfte ihrem Mann auf den Teller, was Mumbo mit fröhlichem Dankesgrunzen und freundlichem Gabelwinken quittierte. Zwischen Christine und Ellen hockte der Dichter der Persephone, Fritz Diedrichsen. Er war soeben angekommen, hatte – weil er sich gleich zurückziehen wollte – seinen Regenmantel nicht abgelegt. Den verknüllten Kragen trug er aufgeschlagen. Neben seinem Stuhl stand die große Reisetasche, aus der das Manuskript, das vielfach geänderte, herausragte.

Diedrichsen war etwa fünfundvierzig, kahlköpfig, mit einem grauen Haarrand um den Schädel, mit kleinen, kurzsichtigen, hellblauen Augen hinter einer randlosen, dicken Brille. Ein gleichzeitig pfiffiges und melancholisches Gesicht mit einer Stubsnase und vollen Lippen.

Er sprach rasend schnell und sehr leise auf Christine ein. Nichts, kein Komma, kein Ausrufungszeichen würde er mehr ändern! Eher würde er das Stück zurückziehen, als es verstümmeln oder aufschwemmen oder verarmen lassen. Er hatte vier Szenen für den windigen Wyndthausen eingestrichen oder neu geschrieben. Wenn Frau Meßwarb auch noch Änderungswünsche hatte ... bitte ohne ihn. Wenn ihr der Abschied Persephones z. B. nicht passe ... bitte sehr, dann würde sich eine andere Schauspielerin finden, die diese Szene verstand. Das war eben keine pathetisch-banale Liebesgeschichte, sondern ein Sinnbild des Wechsels von Herbst zu Winter, von Frucht zu Frost, von Farbe zu Schwarz. Kein Abschied mit prunkvollen Fanfaren, ein lautloses Verschwinden an irgendeinem Nebeltag. Eine naturgegebene Unterbrechung der Beziehungen zu Triptolemos, dem irdischen Gemahl. Das Vergessen, im Lethefluß errungen, in der Unterwelt gelebt, in der die berechtigte Gefühllosigkeit sich der Herzen bemächtigt. Ja, es gab die berechtigte Gefühllosigkeit und nicht nur die wärmende Liebe!

Christine winkte Gustav, den Kellner. Sie bestellte zwei Doppelkorn. Sie konnte Erklärungen ihrer Rolle nicht ertragen, ehe sie mit ihr fertig war. Diedrichsen schaute sie wütend an: »Aber ich trinke keinen Schnaps.« »Gut, dann trinke ich beide«, sagte Christine gleichmütig, »Bin abgehärtet. Wir hatten früher auf unserem Gut ’ne Schnapsbrennerei.« Sie prostete ihm zu. Diedrichsen nahm sein Glas, kippte den Korn und sagte mit erstickter Stimme: »Warum sind Sie mir denn böse?« Christine erklärte ihm, daß sie nicht böse war. Sie konnte nur den feierlichen Tiefsinn nicht leiden, der in jedem Gefühl eine doppelte Bedeutung versteckte wie ein buntes Osterei in Krokusblüten. »Entweder Osterei oder Krokus«, sagte sie.

Der Dichter fuhr fort, atemlos sein Stück, seine Figuren zu erklären. Christine hörte nicht mehr zu. Sie bestellte noch zwei Schnäpse. »Zwo Demeter«, sagte der Kellner Gustav bodenständig. Er kam mit der Flasche, auf deren Etikett Ähren abgebildet waren. »Unser Demeterschnaps«, stand drunter. »Ja, zwo Demeter«, lachte Christine und zu Diedrichsen: »Man kennt hier schon Ihr Stück.«

Sie sah in die andere Ecke hinüber. Dort saß jetzt Wyndthausen mit Gertrude Schwarz, der Psyche, einer blonden, faden Neunzehnjährigen. Er trug noch seine Proben-Uniform, die flaschengrünen Hosen, den gelben Pullover, das chinesisch-getuschte Halstuch. Er starrte mit seinen nachtschwarzen Augen abwesend über Psyche hinweg, die eifrig auf ihn einwisperte. Er bekam gerade den gleichen Schnaps, hob sein Glas und prostete zu Christine hinüber. Sie prostete mit dem leeren Glas zurück. Er lächelte. Sie stand auf, machte eine kleine, allgemeine Verbeugung, nahm Diedrichsens Manuskript an sich und ging hinaus.

Sie stand in ihrem Zimmer am Fenster. Der Halbmond ging drüben gerade hinter dem schmächtigen Dorfwäldchen unter. Er rutschte hurtig durch das Geäst hinab. Der milchfarbene Dorfteich glänzte noch einmal auf und verdämmerte. Gleich danach wurde im Zimmer nebenan Licht gemacht. In dem hellen Viereck erschien der Schatten Wyndthausens. Er wirbelte um sich selbst. Er übte also schon wieder seinen Monolog.

