Allerweltsdinge - Wolfram Domke - E-Book

Allerweltsdinge E-Book

Wolfram Domke

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Beschreibung

Dieses Buch handelt von Kramschubladen, Sonderangeboten, Rückspiegeln, Wochentagen, Schlagern, Motorradreisen, Radioprogrammen, Frauenkleidern, Druckbuchstaben, Lattenzäunen, Türen und anderem mehr. Lauter Sachen also, die durch ihre alltägliche Geläufigkeit kaum noch der Rede wert erscheinen. Unter psychologischem Blick zeigt sich aber: In Allerweltsdingen ist gestaltend und verwandelnd etwas am Werk, das unsere Seelenwelt doch mehr und anders bewegt als uns normalerweise bewusst wird.

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Schriften zur Morphologie

Von 1982 bis 2011 erschien die Fachzeitschrift Zwischenschritte – Beiträge zu einer morphologischen Psychologie. Herausgegeben wurde sie vom „Arbeitskreis Morphologische Psychologie“, zunächst im Bouvier-Verlag, ab 2001 dann im Psychosozial-Verlag. Sie erschien zunächst halbjährlich, ab 2000 unregelmäßig mit einer Orientierung an Schwerpunktthemen wie dem Alltag, dem Traum oder der Musik. Ausgehend von der Morphologischen Psychologie Wilhelm Salbers sprach sie einen breiter werdenden Kreis von Leser:innen und Autor:innen an. Während die Redakteure der Zeitschrift und einzelner Themenbände wechselten, war Armin Schulte derjenige, der die Zeitschrift von Anfang an und durchgängig am Leben erhielt, von seiner Zeit als Studierender und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln bis zu seiner Professur an der BSP Berlin. Seiner Initiative ist es nun auch zu verdanken, dass nach längerer Pause der Faden wieder aufgenommen wird und die Zwischenschritte mit einer Online-Plattform eine neue zeitgemäße Form finden werden. Die Online-Plattform wird sowohl alle „alten“ Artikel verfügbar machen als auch für aktuelle Artikel, Forschungsberichte und Dokumente im digitalen Format zur Verfügung stehen.

Parallel wird mit den Schriften zur Morphologie die Möglichkeit von Printpublikationen geschaffen, zu deren Programm sowohl neue Veröffentlichungen gehören als auch Zusammenstellungen verstreuter Schriften einzelner Autor:innen und schwer zugängliche Schriften.

Mit dem Titel Schriften zur Morphologie soll zum einen an die nunmehr über zweihundertjährige Geschichte der Morphologie als einer spezifischen Sicht- und Denkweise angeknüpft werden. Zum anderen sollen die Reihe und die Online-Plattform der Zwischenschritte, ganz im Sinne Goethes, offen sein für wahlverwandte Interpretationen, ergänzende Kontrapunkte und erweiternde Perspektiven.

„…wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht.“ (Johann Wolfgang von Goethe: Zur Morphologie, 1817)

für Andrea, Esther und Gina

Allerweltsdinge

Der Duden kennt sie nicht, unser Alltag aber schon: Die vielen banalen Dinge, die im täglichen Leben immer wieder vorkommen und keiner besonderen Rede mehr wert erscheinen. Sie sind uns ganz selbstverständlich geworden, und was sich von selbst versteht, das bedarf vermeintlich keiner weiteren Ergründung. Schließlich weiß doch jeder, womit wir es bei einer Tür oder der Woche, bei einem Rückspiegel oder Frauenkleid, bei Sonderangeboten und Kramschubladen, beim Fußball und Mensch-ärgere-dich-Nicht zu tun haben. Die meisten sind seit Kindertagen auch wohlvertraut mit Hänsel und Gretel, Sindbad und Frau Holle und kennen Zeitgenossen wie Picasso, Che Guevara und Inspektor Columbo genauso gut. Diese und andere Figuren und Sachen wurden Allerweltsdinge, die längst ins kulturelle Bescheid-Wissen eingeflossen sind - und doch Geheimnisse in sich bergen, die uns überraschen und eigenartig befremden können. Das habe ich im Studium der Morphologischen Psychologie bei Prof. Wilhelm Salber mit großer Entdeckerfreude selbst erfahren. Dort lernte ich, sichtbare und verborgene Wirkungen von Allerweltsdingen im Seelischen nach allen Regeln der tiefenpsychologischen Analysekunst zu erforschen.

Hin und wieder führte das auch zu Veröffentlichungen. Zuerst 1982 mit einem Artikel zum Kunsterleben gebildeter Menschen, der in der Startausgabe der Zeitschrift Zwischenschritte erschien. Und zuletzt 2023 mit einem Beitrag über Aal-Morphologie in der Schlussausgabe der Zeitschrift anders. In einer Zeitspanne von gut 40 Jahren entstanden so über 50 Veröffentlichungen, die in diesem Buch nun zusammengestellt sind. Sie haben sehr verschiedene Gegenstände zum Thema, was auf den ersten Blick vielleicht etwas zusammengewürfelt erscheint. Immer jedoch waren es jene Allerweltsdinge, die den roten Faden meines Forschungsinteresses bildeten. Dazu gehört für mich auch so etwas Komisches wie UFOs: Ein erregendes, nur schwer greifbares Phänomen, das den Menschen unserer Zeit dennoch ein ganz geläufiger Begriff ist. In der psychologischen Rekonstruktion ging es hier wie auch sonst stets darum, jene seelische Wirkungswelt im Ganzen sichtbar zu machen, die in den behandelten Phänomenen gestaltend und verwandelnd am Werk ist.

Das gelang mal mehr, mal weniger, da mein psychologischer Blick sich auch erst entwickeln musste. Manchen frühen Texten (späteren womöglich ebenso) sieht man dieses Entwicklungsbedürftige hier und da an und ich hatte der Versuchung zu widerstehen, an solchen Stellen korrigierend einzugreifen und nachzubessern. Schließlich wurden die Texte dann doch weitgehend so belassen wie in der ursprünglichen Veröffentlichung, was umgekehrt nun aber besser erkennbar macht, auf welchen Wegen und Umwegen sich die „allmähliche Verfertigung“ (H. v. Kleist) meines psychologischen Verstehens beim Beschreiben vollzog.

Herr Korbes, ein wenig bekanntes und besonders rätselhaftes Märchen der Gebrüder Grimm, handelt auch von Allerweltsdingen wie Nähund Stecknadeln, Eiern und Mühlsteinen. Zusammen mit einer Katze und Ente reisen sie im Wagen von Hühnchen und Hähnchen zu Herrn Korbes Haus, wo dann alle verschiedene Plätze einnehmen. Als Herr Korbes heimkehrt, greift ihn jedes Ding auf seine Weise an: Asche ins Gesicht werfend, Wasser spuckend, Augen verklebend, hier und da stechend und schließlich erschlagend. Jedes Ding verhält sich wie ein sonderbarer Widerstandskämpfer und bildet so einen spürbar wirkenden Gegen-Stand für den Menschen. Vielleicht handelt das Märchen von der ‚Tücke des Objekts‘ oder gar von dessen Heimtücke, aber womöglich ebenso vom psychologischen Grundprozess der Gegenstandsbildung: Wie Seelisches sich in den Dingen selbst gegenübertritt. Ein solchermaßen „bedingtes Leben“ (F. Heubach) – auch davon handelt dieses Buch.

Köln, März 2024

Wolfram Domke

Inhaltsverzeichnis

Der Alltag behandelt den All-Tag - und umgekehrt

Der von der Seele geschriebene Kummer

Eingesperrte Entwicklungsmöglichkeiten

Schöpfungsspirale des Alltags – die Woche

Spielplatz seelischer Kleinkriege

Kleiner Rückblick auf den Rück-Blick

Arbeiten in der seelischen Porzellankiste

Untiefen der Schlagerlyrik

Behandlung aus der Langeweile

Behagen und Unbehagen in der Kultur

Justiz in alter Zeit

Der Tod eines Rennfahrers

UFO: Das Unbestimmte als zeitgenössisches Ding

Eine Motorradreise als Vorgestalt zur Revolution

Die toten Seelen

Reine Nervensache?

Das Tribunal von Schiffbrüchigen

Nobelpreis für das Menschlich-allzu-Menschliche

Rechnen mit dem Paradox

Allerleimedien

Lesarten von Wirklichkeit

Die psychologische Wirkungswelt des Lokalradios

„Und täglich grüßt das Murmeltier“

„Schönes bleibt“

Warum Inspektor Columbo immer wieder kommt

Wenn Witze witzlos werden

Seelenrevolution mit 100 Sachen

Ödipus im Schuh

Die Tür als Seelenmechanismus

Dingsda - Wortschönheiten der Sprachmenschwerdung

Ansichten und Einsichten am Lattenzaun

Morphologie in eigener Sache

Morphologie 9 ¾

Vom Nutzen und Nachteil der Historisierung für das Leben

Morphologie als Don Quijote

Ärmel hoch, ihr schwankenden Gestalten!

Aal-Morphologie

Märchen im Deckmantel

Kaufen im Sonderangebot

Kriminelles Leben - Eine Gestalt zum Fürchten

Gewandkreis des Weiblichen

Das Fremde ist ein eigenes Ding

Überleben

Mein wunderbarer FC Kölle

Fußball ist unser (Neben-) Leben

Fußball-Fangesänge

Depression und Totdrücken

Abseits!

Das Anstößige als Kulturprinzip

Weltmeisterschaft – Triumph des Teiles oder der Ganzheit?

Diverse Kunst-Stücke

Über das richtige und falsche Seligwerden in der Kunst

Zur Psychästhetik der Collage

Kunst im Alltag

Licht-Blicke

Vom ‚Rohling‘ zur ‚guten Gestalt‘

Unruhige Ränder

Ein Spiegel ist ein Spiegel ist ein Buch…

Picasso und das sich selbst malende Bild

Nachwort in eigener und fremder Sache

Der Alltag behandelt den All-Tag - und umgekehrt

Eine überraschende Entdeckung meines Psychologiestudiums war, dass unser Alltag überhaupt nicht so grau ist, wie wir ihn gerne immer sehen. Zieht man diesen Grauschleier mit Hilfe von Tiefeninterviews einmal weg, kommt bald ein spannendes Seelenland zum Vorschein, dessen reiche Entwicklungsqualitäten uns weitgehend fremd geworden sind. Wir merken oft gar nicht mehr, wie sehr wir in banalen Alltagstätigkeiten wie Putzen, Heimwerken, Radfahren, Streiten, Schenken, Tanzen, Sonnenbaden die Stunden eines Tages zu ganzen Welten machen, die uns dramatisch bewegen. Ein Beispiel dafür ist das Glockenläuten. Meistens hören wir es von Kirchen in der Nähe schon gar nicht mehr. Und wenn einmal doch, haben wir vielleicht eher ein Störgefühl, weil der ‚Lärm‘ uns sonntags nicht länger schlafen lässt. Dabei markiert das Glockenläuten nicht nur das Fortschreiten und die Unumkehrbarkeit unserer Tagesläufe, sondern lässt immer auch etwas Umfassenderes anklingen: Für einen Moment könnten wir innehalten im besinnungslosen Strom der Alltagverrichtungen und uns fragen, ob sie noch zum Großen-Ganzen unseres Lebenswerkes passen. Dieses Große-Ganze nennt die Morphologie All-Tag, weil es stets universale Seelenverhältnisse sind, die selbst in den profansten Alltäglichkeiten aufgerufen und mitbehandelt werden. Trennt sich dieser innige Zusammenhang, dann beginnt tatsächlich das Graumachen des Alltags.

