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Zehn Jahre verbringt Alfred Dahl in der Nervenheilanstalt im Schlesischen. Zehn Jahre nach dem tödlichen Schuss auf seinen Bruder Wolfgang, dessen Tod ihm angelastet wird. Heilanstalt oder Zuchthaus, das waren 1917 die Alternativen. Oberarzt Troplowitz sieht das im Jahre 1927 anders, er verspürt eine Nähe zu seinem Patienten und lässt sich endlich darauf ein, dass Alfred Dahl heimlich der Anstalt entflieht. Doch Dahl flieht nicht in die Ferne, er begibt sich bei Nacht und Nebel in seine alte Heimat, das Schloss Jedelbach seines Vaters, und nicht weit davon entfernt in das Haus, in dem seine zweite Frau Henriette mit seinem Stiefsohn Jens Peter lebt. Jetzt ist alles vorbereitet für ein großes Finale, das natürlich auch nicht ausbleibt.
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Seitenzahl: 310
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Roman
Saga
Doktor Troplowitz, Oberarzt der Hellwigschen Heilanstalten in Magersdorf, hat die Visite im schweren Haus beendet. Er muß nur noch zum Baron Dahl hinein, um ihm den Brief seiner Tochter Alice abzugeben, einen liebenswürdigen, vielleicht harmlosen Brief, der aber von der Sekretärin Fräulein Hoffmeyer, von Troplowitz und vom Geheimrat Hellwig selbst gelesen und für verdächtig befunden ist.
Troplowitz steht unentschlossen am Fenster des langen Ganges, die Abendsonne brennt durch die dicken Glasscheiben in sein Gesicht. Er blinzelt, drückt seinen schütteren Kinnbart in den Westenausschnitt und versucht zu überlegen. Es fällt ihm aber nichts Gescheites ein. Teils, weil er nicht an die Fluchtabsichten Dahls glaubt (es wird wieder eine Wichtigtuerei des Geheimrats sein, murrt er), teils, weil er sich endlich eingesteht, daß er den Baron nicht hindern wird zu fliehen.
Natürlich, wenn er jetzt aus der Tür kommt, meditiert er, muß ich ihn festhalten. Aber wenn er zum Beispiel da hinten über den Hof läuft, ins Wirtschaftsgebäude oder ins Gästehaus, dann werde ich mich nicht beeilen.
Er nickt erleichtert. Pflicht und Überzeugung sind sauber getrennt, und er kann die Wahl zwischen beiden dem Augenblick überlassen.
Vom Wirtschaftsgebäude her hört man Geschirr klappern, Geschrei der Köche und Wärter. Die ersten Abendbrotplatten werden über den Hof getragen. Es schlägt sieben. Troplowitz dreht sich langsam um. Die Sonne brennt nun angenehm in den Nacken. Zum hundertsten Male liest er die Visitenkarte, die Dahl an seiner Tür angeklebt hat:
Alfred baron dahl
Herr auf Jedelbach +
Rittmeister der Landwehr +
Die Kreuze hinter „Herr auf Jedelbach“ und hinter „Rittmeister der Landwehr“ sind kalligraphisch ausgeführt. Man sieht, sie werden oft nachgezogen. Neu aber ist ein blasses, hingewischtes Todeszeichen hinter Dahl. Troplowitz ist eigentlich erschrocken, aber er will es nicht zugeben. Wie er auch nicht zugeben will, daß der Brief wichtig ist. Es ist eine Spielerei Dahls, sagt er sich gegen seine Überzeugung. Er zieht den Schlüssel aus der Tasche des Kittels, schließt auf, klopft mit dem Knöchel des Mittelfingers kurz an die Tür und tritt ein.
Dahl sitzt wie gewöhnlich an seinem Schreibtisch mit dem Rücken zur Tür. Die Arme hat er aufgestützt, die verschränkten Hände unter dem Kinn. Ein Buch liegt vor ihm, aber er liest nicht. Er starrt hinaus, wendet sich nicht um. Er weiß: entweder ist der Wärter Hannemüller eingetreten mit den sonnabendlichen Bratkartoffeln, dem gallertsteifen Rührei und dem romantisch verzierten sauren Salat — oder Weißkopf, der Nachtwächter — oder eben Troplowitz.
„’n Abend, Troplowitz“, sagt er endlich leise, nimmt die Brille ab und schiebt den Arzt, der neben ihn getreten ist, ein wenig beiseite. „Sie entschuldigen. Sie passen nicht gut in den Frieden der Landschaft. Schön, so ein Septemberabend, was? Zu denken, man wollte mich einmal da oben am Bodensee einsperren. Wäre schlimm gewesen. Zu viel Wasser, zu hohe Berge am Horizont. Muß schon eine Ebene sein. So wie man es gewöhnt ist. Schlesisch.“ Und als Troplowitz noch nichts sagt: „Habe ich Ihnen natürlich schon längst erzählt. Aber was wollen Sie? Das Alte ist alles wegerzählt, und Neues wächst in Magersdorf nicht nach. Also?“
Der Oberarzt schüttelt den Kopf. Zu dumm! Er weiß wirklich nicht, wie er den Brief „unauffällig“ loswerden soll ... „Ein Brief“, sagt er schließlich ärgerlich und legt ihn vor Dahl auf den Schreibtisch.
Der Baron erhebt sich und kommt, die Hände in den Hosentaschen, langsam auf Troplowitz zu. Er wippt ein wenig auf den Fußspitzen, so daß er noch größer, hagerer, noch zerbrechlicher aussieht, als er ist. Er zieht den Arzt am Knopf seines Kittels ans Fenster.
„Na, was steht drin?“ flüstert er. „Na, was ist los?“
Troplowitz zuckt amtlich die Schultern. Dahl seufzt, steckt eine seiner langstengeligen Zigaretten an. Das Streichholz zittert. Dann reißt er den Umschlag auf, überfliegt den Brief.