Christine grübelte. Würde sie sich, wie früher immer, an ihre Rolle verlieren? Ihre eigene Existenz einbüßen, die eigene Verantwortung? So wie sie mit 22 Jahren als Penthesilea an den Rand der Raserei getrieben wurde oder ein paar Jahre später als Alkmene in Giraudoux’s Amphitrion 38 in die Stürme einer heiteren Frivolität geraten war. »Gott schütze dich vor dem Gretchen«, hatte ihre Mutter einmal spöttisch gesagt, »sicher bekommst du dann ein uneheliches Kind.«

Der Schatten Wyndthausens stand jetzt mit erhobenen Armen im hellen Viereck. Er zog sich den Pullover aus und warf ihn hinter sich. Die Ärmel wehten in komischer Flatterbewegung. Christine sagte lustig: »Na ... dann prost.«

Wyndthausen aber, im Zimmer nebenan, setzte sich an sein Schreibtischchen. Dort lag ein Briefumschlag mit der Adresse Frau Irma Wyndthausen, München. Auf dem Löschblatt, mit der Schrift nach unten, ein angefangener Brief. Er las. Er lächelte. Das war ganz hübsch geschildert. Der behäbige Gasthof. Der gefräßige Mumbo Petersen, im Nebenberuf Regisseur, Ellen Heß, die Demeter, die aus Langeweile welkte. Psyche, der man erst eine Seele einhauchen müßte (aber er sei nicht berufen dazu), Bossard: Geschichtsliebhaber, Schauspieler von vorgestern, dröhnende Stimme aus einem leeren Faß. Ja, und nun ... Er schrieb:

»Nun also die Persephone, Christine Meßwarb. Noch keine zwei Worte mit ihr gesprochen. Einmal ihr zugeprostet. Sie stimmt mit ihrer Rolle völlig überein. Weißt ja, kann es nicht leiden, wenn jemand in seiner Rolle lebt. Oder aufgeht. Schultze soll Schultze bleiben. Schröder – Schröder. Wyndthausen muß tagsüber ein freundlicher, junger Mann aus Bayern sein, München, Isabellastraße. Ein Nichtsnutz oder Nichts. Christine Meßwarb also: das ist ein Frauenzimmer, lebhaft, recht hübsch. Kraushaare, Schafshaare ... würde ich sagen. Sind aber liebenswürdige Haare. Dunkelblaue Augen. Mag ich gern. Bis auf zuviel Seele drin akzeptiert. Müßte verwegene Hütchen tragen mit Schleier. Möchte wohl wissen, wie so ein Gesicht aussieht, wenn mal die Sonne scheint. Verstehst mich schon (von innen her. Sol – Seele). Kann sie strahlen? Kann sie leuchten? Soweit die Meßwarb. Woll’n morgen früh zusammen probieren. Vermute, es wird teils überraschend gut, teils, wie immer, eine Enttäuschung.«

Darunter schrieb er noch zwei zärtliche, freche Sätze, zwei liebenswerte Unverschämtheiten. Er malte eine winzige Karikatur von sich dazu. Die Nase vergrößert und angespitzt. Das Haar, das heute linksrübergekämmte, buschig gen Himmel strebend. Er holte aus der Schublade einen kleinen Malkasten. Er tuschte um den Hals der Karrikatur ein flatterndes, grauschwarzes Halstuch, tupfte die Farben sorglich mit einem Löschblatt ab, schob den Brief in den Umschlag und schrieb als Absender: Samuel Grundleder, Lehramtskandidat im Ruhestand, Eisleben am Südpol, Iglu 381. Seit drei Jahren schrieben sie sich Briefe mit unsinnigen Absendern. Manchmal waren in den Namen ganze Geschichten versteckt, Geständnisse, Liebeserklärungen, Fragen. In dem heutigen Lehramtskandidaten außer Dienst war nichts verborgen, außer reinem Unsinn. Wie angenehm, fand er, wenn man nichts zu gestehn und nichts zu verbergen hatte. Oder kaum etwas. Gertrude Schwarz, die Psyche, bedeutete ihm nichts. Na also!

3

Die Szene der ersten Begegnung oder vielmehr der Wiederbegegnung zwischen Triptolemos und Persephone war jene Blumenwiese, von der Pluto, der Fürst der Unterwelt, sie einst geraubt hatte, zu der sie auf das Geheiß Jupiters jetzt zurückkam. War sie nun, soeben der Unterwelt entstiegen, bereits von jenem Schattenleben des Hades befreit, hatte sie das inzwischen Erlebte, das in der Unterwelt, in der Dämmerung Erfahrene in dem Augenblick vergessen, in dem die grelle Sonne sie traf? Welch seltsamer Unterschied zwischen der Unterwelt, in der sie mit offenen Augen nur Graues sah und jetzt der Oberwelt, in der sie bei geschlossenen Augen Farben erblickte, ein goldenes Rot oder ein rosa Gold. Es war ihr noch nicht möglich, auf den Anruf des Triptolemos zu antworten, ihres irdischen Gemahls, der sie, zwischen Blumen liegend, anschaute, anlächelte und schließlich anrief: »Persephone ... Persephone!« Wyndthausen lag mit dem Kopf an einem Versatzstück. Obwohl er nichts in der Hand hatte, sah man den eben gepflückten Wiesenstrauß, den Willkommensstrauß, dem er Blüte um Blüte hinzufügte. Persephone! Persephone!