Hier im Alltag liegt auch der psychologische Schatz jener Allerweltsdinge verborgen, die dem ganzen Buch zum Titel verhalfen und besonders in diesem Kapitel behandelt werden. Das können die Kummerbriefe bedrückter Zustände sein, die sich in eigentümlichen Selbstbeschreibungen an Ratgeber in Illustrierten wenden. Oder kriminelle Gestalten, die eigenartig damit experimentieren, den normalen Alltag aus ihrem Leben auszusperren. Das kann ein Erfolgsspiel sein wie „Mensch ärger dich nicht“, das erst ein hoffnungsloser Ladenhüter war. Oder der Rückspiegel unserer Autos, der für Vorwärtsbewegungen so unabdingbar ist. Oder ein Ohrwurm, der uns tiefer ergreifen kann als von seiner simplen Machart eigentlich zu erwarten ist. Schließlich kann das auch die Woche sein: Jener uralte Alltagsrhythmus, in dem sich das Seelische immer wieder neu entstehen und auch wieder vergehen lässt.

Der von der Seele geschriebene Kummer (1988)

Befunde einer laufenden Untersuchung

Es ist sicher keine literarische Absicht in den sogenannten Kummerbriefen unserer Illustrierten zu erkennen und doch können sie als eine besondere Form selbstverfasster Alltags-Literatur verstanden werden. Sie erwächst - seltsam genug - aus den Handlungsklemmen, in die 'das Leben' Menschen geführt hat, und aus denen sie sich von alleine nicht mehr zu befreien wissen. Dass hier die Briefform zur Einleitung eines Lösungsversuches dient, muss im Zuge einer psychologischen Untersuchung entsprechend beachtet werden: Der Brief im allgemeinen und der ratsuchende Brief im Besonderen kann nicht als bloßes ‚Kommunikationsmittel‘ zwischen einem hilflosen (Ab-)Sender und einem hilfreichen Empfänger abgetan werden, so als sei mit der Funktion der Botschaftsübermittlung bereits das Wesentliche gesagt. Vielmehr geht es darum, sich das Selbstverständliche dieser Form zunächst einmal 'fremd' zu machen, um an ihre Eigengesetzlichkeit heranzukommen.

Wenn von ‚selbstverfasster Alltags-Literatur‘ die Rede war, dann soll das für die Analyse programmatisch-wörtlich genommen werden: Im Brief verfasst sich Seelisches auf spezifische Weise; indem es ratsuchend einen Fremden anspricht (anschreibt), gibt sich Seelisches eine profanliterarische Wendung, von der es sich in erster Linie einen Zugewinn an Bewegungsmöglichkeit im Alltag erhofft. Da der Grundriss des Modifikation Verhältnisses von Briefverfassung und gestörter Handlungsentwicklung bereits dargestellt wurde (vgl. W. SALBER: ,,Seelisches in Briefform“), kommt hier nunmehr eine erste Aufschlüsselung der vorliegenden Befunde und sich abzeichnenden Regulationen zur Darstellung.

Handlungsklemmen im engeren Sinne werden da deutlich, wo die Briefe von der Unfähigkeit berichten, bestimmte Dinge zu tun: Man kann beispielsweise nicht Radfahren, nicht zum Frauenarzt gehen, nicht mit dem Ehemann schlafen, nichts Nacktes in Illustrierten oder in Filmen ansehen, nicht essen und nicht schlafen. Darüber hinaus werden vielfältige Entscheidungsnöte bei Ereignissen wie Heirat, Schwangerschaft, Scheidung, Freigabe des Kindes zur Adoption, Auszug aus dem Elternhaus u.a.m. geschildert. Immer steht dabei ein machtvoll bedrängendes, aktuell aber kaum zu lösendes Dilemma im Vordergrund. Aber nicht nur ‚große Lebensfragen‘, sondern ebenso die Unleidlichkeit solch unscheinbarer Dinge wie Sommersprossen, Schuppenflechten, gekraustes Haar, Mundverkrampfungen und Fingernägelkauen führt scheinbar in erhebliche Zwickmühlen bei der Alltagsbewältigung. Mängelrügen an sich und anderen wie Bettnässen, Stottern und Erröten, wie Schüchternheit und Zimperlichkeit werden gleichermaßen damit in Zusammenhang gebracht, dass man Gewolltes nicht tun oder Ungewolltes nicht lassen kann.

Dass es in all diesen Einzelfragen auch um ‚mehr‘ geht, darauf machen jene - auf den ersten Blick fast phrasenhaften - Allgemeinklagen der Briefeschreiber aufmerksam. In ihnen stellt sich das Seelische als etwas dar, das sich in einer „Sackgasse“ oder in einem „Teufelskreis“ befindet und nun „nervlich und moralisch am Ende“ oder „fix und fertig“ ist. Gängige Qualifizierungen wie „kurz vorm Durchdrehen“ oder „nicht leben und nicht sterben können“ machen deutlich, wie hier die Brief-verfassung dafür sorgt, dass in den aktuellen Handlungsstockungen auch die Bewegungsstörung des Ganzen mitangesprochen wird. Das geschieht zwar in der Nähe des Gemeinplatzes, geht aber auch in Richtung einer psychologisch angemessenen Beschreibung.

Es ist natürlich nicht zu übersehen, wie sehr die Briefeschreiber das sie Bedrängende dingfest machen und dann rasch los werden möchten. Vieles kommt so heraus als gelte es, sich mit einem energischen Posaunenstoß Luft zu machen. Doch das gelingt selbst bei telegrammartigster Verkürzung des Briefes nie ganz:

„Ich bin 29 Jahre alt und bin sehr unsicher im Umgang mit anderen Menschen. Das Problem ist, dass ich sehr schnell erröte und aus dem Grunde immer weniger unter Menschen gehe. Manchmal sitze ich tagelang zuhause herum. Dazu kommt noch, dass ich seit 1 1/2 Jahren arbeitslos bin. Was kann ich dagegen tun? Wie komme ich schnell zu einem positiven Ergebnis? Hochachtungsvoll ..“

In diesem Beispiel werden die beunruhigenden Sachverhalte in typischer Weise einerseits wie etwas Offenes, Erklärungsbedürftiges aneinandergereiht und zugleich wie feststehende Erklärungen einer widersprüchlichen Erfahrung zusammengefügt. Aus psychologischer Sicht ist 'das Problem' zwar nicht unbedingt da zu suchen, wo es als solches ausdrücklich benannt und begründet wird, aber es liegt auch nicht ‚hinter‘ den sogenannten Phänomenen. In vielen Briefen wird die Strukturierungsbemühung erkennbar, Phänomene und Erklärungen möglichst klar voneinander zu trennen. Genauso durchgängig erweist sich aber auch, dass beides ‚unter der Hand‘ ständig ineinander übergeht. Ein scheinbar eher bildhaft organisiertes, drangvolles Konglomerat hat sichtlich Mühe, sich in das für die Briefform notwendige Nacheinander zu bringen.

Vor allem in längeren Briefen zeigt sich eine holprige und seltsam verschachtelte Beschreibungsbewegung. Sie operiert mit ausdrücklich Vorausgeschicktem („vorweg: ich bin geschieden“), mit Dazu-und-nebenbei-Gesagtem („übrigens ist meine Frau Skorpion“) und mit herausgerückt Hintangestelltem („P.S.: Ich ertrage das Alleinsein nicht“). Auch im Überbetonen und Leise-Andeuten, im Auswalzen und Abbrechen sucht sich der ‚Gedankengang‘ zu explizieren. Wo eine solche ‚Umständlichkeit‘ fehlt, vermisst man zumeist Anhalte für die Sache selbst; wo sie Überhand nimmt, vermisst man nicht selten den roten Faden. Diese Erfahrung belegt auf eigene Weise den psychologischen Lehrsatz, wonach sich Zusammenhang im Beschreiben herstellt und nicht in ‚Inhalten‘ da ist. Ob damit das verfügbare Sich-Verstehen des Seelischen überhaupt eingeleitet wird und wie weit es gegebenenfalls reicht, scheint davon abzuhängen, welche modifizierende Macht die Briefverfassung über die gestörte Handlungsentwicklung gewinnen kann. Hier konkurrieren der Zwang zur unvermeidlich umweghaften Auslegung und eine Art Tatendrang in Worten (gleich zur Sache) miteinander.

Indem man über eine vielgelesene Zeitschrift einen Fremden in eigener Sache ratsuchend anspricht („ich wende mich an Sie mit einer Bitte ..“), gibt sich das Seelische eine Wendung, die in seiner gewohnten Selbstbehandlung nur selten bemerkt wird: Es kann ‚intim‘ werden und sich zugleich publik machen. Aus dieser Spannung ergeben sich spezifische Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Zum einen kann der Blick des Fremden und der Öffentlichkeit die eigenen Seh- und Darstellungsweisen in der Briefverfassung brechen. Es lässt sich zuweilen beobachten, wie innerhalb eines Briefes die Perspektive von der Zentriertheit auf das eigene Leiden zum Mitbeachten des Leidens anderer, von der Verbohrtheit auf das ‚Verschulden‘ anderer auf ein Entdecken eigener ‚Fehler‘ wechselt. Dieses Dezentrieren und Relativieren können als erste Vorleistungen und Vorübungen verstanden werden, sich durch Fremdes behandeln zu lassen.