„Was finden Sie, Troplowitz?“ fragt er im Lesen. „Ach nein, sprechen Sie doch, oder muß das Theater sein? Für Ihr Gehalt? Also was ist verdächtig. Hm ja, natürlich. Daß meine Tochter Alice in Hirschberg übernachtet. Wann? Richtig! Heute übernachtet! Daß sie sich nach mir sehnt? Daß sie mich braucht? Wie alt ist sie? Dreiundzwanzig Jahre. Wie weit ist Hirschberg? Vier Stunden zu Fuß oder noch weniger? Glauben Sie, daß ich deshalb nun gehen werde? Unsinn, Troplowitz. Sie wissen ja, daß ich nicht auf den Brief gewartet habe, sondern ...“
Er stockt, er will es Troplowitz nicht unnütz schwer machen. Und sich selbst auch nicht. Ihm ist klargeworden, daß Alice Dahl ein Recht hat, zu warten, daß er verpflichtet ist, zu gehen. Nicht weil sie geschrieben hat, nicht weil sie ihn braucht, sondern weil das den Entschluß zum Überlaufen bringt.
„Troplowitz“, sagt er und reicht dem Arzt die Hand, „was würden Sie tun? Würden Sie bleiben?“
Der kleine Arzt zuckt die Achseln, zieht den Kopf ein. Er will sich nun wohl endlich aussprechen. Aber da kommt natürlich der Wärter Hannemüller mit dem Essen. Troplowitz verbeugt sich und wünscht einen guten Appetit. Er schlüpft zur Tür hinaus. Draußen sagt er laut: „Natürlich würde ich gehen, aber natürlich.“
Genau in dieser Stunde springt Alice Dahl in Hirschberg aus dem Zug. Sie hat ein hellblaues Kostüm an, einen weißen Hut auf. Trägt weiße waschlederne Handschuhe, wie ihr Vater sie immer getragen hat. Es ist das fünfte Paar seit Florenz. Nun ist noch ein Paar sauber. Die Baronesse hat eine kleine Handtasche bei sich und einen Tennisschläger. Den großen, prächtig abgeschabten Lederkoffer läßt sie auf der Bahn. Der alte Hotelwagen, in dem sie zum „Schwarzen Adler“ fährt, hat den Tag in der Sonne gestanden. Er ist bouillonheiß. Riecht nach verstaubtem Samt wie die Tischdecken im Jedelbacher Salon.
Alice stützt die Hände auf die Bank, um die Stöße des Pflasters abzufangen. Nun ist der Mut aus. Von weitem schien alles ganz natürlich. Aber schon hier in dem alten Klapperwagen wird es unmöglich. Sie kann eine Hand dort hinlegen, wo damals der Vater, und eine, wo der Großvater gesessen hat. Aber damit ist nichts geschafft. Und wahrscheinlich würden sie heute genau so aneinander vorbeistarren wie damals. Es scheint Alice, als sei auch noch die Spur der Tränen zu erkennen, die Henriette Kagen, „Vaters zweite Frau“, einmal in diesem Wagen geweint hat. Aber — so wird ihr klar — wie nichts ungeweint zu machen ist, so lauern auch schon neue Tränen, die über den Vater geweint werden müssen. „Ein Tränenstrom“, hat Tante Jella Dahl einmal bitter gesagt, „ein Tränenstrom ist Alfred Dahls Leben. Wir Frauenzimmer liefern die Tränen, auf denen er uns davonschwimmt.“
Gut, daß sie gerade noch daran denkt. Durch Tränen treibt man ihn fort, ermahnt sie sich, und so lächelt sie, als sie beim Hotel aussteigt. Lächelt, als sie hereinkommt und den Portier (als sei es das Natürlichste von der Welt) nach ihrem Vater, dem Baron Alfred Dahl, fragt. Lächelt in ihrem Zimmer, obwohl kein Brief, kein Telegramm da ist. Nichts, nichts als wieder das alte Bild, das sie auf der ganzen Reise mitgehabt hat, das sie schleunigst auspackt und das nun, da sie in seiner Nähe ist, alt und tot wirkt.
Doktor Troplowitz muß sich von seiner Frau sagen lassen, daß er noch ungenießbarer ist als das Anstaltsessen. Er ißt mit zusammengezogener Stirn, verkniffenen Lippen, preßt die Fingerknöchel gegen die Schläfen, massiert den kurzen dicken Nacken, springt schließlich fluchend auf, um seine englische Pfeife zu stopfen, und raucht dicke Wolken zum Fenster hinaus.
Frau Troplowitz räumt das Geschirr in den großen Flur (wo es der Anstaltsdiener abholt) und stellt sich neben ihren Mann ans Fenster.
Ob er den Geheimrat Hellwig denn wirklich so unerträglich findet?
Ja!
Ob er denn eine Anstalt weiß oder sonst irgendeine andere Stelle, wo er mit nur russischem Examen Geld verdienen kann?
Nein!
Ob er im Gegensatz zu ihr die Kraft hat, die Hunger- und Frostjahre von 1918 bis 1924 zu wiederholen?
Antwort: Achselzucken, heftiges Schnaufen, Riesendampfwolken.
Außerdem: Ob es nicht ganz nützlich ist, daß jemand die sechzig Patienten vor den größten Dummheiten des Geheimrats schützt?
Nein: Wie der Kommandierende im Krieg seinen Stabschef hielt, der seine Dummheiten zu verhindern hatte, so hält und bezahlt der Anstaltskommandierende den Oberarzt. Das ist die Ordnung der Welt.
Also um was geht es diesmal? Der Malariatod der Frau Told?
Verschmerzt!
Die Entmündigung des Schauspielers Berger?
Unvermeidlich, obwohl man die Erben noch jetzt lachen hört.
Also doch wieder Dahl?
Keine Antwort.
