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Alles ist Yoga ist eine Sammlung überlieferter Weisheitsgeschichten aus dem Yoga, gewürzt mit Erlebnissen der Autorin. Jede Geschichte verdeutlicht auf ihre Weise, dass auch Yogis und Gurus Menschen sind und dass Spiritualität während der Arbeit oder einer intimen Beziehung, schlicht in jedem Moment des Lebens stattfindet, und nicht nur irgendwo im fernen Himalaya. Es geht um Themen wie subjektive Wahrnehmung des Egos, Gier und Angst des Menschen oder um Schüler-Lehrer-Beziehungen und die Kostbarkeit des gegenwärtigen Augenblicks. Es sind in erster Linie humorvolle Geschichten, die den Leser darin unterstützen sollen, dem Leben und der spirituellen Praxis mit etwas mehr Leichtigkeit zu begegnen.
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Seitenzahl: 166
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Doris Iding
Alles ist Yoga
Weisheitsgeschichtenaus dem Yoga
Die Autorin
Doris Iding ist Ethnologin M. A. und beschäftigt sich seit über 20 Jahren intensiv mit der bewussten Integration verschiedener spiritueller Traditionen in den Alltag. Für sie ist Spiritualität nur dann von Nutzen, wenn sie Eingang findet in das Leben und die Arbeit des spirituell Praktizierenden.
Sie ist ärztlich geprüfte Yoga-Lehrerin, Kinder-Yoga-Lehrerin und Dozentin bei Yoga-Lehrerausbildungen für den Bereich Philosophie. Darüber hinaus arbeitet sie als Buchautorin, freie Journalistin und freie Redakteurin für Yoga aktuell. Ihre Themenschwerpunkte sind Yoga, Spiritualität, Bewusstsein und Gesundheit. Elf ihrer Bücher wurden bislang in andere Sprachen übersetzt.
Das Buch
Alles ist Yoga ist eine Sammlung überlieferter Weisheitsgeschichten aus dem Yoga, gewürzt mit Erlebnissen der Autorin. Jede Geschichte verdeutlicht auf ihre Weise, dass auch Yogis und Gurus nur Menschen sind und dass Spiritualität während und nach der Arbeit oder in einer intimen Beziehung, schlicht in jedem Moment des Lebens stattfindet – und nicht nur irgendwo im Himalaya oder auf der Yogamatte.
Es sind in erster Linie humorvolle Geschichten, die den Leser darin unterstützen sollen, dem Leben und der spirituellen Praxis mit etwas mehr Leichtigkeit zu begegnen.
Originalausgabe © 2010 Schirner Verlag, Darmstadt
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten
ISBN 978-3-8434-6122-1
1. E-Book-Auflage 2014
Umschlaggestaltung: Silke Büttner, Schirner Redaktion: Rudolf Garski, Schirner E-Book-Erstellung: HSB T&M, Altenmünster
www.schirner.com
Inhalt
Einleitung
Türöffner auf dem Weg nach innen
Kleshas – Hindernisse auf dem Weg
Geschichten über die subjektive Wahrnehmung
Alles ist Yoga
Der Bauer und der junge Dieb
Wahrhaft gut und böse
Der Apfelbaum
Zwei Stöckchen
Gespräch der Zwillinge
Der erleuchtete Hund
Der Dorfbrunnen
Die Heimkehr des Sohnes
Geschichten über das falsche Verständnis der eigenen Person
Hoffnung auf Anerkennung
Niemand
Die rechte Hand Gottes
Was fehlt?
Das Karmakonto
Der Teufel, der sich langweilte
Das freundliche Pulverfass
Das Nichts
Geschichten über die Gier
Der alte Yogi, der Chai über alles liebte
Neuntausend Euro
Die verwitwete Dame
Die Vertrauensfrage
Der diebische Schüler
Himmel und Hölle
Gierig oder gut?
Was übersehe ich denn?
Geschichten über unbegründete Ablehnung
Die Gedanken des heiligen Yogis
Wenn Gelüste unterdrückt werden
Die drei Siebe
Ravi und der Löwenzahn
Alles ist relativ
Das Festmahl
Wenn es mal nicht weitergeht
Christine und der Ziegenbock
Leistung und Disziplin
Vorzeitige Rückkehr
Geschichten über die Angst
Die Pest
Der andere Yogi
Das Kamel
Wer Hilfe sucht
Mara, der Gott des Bösen
Die Angst überwinden
Ratlosigkeit und Angst
Geschichten über die Lehrer-Schüler-Beziehung
Der Schüler auf der Suche nach dem vollkommenen Meister
Die härtesten Prüfungen
Wessen Schüler bist du?