Auf der anderen Seite befreit die Fremdheit zwischen Absender und Adressaten auch von sonst üblichen Relativierungsnotwendigkeiten und Rücksichten. Dass der Angesprochene hier nichts von einem weiß, kann in der Briefverfassung als Einladung wirken, ‚frohen Herzens‘ ein weitgehend ungebrochenes Bild von sich zu malen. Diese Möglichkeit öffnet dann unter Umständen Schleusen für einen wahren Sturzbach von Vorwürfen an andere Personen und an ‚das Leben‘ überhaupt. Das Seelische tritt hier als etwas auf, das belogen, betrogen, beschimpft, gequält, geprügelt, verlassen, missverstanden, gehänselt, zu kurz gehalten, denunziert, ausgenutzt, verfolgt, enttäuscht wird - die Liste der Kränkungen ließe sich noch erheblich erweitern. In einer Art Petzen lässt sich die eigene Verwicklung in das Verkehrt-Gelaufene eingestehen („bin auch nur ein Mensch“) und zugleich leugnen („was ist das für ein Mensch?“). So wird dann Unrecht-Erleiden und Opfer-Sein zum zentralen Motiv der Alltags-Dramatisierung. Hier kann man einen Einblick darin gewinnen, welch unerhörten Reiz es hat, einmal unwidersprochen seine Lieblingsversion der rauen Wirklichkeit (Beweismuster) auszubreiten.

Diese Tendenz wird zusätzlich bestärkt durch den Rechtfertigungszwang vor dem ‚durchschauenden‘ Psychologen und der mit ihm verbundenen Öffentlichkeit: Den Risiken des Sich-bloß-Stellens begegnet man mit einem intensiven Werben für das Teilen der eigenen Perspektive. Der Angesprochene wird nach allen Regeln der Übertragungs-Kunst umgarnt. Er erhält reichlich Vorschusslorbeeren („lese immer Ihre guten Ratschläge“; „Dank im Voraus“), bekommt Gunst-Beweise in Form mitgesandter Geschenke, aufgemalter Herzchen und beigefügter Fotos. Er wird aber auch in die Pflicht genommen: Noch eher gemäßigt im Beilegen eines frankierten und adressierten Rückumschlages, schon deutlich begehrlicher im Bitten um Kleidung und Geld und schließlich fast erpresserisch durch Selbstmordandrohungen.

An der Funktion, die im angesprochenen Psychologen jeweils beansprucht wird (Beichtvater, Trostspender, Richter, Wegweiser, Aufklärer etc.) lässt sich erkennen, in welche Richtung die Behandlungswünsche der Briefeschreiber gehen: Das Seelische will bekennen, aber auch eine Art ‚te-absolvo‘ erhalten; es will beschwichtigt und bestärkt, aber auch durchschaut und bestimmt werden; es will so bleiben wie es ist, und zugleich verändert werden - und das alles möglichst schnell. Die gestörte Handlungsentwicklung verlangt ihrer Logik gemäß eine Lösung im Hier und Jetzt. Demgegenüber besteht der grundsätzlich modifizierende Einfluss der Briefverfassung darin, dass Aufschub in Kauf genommen werden muss. Der häufig beigelegte Rückumschlag, auf den stets ausdrücklich verwiesen wird, hat somit nicht nur die Übertragungsbedeutung des Verbindlich-Machens, sondern ist in diesem Kontext auch Ausdruck des Brennens auf ‚postwendende‘ Abhilfe. Noch schwerer als sich in Geduld zu üben, fällt es scheinbar jedoch offenzulassen, auf welche Art von Lösung man sich in der Antwort einzustellen hat. In der Regel werden daher von sich aus bereits bestimmte Vorschläge gemacht, die den zugebilligten Veränderungsspielraum erkennen lassen.

Nicht wenige Briefeschreiber wollen eine Beeinflussung durch ‚Psychologisches‘ von vorneherein ausschließen, indem sie etwa danach fragen, ob nicht ein Facharzt oder die Heilwirkung eines Kupferreifs helfen könnten. Das gilt auch für Forderungen nach aktivem Eingreifen in die persönlichen Lebensumstände: Der Psychologe soll z.B. eine geeignetere Wohnung, eine bessere Arbeitsstelle, einen neuen Lebenspartner vermitteln oder dem alten einmal richtig Bescheid sagen. Hier möchte man, dass sich im Drumherum einiges tut, während der eigene Drehpunkt möglichst unbehelligt bleiben soll. Etwas ähnliches zeigt sich in den stellvertretenden Anfragen („als Vater“; „als Großeltern“; „als Nachbar“): Man nimmt sich selbst gleichsam aus der Schusslinie, indem das eigentliche Zentrum des Problems auf andere verlagert wird - da darf es dann auch ruhig 'psychologisch' und streng zugehen bei der Beurteilung („ist das noch normal?“).

In Zusammenhang mit den oben geschilderten 'Gewissenskonflikten' sind die Bitten um direkte Handlungsanweisung sehr häufig. Hier soll der Veränderungsspielraum auf eine vorgegebene Alternative (z.B. Scheidung: ja oder nein?) eingegrenzt werden, während die im Handlungsdilemma verdichteten Konflikte des Ganzen eine Ausgrenzung erfahren. Demgegenüber gibt es - wenn auch selten - Formen des Anfragens („Was ist nur mit mir los?“; „Was mache ich verkehrt?“), die das Problem nicht verschieben und damit ein erweitertes Spektrum von Lösungsmöglichkeiten zulassen. Indem die Briefverfassung eine Art Interesse des Seelischen an sich selbst weckt, kann das auch hier auf Schließung Drängende gewissermaßen auf anderer Ebene offengehalten werden.

Es ist nichts, auf das man herabblicken sollte, wenn sich Laien im Beanspruchen psychologischer Beratung insgeheim eigentlich Tipps und Tricks erhoffen, mit denen sie ihre Lebensprobleme schnell und mühelos lösen können. Im Erwarten von Patentrezepten steckt ja auch ein Anerkennen der Wirksamkeit von psychologischer Behandlung. Gleichzeitig wird aber ein allgemeines Verkennen der notwendigen Eigenleistung zu dieser Wirksamkeit immer wieder deutlich. Wo die Selbstbeobachtung mehr auf Symptomatisches als auf Sinnzusammenhänge gerichtet ist, da verwundert es aber nicht, dass die Vorstellungen von einer Veränderung zum Guten sich mehr um ‚Heilmittel‘ als um das eigene Bewirken drehen. Wie es scheint, sind es eher medizinisch beeinflusste Modelle von Behandlung, die hier bestimmend sind.

Eingangs wurde behauptet, die Kummerbriefe ließen sich als eine besondere Form selbstverfasster Alltags-Literatur verstehen - dazu abschließend noch eine kurze Erläuterung. Das Literarisch-Werden des Seelischen hängt hier in erster Linie damit zusammen, dass es sich, anstatt direkt zu handeln, zu beschreiben beginnt. Indem es das tut, gerät es in einen Prozess der Selbst-Dramatisierung, der von eigentümlichen Doppelheiten gekennzeichnet ist: Das Seelische wendet sich seiner selbst zu (Intim-Werden) und zugleich an andere(s) (Publik-Machen); es stellt sich aus Not in Frage und bleibt zugleich lustvoll ungebrochen; es ‚packt aus‘ und macht zugleich aus seinem Herzen eine Mördergrube; es kann sich durch ‚verunglückte‘ Verdichtungen („bin 15 und mache noch immer in die Hose“) merkwürdig profanisieren und kann zugleich durch eine lebendige Beschreibung seiner banalsten Angelegenheiten jene seltsame ‚Wahrhaftigkeit‘ gewinnen, die man sonst nur von Romanen her kennt. Zuweilen weiß man beim Lesen der Kummerbriefe nicht, ob man nun weinen oder lachen soll - dieser tragikomische Charakter mag ungewollt entstehen, einer Kunst der Hervorbringung bedarf er allemal.

Eingesperrte Entwicklungsmöglichkeiten (1991)

Ein ‚krimineller‘ Aspekt des Verhältnisses von Behandlung, Alltag und Kultur

I. Das Nicht-Gelingen einer psychologischen Behandlung kann zum Anlass für eine kritische Überprüfung des angewandten Behandlungskonzepts gemacht werden. Es kann aber auch die Stimmigkeit des Behandlungskonzeptes bestätigen, wenn sich nämlich zeigt, dass es genau da scheitert, wo es gemäß seiner eigenen Prinzipien nicht wirksam werden kann. Ein solcher Fall soll nachfolgend beschrieben werden. Er illustriert die Bedeutung einer Behandlungsvoraussetzung, die in der Regel so selbstverständlich gegeben ist, dass sie bei der Einschätzung kaum noch eigens überprüft wird: Das Maß an Alltagsbezug, das eine gestörte Selbstbehandlung (noch) aufweist. Dass die Psychoanalyse ihr Behandlungsziel als Wiederherstellung von ‚Arbeits- und Genussfähigkeit‘ definierte, wurde gerne als pragmatische Selbstbescheidung interpretiert: So als sei es schon viel, würde wenigstens das erreicht. Diese Definition lässt sich jedoch auch als Formulierung des hohen Veränderungsanspruches verstehen, eine verbesserte Bewerkstelligung des Alltages bewirken zu können. Eine solche Absicht käme in die Nähe der morphologischen Auffassung, wonach es das Leiden am und im Alltag ist, was das Seelische behandlungsbedürftig, aber auch behandlungsfähig macht.

Die Untersuchung der sogenannten Kummerbriefe in Illustrierten eröffnet Einblicke in diesen Prozess. Es zeigt sich, dass es vor allem das Kreiseln oder Stillstehen bestimmter Alltagstätigkeiten ist, das die Selbstbehandlung des Seelischen an ihre Grenzen bringt. Wo man im Alltag Gewolltes nicht tun und Ungewolltes nicht lassen kann, da wird die Zirkulationsstörung des Ganzen offenbar schmerzlicher spürbar als in irgendwelchen Ausnahmezuständen, wo tief verdrängte Komplexe plötzlich aufbrechen. Deren Realität soll hier nicht bezweifelt werden, doch muss sich die ‚Psychopathologie‘ im banalen Alltagsleben auf breiter Front zeigen, will die Annahme unbewusster Wirksamkeiten nicht bloße Spekulation bleiben. Das gilt genauso für die psychologische Behandlung. Wie der Traum auf Tagesreste angewiesen ist, so braucht auch sie den Umsatz mit Alltag, um die Grundprobleme des Seelischen in den Blick zu rücken und bearbeiten zu können. Die Behandlung hinge ohne ständige Materialzufuhr aus dem Alltag gleichsam in der Luft, käme selbst ins Kreiseln oder zum Stillstand.