„Also was?“
„Ein Brief der Tochter, die ihn befreien will. Kennst sie ja. Sitzt in Hirschberg, dreiundzwanzig Jahre alt. Wartet. Sie denkt, er kommt, weil sie wartet. Schreibt: Hast genug gebüßt. Denkt, weil sie recht hat, muß was zu machen sein. Hat recht, aber das nützt nichts.“
Frau Troplowitz nickt. Es ist nichts weiter zu fragen. Sie haben Dahls Schicksal genug hin und her verhandelt. Sie weiß, daß der Baron entweder als Irrer oder als Mörder zu gelten hat. Entläßt man ihn hier, so verfällt er dem Zuchthaus. Verfällt er dem Zuchthaus, dann wird er bestimmt verrückt. Das Irrenhaus hat einen Ausgang ins Zuchthaus, das Zuchthaus einen ins Irrenhaus.
Sie setzt sich aufs Fensterbrett, beugt sich weit nach hinten, reckt sich, stöhnt. Es tut gut, daß alles auf dem Kopf steht. Die Häuser in den dunkelblauen Abendhimmel zu fallen suchen. Mitsamt den dienstfreien Wärtern, die einen kleinen Skat im Hof arrangieren, Mundharmonika spielen oder rauchend in den winzigen Vorgärten der Wärterbaracken herumsitzen.
Als sie sich wieder aufrichtet, ist Troplowitz verschwunden. Sie sieht erschrocken in der Ecke neben dem Klavier nach: das Schachspiel ist fort. Er ist also zu Dahl gegangen. Sie klappt den Klavierdeckel zurück, klimpert unentschlossen. Fühlt dabei, wie ihr breites dämmeriges Gesicht wieder heller wird. Vor dem Unvermeidlichen fürchtet sie sich nicht. Es kann nichts Schlimmeres geschehen, als daß sie beide wieder ihr kleines Behagen einbüßen. Höchstens hätte sie ihrem Mann noch gern gesagt, daß er es nicht um etwas ganz Aussichtsloses aufs Spiel setzen soll. Aber einerlei.
Sie setzt sich und fängt an, eine Tokkata von Bach zu hämmern. Streng, verbissen und sauber.
Im schweren Frauenhaus schreit eine Frau. Es ist Frau Breise. Ihr Mann ist um diese Stunde bei Verdun gefallen. Sie schreit und — Frau Troplowitz weiß es — wirft ihren Kopf wie eine Glocke hin und her. Dann knallt ein Fenster zu. Unheimliche Stille, in die viele Ohren hineinhorchen.
Dahl hat den Schrei auch gehört. Er nimmt den Kneifer ab, schließt die geröteten Augen und schiebt das Schachbrett fort.
„Frau Breise“, seufzt er. „Gleich fängt Bulitza, das Haupt der Bojaren, an.“
Troplowitz erhebt sich, nimmt eine der langstengeligen Zigaretten, starrt seinen Patienten mißmutig an.
„Sie werden mir helfen“, sagt Dahl endlich leise, und nach einer Weile fügt er hinzu: „Ich habe mich nämlich entschlossen zu gehen.“
Troplowitz sagt nichts. So offen haben sie noch nie zusammen gesprochen. Wie komisch, denkt er, warum erschrecke ich über Dinge, die ich längst weiß. Es ist doch peinlich, wenn sich jemand offenbart.
„Ich habe meine Sachen schon so weit beisammen“, fährt Dahl fort, „wenigstens Geld, Zigaretten, mein Tagebuch, Mantel und Stock.“
„Nun — und?“ fällt der Arzt böse ein. „Nun — und? Ich werde mit Ihnen aus dem Haus gehen, durch den Park, durchs Gästehaus, dann sind wir auf der Straße. Wenn wir hinausgehen, wird der Pförtner eine Verbeugung machen, und wenn ich allein wieder hereinkomme, eine Anzeige beim Geheimrat. Nein, sagen Sie nichts. Meinetwegen, wenn es nicht anders geht, können wir es so machen. Aber: ich muß es einsehen. Ich weiß wirklich nicht, was wollen Sie, was können Sie draußen tun?“
Dahl schüttelt den Kopf. Wenn man es in Worte fassen soll, scheint das Unternehmen aussichtslos.
„Ich will mich nicht verbessern“, versucht er, „das Heimweh ist vorbei. Die Frauen. Man überwindet auch das. Es ist Trainingssache. Also?“
Er hebt die Schultern, bleibt regungslos so sitzen, sieht aus wie ein kranker Vogel.
„Also was wollen Sie?“ drängt Troplowitz. „Wozu soll das Ganze sein?“
Der Baron sieht auf die Uhr, seufzt. „Sie wartet schon so lange“, sagt er dann. „Aber natürlich ist es das nicht. Nein, es muß nochmal entschieden werden. Damals hat man es mir zu leicht gemacht. Ich brauchte nur zuzustimmen, da war auch schon die Autorität da, der Geheimrat, gegen den kein Wissenschaftler aufzutreten wagte. Es war nicht einmal nötig, ihn zu kaufen. Ein Dahl, der eine Bahnwärterstochter heiratete, war für ihn von vornherein irrenhausreif. Und das Zuchthaus machte mir Angst. Ich dachte, ich müßte ein Dahl bleiben und wollte nicht Nummer Soundsoviel werden, wie man das in Filmen sieht, mit gestreiftem Anzug und einer Nummer auf der Mütze. Aber nun, nicht wahr, nun könnte ich ja doch Zuchthaus wählen. Dies hier, das ist klar, hat keinen Sinn. Wie lange kann man unter Verrückten herumsitzen, ohne selbst ...“ Er macht eine ungeduldige, wegwischende Bewegung.
Troplowitz faßt zusammen: „Sie wollen also zu einem Arzt, der Sie so gesund findet, wie Sie sind, zu einem Anwalt, der Sie so schuldig findet, wie Sie nicht sind.“
„Nein, das ist noch nicht alles.“ Der Baron will alles ganz genau bereden. Er muß Inventur machen. Er muß sich selbst begreifen, er muß abrechnen. Nein, keine Angst: nicht mehr mit dem Gewehr. Eher im Gegenteil. Das Frühere: man wird bestohlen, man wird verrückt, also rächt man sich — das Frühere ist vorbei. Es ist ihm unbegreiflich. Er muß sich die Gründe von damals mühsam zusammensuchen. Er kann den Alfred Dahl, der seinen Bruder umknallte, zur Not verstehen. Aber er hat nichts mit ihm zu tun. Schrecklich! Er büßt für einen Fremden.