Unten, in der ersten Reihe, saßen Arno Petersen, der Regisseur, Ellen Heß, seine Frau, die Demeter und Diedrichsen, der Dichter der Persephone. Mumbo Petersen, der Dicke, beugte sich zu Diedrichsen. Er flüsterte: »Na, siehst es nun? Er hat mehr Melodie als deine schönsten Verse.« Das sollte heißen: Diedrichsen sollte es sich gefallen lassen, daß Wyndthausen eine Arie auf den Namen Persephone sang.

Ein reizvolles Kunststück, fand Christine. Aber paßte dieser Gesang zu der poetischen Auseinandersetzung zwischen dem irdischen, sonnenhaften Mann und dem jedem Wechsel unterworfenen, mondverwandten Wesen der Frau? Oder hatte Wyndthausen recht, daß ein Wiederbegegnen nach so langer Zeit sich dem Wort entzog, daß er sich deshalb in den Klang des geliebten Namens flüchten mußte? Sollte sie auch seinen Namen singen, wie er den ihren sang?

Sie öffnete die Augen. Sie ließ sich neben dem Mann nieder. Er durfte sie, seiner Rolle gemäß, nicht gleich erkennen, weil die Farbe der Unterwelt noch nicht aus ihrem blassen Gesicht verschwunden war, weil sie dort eine andere Gestalt verkörpert hatte und sich erst wieder in die irdische Person zurückverwandeln mußte.

Immer wieder der Ruf: »Persephone ... Persephone!« in allen Abstufungen, vom schattenhaften Geflüster bis zum tenoralen, hellen Schrei. Und endlich mündete dieser, allein aus dem Namen bestehende Monolog in die Handlung ein. Triptolemos hatte sie erkannt. Er nahm ihre beiden Hände. Genau wie Wyndthausen gestern bei der Begrüßung ihre Hände genommen und sie nach oben gedreht hatte. So tat er es auch jetzt. Und nun bekam diese Bewegung einen Sinn, der dem Dichter Diedrichsen unten im Parkett nicht eingefallen war und auch jetzt nicht auffiel. An den unveränderlichen Linien der Hand nämlich konnte Triptolemos erkennen, daß es unbezweifelbar die Verschwundene und die Wiedergekehrte, die in ihrem Wesen unveränderte Persephone war, die vor ihm stand, die sich zu ihm beugte, die sich neben ihn legte, die ihren Kopf an seiner Brust bettete. Und nun begann das leichte, leise Gespräch über das Verzeihen. Daß jeder des Verzeihens bedürftig sei, sie, weil sie gegangen war, wenn auch unter dem Zwang des Geschicks. Und er, weil er sie nicht festgehalten, nicht bewahrt hatte vor der Unterwelt.

Freilich auch er, vom übermächtigen Schicksal, von Ananke bezwungen. »Verzeih mir meinen Tod«, begann Christine. Es war endlich der von Diedrichsen gedichtete Dialog der Wiederbegegnung, des Wiedersehens. Persephone war von neuem auf dieser Erde. Sie fühlte die Wiese unter ihren Sohlen wie damals, ehe der Arm des Pluto sie umfaßte und sie auf den Wagen zog, der in die Unterwelt hineinraste. »Verzeih mir meinen Tod.« Sie sagte es gegen ihren Willen (und von welchem Willen gelenkt?), leise, unbetont, fast gefühllos. Sie griff nach den Blumen, die Triptolemos für sie gepflückt hatte, den Wiesenblumen, die nicht dufteten, aber einen Hauch von Sonne und Erdenluft atmeten. Eine poetische Szene, in der die beiden ein Zwiegespräch, ein ausweichendes Gespräch über die Blumen führten, durch das sie, ohne sich mitzuteilen, ohne über die Vergangenheit zu sprechen, das Vergangene ablegten und langsam, Wort für Wort, einander wieder vertraut wurden.

Christine hatte diese Szene besonders lange studiert. Sie wollte mit süßen Herztönen etwas über die wieder aufstrahlende, die irdische Liebe und ihr Begehren aussagen. Aber das, was sie studiert hatte, konnte sie jetzt nicht herausbringen. Sie mußte sich seiner Auffassung, seiner Tonart fügen. Das war etwas beinahe Gefühlloses, etwas Trockenes. Eine zu schlichte Aussage, deren Wahrheit den Zuschauer wahrscheinlich nicht ergreifen, nicht anrufen konnte. Sie empfand diese Unterkühlung des Gefühls als falsch. Aber als er – geradezu botanisch – die Blumen aufzählte, Trollblume, Wiesenschaumkraut, Margerite, Glockenblume und Zittergras, blühte erstaunlicherweise die Wiese auf. Nüchtern und dennoch poetisch. Gab’s denn das, poetische Nüchternheit?

Ihre Kraft ließ plötzlich nach. Wenn sie früher geprobt hatte, konnte sie viele Stunden spielen, abbrechen, weiterspielen, ohne daß es ihr etwas ausmachte. Aber diese Anpassung wider ihren Willen ertrug sie nicht. Sich fügen, dachte sie, ist schrecklich anstrengend. Darüber mußte sie lachen. Mit einer anmutigen Bewegung der flachen Hand durchschnitt sie das Zwiegespräch. Sie ging an die Rampe und knipste das Licht an. Unten hatten sich alle Schauspieler eingefunden. Die Totenrichter hockten mürrisch im Hintergrund, Gertrude Schwarz, die Psyche Hand in Hand mit Neander, dem Darsteller des Eros. Bossard, der Pluto, seinen historischen Roman unter den Arm geklemmt. Dicht vor Christine saß Olga Berliner, die Souffleuse, in der blechernen Halbkugel ihrer Unterwelt. Sie alle sahen neugierig auf die Bühne oder auf Mumbo Petersen, den Regisseur. Was würde er sagen? Das war eine unverständliche und doch anziehende Szene gewesen, eine Meßwarb, die man anders erwartet hatte, ein Wyndthausen, der sich viel mehr einsetzte als gestern bei seiner Szene mit Psyche.