Jeder ist ein Lehrer
Das Interview
Ein besonderer Lehrmeister
Die richtigen Worte
Der Sonnengruß
Yoga der Eitelkeiten
Geschichten über die Achtsamkeit
Yoga ist Silber, Achtsamkeit ist Gold
Sag einfach »Stopp!«
Wachsam achtsam
Die drei Bitten
Alles ist gesagt
Die Gedanken und der Wind
Achtsamkeit will gelernt sein
Kannst du es besser?
Ein gutes Vorbild
Geschichten über die Kostbarkeit des Jetzt
Es ist wunderschön hier!
Die drei dämonischen Lehrlinge
Die zwei Asketen
Der alte Yogi
Der Uhrenverkäufer aus Mumbai
Anstrengend
Die Geschichte vom Weizen
Wer weiß es schon?
Die Kostbarkeit des Augenblicks
Geschichten über die Begegnung mit dem Göttlichen
Auf der Suche
Die Suche nach dem Meister
Der Weg des Hasen
Der Brunnen der Erkenntnis
Der göttliche Ton
Richtig beten kann man nur aus dem Herzen
Svetaketu – eine Erzählung aus den Upanishaden
Wer ist da?
Spirituell auf Kosten anderer
Kein Ich mehr und kein Du
Theorie und Praxis
Das Versteck Gottes
Die Kunst, Gott immer im Blick zu haben
Die Pietà
Vajnavalkya und der Reichtum des göttlichen Selbst
Die Vollkommenheit in allem
Ungeduld und Erleuchtung
Dank
Kontaktadresse
Zum Weiterlesen
Anmerkungen
Selig sind die, die über sich selbst lachen können –ihnen wird nie langweilig werden.
Für meine Schwester Beate:
Schön, dass es Dich gibt – mit Dir wird es nie langweilig!
Führe mich vom Unwirklichen zum Wirklichen. Führe mich von der Dunkelheit ins Licht. Führe mich vom Tod in die Unsterblichkeit.
Bŗhadāraņyakopanişad 1.3.28
Einleitung
Bei den Yogalehrerausbildungen, bei denen ich das Fach Philosophie unterrichte, schreibe ich in der ersten Unterrichtsstunde den Satz »Alles ist Yoga!« auf das Flipchart. Im Anschluss daran bitte ich die zukünftigen Yogalehrer, spontan zu äußern, was ihnen zu dieser Aussage einfällt. Die Assoziationen sind zahlreich: Liebe, Asanas, Atmung, Licht, Pranayama, Glück, Gleichmut, Disziplin, Bewusstsein, Gesundheit, Jugend, Flexibilität, Zufriedenheit, Mantra, Sein, Hatha, Ich, Mudra, Gott, Meditation und Erleuchtung. Meist sind es positiv belegte Begriffe. Wenn ich frage, ob »Krieg« auch zum Yoga gehöre, schaue ich immer wieder in erstaunte Gesichter. Krieg ist für viele mit Yoga nicht kompatibel und die Vorstellung, dass die Bhagavadgita, eine der wichtigsten yogischen Schriften, von einem Erbfolgekrieg handelt und auf einem Kriegsschauplatz stattfindet, schon gar nicht. Der Krieger Arjuna, der Hauptprotagonist der Bhagavadgita, befindet sich in einem persönlichen Konflikt: Um sein rechtmäßiges Erbe zu verteidigen, muss er gegen Freunde und Verwandte, die auf der Gegenseite sind, kämpfen. Er ist von Furcht überwältigt, mit der Situation vollkommen überfordert und möchte am liebsten fliehen. Krishna, sein Wagenlenker, kann ihn aber dazu bewegen zu bleiben. Krishna, eine Inkarnation des Gottes Vishnu, als die er sich erst im Verlauf der Geschichte zu erkennen gibt, befreit Arjuna durch religiös philosophische Unterweisungen aus seinem Zwiespalt und bewegt ihn zu seiner karmischen Pflicht, also zum Kampf.
Die Bhagavadgita ist getragen von einer hohen Symbolik. Ihr Kriegsschauplatz steht sinnbildlich für die Kämpfe, die sich tagtäglich in jedem von uns abspielen. Es ist der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Gier und Verzicht. Und es ist der Widerstreit zwischen dem Wunsch nach äußerer Anerkennung und materiellem Reichtum auf der einen Seite und der Suche nach dem Göttlichen in uns auf der anderen Seite. Bei all diesen inneren Schlachten kämpfen wir mit unserem Zorn, unserer Trägheit, unserem ständigen Verlangen, unserem Ego sowie unserer subjektiven Sichtweise auf uns, das Yoga und das Leben.