Er ist aufgestanden, nimmt Hut und Mantel aus dem Schrank, den übermäßig langen grünen Mantel, mit dem er vor zehn Jahren gekommen ist, den kleinen Jägerhut mit den Hirschzähnen und den Stock, den man ihm gelassen hat, weil er so ruhig ist (nur die Spitze ist abgenommen).
„Kommen Sie“, sagt er ein wenig herrisch, „es ist zehn Uhr.“
Aber Troplowitz, der eben noch bereit gewesen ist, will nicht mehr. Er sieht es nur halb ein. Er kann wohl die Augen schließen und Dahls Vorbereitungen übersehen. Womöglich wird er ihm eine Gelegenheit geben. Morgen. Nein, heute nicht. Er muß überlegen, sein Risiko abschätzen. Er muß für seine Frau sorgen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie ein Kind bekommt, und dergleichen halb richtiges, halb falsches, schnell und unter verlegenem Bartkrauen Dahingeredetes. Er läßt den Baron nicht mehr zu Worte kommen, nimmt ihm Hut, Mantel, Stock und schließt alles wieder ein, drückt ihm die Hand und läuft hinaus.
Er rennt mit dem Türschlüssel in der Hand durch den kahlen Gang, am Nachtwächter vorbei, schließt die Innentür, die Außentür, läuft über den Hof ins Postbüro und diktiert dem nachtwachenden Fräulein folgendes Telegramm:
„Baronesse Dahl, Schwarzer Adler, Hirschberg. Abreise Baron Dahls mindestens verzögert, wahrscheinlich unmöglich. Warten zwecklos. Dr. med. Samuel Troplowitz, Oberarzt der Hellwigschen Heilanstalt.“
Das nachtwachende Fräulein muß lachen. Den Kopf bedauernd wiegen. Wieder so ein Telegramm, um die Angehörigen oder die Kranken zu beruhigen. Sie würde gern ein Gespräch anknüpfen. Aber der Oberarzt antwortet gar nicht. Er verläßt das Büro schnell.
Als er sich im Flur seiner Wohnung im Spiegel sieht, mit roten Augenlidern unter den rotbraunen Brauen, weißem Gesicht im fahlen Bartrahmen, löscht er schnell das Licht wieder, zieht sich im Dunkel des Speisezimmers aus, tastet leise in sein Bett und liegt starr, kalt und unglücklich neben seiner gleichmäßig atmenden Frau.
Alice Dahl sitzt im großen Speisesaal des „Schwarzen Adler“. Sie hat den weißen Hut mit einer Kappe in der Farbe ihres Mantels vertauscht. Der alte Kellner steht über sie gebeugt und liest zärtlich die Speisekarte vor, als hätte eine so junge Dame noch nicht das Lesen gelernt.
Drüben in der Stammtischecke hocken die Hirschberger Honoratioren in einer Wolke von Tabakdampf. Alice kennt alle. Den Schlachter Grotefeld, den Arzt Heubach, den Apotheker Staumann, den Lehrer Perse, den Juwelier Reichenberg usw. Alle kennen sie, aber sie grüßen nicht. Allein gilt die Baronesse nichts.
Sie sitzt klein und etwas krumm in ihrem sesselartigen Stuhl. Wenn die Tür aufgeht, hämmert ihr Herz. Einmal zuckt sie zusammen: ein langer grüner Mantel tritt ein. Ein Jägerhut. Aber es steckt der Oberförster Winnig drin.
Die Hirschberger haben das Flüstern nicht gelernt. So bekommt Alice zur Bouillon mit Ei den Niedergang der Dahls serviert, der von Jens Dahls Laxheit herrühren soll. Lieber Himmel, was für ein Unsinn! Zum Beefsteak erfährt sie, daß der getötete Wolfgang Dahl viel netter gewesen ist als Alfred Dahl, ihr Vater. Schöner auch, schneidiger in der Wandsbeker-Husaren-Uniform. Daß alle Frauen hinter ihm her waren (jetzt, da er tot ist, wird auch das gelobt). Alice kann das nicht begreifen. Es hängen ja genug Bilder in Jedelbach. Wie konnten die Frauen auf dies Lächeln hereinfallen, auf dieses Stuckprofil.
Zum Kaffee endlich und weil sie eine Zigarette raucht, was in Hirschberg als Frauenlaster gilt, muß sie hören, daß Jens Peter Kagen-Dahl, ihr kleiner Stiefbruder, von den Hirschbergern nicht anerkannt wird. Alfred Dahl hat ihn zwar ehelich erklären lassen. Aber das genügt den Stammtischlern nicht. Beim Adel halten sie auf Ebenbürtigkeit, und kein Gesetz wird ihnen einen unehelichen Bengel in einen ehelichen umzaubern.
Alice geht noch ein Stück spazieren. Es ist sehr warm in den engen Straßen. Aber sie friert. Sie begreift langsam, daß ihr Vater nicht kommen kann. Sie ist sehr böse auf sich. Wie romantisch hat sie das wieder angesehen. Man schreibt einen Brief, man leidet ein paar Jahre, man schreibt wieder, und das genügt, um ein verfahrenes Leben ins Gleis zu bringen!
Um neun Uhr ist sie auf ihrem Hotelzimmer. Das Zimmermädchen hat die Fenster geschlossen. Es riecht nach Odol und feuchter Wäsche. Auch alter Menschengeruch ist noch zu spüren. Sie wäscht sich, so gut es in der winzigen Waschschüssel geht. Zieht ihr längstes Hemd an und eine Bettjacke mit Ärmeln. Schläft gleich ein. Um elf klopft der Hoteldiener, bringt das Telegramm aus Magersdorf. Alice wird dadurch nicht mehr trauriger.