Mumbo Petersen, der mit keinem Wort in die Probe eingegriffen hatte – es war sein Talent, die Schauspieler erst mal laufen zu lassen, ein Talent, das, wie sein ganzes Wesen in seiner Faulheit begründet war – Mumbo Petersen stand endlich auf. »Wollen wir weitermachen?« fragte er zu Christine hinauf. Sie zuckte die Achseln. Wyndthausen legte seinen Arm um ihre Schultern. Er sagte gönnerhaft: »Wir werden uns aneinander gewöhnen.« Das war sicherlich ein Lob. Aber sie freute sich nicht darüber. Aneinander gewöhnen? Sie hatte sich ihm angepaßt. Nichts weiter. Sie sagte: »Das war ich gar nicht.« Er antwortete: »Nein? Schade.«

»Es war schon ganz gut«, stellte Petersen fest. Wyndthausen verbeugte sich spöttisch: »Großen Dank. Wir sind uns leider nicht einig. Hat sie nun recht oder hab’ ich recht?« Diedrichsen, der Dichter, rief brummig: »Weder sie noch Sie. Ich hab’s anders gemeint.« Wyndthausen setzte mit einem Sprung über den kleinen Orchesterraum. Er schlug dem Dichter auf die Schulter und sagte vergnügt: »Ich kann nichts anderes rauslesen und auch nichts anderes reinlesen, Herr Diedrichsen. Wollte der Himmel, es stünde mehr drin.«

Damit ging er, ohne sich zu verabschieden, auf den Ausgang zu. »Verdammt nochmal, wir probieren noch«, schrie Petersen ihm nach. Wyndthausen drehte sich an der Tür um: »Muß mir erst mal überlegen, was man noch rauslesen könnte.« Damit knallte er die Tür zu.

Christine schaute ihm verärgert nach. Sie mochte solche Unbändigkeiten nicht. Olga Berliner reichte aus dem Souffleurkasten ihr Zigaretten-Etui hinauf. Daß Christine nicht rauchte, enttäuschte sie. Die Berliner qualmte und schwätzte vergnügt aus ihrer blechernen Unterwelt heraus. »Sie waren übrigens ... na toi ... toi ... wird man doch sagen dürfen. Ich habe viele Stars beflüstert. Für Sie beide bin ich überflüssig. Sie interessieren sich wohl für Ihren Beruf und können Ihre Rollen. Komisch.«

Sie klappte ihr Buch zu und schloß berlinerisch: »Det, was de machst ... det mach ooch. Ist so ’ne Art Wahlspruch von mir. Und was Sie beide machen ... das machen Sie auch.« Christine setzte sich neben den Blechkasten und ließ die Beine in den Orchesterraum baumeln. Die Souffleuse tätschelte ihr freundlich die Hand.. »Lassen Sie sich bloß nicht von Wyndthausen, von Henri, dem Siegreichen, in die Flucht schlagen. Er denkt, wenn er mit dem Fuß stampft, muß jeder weglaufen. Und wenn der andere statt dessen stehen bleibt und auch mit dem Fuß stampft, wird er wütend und freut sich darüber. Kapiert? Oder wenigstens verstanden? Ich kenne ihn genau. Hab’ schon drei Stücke mit ihm gemacht. Er wird wütend und freut sich, weil er dann ’n Gegner hat. Und wenn er ’n Gegner hat, dann hat er ’n Freund. Klare Brühe, was?« Christine mußte lachen. »Ich denke, Sie haben recht«, Frau Berliner tippte ihre Zigarette aus, gähnte herzhaft: »Dumme wie ich, treffen manchmal ins Schwarze.«

4

Christine holte sich im Speisesaal einen Orangensaft. Essen konnte sie nicht. Als sie mit dem Glas langsam die Treppe hinaufging, holte Wyndthausen sie ein. Auch er trug ein Glas Orangensaft mit einem Strohhalm drin. Er ging mit ihr im Gleichschritt die glatten, nach der Mitte zu gemuldeten Stufen hinauf. Er war frisch, vergnügt, kein bißchen angestrengt. »Ihnen bekommt das Probieren gut«, sagte sie neidisch. Er blieb stehen, saugte an seinem Orangensaft und nuschelte: »Es ist mein Beruf, gnä’ Frau. Ein Künstler, der über seinen Beruf stöhnt, soll gefälligst Trambahnschaffner werden, Schalterbeamter oder Gerichtsschreiber. Das strengt lange nicht so an.« Christine prostete ihm zu: »Großen Dank. Ich werde mich bei der Straßenbahndirektion bewerben.« Er sah sie mit schiefem Kopf listig-lustig an: »Ich wollte Sie nicht kränken. Aber Sie spielen doch nur ›zuweilen‹.« – »Ich habe anderthalb Jahre nicht gespielt ... das ist alles.« – »Was macht man eigentlich, wenn man nicht spielt?« fragte er. »Kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Ich würde ... ja, was würde ich? Ersticken oder platzen oder ... Sie haben doch auch ’ne Menge Kraft. Was haben Sie bloß derweil damit gemacht?«