II. Dass sich Alltag und Behandlung gegenseitig bedingen, lässt sich -wie bereits angekündigt – auch an einem ‚Negativbeispiel‘ nachweisen. Dazu dient die nun folgende typisierende Beschreibung der lebensgeschichtlichen Entwicklung einer Variante der männlichen Delinquenz. Ausgangspunkt der Entwicklung ist ein familiäres Gebilde, das sich selbst bereits am Rande dessen bewegt, was die Kultur noch tolerieren kann, oder was sie mit der Etikettierung ‚asozial‘ bereits deutlich von sich ausgrenzt. Diese Zuschreibung wird von einer Reihe ‚klassischer‘ Komponenten begünstigt: viele Kinder, verrufene Wohngegend, Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Alkohol, lautstarker Streit, Handgreiflichkeiten, fremdgehende Eltern, unbeaufsichtigte Kinder u.a.m..

Was sich hier als Alltag ausbildet, ist einerseits gekennzeichnet durch eine allseits lauernde Explosibilität, die die drangvolle Enge der Lebensverhältnisse immer wieder mit Gewalt zu sprengen versucht. Der ‚große Knall‘ ist gewissermaßen an der Tagesordnung, ändert aber nichts Grundlegendes. Was sich demgegenüber ständig wandelt, ist die Ordnung des Tages. Unregelmäßigkeiten beherrschen in vielerlei Hinsicht das Bild: Wohnungen, Arbeitsstellen, Schulen, Bezugspersonen, Rhythmen des Schlafens und Aufstehens, des Essens, Arbeitens und Spielens, Normen des Erlaubten und Verbotenen werden häufig gewechselt.

Für die Kinder bedeutet das, mal können sie tun und lassen, was sie wollen, mal werden sie mit Gewalt dirigiert und eingeschränkt. In einem unberechenbaren Auf und Ab von Liebe und Hass und zwischen extremen Schwankungen des Bewegungsspielraumes (Verwahr-Losung) entwickeln die Kinder verschiedene Lösungsformen. Eine davon macht aus der Not der häuslichen Verhältnisse die (Un)-Tugend, frühzeitig selbständig zu werden. Ausreißen von Zuhause, Schulschwänzen, Umherstreunen mit Cliquen, Gelegenheitsarbeiten auf Jahrmärkten, Baustellen und Schiffen sind die typischen Bewegungen einer vagabundierenden Gestalt, die auf der Suche nach dem eigenen Weg langsam auf die sogenannten Abwege der Kriminalität gerät. Das ist ein mutiger Ausgriff auf die Welt der Großen und ihre verheißungsvollen Gestaltungsmöglichkeiten wie auch eine ängstliche Flucht vor einer kontinuierlichen Ausbildung elementarer Grundlagen des Lebens in der Kultur. In einer Art Subkultivierung ‚auf der Straße‘ erlangt das Seelische hier eine erstaunliche Frühreife und bleibt zugleich seltsam unterentwickelt.

Spätestens wenn die Polizei öfters nach Hause kommt, wenn Anzeigen erstattet werden und Gerichtsverhandlungen drohen, wird der Lauf der Dinge der Familie wie auch der Kultur nicht geheuer. Beide versuchen eine Rückkehr in die alte, ‚behütende‘ Einheit zu erzwingen, doch restriktive Hausarreste oder gutgemeinte Appelle an Vernunft und Einsicht fruchten wenig. Die angelaufene Entwicklung will sich weder einsperren noch belehren lassen, zumal sie auch schon – nicht zuletzt durch die staatliche Verfolgung – einen gewissen Stolz auf ihre kriminellen Produktionskünste gewonnen hat. So kommt es zu einer zornigen Ausgliederung dessen, was in seiner Schwererziehbarkeit immer mehr zum ‚schwarzen Schaf‘ der Familie wird. Die nun zuständigen Jugendanstalten verstehen schon, wo die Nacherziehung anzusetzen hat, indem sie sich bemühen, über eine rigide Tagesorganisation für Struktur und Halt zu sorgen. Das misslingt zumeist, da die strenge Hausordnung mit ihrem festen Rhythmus von Schlafen, Essen, Lernen und Freizeit kaum mehr als eine fromme Kulisse für die Umtriebigkeit ist, die dahinter brodelt. Die Macht des gemeinsamen Schicksals schafft zudem unter den Zöglingen starke Untergrund-Einheiten, die sich gegen sozialpädagogische Einwirkungsversuche resistent zu machen wissen.

Es ist jedoch nicht so, dass der Entwurf eines ‚ordentlichen Lebens‘ hier gar keine Attraktivität besäße. So gibt es immer wieder Anläufe in diese Richtung wie die Wiederaufnahme des Schulbesuchs, den Beginn einer Lehre, die Pflichtzeit bei der Bundeswehr oder das Heiraten und Gründen einer Familie. Früher oder später scheitern solche Ansätze meist daran, dass der Alltag dieser Lebensformen als unvertraut und überfordernd, aber auch als zu unbewegt und fade erlebt wird. Die Sehnsucht nach einem ganz anderen Alltag mit abenteuerlichen Experimenten, reichen Gestaltungsmitteln und exzessiven sinnlichen Erfahrungen breitet sich zunehmend aus. Rebellionen gegen Autoritätspersonen und Auflösungen von Liebesbeziehungen sorgen in der Folge dafür, dass sich Seelische immer weiter von konventionell richtungsgebenden und bindenden Einheiten entfernt.

Langsam beginnt die eigentliche ‚Knastkarriere‘. Die Delikte häufen sich und mit etwas zeitlicher Verzögerung häufen sich auch die Haftstrafen. Sie werden mit jedem neuen Delikt länger, da die Gerichte hier zunehmend etwas ‚Unverbesserliches‘ am Werk sehen, dem sie eine Entwicklung ‚auf Bewährung‘ immer weniger zubilligen wollen. Nicht selten haben 25-Jährige bereits 5 Jahre hinter Gittern verbracht, stehen vor einem rieseigen Schuldenberg aus Regressforderungen Geschädigter oder Vernachlässigter und träumen von einem Schlussstrich und Neuanfang. Im Zuge von Resozialisierungsmaßnahmen werden wiederholte Versuche unternommen, Entziehungskuren zu machen, die gravierenden schulischen Mängel zu beheben, Berufsausbildungen in Gang zu bringen, Arbeitsstellen zu finden, familiäre Bindungen wieder aufzubauen. Von Ausnahmen abgesehen, sind diese Bemühungen nur so lange halbwegs erfolgreich, wie sie im Gefängnis stattfinden. Mit der Entlassung schwindet der Sinn für solch solide Unternehmungen sehr rasch, während ein anderer, ‚freierer‘ Sinn der Tagesgestaltung sich zusehends wieder durchsetzt. Im rauschartigen Nachholen des im Gefängnis Vermissten und Verpassten gehen alle guten Vorsätze und alles zuvor Erarbeitete nicht selten schon in einer durchzechten Nacht unter.

Straftäter mittleren Alters haben in der Regel eine solch tiefgreifende Lebensuntüchtigkeit entwickelt – zumindest in Bezug auf die offiziellen Anforderungen der Kultur -, dass sie entweder massive finanzielle und betreuerische Lebenshilfe von staatlichen und karitativen Einrichtungen in Anspruch nehmen oder ‚untertauchen‘ müssen. Das ist dann eine Rückkehr in jene kriminellen Kreise, die wie eine Familie schon auf den verlorenen Sohn warten. Schutz, Versorgung und Einbindung gibt es aber auch hier nur auf Zeit und nur auf Kredit. Der Druck, gut ‚arbeiten‘ zu müssen, ist da genauso hoch – für manche bereits zu hoch. Je älter der Delinquent wird, desto deutlicher zeigt sich, wohin es ihn – entgegen eigener Bekundungen – letztlich treibt: nämlich ins Gefängnis. Dies ist die Stelle, die ihn vor der fremden, komplizierten und überfordernden Welt draußen am sichersten bewahrt. Hier kennt man ihn, und auch er kennt sich aus, braucht nicht zu arbeiten und wird doch versorgt. Auch wenn die Justizvollzugsanstalt alles andere als ein idyllisches Refugium ist, so wird doch eine geheime Bequemlichkeit spürbar, sich hier dauerhaft einzurichten und auszuruhen.

III. Das bisher Beschriebene lässt zwei Bewegungslinien hervortreten, die sich auf eigentümliche Weise miteinander verbinden. Die eine wird durch die Stichworte der frühen Selbständigkeit und Schwererziehbarkeit, des Unbelehrbaren und Unverbesserlichen markiert. Sie lässt erkennen, wie das Seelische hier daran arbeitet, sich in zunehmendem Maße unbehandelbar zu machen. Das richtet sich in Flucht oder Revolte zunächst gegen die Eltern, dann gegen Lehrer, Erzieher, Ausbilder, schließlich gegen Polizei, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Lebenspartnerinnen und eigene Kinder – kurz gegen alles, was an der Kultivierung des Seelischen im herkömmlichen Sinne mitwirkt und seine Einbindung in die üblichen Einheiten befördert. In anderen Einheiten hingegen zeigt sich eine außerordentlich hohe Beeinflussbarkeit: Einwirkungen des ‚Milieus‘ oder der ‚kriminellen Szene‘ steht man scheinbar machtlos gegenüber. Doch die rechtfertigende Rede von der Verführung durch ‚schlechten Umgang‘ oder ‚falsche Freunde‘ verdeckt meist, dass solch ‚verkehrte‘ Behandlungsformen auch gerne zugelassen wurden.

Entlang der Stichworte des Asozialen, der Subkultivierung und Lebensuntüchtigkeit deutet sich eine zweite Bewegungslinie an. Ihre Logik ist gekennzeichnet durch eine anwachsende Alltagsentfremdung. Das Seelische entfernt sich früh von einem explosiblen Familienalltag und begibt sich auf eine sonderbare Reise, die dieselbe verstörend-erregende Erfahrung nun in anderen ‚unalltäglichen‘ Formen zu wiederholen und zu steigern versucht. Bei dieser Suche gehen jene Formen verloren oder werden gar nicht erst ausgebildet, mit denen der ‚normale‘ Alltag in der Kultur bewerkstelligt wird: Schulbesuch, Behördengänge, Steuererklärung, Führerscheinprüfung, Haushaltsführung, familiäres Zusammenleben. Sie werden als Banalitäten heruntergespielt, erscheinen tatsächlich aber wie riesige Titanenaufgaben, die nicht zu bewältigen sind. Eine Art Alltags-Analphabetismus macht sich breit. Die Ausbildung einer haltenden Alltagsstruktur wird auch dadurch erschwert, dass alle Dramatik ausgelagert wird auf die Durchführung verbotener Experimente mit Wirklichkeit. Dass Überschreiten kulturell vorgegebener Bewegungsgrenzen in Gesetzesbrüchen scheint ein Kitzel zu sein, der süchtig macht nach immer weiteren, extraordinären Mut- und Kostproben und zugleich den Geschmack an gewöhnlichen Mitbewegungen immer mehr verdirbt. Der Alltag verliert auf diese Weise seine entwicklungsträchtigen Lebensqualitäten – er wird gleichsam kaltgemacht.