Sie liegt, hört die Stammtischler nach Hause gehen. Ein Reisender — er muß es sein, weil er der einzige Gast außer ihr ist — klinkt vorsichtig an ihrer Tür. Die Hirschberger Hunde erheben ihr großes Nachtgebell, sie bewachen die alten Häuser, denen niemand zu nahe treten will.
Alice holt sich Briefpapier, schiebt sich das Kissen aus dem nachbarlichen Ehebett unter den Rücken und schreibt:
„Lieber Junge!
Liege restlos gestrandet im Bett. Was in Florenz selbstverständlich scheint, ist hier unmöglich. (Übrigens stimmt das auch für uns, aber ich werde es doch möglich machen.) Jedenfalls von Vater keine Spur. Statt dessen eben ein Telegramm von dem jüdischen Oberarzt: Er kommt nicht oder später. Länger warten kann ich nicht. Ein Reisender klinkte schon an meiner Tür. Die Stammtischler sagen, es sei mit den Dahls zu Ende. Na, mit mir nicht, das sage ich Dir.
Lieber Wolf, sei nicht bissig. Lach mich nicht aus. Ich muß morgen nach Jedelbach, denke nur: Großvater, Tante Jella, Inspektor v. Viersen, Hausmeister Mohr, Fräulein Bosse, Frau Reinhardt — Himmel, Himmel! Wenigstens bin ich nicht mehr dieselbe, die weggefahren ist. Oder doch? Hier in Hirschberg scheint’s, als müsse alles in Ewigkeit beim alten bleiben. Du weißt, daß Du mir helfen mußt, wenn nötig.
Deine Alice.“
Sie liest das sorgfältig durch, dann löscht sie schnell das Licht. Die Tränen kommen angestürzt. Lieber will sie im Dunkeln weinen.
Alfred Dahl bleibt die halbe Nacht schlaflos. Er hat sein Bett ans Fenster gerückt. So ist die dunkle Freiheit des Sternenhimmels über ihm, ein Baumast nah, der über die Mauer streicht, wenn der Wind kommt.
Er sitzt halb aufrecht, in Bettdecke und Reiseplaid so eingewickelt, daß nur der Kopf heraussieht. Sein Gesicht bleibt die ganze Nacht unverändert, mit Querfalten zwischen den Brauen und Längsfalten über die schmale Stirn, mit festgeschlossenem Mund und halb heruntergelassenen Lidern über den blanken Augen, die allein noch Leben verraten.
In dreitausend Tagen und Nächten ist Zug um Zug starr geworden. Wenn keiner die Gedanken hinter der Stirn ernst nimmt, wie kann die Stirn wachsen? Wenn keiner nach den Worten hört — Worte von Kranken gelten ja nicht —, wie können die Lippen lebendig bleiben! Seltsam nur, daß man nicht das Sehen verlernt zwischen den immer gleichen Mauern, den paar Bäumen, der Ebene.
Im Anfang der Nacht ist Dahl sehr unruhig. Er hat Sehnsucht nach Alice. Er fürchtet für sie. Welche Veränderung in den letzten Bildern aus Florenz! Er spürt auch, daß der junge Mann mit der Baskenmütze und dem Auto seinen Anteil daran hat. Alice braucht mich, denkt Dahl, Alice braucht mich! Sein Herz klopft so stark, daß die Bettdecke sich bewegt. Gut, daß er es verlernt hat, gegen die Wände zu rennen und aus dem Fenster zu springen.
Gegen drei Uhr wird er ruhiger. Er spürt, daß er entkommen wird — und eine Leere dahinter. Er ist nahe daran, zu wissen, daß das nichts ändern wird. Eine Stunde noch sitzt er und kämpft gegen die betäubende Unentschlossenheit. Als der Frühnebel fällt, die Ebene dampft, steckt er eine Zigarette an. Mit dem kalten Mundstück zwischen den verkniffenen Lippen schläft er ein.
Troplowitz kommt gegen elf. Er steht unentschlossen neben Dahl, sieht in sein Gesicht, fühlt seinen Puls. Schüttelt ihn. Dahl wacht nur schwer auf.
„Es wäre gut“, sagt der Arzt, „wenn Sie um vier Uhr am Gästehaus spazierengingen. Es ist dann für den Sonntagsdienst ein neuer Pförtner da, und hier ist ein alter Passierschein für Herrn Hermann Brause, Berlin. Sie können ihn ruhig abgeben. Der Pförtner kennt weder Sie noch ihn.“
Dahl nickt. Er möchte überschwenglich danken. Aber das Kommende steht zu dicht und drohend vor ihm.
„Ich habe schlecht geschlafen“, sagt er entschuldigend und muß gähnen. Troplowitz geht. Der Baron verbeugt sich formell und drückt ihm heftig die Hand. Der Arzt ist ganz verwirrt. Zum erstenmal zweifelt er an Dahls Verstand.
Gegen zwei Uhr kommen Wolken. Stehen eine Weile über dem Gebirge. Die Ebene wird dunkel. Um halb vier setzt mit langsamem, leichtem Tropfen Regen ein.
Dahl erscheint um dreiviertel vier im Park, im langen Mantel, mit Stock und Hut, unterhält sich kurz mit einem der Leichtkranken, geht noch den Weg an den Tennisplätzen vorbei, auf denen ein paar rabiate Spieler umherspringen. Fünf Minuten vor vier betritt er das Gästehaus.
Er kennt den Weg genau, weil er Alice das letztemal begleitet hat: zweimal geht der Gang um die Ecke. Dann kommt die Pförtnerloge. Er legt den Passierschein vor den Pförtner hin. Wartet noch ein paar Sekunden, ob er was sagen wird. Hofft vielleicht darauf, denn dann braucht er die Flucht erst gar nicht zu beginnen. Aber der Pförtner legt nur die Hand an die Mütze. Zwei Schritte noch. Eine Tür. „Nicht zumachen“, liest Dahl, „schließt von selbst.“
Dann ist er auf der Straße, geht langsam, wie er sich hundertmal vorgenommen, zum Walde hinüber, steigt einen kleinen Hügel hinauf und läuft dann, von entsetzlicher Angst gepeinigt, besinnungslos nach links durch feuchtes Gebüsch über regenglitschiges Laub in einen Talgrund hinein, läuft, bis er atemlos ist und nur noch stöhnend, röchelnd weitergehen kann.