Christine ging ein paar Stufen weiter. Sie schaute sich nach ihm um. Er war stehen geblieben und schaute fragend zu ihr hinauf. Sie sagte lustig: »Derweil? Derweil war ich verheiratet.« – »So? Sie waren verheiratet? Oder sinds ... aber das hat nichts damit zu tun. Ich bin auch verheiratet. Meine Frau tut mir leid, wenn ich nicht spiele.«

»Treppengeständnisse«, stellte Christine vergnügt fest. Er stieß mit ihr an. »Drunten bei Pluto trinken sie doch Granatapfelsaft. Hat Ihnen der geschmeckt?« Christine verstand seine Anspielung nicht. »Ach so ... Sie lernen auch bloß Ihre Rolle, und damit hat sich’s. Ich habe alles gelesen, was ich über Triptolemos und Persephone, über Pluto, Psyche und Zeus ergattern konnte.« – »Deshalb kennen Sie den Granatapfelsaft, aha.« – »Ja ... aha! ein fades Getränk. Aber weil Persephone von Pluto den Saft angenommen hat, muß sie in der Unterwelt bleiben. Verstehen Sie das? Dies fade Zeug soll Unwiderruflichkeit bedeuten? Diedrichsen hat’s so hingeschrieben. Aber ob er weiß, was er geschrieben hat?« – »Orangensaft ist also weniger gefährlich?« fragte Christine. »Ganz ungefährlich«, lachte Wyndthausen. »Sonnenwelt-Saft ›sunkist‹.«

Er stellte sein Glas auf die Treppe, sprang die letzten Stufen hinauf und verschwand in seinem Zimmer. Christine machte eine spöttische Verbeugung. Ein ungezogener Knabe. Lief einfach weg. Grußlos, lautlos. Sie stellte ihr leeres Glas neben seins. Sie drehte sein Glas so, daß die Strohhalme sich berührten. Sie fand das sehr komisch. Warum eigentlich?

Sie zog ihren hellblauen Tages-Pyjama an, gurgelte ausgiebig, sprühte sich mit Kölnisch Wasser ein, legte sich ins Bett, nahm ihre Rolle vor und schlief sofort fest ein. Sie träumte von Granatapfelsaft, der aus einem griechischen Krug wie aus einer Quelle hervorströmte, ohne Ton auf den Tisch plätscherte und auf der Holzplatte versprühte, verschwand. Unablässig, ein Bach von trübem, süßlichem, duftlosem Saft. Eine Hand nahm den Krug auf. Sie hörte die dunkle, die plutonische Stimme ihres Mannes. (Ja ... er, ihr Mann Carl Magnus war Pluto. Im Traum wußte sie das genau. Im Wachen vergaß sie es immer wieder.) Er sprach. Sie verstand seine Worte nicht. Der Traum versank in die Unterwelt. Die Sonne fiel ins Fenster, wanderte über ihr schlafendes Gesicht. Sie spürte in den Schlaf hinein die rosa Helligkeit, die Wärme der Oberwelt. Sie wachte erst auf, als die Sonne verschwunden war, als ein sanfter Regen gegen die Scheiben zischelte, als die Traufe, die neben ihrem Fenster herniederging, zu gluckern begann. Sie schaute sich unlustig im Zimmer um. Eine staubige, plüscherne Ungemütlichkeit! Das rote Sofa roch muffig. Die Stühle standen stökkerig wie 13jährige Mädchen, die nicht wissen, wohin mit den dünnen Beinen. Gemütlich sitzen konnte man nirgends. Und schreiben auch nicht. Der kleine Tisch stand natürlich in der dunkelsten Ecke, ohne Beleuchtung drüber. Die mit Blumenranken bedruckten Vorhänge konnte man nicht vorziehen. Der Wasserbahn am breiten Waschbecken tropfte tuckernd, eilig. Atemlos wie eine Uhr, die die Zeit nicht ermessen, sondern verjagen will. Nein. Hier konnte sie nicht bleiben. Sie zog sich eilig an. Im roten Regenmantel, die Kapuze über den Kopf gezogen, verließ sie den Gasthof.

5

Sie ging einen Waldweg, der, durch Birken getrennt, neben der Chaussee herlief. Es roch nach Frühling. Der sanft rauschende Regen ging ganz gerade herunter. Nur wenn die Autos auf der Chaussee vorbeibrausten, wenn sie den sprühenden Schmutzregen über den Fußweg warfen, spürte sie die Nässe. Weich schwingende Sandwege lockten. Aber sie fürchtete sich vor der Dämmerung. Merkwürdig: sie kannte sonst keine Waldangst.