Im Zusammenspiel beider Bewegungslinien – sich unbehandelbar machen und sich vom Alltag entfernen – bringt sich das Seelische in eine Verfassung, die im Bild des Gefängnisses gut zu kennzeichnen ist. Das Gefängnis kann angesehen werden als hochartifizielle Konstruktion, Seelisches durch Aussperrung des Alltages einzusperren. Selbstverständlich gibt es auch einen Alltag im Knast, doch kann er hier nur als etwas Verkehrtes funktionieren. Ihm ist nahezu alles abgenommen, was ihn draußen zum All-Tag machen kann. Die Vielfalt der Formen und ihrer Umstellungsmöglichkeiten ist auf ein Minimum reduziert. Was bleibt, ist dann nur noch ein unverrückbarer Rahmen, der dem Seelischen kaum mehr erlaubt, zu experimentieren, neue Erfahrungen zu machen und sich selbst zu verstehen – es sei denn wiederum in verbotenen Aktivitäten. Wer Justizvollzugsanstalten kennt, weiß, dass es im Untergrund dieser stillgelegten Welt eine rege Umtriebigkeit gibt im geheimen Kommunizieren, Organisieren, Intrigieren, im Tauschen, Kaufen, Klauen, im Streiten und Lieben. Hier im Verborgenen unter dem Kitzel des Ertappt-Werdens kann ein unheimliches Alltagsgetriebe zu seltsamer Blüte gelangen.

Der ‚Witz‘ der Gefängniskonstruktion besteht nun darin, dass sie etwas ist, das von der kriminellen Wirklichkeitsbehandlung selbst hergestellt wird. Sie ist also nicht nur eine äußere Zwangsmaßnahme der Kultur, sondern auch eine gut darin versteckte Eigenproduktion des Seelischen: Es muss sich gewissermaßen selbst einsperren, um seinen Entwicklungskreis vor dem Austausch mit Alltag zu schützen. Solange das gelingt, kann es sich seine Unbehandelbarkeit durch Fremdes erhalten und bleiben wie es ist. Dieses konservative Interesse kann in Justizvollzugsanstalten besser als irgendwo sonst verfolgt werden, selbst wenn es dort das Angebot zu einer psychologischen Betreuung gibt. Diese braucht nicht gefürchtet zu werden, da sie hier selbst durch eingesperrte Entwicklungsmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Der fehlende Alltagsbezug im Gefängnis entzieht der psychologischen Behandlung die gemeinsame Erfahrungs- und Verständigungsebene, ihren wirksamsten Modellierungsraum. Sie hätte eine Chance, wenn sie zumindest an die Untergrundaktivitäten als ‚vergrabenes Alltagsleben‘ herankäme, doch ist dieser Zugang durch das Tabu des Verrats verschlossen. Das Dichthalten aus ‚Ganovenehre‘ hat vor allem den Sinn, jene geheimen Formen des Bestimmt-Werdens durch den eigenen Kulturkreis (Straßen-, Heimund Gefängnis-Wahlverwandtschaften) zu schützen.

Dieser abgespaltenen Nebenbehandlung verdankt das Seelische hier nicht nur seine Immunität gegen die offiziellen Fremdbehandlungen inclusive Psychotherapien, sondern auch jenen Spielraum, denn es trotz aller Einengung lebensnotwendig braucht. Dass die Bewegungen in diesem Spielraum auf Abwege und sie wiederum ins Gefängnis führen – der bekannte Teufelskreis also -, ist aus Sicht der Konstruktion weniger ein Verfehlen als eine Art Aufgehen des Plans. Ein paradoxer Vorgang, auf den schon die Psychoanalyse aufmerksam machte, indem sie hier die Befriedigung eines unbewussten ‚Strafbedürfnisses‘ am Werk sah.

IV. Die Entwicklung der Delinquenz kann einerseits deutlich machen, wie sich Alltagsbezug und Behandelbarkeit gegenseitig bedingen. Es zeigt sich aber auch, wie dieses Verhältnis nicht allein in sich begründet ist, sondern mitbestimmt wird durch eine dritte übergeordnete Bezugsgröße: die Kultur und ihre vereinheitlichende Normen. Alltag und Behandlung sind Formen, in denen die Kultivierung des Seelischen ‚normalerweise‘ ins Werk gesetzt wird. Daher muss es Konsequenzen haben, wenn sich hier etwas in der Kultur vom Alltag entfernt und unbehandelbar macht. Das lässt sich als Verweigerung der herrschenden Kultivierungsrichtung ansehen, genauso aber auch als Aufsuchen einer anderen, vielleicht freieren Kultivierungsrichtung. Das ‚schwarze Schaf‘, von dem so häufig in kriminellen Lebensläufen die Rede ist, kann als Bild verstanden werden für den schon frühen Entwurf eines Anders-Seins. Dass dieser Befreiungsversuch von seltsamen Zwängen begleitet wird, widerspricht nicht der Möglichkeit und dem psychologischen Eigenrecht einer vielleicht anders gearteten Wirklichkeitsbehandlung. Indem die Kultur Delinquenz verurteilt und bestraft, wehrt sie sich ihrerseits gegen eine Behandlung durch das Kriminelle. Diese Abwehr müsste sich – etwa bei einer Supervision – auch in der Arbeit von Psychotherapeuten aufweisen lassen. Es ist zu vermuten, dass sie ebenso damit kämpfen ‚dichtzuhalten‘, um die eigene Kultur nicht zu ‚verraten‘. Das beträfe Setzungen, die das Kriminelle zu etwas gefährlich Anormalen machen genauso wie die geheime Faszination an verbrecherischen Möglichkeiten. Krimis haben in unserer Kultur ja Hochkonjunktur.

Ein analoger Abwehrmechanismus würde hier also die Wirksamkeit der Therapie von beiden Seiten her beeinträchtigen: Das gegenseitige Fremdhalten könnte das gemeinsame Behandlungswerk zu einer Art verborgenen Kulturkampf mit Verführungs- und Missionierungsversuchen verkehren. Das bekannte Ergebnis davon wäre, dass sich weder Straftäter noch Therapeut strukturell verändern. Zwischen der Angst vor Normalisierung und der Angst vor Kriminalisierung könnte hier so etwas wie ‚Verwandlungsmauer‘ deutlich werden, die die jeweiligen Entwicklungsmöglichkeiten wirksamer einsperrt als die dicksten Gefängnisgitter. Der gutgemeinte Anspruch der Psychologie, nichts Menschliches sei ihr fremd, erscheint von daher etwas verwegen – oder selbstverkennend.

V. Es war nicht die Absicht dieses Beitrages, die Konstruktion einer Spielart der männlichen Delinquenz in ihrer Breite und Tiefe darzulegen. Das wurde an anderer Stelle im Austausch mit dem Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ versucht. Vielmehr sollte ein bestimmter Aspekt im Verhältnis von Alltag, Behandlung und Kultur thematisiert werden. Dabei zeigt sich, dass die Wirksamkeit psychologischer Behandlung entscheidend mitdeterminiert wird von übergreifenden Bedingungen, deren ‚Selbstverständlichkeit‘ zuweilen ihre Bedeutung überdeckt. Das Gelingen einer psychologischen Behandlung scheint demnach nicht nur von der Art und Schwere seelischer Störungen, von den spezifischen Möglichkeiten verschiedener Therapiekonzepte oder vom Können einzelner Therapeuten abhängig zu sein, sondern auch vom Maß an Alltagsbezug und Kultivierungsverwandtschaft, das im gemeinsamen Behandlungswerk vorhanden ist. Dieses Maß wird vom jetzigen Strafvollzug systematisch herabgesetzt. Das ist – wenn man so will – ein aufwändiges Experiment der Kultur zu der Frage: Was geschieht, wenn der Alltag aus der Wirklichkeit entfernt wird? Die altbekannte, nun aber vielleicht neu zu verstehende Antwort lautet: Es wird kriminell.

Literatur:

Salber, W. (1988): Morphologie von Leserbriefen. In: Zwischenschritte 1988/1

Domke, W. (1988): Der von der Seele geschriebene Kummer. In: Zwischenschritte 1988/1

Domke, W. (1989): Kriminelles Leben – Eine Gestalt zum Fürchten. In: Zwischenschritte 1989/2

Schöpfungsspirale des Alltags – die Woche (2013)

Die Schöpfungsgeschichte der Welt - wie die Bibel sie beschreibt - dauerte eine Woche. Erstaunlich lange, denn zum Beweis göttlicher Schöpfungsgewalt wäre doch eine Welterschaffung ‚auf einen Schlag‘ womöglich imposanter gewesen. Aber wenn selbst göttliche Werke sieben Tage brauchen, bis sie zur Ruhe kommen und Wohlgefallen an ihrem - vorläufigen - Ergebnis finden, dann darf dieses Maß wohl auch für unsere menschlichen Werke gelten. Nach Untersuchungen der rheingold Akademie im Kurs 2007-09 tut es das auch. Aus psychologischer Sicht ist jede Woche eine ganze Weltschöpfung. Ihre Tage sind jedoch nicht sich aufsummierende Einzelteile, sondern verschiedene Versionen oder Wendungen dieses Ganzen. Die Woche ist eine zyklische „Schöpfungsspirale“ (W. Salber), die einer uralten und immer wieder neuen Dramaturgie des Werdens folgt. Sie gibt der ständig ablaufenden Aktualgenese des Alltaglebens mehr Gliederungshilfen und Platzanweisungen, als uns üblicher Weise bewusst wird.

So wissen wir nicht - oder wollen es nicht wissen - dass die Woche bereits am Sonntag beginnt. Und zwar nicht erst in den Bauchschmerzen, die der kommende Montag mit seinen Werkpflichten bereits vorsorglich machen kann. Nein, der Wochenbeginn liegt schon da, wo der Sonntag es tatsächlich einmal schafft, den seelischen Betrieb wirkungsvoll zur Ruhe zu bringen und seine vielfältigen Bewegungsdränge für einen kurzen Augenblick still zu legen. Konnte man diesen kostbaren Augenblick eben noch zufrieden genießen, so bringt die aufkommende Stille nun bald etwas vermeintlich ganz Unpassendes zu Tage: die - auch beängstigende - Unruhe des Seelischen. Gerade als sie glücklich überwunden schien, da taucht sie bereits wieder auf als spürbar treibendes Moment der Gestaltverwandlung. Das zeigt den paradoxen Charakter dieses besonderen Tages: Er ist immer Totensonntag und Geburtstag, Erschöpfung des Ganzen und seine Neuschöpfung in einem.