Dahls Flucht wird erst um sieben Uhr bemerkt. Der Wärter Hannemüller findet das Zimmer leer. Meldet es Troplowitz, der gerade die Visite macht. Sie suchen das schwere Haus ab, den Garten, nehmen noch zwei alte Wärter mit, schütteln im Park die Bäume, daß die Tropfen herunterklatschen, kriechen, bis sie triefnaß sind, durch alle Gebüsche. Um sieben Uhr fünfzehn meldet Troplowitz dem Geheimrat Hellwig die Flucht. Der Geheimrat hat sich gerade die Serviette unter dem weißen Bart um den Hals geknüpft und mit seiner Frau zu Tisch gesetzt. Er ist sowieso zornig. Denn die Kartoffelpuffer, auf die er sich den ganzen Tag gefreut hatte, sind lappig, hellgrün. Er wünscht sie kroß und goldbraun. Wie oft soll er das sagen. Nun darf er aufspringen, die Serviette auf den Stuhl werfen und unbeherrscht losbrüllen. Er schreit den Wärter an, der die engere, den Oberarzt, der die weitere und wichtigere Verantwortung hat. Er klagt, daß er der Behörde gegenüber geradestehen muß, und versichert seiner Frau, die zu trösten wagt, daß man bei Mehrung solcher Vorfälle die Bude zumachen kann. Rennt dann ins Büro, läßt die Alarmglocke schrillen, die dienstfreien Wärter antreten.
Er hält — neuer Zeitverlust — eine donnernde Rede gegen die Verschlampung des Betriebes, setzt sich an die Spitze des in Schützenlinie ausgeschwärmten Personals und durchsucht das Anstaltsareal Meter für Meter. Patrouillen in Regencapes und mit Regenschirmen werden ins Vorgelände geschoben, halten sich zornig unter den ersten Bäumen des Waldes oder begeben sich direkt zu Reimanns Gasthaus, um einen Iserbittern oder Stonsdorfer zu nehmen.
Um halb neun sieht der Geheimrat Dahls Flucht als gelungen an. Sein Plan ist fertig. Er wünscht die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Wozu den traurigen Fall aufrühren? Man muß die Ruhe der Familie schonen. Dahl gehört ja (Nanu? Mit einemmal?) nicht zu den gefährlichen Irren. Er wird kein Unheil anrichten, selbst wenn er ein paar Tage draußen bleibt.
Die Behörden sollen also nichts erfahren. Hingegen muß man die Familie telegrafisch benachrichtigen. Den alten Dahl sowohl wie die „falsche“ Baronin, die geborene Kagen. Troplowitz soll noch am gleichen Abend nach Hirschberg fahren und von dort aus am andern Tag die verschiedenen Angehörigen und unter Umständen die wenigen Freunde, deren Adressen man durch die Korrespondenz kennt, aufsuchen. Bei einem von ihnen muß der Ausgerückte zu finden sein.
Troplowitz ist sofort bereit. Noch bevor die Telegramme weg sind, sitzt er mit einem kleinen Lacklederkoffer, in einem hellbraunen weiten Mantel und mit einem beigefarbenen, rundgeschnittenen Hut (scheußlich steht er zu dem hellroten Bart), im Auto.
Als Adresse gibt er dem Geheimrat den „Schwarzen Adler“ in Hirschberg an. Er hofft, Alice Dahl noch dort zu treffen und mit ihr das Wichtigste verabreden zu können.
Falls Dahl nicht in Sicherheit gebracht wird, ist er nämlich — das weiß Troplowitz genau — in zwei, drei Tagen gefaßt, und die Flucht war umsonst. Übrigens ist ihm nicht ganz klar, ob er dem Baron, wenn er ihn nun findet, weiterhelfen wird. Gar nicht unmöglich, daß er ihn verhaften läßt.
Wir springen zurück: Alice Dahl hatte schließlich, genau wie ihr Vater, bis elf geschlafen. Sie trank dann vor dem Hotel, zwischen Efeuwänden, ihren Kaffee. Die Straßenjungen standen vor ihr und wurden zur größten Empörung des Adlerwirtes mit seinen frischen Buttersemmeln und den noch gut verwendbaren Zuckerstücken gefüttert. Sie wollten sich zuerst um die Bissen prügeln, aber die Baronesse stellte sofort ihre Ordnung her. Erst kam der Kleinste, dann der Größte und zuletzt der Mittlere. Sie war gegen Altersrangstufen.
Als es zwölf schlug, erschrak sie. Es war nun doch zu spät, in Rödeln Station zu machen, um „Vaters zweite Frau“, die Baronin Dahl, geborene Kagen, zu besuchen. Ja, sie mußte zugeben, daß sie sich mit den Straßenjungens so lange beschäftigt hatte, um sich zu verspäten. Schade nur um den kleinen Jens Peter, den sie sehr liebte, der niemanden hatte, zu dem er fliehen konnte, wenn ihn seine Mutter bedrückte oder der falsche Adam, der alte Diener, oder die Mutter Kagen, die ja alle schon halb tot waren, weil sie nach rückwärts starrten auf Glück oder Verfehlung der Vergangenheit.
Alice nahm dann den Mittagszug und kam kurz nach vier — also gleich nachdem die Flucht ihres Vaters aus Magersdorf geglückt war — mit der Kleinbahn in Station Jedelbach an. Der Wagen war da mit dem alten Glüsing als Kutscher, und am Bahnsteig stand Mohr, der Hausmeister, in der Dahlschen Livree, dunkelgrün mit Resedaaufschlägen und silbernen Knöpfen.