In den letzten Wochen hatte sie bei Schnee und Schneegestöber manchen Nachtritt gemacht, auf Flora, ihrer nervösen Apfelschimmelstute, die vor jedem Hasen erschreckte, vor den Rehen, die über die Mondscheinwege wechselten und selbst vor Brombeerranken, die im Winterwind wehten. Keine Angst ... und jetzt ... hier im Riedinger Forst fürchtete sie sich. »Du wirst verdammt allein sein«, hatte Carl Magnus, ihr Mann, gesagt. Ja – sie war allein. Ob das eine Verdammnis war oder ein Glück, das würde man sehen. Sie blieb stehen. Sie hatte – zum erstenmal in diesem Jahr – den Ruf der Waldtauben gehört. Das lockende, kehlige »Gurru«. Sie stand unter einer riesigen Birke. Der Regen setzte aus. Der Himmel im Westen erhellte sich, und die schon tief abgestiegene Sonne blitzte für ein, zwei Minuten über die regenblanke Chaussee. Ihr wurde in diesem Augenblick klar, daß sie das großherzige Angebot ihres Mannes annehmen würde, daß sie sich scheiden lassen mußte. Eine ihrer Gaben war ein sehr feines Ohr. Sie konnte aus Stimmen die verborgenen Herzenszüge eines Menschen herausspüren. Ihr Gehör bewahrte auch, getreu wie eine Schallplatte, längst verronnene Gespräche auf, Lautstärke und Klanggehalt der Stimmen von Menschen, die ihr nahestanden. Jetzt, hier im Wald, sprach die dunkle Stimme ihres Mannes: »Du kannst es machen, wie du willst. Mit mir zusammenbleiben. Dich zeitweise von mir trennen, solange du willst. Oder dich scheiden lassen, damit wir beide wieder allein sind.« Sie sah sein schmales Gesicht mit dem breiten Kinn. Die üppigen, schwarzen Haare, korrekt gescheitelt. Die schmalen Lippen zusammengepreßt. »Ich verspreche wenig«, sagte seine Stimme. »Aber ich halte jedes Versprechen.« Wann hatte er das gesagt? An dem Tage, als sie beschlossen zu heiraten. In Paris – vor anderthalb Jahren. Auf dem Flohmarkt, an einem sehr sonnigen Tag. Er saß mit ihr vor dem kleinen Laden eines Altwarenhändlers. Er feilschte gerade um ein Barocksofa. Er schlug mit seinem Ebenholzstock auf die Polster, daß der Staub herausdampfte und im Mittagslicht glänzte. Er setzte sich und zog sie auf »sein« Sofa. Er nahm das Möbel in Besitz. Er ergriff ihre Hand und steckte ihr einen Ring an den Finger, den er eben gekauft hatte.

Christine, jetzt unter der Birke im Riedinger Forst, Christine schaute auf den Ring an ihrer Hand. Es war der Turmalinring aus Paris. Sie zog ihn ab und steckte ihn in ihre Tasche. Eilig ging sie weiter. Die Autos auf der Chaussee vermehrten sich. Sie zogen bei beginnender Dämmerung lange Leuchtspuren. Einige fuhren schon mit hellen Lichtern. Ein Suchlicht blitzte über den Weg. Sie zog ihre rote Kapuze über den Kopf. Das sah sehr komisch aus. Ein großer, roter Zwerg im farblosen Wald. Wyndthausen zog ihr die Kapuze ab. »Keine gute Tarnkappe«, sagte er. »Man sah Sie kilometerweit.« Christine fragte: »Wen wollten Sie mit Ihrem gräßlichen Suchlicht im Walde aufstöbern?« – »Es ist gar nicht so leicht, ’ne Nadel in einem Heuhaufen zu finden«, sagte er. Er hakte sie unter und führte sie zu seinem Wagen. »Das ist er«, sagte er stolz, »mein Traumwagen ... einen schnelleren findst du nicht.« Er öffnete die Tür und verbeugte sich. Er verwandelte sich in einen herrschaftlichen Chauffeur, mit Schirmmütze unter dem Arm. Er knallte die Tür zu und lief mit zackigen Bewegungen diensteifrig um den Wagen herum. »Gnä’ Frau hatten im Hotel hinterlassen, daß ich gnä’ Frau hier abholen sollte.« Christine holte den Turmalinring aus ihrer Tasche und setzte ihn wieder auf. Wyndthausen erzählte: »Man hat Ihre Flucht beobachtet. Ein Rentner mit Schirmmütze und Spazierstock hat mir die Richtung gezeigt.« – »Mein Rentner«, sagte Christine. »Gestern, als ich ankam, hat er mich eingewiesen.« – »Ihr Rentner«, lachte Wyndthausen, »er hat keine Ahnung von Ihnen. Grad, daß er Ihren Mantel kannte. Knallrot. Lieben Sie sowas?« Christine nickte. »Kleinmädchentraum?« fragte er weiter. »Mama erlaubte nur schlichte Regenmäntel, grau oder beige. Stimmt’s?« – »Stimmt«, lachte Christine, »und kanariengelbe Pullis durfte ich auch nicht tragen.« – »Die trage ich nun für Sie«, sagte Wyndthausen. Sie flogen mit 120, 130 Kilometern über die Chaussee. Im Lichte der entgegenkommenden Autos blitzte das weiße, verchromte Plexiglas-Ungeheuer wie eine Erscheinung auf. »Der geflügelte Zauberwagen des Triptolemos«, sagte Christine. »Ach so, ein bißchen wissen Sie doch schon über Triptolemos, Ihren irdischen Gemahl?« – »Nur ein bißchen.« Sie schaute ihn von der Seite an. Im Licht des großen Armaturenbrettes glänzte das Antlitz des Triptolemos durchscheinend. Klar, im Feuer gehärtet. Aber Wyndthausen war nicht Triptolemos. Warum fuhr sie eigentlich mit ihrem Bühnenpartner in die Stadt? – Nun – warum nicht? Da waren auch schon die ersten Stadtlichter, die über die Straßen gebogenen Neonlaternen. Als Landkind liebte sie die blumige Buntheit der Stadt. Die lichtüberschütteten Schaufenster: Porzellane, Konserven, Wein, Blumen. Da war ein Kleiderkaufhaus, zehn Fenster, starre Figuren mit hölzernem Lächeln, Sommerkleider tragend, Herrenanzüge, Burschenjacketts. Sie fuhren auf einen Kinopalast zu. Auf einem scheunentorbreiten Plakat, hell angestrahlt, war Wyndthausen zu sehen, Wyndthausen, der Backfischtraum, mit einem schönen Frack und einem Gentleman-Lächeln. Sie fuhren schnell vorbei. Er schien sich nicht entdeckt zu haben. Dunklere Gassen kamen, Kirchen, deren Türme sich in den unsichtbaren Himmelsabend verloren. In der Nähe des alten Rathauses hielten sie. Wyndthausen hakte Christine wieder unter. Er führte sie auf ein spitzgiebeliges, altes Haus zu, die »Altdeutschen Weinstuben«. Man mußte eine altertümliche, scheppernde Zugglocke läuten. Die Tür wurde von einem als Küfer verkleideten Kellner aufgeschlossen. Sie stiegen zwölf Stufen hinab, an bunten Glaslaternen vorbei. Sie betraten ein Tonnengewölbe mit holzverschalten Wänden. Sie waren die ersten Gäste. Wyndthausen nahm ihr den roten Mantel ab. »Den müssen Sie immer tragen«, sagte er, »sonst könnte ich Sie mal verfehlen, und das wäre doch schade.«