Auf dem Hintergrund dieser Paradoxie wird verständlich, warum der jeweils neue „Tatort“ im Fernsehen am Sonntagabend so treffend platziert ist. Der Tag, der alle Werktätigkeiten erholsam ruhen lassen möchte, sehnt sich bald schon wieder nach frischen Taten. Ein Tatendrang, der am Montagmorgen dann merkwürdiger Weise kaum noch zu erkennen ist. Der Montag präsentiert sich nämlich am liebsten muffelig: Demonstrativ ächzt er unter der Schwere allen Anfanges. Seine Übellaunigkeit rührt aber auch von der noch spürbaren Nähe zu den Ganzqualitäten des zurückliegenden Ruhetages. Der Sonntag eröffnete reizvoll andere Möglichkeiten seelischer Selbstbehandlung: Während des ausgedehnten Frühstücks, in der Messe oder beim Spazierengehen beschäftigte man sich gerne mit Resten dessen, was von der zurückliegenden Woche übrig blieb. Alles Formen des Innehaltens, bei denen ‚Gott und die Welt‘ bewegt werden kann, um sich selbst etwas besser zu verstehen.

Wehmütig hängt der Montag dieser traumartigen Selbstbezüglichkeit, Weite des Sehens und Tiefe des Verstehens nach und leidet unter der Wiedereinzwängung in gewohnte Räderwerke und monotone Rhythmen des Arbeitens. Der offen zur Schau getragene Montagsjammer verbirgt jedoch, was man von den wieder aufgenommenen Arbeitsritualen auch hat: Sie helfen, Pflöcke einzuschlagen und Nägel mit Köpfen zu machen. So kuppelt der Montag wieder ein, was der Sonntag erholsam ausgekuppelt hatte; entwirft eine verpflichtende Gestaltungsrichtung, und bringt so die Figuration der Arbeitswoche auf den Weg und in Gang. Die Kehrseite dieser Mobilmachung kommt am Abend des ersten Werktages wieder als eigentümliches Ressentiment zum Ausdruck. Der ganze Seelenbetrieb mit seinen widersprüchlichen Tendenzen fühlt sich im schwerfällig anfahrenden Zug der beginnenden Woche widerwillig eingesperrt und sucht nach hilfreichen Anwälten für zu kurz gekommene oder verdrängte Lebensinteressen. Die Fernsehserien „Hinter Gittern“ und „Danni Lowinski“ geben dieser Montagabendbefindlichkeit eine dramatisierte Fassung.

Im Dienstag gibt sich das Ganze eine andere Wendung. Die Wochen-Entwicklung ist schon weit genug weg von den Sonntagsqualitäten, um noch vom Blaumachen zu träumen; vielmehr geht ihr darum, sich werktätig fort zu setzen. Das heißt sowohl weiterführen, was montags anlief, als auch, es in anderes hinein zu verrücken. Der psychologische Zusammenhang der Tage ist keine lineare Perlenschnur, sondern eine täglich – und nächtlich - sich umbrechende Seelencollage. So bringt sie heraus, was im Wochenganzen drin ist, und arbeitet ein, was noch außen vor liegt. Der Dienstag tut dies in der Regel zügig und still. So still, dass er manchmal kaum als etwas Eigenes wahrgenommen wird. Als Erfüllungsgehilfe der Arbeitswoche ist er auf diese Weise am wirkungsvollsten. Zuweilen findet er aber so viel Geschmack an seinem ‚Arbeitsdienst‘, dass er die Woche ganz in diesem Sinne bestimmen will. Darin liegt der Keim zu jenen Besessenheiten des Durcharbeitens, die keinen Feierabend und keinen Sonntag mehr kennen wollen. Sie bewältigen ein unheimliches Arbeitspensum, aber überwältigen auch alle anderen Wochenqualitäten, unterwerfen sie ihrem Diktat und machen sie gleich. Es herrscht dann ein einziger, ewig verkaufsoffener ‚Dienst-Tag‘.

Der Mittwoch hält dagegen, indem er eine Art Richtfest der Woche veranstaltet. Das sich aufbauende ‚Haus‘ der Woche hat es bis zum Dach gebracht und fühlt sich auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Die Konstruktion des Ganzen wird hier sichtbar, aber vieles ist noch nacktes Gerüst, braucht eine ansehnliche Verkleidung und weitere Innenausstattung, um schließlich eine gute, wohnliche Wochenend-Gestalt zu werden. Mit einem ersten Anflug von Werkstolz geht der Blick aber auch zurück auf das bisher Erreichte, Vollbrachte und Kultivierte. Entwicklung hat immer diese entgegengesetzten Blickrichtungen, aber im Mittwoch wird das Janusköpfige des Wochenganzen besonders deutlich.

Im Donnerstag zeigen sich die Konsequenzen aus der Zwischenbilanzierung des Vortages.: Man weiß, wo noch Unvollkommenes und Handlungsbedarf ist, hat spürbar noch Raum zum Gestalten, aber auch die Grenzen des Machbaren deuten sich bereits an. Ein eigentümlicher Countdown wird eingeläutet, der noch etwas herausbringen möchte in

und aus der Arbeitswoche. So teilt sich dieser Tag gerne in Pflicht- und Kürübungen. Anstehende Aufgaben und Termine werden Stück für Stück so ‚abgearbeitet‘, als würde man jedes Mal Ballast abwerfen. Eine befreiende Wirkung, die am Donnerstagabend schon Vorläufer einer wochenendlichen Unternehmungslust aufkommen lässt. Dazu passen die neuen Filmangebote, die Kinos dann traditionell machen. Das Wochenganze bereitet hier einen Figurationswechsel vor in freiere, spielerische Entwicklungen.

„Friday on my mind“, ein Welthit aus den sechziger Jahren, lässt die erregende Zugkraft dieses Tages anklingen: als hätte von Montag an alles nur auf ihn hinarbeitet. Vormittags ist auch hier noch das Joch weitgehend fremdbestimmt erlebter Beschäftigungsverhältnisse spürbar. Aber eben auch schon die langsame Befreiung vom harten Formzwang der Arbeitswoche mit ihren kickoffs und deadlines. Im Schlussspurt werden noch letzte Amtshandlungen vorgenommen, die leicht von der Hand gehen. Viele haben ab Mittag frei und wünschen sich gut gelaunt ‚schönes Wochenende‘. Das ist der Alltagsname der Nebenfiguration, die nun immer mehr zur Hauptsache wird. Selbstbestimmtes drängt am Frei-Tag darauf, sich nun endlich ausbreiten zu dürfen. Man kann abends ausgehen und die Nacht zum Tage machen, doch alleine die Aussicht auf großzügigen Freiraum wirkt schon beflügelnd. Wer zuhause bleibt und fernsieht, verabschiedet sich mit Hilfe der „heute show“ vom anstrengenden Ernst der Arbeitswoche. Genauso erfolgreich war an dieser Übergangsstelle vor einigen Jahren eine Sendung, die den innigen Bezug zur Woche sogar im Namen trug: „Sieben Tage, sieben Köpfe“.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Samstag als lang ersehnter freier Tag gerne mit allen möglichen Tätigkeiten und Unternehmungen vollgepackt wird. Zwar beginnt er noch mit längerem Ausschlafen und Frühstücken, aber dann ergreift ihn nach und nach ein eigentümlicher Arbeitseifer. Nun jedoch unter anderen Vorzeichen: alles steht im Dienste des eigenen Familienbetriebes. Der blieb werktags mehr oder minder im Hintergrund, und wird nun vehement auf Vordermann gebracht mit aufräumen, putzen, einkaufen, waschen. Im Idealfall helfen hier alle mit in einem gemeinsamen Werk, bei dem es jedoch keineswegs nur entspannt zugeht: Auch hier gibt es interne Konkurrenzen und Interessenkonflikte. Erholung bedeutet psychologisch nicht Müßiggang in heiler Welt, sondern erwächst aus dem befreienden Stellenwechsel rivalisierender Seelenverhältnisse. Das Fernsehen trägt dem am Samstagabend Rechnung, indem es Groß und Klein in einem spielerischen Wettbewerb zusammen auf eine Riesencouch bringt: „Wetten, dass“ war hier lange der Prototyp eines für die ganze Familie passenden Unterhaltungsangebotes.

Dieses Zusammenbringen der uneinheitlichen Seeleneinheit ist insgesamt die Herkulesaufgabe der Wochenentwicklung. Hier im Übergang zum Sonntag spitzt sie sich zu, denn nun geht es wieder ausdrücklich um das Ganze. Und wieder ist viel seelische Behandlungskunst gefragt, um entweder den Blick auf den universalen All-Tag im Alltäglichen freizulegen oder in eine bittersüße Sonntagsneurose zu versinken. Beides sind gängige Antworten auf die paradox ungeschlossene Geschlossenheit unserer wöchentlichen Schöpfungsspiralen.

Spielplatz seelischer Kleinkriege - ‚Mensch ärgere dich nicht‘ (2017)

Vor gut hundert Jahren – mitten im ersten Weltkrieg – begann die bis heute andauernde Erfolgsgeschichte eines Spiels, das genau umgekehrt wirkt wie es heißt: Mensch ärgere dich nicht. Dabei war es zunächst ein Ladenhüter. Sein Erfinder J.F. Schmidt hatte verschiedene Vorläuferspiele, u.a. das 2000 Jahre alte indische Pachisi und das englische Ludo, einerseits vereinfacht, andererseits durch die Möglichkeit zum Hinauswerfen erweitert. Im Familienkreis mit seinen drei Söhnen kam das neue Spiel gut an, aber draußen ließ es sich zunächst nicht verkaufen. Nach Kriegsbeginn kam er auf die Idee, die auf Halde liegenden Spiele den kämpfenden Soldaten als jene „Liebesgabe“ zu spenden, zu der überall öffentlich aufgerufen wurde. In den überfüllten Lazaretten gelang dann bald der Durchbruch: Zunächst nahmen es die Soldaten ‚auf breiter Front‘ an und nach Kriegsende auch die Zivilisten. Bis zum Jahre 1920 war die erste Million des Spiels abgesetzt, viele weitere folgten und noch heute werden jährlich einige hunderttausend Exemplare bei uns und in anderen Ländern verkauft.