Die Baronesse mußte Schirm und Handtasche abliefern, und sie begriff dabei, wie schwer ein gefangener General seinen Degen abgibt, obwohl er ihn nicht braucht. Zwanzig Minuten bergan: dann konnte man auf der Hochebene Schloß Jedelbach liegen sehen, einen weißen Barockbau zwischen Riesenbäumen, unheimlich groß in seinen Ausmaßen und doch zierlich durch den Schwung seiner Linien.
Die Sonne schien, die Mauern glänzten, die Fenster warfen Blitze. Alice war ein wenig stolz auf ihr Heimatschloß und sehr bange, weil ja alle Größe und Schönheit nichts genutzt hatte.
„Wir haben ein Schloß im Isergebirge“, das klang ganz schön. „Aber außer mir ist nur noch eine fünfundvierzigjährige Tante da und ein sechsundsiebenzigjähriger Großvater.“ Das war schon nicht so ermunternd.
„Meine Mutter starb, als ich fünf war.“ Das konnte man noch sagen. „Und Ihr Herr Vater —?“
Da mußte man dann flüstern, er sei krank, oder man mußte Mut fassen und sagen: „Er ist im Irrenhaus.“ Und ganz guten Freunden, den allerbesten, mußte sie gestehen: „Entweder ist er verrückt, oder er hat gemordet. Wissen Sie, nicht eigentlich Mord, nicht so aus Wut oder aus dem Hinterhalt. Es war mehr ein Duell. Allerdings ein Waldduell, ohne Zeugen. Ein Krieg eines gegen einen.“
Um fünf Uhr fuhr der Wagen in den Hof. Tante Jella stand auf der Freitreppe in ihrem großen weißen Tuch, mit grauem Haar und den immer gleichen kirschfarbenen Wangen. Der Großvater machte seinen Nachmittagsritt. Im Zimmer war nichts verändert. Der Blick ging durch die Pappelallee bis zu den Fabrikschornsteinen, die wie Zeigefinger die Lage der Stadt meldeten. Um sechs Uhr brachte Mohr ein Telegramm: „Hagungogagee. Das Wölfchen.“ Es war von Wolf v. Haacke aus Florenz, und „Hagungogagee“ hieß in ihrer Räubersprache soviel wie: „Ich liebe dich.“ Das war ein rechter und ein nötiger Trost.
Denn das Abendessen ist zum Fürchten langweilig. Im riesigen Speisesaal sitzen sie zu dreien. Das Kaminfeuer malt die Gesichter von Jens und Jella Dahl rot an. Der Alte, schneehaarig, mit gelben wuchernden Augenbrauen und weißem Seehundsbart im lederschrumpfigen Gesicht, fragt nur nach den Bekannten in Florenz, dem Konsul, der Freifrau v. Seel, einer geborenen v. Grabenitz, bei der Alice in Pension gewesen ist. Dann ist diese Reise erledigt und wird nicht mehr erwähnt. Denn es ist ihm nicht recht gewesen, daß „ein junges Mädchen allein spazierenfährt“.
„Willkommen“, sagt er noch heiser und stößt mit ihr an, ohne sie anzusehen.
Um halb acht, gerade als der Alte sich zurückziehen will, kommt das dringende Telegramm aus Magersdorf. Jens Dahls Zigarre beginnt im Munde zu schwingen und fällt funkensprühend auf den Boden.
„Hier“, sagt er leise zu seiner Tochter, „hier, also doch, er ist unterwegs.“
Er springt auf, daß der Stuhl in Mohrs Arme fällt, rafft das Telegramm, zerknüllt es in der Hosentasche und rennt hinaus.
Jella und Alice Dahl erheben sich langsam. Keiner spricht. Jeder geht zu einer anderen Tür hinaus. Draußen stehen sie, die eine an einen Schrank, die andere an eine Tür gelehnt. Beide weinen.
Währenddessen marschiert Dahl auf einer dämmerigen Waldstraße. Der Himmel geht dicht über den Bäumen mit geschwinden grauen Wolken. Wind marschiert mit. Ab und zu kommt ein Regenschauer, fährt trappelnd ins Laub oder klatscht gegen die Baumstämme. Der Baron hat den Kragen des Mantels hochgeschlagen, den Hut in die Tasche gesteckt.
Es ist ihm immer noch merkwürdig, geradeaus zu gehen, und immer weiter geradeaus, ohne daß eine Mauer kommt, ohne daß er den Weg wiederholen müßte. Ein richtiger kleiner Rausch hat ihn gepackt. Er fuchtelt mit seinem Stock wie ein Fechter durch die Luft. Er marschiert mit lautem Tritt, er singt mit seiner merkwürdig blassen Stimme ein Marschlied. Auf den Weg richtig zu achten vergißt er. Oder will er gar nicht nach Hirschberg, sondern direkt nach Rödeln zu Henriette?
Gegen halb elf kommt er zu einer Waldschenke. Es brennt noch Licht. Er macht die Tür vorsichtig auf. Die Wirtsfrau schreit laut. Er sieht tatsächlich zum Erschrecken aus mit seinen grauen, triefenden Haaren, die in Strähnen die Stirn verdecken, mit den fiebrigen, unsicheren Augen und dem langen Mantel, der ihn ganz schmal und mager macht. Er sitzt, ißt ein Butterbrot, noch eines, trinkt einen Schnaps, erfährt, wie er gegangen und daß er noch eine Stunde von Rödeln entfernt ist, eine Stunde von Henriette Kagen, „um derentwillen alles geschehen war“.
Ein paar Minuten lang grübelt er mutlos im Leeren. Was soll das? Wenn er gleich im Anfang verkehrt läuft, wie soll er das Vorgenommene zu Ende bringen? Ihn quälen auch Müdigkeit und Nässe. Vielleicht ist alle Kraft in den Hellwigschen Heilanstalten ausgelaufen.