Sie setzten sich auf die Holzbänke. Wyndthausen nahm die Speisekarte. »Wir müssen mächtig viel essen«, stellte er fest. »Bis jetzt sind wir beide noch zu dünn für diese Marterbänke.«

6

Wyndthausen aß mit Inbrunst und Sorgfalt. Er sprach dabei nur, was sich auf die Speisen bezog, auf die leckeren Pasteten, die leider nicht echte Schildkrötensuppe, das zarte Filet und das zerkochte Wirtshausgemüse. »Was lernen die Köche eigentlich drei Jahre lang?« räsonierte er. »Fleisch braten, Pastetchen backen, aus. Sie werden’s noch auf der Tournee kennenlernen. Höchstens drei Gasthöfe in ganz Deutschland haben Achtung vor Gemüse.« Sie tranken einen alten Burgunder. Zum Schluß bot er Christine eine Zigarette an. Es war eine Sonderanfertigung. Schmale, dünne Zigaretten. Er ließ das Etui offen auf dem Tisch liegen. Auf dem linken Innendeckel waren 6, 8 Namen zu lesen. »Komisch, daß Sie ein Raucher sind«, sagte Christine. Er tupfte die Zigarette aus. »Bin kein Raucher. Rauche nur gelegentlich. Wenn ich guter Laune bin.«

Christine verbeugte sich. Er zog eine zweite Zigarette aus dem Etui. Auch die andere Seite war mit eingravierten Namen geschmückt, Christine nahm eine Zigarette, um die Namen zu enthüllen. Er bemerkte ihren neugierigen Blick und knipste das Etui zu. Er sagte: »Immer nur Autogramme geben, ist langweilig. Ich sammle auch Autogramme.« – »Unverwischbare«, spottete Christine. »Herren gravieren sich nicht ein?« Er fragte freundlich: »Sind Sie sehr neugierig?« Christine nickte. »Fein«, sagte er. »Kommt allerdings darauf an, auf wen man neugierig ist. Die meisten Menschen sind langweilig. Finden Sie nicht auch?« Christine antwortete nicht. Er nahm ihre Hand und strich mit einem Finger zart über den Handrücken. »Sind Sie Schweiger?« – »Nur gelegentlich«, antwortete Christine, »wenn ich guter Laune bin.« Er brabbelte: »Der Kutscher der Retourkutsche kutschte retour. Das war eine Sprachübung bei meinem alten Lehrer Frankenberg. Kennen Sie ihn?« Christine kannte ihn dem Namen nach. Sie hatte mal bei einer Schülerin Frankenbergs studiert.