Was ist das Erfolgsgeheimnis dieses Spiels? In allen Berichten, die sich mit seiner Geschichte befassen, spielt der ‚Kriegseintritt‘ eine wichtige Rolle. Aber was für eine Rolle ist das? Zu kurz gegriffen erscheint die oft angeführte Erklärung, Mensch ärgere dich nicht habe gut gegen die Langeweile in den Lazaretten geholfen. Soll Langeweile damals tatsächlich das seelische Hauptproblem der vielen kampfversehrten Menschen gewesen sein und gab es dagegen nicht schon genug Unterhaltungsangebote? Fanden die Soldaten damals Ablenkung vom Kriegsgeschehen in dem Spiel oder passte es womöglich deshalb so gut, weil es selbst eine Art Kriegsspiel ist? Fragen, die aus heutiger Sicht natürlich schwer zu beantworten sind. Was sich heute aber beim Spielen immer noch leicht feststellen lässt: Mensch ärgere dich nicht hat eine sehr konfliktträchtige Wirkungsstruktur. Sie führt uns auf einen riskanten Weg zwischen zwei sicheren Häusern und erzwingt einen Kampf aller gegen alle um das eigene Durchkommen. So versetzt uns das Spiel im Handumdrehen in eine Thomas-Hobbes-Welt, wo der Mensch dem Menschen zum Wolf wird und jeder jeden jederzeit kriegen, also ‚fressen‘ kann.

Wenn es dabei auch nur sehr selten zu körperlichen Verletzungen oder gar tödlichen Konsequenzen kommt, die seelischen ‚Verheerungen‘, die das Spiel anrichten kann, kennen die meisten von uns wohl aus eigener Erfahrung. Besonders bei Kindern zeigen sich oft noch jene wütenden Verwerfungen des ganzen Spiels, die seine psychologische Sprengkraft eindrucksvoll belegen. Das legt den Gedanken nahe, Mensch ärgere dich nicht habe sich bei seinem Durchbruch als eine Art gestaltanaloger Behandlung der damaligen Kriegsverfassung angeboten. Die ‚Liebesgabe‘ bestand womöglich darin, ein umfassendes und unfassbares martialisches Geschehen, in das Soldaten als Täter und Opfer verwickelt waren, gleichsam mit kleinen Besetzungen nachspielen und sich dabei ein Stück weit verfügbar machen zu können. Diese Wirkungsstruktur von Fressen und Gefressen-Werden, Hinauswerfen und Durchkommen in wiederholten Anläufen war es vielleicht, die das Spiel damals so schnell zum Renner machte. Sie entfesselt vehemente Seelenkräfte und zwingt zugleich zu deren Beherrschung.

Drehpunkt dieser vehementen Seelenkräfte ist bei Mensch ärgere dich nicht offenkundig das Hinauswerfen. Wie wir alle wissen, kann uns das sehr böse machen. Obwohl die Spielregel dazu zwingt, erleben wir es als aggressiven Eingriff in die ‚durchgehende‘ Linie unseres Spiellaufes und als feindselige Zerstörung des bisher Erreichten. Aus morphologischer Sicht sind hier dennoch nicht allein ‚böse‘ Kräfte am Werk, nur weil sie zerstörerisch oder aggressiv sind. Zerstören lässt sich allgemein als Hinweis auf Umbildungsprozesse verstehen, die überall da am Werk sind, wo alte Gestaltzusammenhänge in neue übergehen. Das ist zum Beispiel in jedem Tageslauf bei den vielen Wechseln unserer Stundenwelten der Fall. Wir kommen morgens nur aus dem Bett und in den Tag, wenn wir die Schlaf- und Traumverfassung ‚zerstören‘ können. Meist gelingt uns das nur mit Hilfe eines Weckers und seinen aggressiven Verlautbarungen.

Aber auch das Aggressive verliert schnell seinen schlechten Ruf, wenn man sich den ursprünglichen Wortsinn vor Augen hält: angehen, anpacken oder angreifen. Das sind zunächst einmal Hinweise auf grundlegende Einwirkungsqualitäten des Seelischen. Sie helfen entscheidend dabei, die Aufgaben und Projekte unserer Tageswerke ‚in Angriff‘ nehmen. Fehlen solche destruktiven und aggressiven Qualitäten bei Mensch ärgere dich nicht, fühlen wir uns vielleicht als bessere, friedvolle Menschen, das Spiel leidet aber sichtlich unter dieser Mangelerscheinung.

Von Heraklit stammt der Satz vom Krieg als „Vater aller Dinge“. Eine immer noch provozierende Aussage, denn kaum jemand macht sich wohl gern zum Fürsprecher dieses ungeheuren Umbildungsprozesses, der so viel Leid und Schrecken über die Menschen bringt. Wir sind eher gewohnt, den Krieg als Vernichter aller Dinge anzusehen – und sollen ihn nun als Erzeuger, Schöpfer begreifen? Erstaunlicher Weise verliert auch der Krieg etwas an Schrecken, sobald man den Allerweltsprozess ‚kriegen‘ darin ausmacht. Nach Duden lautet die ursprüngliche Wortbedeutung von ‚kriegen‘: etwas durch Krieg bekommen. Was zunächst tautologisch klingt, macht psychologisch durchaus Sinn und lässt sich etwa im Filmerleben gut beobachten. Wir erkennen sich anbahnende Liebesentwicklungen meist schon frühzeitig daran, dass die Protagonisten sich als betont unversöhnlich-feindliche Gegensätze konfrontieren. Genau das macht uns sicher: ‚die kriegen sich‘. Der Krieg der Geschlechter ist hier also tatsächlich ‚Vater‘ aller späteren Liebesdinge.

Wenn wir nun – zurück zu Mensch ärgere dich nicht - ein gegnerisches Figürchen kurz vor dem Ziel kr iegen, dann liegen Untat (für den Mitspieler) und Wohltat (für uns) ganz nah beieinander. Genauso nah beieinander liegen hier aggressive Einwirkung und beruhigende Aneignung, denn mit dem Rauswerfen des Vorauseilenden geht auch ein Einholen, Einsacken, Zurückholen des Anderen einher. Aus dessen Sicht ist das natürlich eine zerstörerische Umbildung seiner kurz vor Schließung stehenden Gestaltentwicklung. Und das kann sich alles wieder drehen, wenn wir selbst die Eingefangenen und Herausgeworfenen sind.

So entsteht und vollzieht sich das eigenartige Seelendrama bei Mensch ärgere dich nicht: Ein ständiges Vor-und-Zurück von Erhalten und Verändern, Tun und Getan-Werden, Wegwollen und Ankommen, Abwägen und Setzen, Sich-Ausbreiten und Zusammenziehen. Und das Ganze reguliert sich durch einen banalen Schicksalswürfel, der dem Durchkommen Flügel verleihen, es aber genauso zu nervenaufreibendem Schneckentempo, qualvollen Wartezeiten oder beschwerlichen Neuanfängen zwingen kann. Wir haben den Spielwürfel immer wieder selbst in der Hand, unser Spielglück aber nur sehr bedingt. Und vielleicht ist es das, was an Mensch ärgere dich nicht auch heute noch so anziehend wirkt: Dass es dem ungeheuren Seelengewoge des Kriegens, also der Aneignung durch Auseinandersetzung, einen übersichtlich verkleinerten Spielplatz anbietet, wo sich die Grundverhältnisse seelischen Überlebens etwas geheurer austragen lassen.

Die Spielfassung für 6 Personen ist übrigens als Hexagramm angeordnet. Und wie in der Morphologie spielt sich das Wesentliche nicht in den sechs Ecken ab sondern dazwischen. Die sechs Ecken sind lediglich verschiedene Unruheherde, von denen es mit aller Macht in den Spielbetrieb hinein drängt. Das lässt sich gut beobachten, wenn man eine Zeit lang vergebens und mit zunehmender Verzweiflung um die Eintrittssechs gewürfelt hat. Das Nicht-zum-Zuge-Kommen von Spieler oder Grundtendenzen ist hier wie da nur sehr schwer auszuhalten. Sind dann endlich alle miteinander unterwegs, dann vermag ein schlichtes Brettspiel wie dieses besonders anschaulich zu machen, welch ein Sortengemisch, Gewusel und Gedränge im seelischen Geschehen herrscht. Die verschiedenen Wirksamkeiten begleiten, verfolgen, bekämpfen, behindern, verdrängen - und kriegen sich - in Hass und Liebe. Das Spiel erlaubt wölfische Freuden seelischer Dekultivierung und wirkt zugleich als harmloses Hilfsmittel menschlicher Zivilisierung. Das alles sicher in vereinfachter Weise, aber mit bemerkenswert existenzieller und paradoxer Ansprache: Mensch, ärgere dich nicht!

Kleiner Rückblick auf den Rück-Blick (2017)

Zwei Engel, als fremde Besucher in Erscheinung tretend, führen Lot und seine Familie aus den brennenden Städten von Sodom und Gomorra heraus. Bedingung für die Rettung der ‚einzigen Gerechten‘ aus diesem eigentümlich abgeschotteten Sündenpfuhl: sie dürfen sich nicht umdrehen und zurücksehen. Lots Frau tut es dennoch und erstarrt zur Salzsäule. Lot und seine beiden Töchter gehen weiter und überleben. Die alte biblische Geschichte lässt sich noch immer lesen wie ein abschreckendes Mahnmal für die Risiken des Rück-Blickes im Leben, doch was ist daran so gefährlich? Die Frage ließe sich stellen etwa in Anbetracht der vielen Jahresrückblicke, die von den Medien regelmäßig in der Vorweihnachtszeit veranstaltet werden. Hier soll ihr aber nachgegangen werden anhand eines kleinen Alltagsgegenstandes, mit dem jedes Auto als Beihilfe für sicheres Fahren ausgestattet ist: den Rückspiegel.

Was sehen wir im Rückspiegel? Wir sehen unser Herkommen, das wir immer mehr zurücklassen; einiges verschwindet langsam aus unseren Augen, anderes bleibt noch etwas in Sicht. So ist es auch ein Blick in unsere nähere Reisegeschichte, was wir in ihr erfahren haben und was inzwischen überholt ist. Aber unsere Vergangenheit ruht nicht, auch sie ist in Bewegung; mal entfernt sie sich bis zur Unkenntlichkeit, mal kommt sie wieder näher, kann wieder auf uns stoßen. So gibt uns der Rückspiegel Einblick in die Dynamik des Zurückgelegten und Nachkommenden, was auch Konsequenzen für unsere Vorwärtsbewegung hat, für die Möglichkeit oder Notwendigkeit von Spurwechsel, Beschleunigungen und Abbremsungen. Bis hierhin lassen sich also wenig Anhaltspunkte dafür finden, dass der Rück-Blick eine Gefahr darstellt, eher im Gegenteil. Das ändert sich sofort, wenn man sich einmal vorstellt, der Rückspiegel würde anwachsen bis zur Größe der Frontscheibe des Autos. Natürlich könnten wir den Hinter-Grund unserer bewegten Fahrgestalt nun ungleich besser sehen; auch besser verstehen, wie sie wurde, was sie jetzt gerade ist, aber wir wären blind für das aktuell Bevorstehende und Entgegen-Kommende. Mit einem so ausgestatteten Auto könnte man wohl schwerlich fahren, und doch kommen Menschen in psychotherapeutische Behandlung, die genau das tun. Nicht mit dem Auto, sondern in ihrem Leben.