Erst nach einer Stunde bricht er wieder auf. Draußen wird er ruhiger. Er steckt sich eine Zigarette an, wandert dem Glühpünktchen nach. Den Weg nach Rödeln erkennt er jetzt, die Jagd hatte er ein paar Jahre lang dazu gepachtet, der Wald reicht in der Breite bis zur Kleinbahn, in der Länge bis Rödeln, wo dann der Herrschaftswald anfängt. Richtig, wenn er sich rechts hält, kommt er zu Kagens Bahnwärterhaus.
Das ist Henriettes Vaterhaus. Von dort her kam sie nach Schloß Jedelbach in Dienst. Dahin ging sie zurück, um den kleinen Jens Kagen, Alfred Dahls Sohn, in die Welt zu setzen. Dort wurde in der Nacht vom 31. Juli zum 1. August 1914 die Kriegstrauung vollzogen, mit Frau Kagen im Taftkleid, mit Richard Kagen, dem Alten, im Bahnwärterdienstanzug, mit Jella Dahl in Schwesterntracht und Alfred Dahl in der Rittmeisteruniform der Halberstädter Kürassiere. Dazu Pastor Alieni, Pfarrer von Jedelbach, und — großäugig und ernst — Jens Peter Kagen, das zweijährige Söhnchen, im zu großen Matrosenanzug.
Herrgott, der Junge! Alfred Dahl biegt gerade in das Tal von Rödeln ein. Der Wald weicht zurück. Man muß die Bahn überqueren: da stehen schon die ersten Häuser. Der Junge! Jetzt erst fällt ihm ein, daß er das Haus gar nicht kennt, in dem Jens Peter mit seiner Mutter wohnt. Dahl geht schnell durch das Dorf. Es soll an einem Ende liegen. Ein wenig abseits, hatte Henriette geschrieben, mit Nußbaum über dem Dach und Flieder vor der Tür. Das kann aber für jedes Haus stimmen. Jedes Gehöft liegt einsiedlerisch für sich. Unter Nußbaum, hinter Flieder.
Alfred Dahl hofft noch Licht zu finden. Aber alles ist dunkel und niemand in diesem Regen draußen. Jemanden herauszuklopfen wagt er nicht. Schließlich fällt ihm der alte Pfiff ein. Der Regenvogelpfiff, mit dem er Henriette in der ersten Zeit immer aus dem Haus gelockt hatte.
Er geht also langsam zurück, bleibt an jedem Haus stehen, pfeift, wartet.
Aber es flammt nur ab und zu ein Streichholz auf, wenn jemand vom Vogelruf geweckt wird und denkt, es ist schon Tag.
Im zweitletzten Haus wird Jens Peter Kagen-Dahl wach. Das ist doch der Pfiff Alices? Aber sie kann nicht gleich nach der Ankunft gekommen sein. Jens Peter schleicht ans Fenster, sieht einen langen, langen Mantel im Dunkel stehen und pfeifen. Der Junge legt sich beruhigt wieder ins Bett, schläft ein und lächelt. Er träumt nämlich, sein Vater kommt herein — in Kürassieruniform wie auf dem Bilde im Zimmer unten —, sieht das Rödelner Gespensterleben, mit dem falschen Adam, mit der Großmutter, mit der Mutter, und nimmt ihn fort.
Dahl aber stolpert gerade zum Dorf hinaus, geduckt unter einen immer stärkeren Regen, findet den Bahndamm und geht über die Schienen. Er geht bald mit großen, unsicheren Schritten von Schwelle zu Schwelle, gleitet oft aus, weil das Holz glatt ist, bald am Rande trippelnd mit kleinen Schritten über den knirschenden Kies. Ein Zug kommt hier des Nachts nicht. So braucht er auf nichts zu achten und kann wenigstens die letzte Zuflucht nicht verfehlen.
Um dreiviertel zwei in der Nacht von Sonntag, den 7., auf Montag, den 8. September 1927, wird der Bahnwärter Richard Kagen im Block zwölf zwischen Rödeln und Jedelbach durch das Heulen seines Hundes und durch Rütteln an der Tür wach. Er zündet seine Laterne an, fährt in die Hosen, stolpert die Steiltreppe von seinem Schlafzimmer hinunter, öffnet.
„Das ist ja ... Nein ... Nee, nee ...“, murmelt er verlegen. Leuchtet vorsichtig in Dahls Gesicht, läßt erschreckt das Licht sinken (so alt, Himmel, denkt er, so todestraurig) — zieht ihn herein.
Der Baron setzt sich erschöpft auf die unterste Stufe der Treppe. „Ich brauche“, sagt er zaghaft, „für ein paar Stunden eine Bettstelle oder eine Matratze. Ich kann niemanden finden. Ich habe niemanden. Auch Ihre Tochter nicht. Vielleicht ...“
Kagen nickt. Das Bett seiner Frau steht seit Jahren leer. Sie wohnt ja in Rödeln.
Die beiden klettern hintereinander die Treppe hinauf. Dahl muß sich ganz ausziehen, so naß ist er. Er bekommt ein Wollhemd des Bahnwärters als Nachthemd. Ein blaukariertes Federbett, eine Tasse gewärmten Malzkaffee.
Erklären, sprechen kann er nicht mehr. Aber Kagen verlangt das auch nicht. Er weiß, daß durch die Heirat die Entfernung zwischen ihnen nicht kleiner geworden ist.
Er legt sich auch, nachdem Dahl eingeschlafen ist, nicht in das Bett nebenan, sondern schleicht vorsichtig hinunter in den Dienstraum, sitzt an seinem Tisch, die Stirn in der Hand, starrt unbeweglich hinaus. Sieht es heller werden. Die Sonne geht auf. Der erste Zug kommt. Er ist weder traurig noch froh. Er begreift nicht, warum das Abgetane nun noch mal getan werden soll. Es ist schwer genug gewesen.
Aber da ihm nichts geblieben ist, kann ihm auch nichts genommen werden. Oder? Oder kommt der Baron, um Jens Peter abzuholen? Der Bahnwärter schiebt die Mütze zurück, reißt den Mund auf. Die Sonne glänzt auf seiner Glatze.
„Nee“, sagt er drohend, „nee nee nee.“