»Dann sind wir also verwandt«, stellte Wyndthausen befriedigt fest. »Sie sind ’ne Art Theaternichte von mir. Darf ich Ihnen das Bühnen-Du anbieten? Vorübergehend und ohne Verpflichtung beiderseits.« Christine hob ihr Glas und schaute ihn prüfend an: »Ich bin für’s Szenen-Du. Auf der Probe, wissen Sie? Das verpflichtet noch weniger.« Wyndthausen sagte im Ton eines Amtsrichters: »Beschlossen und verkündet: Ich werde Sie duzen, und Du darfst mich siezen.« – »Ich nehme das Urteil an«, sagte Christine. Er beugte sich zu ihr und küßte sie überraschend auf den Mund. Christine tat, als hätte sie es nicht gemerkt. Nach einer Weile sagte sie: »Eigentlich schade. Heute hätte ich Sie ganz gerne geduzt.« – »Das Szenen-Du?« – »Nein. Ein richtiges, privates.«

Er konnte nicht antworten, weil ein freundlicher, asthmatischer Herr auf ihren Tisch zutrat, der Wirt der »Altdeutschen Weinstube«. »Welche Ehre«, rief er, »welche Freude, Sie bei uns begrüßen zu dürfen, Herr Wyndthausen. Ich habe Sie gerade gestern im ›Luxor‹ bewundern dürfen. Ein herrlicher Film.« Wyndthausen seufzte pathetisch: »Wieder diese Verwechslung. Zum Verzweifeln. Man kommt nicht zu seiner eigenen Existenz.« Der Wirt ließ sich nicht abweisen. Er breitete das Gästebuch vor ihm aus. Er bat »den hohen Gast« um eine Eintragung. Er könne sich überzeugen, daß er im Gästebuch nicht in schlechte Gesellschaft geriet. Der Herr Kreispräsident hatte sich gerade am vorigen Mittwoch eingetragen. Der Regierungspräsident ... hier bitte. Herr Botho von Zapf im vorigen Monat. Der Direktor des hiesigen Theaters, Herr Schwälble, war Stammgast. Ein Kollege von Herrn Wyndthausen. Freilich nicht zu vergleichen mit dem illustren Gast. Und hier, zum Beschluß, der Präsident der Handelskammer, und da wäre es doch sehr nett von Herrn Wyndthausen ... Wyndthausen bedauerte aufrichtig. »Ich darf in keine Stadt mehr gehen, wo ein Wyndthausen-Film gespielt wird. Nun muß ich auch Sie enttäuschen. Mein Name ist Triptolemos. Ich bin Grieche. Darf ich Sie mit meiner Frau bekannt machen?« Christine reicht dem Wirt die Hand. Wyndthausen erläuterte eifrig weiter, wie unangenehm es für ihn sei, als solider Geschäftsmann mit einem Schauspieler verwechselt zu werden. Man wisse doch schließlich, wie Künstler leben. Wie oft habe er schon seiner Frau schwören müssen ... daß er die jungen Damen, die sich überall an ihn herandrängten, gar nicht kenne. Aber sie glaube es nicht. Christine nickte düster: »Wie kann ich das glauben? Ein wahres Kreuz!« Der Wirt, halb verlegen, halb ungläubig, bat Herrn Triptolemos dennoch, seine Unterschrift zu geben. Er ging, um neue Gäste zu begrüßen. Er mußte Frau von Zapf, der Regierungspräsidentin, berichten, daß der Gast leider nicht der berühmte Henri Wyndthausen war.

Henri malte unterdessen mit griechischen Buchstaben – er konnte nur das Gymnasial-Griechisch – seinen Namen und den seiner Frau Persephone geb. Demeter in das Buch. Dazu ein Zeugnis für den Koch. Gemüse ungenügend, Fleisch vorzüglich. Versetzung in ein erstklassiges Lokal gefährdet. Er war ganz in seine Arbeit vertieft.

»Haben Sie Abitur gemacht?« fragte Christine. Er nickte: »Ich wirke dümmer als ich bin.« – »Wollen wir nach Hause fahren?« fragte Christine. Er schüttelte den Kopf. »Ist Ihr Zimmer auch so scheußlich?« Er nickte. »Jetzt sind Sie Schweiger. Warum?« Er klappte das Gästebuch zu und reichte es ihr. »Schreib du jetzt was rein. Zur Erinnerung an einen schönen Abend.« – »Ich brauche nichts zur Erinnerung. Ich bin nicht vergeßlich.« Sie kritzelte ihren Namen auf ein Stück Papier und reichte es ihm. »Zum Gravieren ... in Ihr Etui.« Er schob das Papier zurück und sagte: »Schreib Persephone.« Sie schrieb gehorsam: Persephone. Er steckte das Zettelchen ins Etui. Er stieß mit ihr an. »Ich muß es Dir ganz schnell mal sagen. Es wird schön sein, mit dir zu spielen. Du verstehst zwar noch nicht ganz, was du kannst und was ich will.« – »Oh, ich verstehe Sie ganz gut«, unterbrach Christine. »Du sollst nicht mich verstehen, sondern hier ...« er schlug mit der Hand auf das Gästebuch – »hier, den Triptolemos und was man damit aussagen kann. Diedrichsen hat die Glocke läuten gehört, weiß natürlich nicht, wo sie hängt. Da muß man sich schon ein bißchen die Worte zurechtbiegen, damit die Sätze passen. Nicht zu mir passen, das ist wurscht. Sondern zu der Figur. Du willst noch zuviel von Christine Meßwarb erzählen. Von dem Reichtum deines Herzens sozusagen.« – »Ich hab’ kein reiches Herz«, protestierte Christine. »Na schön ... dann von der Armut des Herzens oder was du erlitten hast.«