Als sei ein überdimensionierter Rückspiegel in ihre Seelenkonstruktion eingebaut, sehen sie bei allem, was der neue Tag ihnen bringt, über kurz oder lang immer nur zurück in ihre Vergangenheit. Und nicht etwa, weil dieser Rück-Blick ihnen ein schönes Bild ungetrübten Glückes zeigen würde. Nein, meistens schauen sie zurück auf eine leidvolle Vorgeschichte mit ungünstigen Voraussetzungen, schweren Schicksalsschlägen und verwehrten Entwicklungschancen. Das ist dann ihr ganz persönliches Sodom und Gomorra, das sie noch heute heftig beklagen, auf das sie aber zugleich wie hypnotisiert starren. Und in dieser eigenartigen Blickstarre beginnt bereits das, was sich im biblischen Bild dann zur Salzsäule verfestigt. Sie ist ein eindrucksvolles Mahnmal für seelisches Verkehrt-Halten, das psychologisch nicht so sehr in den ‚Sünden‘ der Vergangenheit besteht, sondern mehr in der Fixierung des Blickes auf die Vergangenheit. Wenn überhaupt, ist das die eigentliche ‚Sünde‘, weil sie offensichtlich die Macht hat, die voranschreitende Entwicklung des Seelischen anzuhalten und auf Dauer still stehen zu lassen. Ein Leben wie in einem surrealen Bild von Magritte: Hingestellt vor einen riesigen Spiegel, der verblüffender Weise die eigene Rückseite zeigt. Magritte nannte es „La reproduction interdite“, was sich übersetzen ließe als ‚verbotenes Abbild‘ oder als ‚verbotene Wiederherstellung‘. Gerade analytische Therapiekonzepte sollten daher wachsam sein, sich mit ihren lebensgeschichtlichen Rekonstruktionen nicht unbemerkt in den Dienst dieses rückblickenden Verkehrt-Haltens zu stellen.

Das Märchen von Hänsel und Gretel behandelt dasselbe psychologische Problem auf seine Weise. Eine arme Holzhackerfamilie hat trotz fleißiger Arbeit nicht mehr genug zu essen für alle. Gegen den Widerstand des Vaters drängt die Stiefmutter darauf, die beiden Kinder im Wald auszusetzen. Die wappnen sich gegen die Aussetzung mit Kieselsteinen und Brotkrumen, die ihnen den Rückweg zeigen sollen. Dann brechen sie gemeinsam auf in den Wald und an dieser Stelle heißt es im Märchen: „Als sie ein Weilchen gegangen waren, stand Hänsel still und guckte nach dem Haus zurück und tat das wieder und immer wieder“. Hier wird wörtlich und sehr deutlich ein Dreh- und Angelpunkt des Märchens ausgesprochen – der Sog des Rück-Blickes und das Stillstehen der Aufbruchsbewegung. Anstatt den Weg ins Ungewisse, Riskante, vielleicht aber auch Rettende des Waldes zu wagen, will die seelische Entwicklung mit aller Macht in ihr altvertrautes Haus zurück, in dem sie verhungern muss. Dieses Verkehrt-Halten zeigt sich dann noch einmal gesteigert im Hexenhaus, das mit Leb-Kuchen lockt, das Leben aber in einen Käfig sperrt und zum Stillstand bringt. Erst als das verhexte Haus die Entwicklung vollends zu fressen droht, gelingt im letzten Augenblick die Umkehr des Blickes auf ein Hinauswollen und Weiterkommen.

Noch einmal ein Schwenk zum Rückspiegel in unseren Autos. Man kann nur staunen, mit welch geheimer Intelligenz hier eine Lösung gefunden wurde für das alte Konstruktionsproblem, wieviel Historie das Seelische für seine Weiterentwicklung braucht (Nietzsche). Denn bei näherem Hinsehen ist es doch bemerkenswert, wo der Rückspiegel platziert ist: nämlich genau in zentraler Blickrichtung voraus. So haben wir die fast schon paradoxe Möglichkeit, bei nahezu freier Sicht nach vorne gleichzeitig einen Blick zurück werfen zu können – ohne uns umdrehen zu müssen. Bei fortlaufender Bewegung entsteht also ein ganz praktisches Blick-Indem von Vor-und-zurück-Schau, mit dem wir meistens gut fahren.

Ganz ohne Rück-Blick kommen Entwicklungen anscheinend nicht aus, sonst wüssten sie zu wenig von ihrem eigenen Herkommen und was daraus folgt; sie könnten von ihrer Vergangenheit gefährlich eingeholt werden. Das zeigt sich auch im weiteren Schicksal von Lot und seinen Töchtern, das allgemein wenig bekannt ist. Ohne die Rücksicht der Frau und ohne Rücksicht auf die Frau war es nun eine gewissermaßen beeinträchtigte Wirkungseinheit. Zwar kam sie noch ein Stück weit voran, weil sie aber den Fremden um sie herum nicht traute, zog sie sich schon bald in eine sichere Höhle zurück. In der dortigen Abgeschiedenheit kam ihre Reise zum Stillstand und die Töchter fürchteten, ohne Nachkommen bleiben zu müssen. So machten sie ihren Vater betrunken, legten sich zu ihm und wurden von ihm schwanger. Jede bekam einen Sohn und beide wurden zu Begründern von Nachbarstämmen (Moabiter, Ammoniter), die mit Israel dauerhaft verfeindet blieben. Der Inzest lässt sich nun auch wieder als ein Zurück in den engsten Kreis des Eigenen verstehen; und als Ersatz für eine Entwicklung, die nicht im Fremden weitergehen wollte. Er war nur möglich in einem blind gemachten Augenblick; eine verbotene Bewegung gleichsam im toten Winkel des Sichtfeldes. Und das, was zu weit ins Eigene zurückgegangen war, wurde fortan fremdgehalten als Dauerfeindschaft zu anderen.

Das unterstreicht noch einmal den Vorrang des Blickes nach vorne auf das Werdende und Kommende, aber auch die Notwendigkeit einer gewissen Rückschau auf das Gewordene. Oder, um es mit dem Märchen zu sagen, wir brauchen deutlich mehr und bessere Sicht für neue Wege in den Wald unserer Möglichkeiten als Kieselsteine, die unseren Rückweg nach Hause markieren. Im Auto-Mobil wurde das Verhältnis von Vorschau und Rückblick offenbar sehr passend austariert: große Frontscheibe und kleiner Rückspiegel in einer Blickrichtung. So selbstverständlich uns diese Konstruktion auf unseren Alltagsfahrten auch erscheint, sie birgt in sich vielleicht eine allgemeine Grundbedingung gelingender Entwicklungsprozesse.

Arbeiten in der seelischen Porzellankiste (2018)

Seit Freud arbeiten tiefenpsychologische Behandlungs- und Explorationsmethoden mit der Grundregel „alles sagen“. So einfach sie als Forderung auszusprechen ist, so schwer ist sie zu befolgen – selbst, wenn man ehrlich dazu bereit ist. Wie sich immer wieder zeigt, gelingt das Alles-Sagen in Tiefeninterviews oder Behandlungsstunden stets nur ansatzweise. Bald schon verstummt die seelische Ausdrucksbildung oder findet ein naheliegendes Nebenflussbett, in das sie sich erleichtert ergießen kann. Erleichtert, weil diese Regel im Grunde eine ungeheure Zumutung in der Kultur darstellt. Sie erzwingt eine Offenheit und Unmittelbarkeit, wie sie in gelebten Alltagzusammenhängen höchstens vielleicht in der kirchlichen Beichte realisierbar ist – aber auch da gibt es ja bekanntlich Umgehungsmöglichkeiten. Ansonsten sind wir es nicht gewohnt, all unsere Gedanken laut auszusprechen und es erscheint prekär, dies vor anderen - und auch vor uns selbst – zu tun.

Meist herrscht die Auffassung, zu Freuds Zeiten seien die Tabus der Ausdrucksbildung größer gewesen als heutzutage, und der Druck des Impliziten damit auch höher. Vielleicht waren sie gar nicht größer, sondern nur anders. Jedenfalls verrät Freuds frühes Bild des „chimney sweeping“ eine gewisse Hoffnung, mit dem Alles-Sagen könne ein heilsames ‚Durchfegen‘ verstopfter Explikationswege des Seelischen gelingen. Erst Anna Freud formulierte dann später sehr deutlich, dass nicht die Regel selbst, sondern der Kampf um sie das Entscheidende sei. Und dieser Kampf findet auf einem Felde statt, das man das Heikle nennen könnte.

Dieses Feld ist dem Alltag durchaus nicht unbekannt. So heißt es manchmal, wir müssten eine „heikle Angelegenheit“ ansprechen oder befänden uns in einer „heiklen Lage“. Das Heikle verweist dabei auf einen diffizilen Übergangszustand: Spürbare Dränge zur Ausdrucksbildung ringen mit spürbaren Widerständen dagegen. In dieser eigenartig gespannten Seelenlandschaft lauern peinliche Fettnäpfchen und gefährliche Tretminen, wenn die Ausdrucksbildung zu weit geht; aber auch beklemmende Sumpflöcher, wenn sie zu verhalten bleibt und zu wenig wagt. Gerade aber dieses Ringen, dieses behutsame Sich-Vortasten und Tritt-Fassen auf unsicherem Terrain macht das Heikle so geeignet für psychologisches Behandeln und Forschen. Hier zeigt sich der Wirkungsraum der sprichwörtlichen Porzellankiste, deren Mutter ja die Vorsicht sein soll. Traut man sich, ihre fragile Inneneinrichtung neugierig und geduldig zu durchwandern, kann das mehr über das Ganze der seelischen Konstruktion verraten als unerhörte Geständnisse oder spektakuläre Enthüllungen. Letztere sind Formen, die auf ein dramatisches Platzen seelischer Ausdrucksknoten hinauslaufen.