Im Zusammenhang mit der Bhagavadgita frage ich die zukünftigen Yogalehrer, von denen die wenigsten zu Beginn der Ausbildung mit der yogischen Philosophie vertraut sind, wo ihre eigenen, innersten Schlachten stattfinden. In dem geschützten Raum des Yogainstituts sprechen wir dann über unsere Kämpfe mit der eigenen Gier und erfahrener Ablehnung oder über die verlorenen Schlachten gegen die eigenen Selbstzweifel oder die Angst, die ewigen inneren Anfeindungen gegen uns selbst und andere Menschen. In vielen Ausbildungen habe ich erlebt, dass die Teilnehmer sich bei diesen Gesprächen sehr öffnen. Viele von ihnen sind es nicht gewohnt, dass ihnen ein geschützter Raum geboten wird, in dem sie sie selbst sein dürfen, mit all ihren Ängsten, Sorgen, Selbstzweifeln, ihrer Gier, ihrer Trägheit, ihrer Unzufriedenheit und ihrer Ohnmacht dem Leben mit all seinen mannigfaltigen Anforderungen gegenüber.
Im weiteren Verlauf der Yogalehrerausbildung erkennen dann viele Schüler, wie sehr Yoga sie als ein umfassendes System darin unterstützen kann, die inneren Kämpfe zu reduzieren und mehr und mehr Frieden mit sich selbst zu schließen. Dabei hilft ihnen neben der Asanapraxis, Pranayama und der Meditation etc. die Erkenntnis, dass Yoga ein ganzheitlicher Übungsweg ist, der nicht nur auf der Matte oder im Yogastudio stattfindet. Auch lernen sie, Achtsamkeit, Wertschätzung, Dankbarkeit, Respekt und Gleichmut als wertvolle Werkzeuge zu schätzen, um mit den eigenen Partnern, Liebhabern, Kindern, Patienten, Arbeitskollegen und Vorgesetzten gut – im Sinne des Yoga – umzugehen. So offenbart sich den Schülern im Verlauf der Ausbildung nach und nach, worum es bei der Aussage »Alles ist Yoga« geht: Yoga ist nichts Abgehobenes und auch nichts Weltabgewandtes. Yoga findet mitten im Leben statt, hier und jetzt! Dies Zug um Zug zu verinnerlichen ist eine Aufgabe nicht nur für zukünftige Yogalehrer, sondern für jeden von uns.
Türöffner auf dem Weg nach innen
Um den ganzheitlichen Sinn der Aussage »Alles ist Yoga« im Sinne der Yogaphilosophie zu verdeutlichen, habe ich unterschiedlichste Geschichten ausgewählt. Dabei zeigt jede einzelne Geschichte auf meist humorvolle und spielerische, immer aber auf eindrückliche Weise, das alles Yoga ist. Die Geschichten spiegeln uns unsere inneren Kämpfe und zeigen uns unsere Schattenseiten auf. Sie verdeutlichen, wie verklärt unsere Vorstellungen in Bezug auf den spirituellen Lehrer sein können, veranschaulichen, wie es um unsere Achtsamkeit steht, wie weit wir vom Jetzt entfernt sind und wie unrealistisch unsere Vorstellungen vom Göttlichen sein können. Sie alle haben eine Botschaft, allerdings ohne den erhobenen Zeigefinger.
In meinen Yogastunden, Seminaren und Fortbildungen habe ich immer wieder erlebt, dass die richtige Geschichte im passenden Moment einem Menschen spielerisch eine Einsicht über sich selbst eröffnete, ohne dass er sich dabei bloßgestellt oder verletzt gefühlt hat. Meistens haben wir dann alle zusammen herzhaft gelacht, weil die Geschichten uns dazu veranlassen, einen kleinen Moment Abstand zu uns selbst und den eigenen Verhaltensweisen zu bekommen.
Manche der hier vorgestellten Geschichten sind mir immer wieder begegnet. Einige von ihnen habe ich während eines Seminars gehört, andere habe ich in abgewandelter Form in Büchern über das Glück, die Erleuchtung oder die Weisheit gelesen. Wieder andere tauchen in abgewandelter Form hier und da in Büchern über die Lebenskunst, Spiritualität oder Begegnungen mit dem Göttlichen auf. Die genaue Quelle vieler Geschichten ist mir oft unbekannt. Aus diesem Grund gebe ich im Anhang einige Bücher an, in denen sie mir begegnet sind. Viele Geschichten habe ich eigens auf Yoga umgemünzt, sodass Yogaschüler, -lehrer oder -interessierte sich gut darin wiederfinden können. Die meisten dieser tradierten Geschichten sind zeitlos. Sie haben sich vor Hunderten von Jahren ereignet, können aber genauso gut auch heute passieren.
Andere Geschichten in diesem Buch habe ich selbst in meiner langjährigen Erfahrung als Yogaschülerin, Yogalehrerin, Dozentin und Redakteurin von Yoga aktuell erlebt. In diesen Geschichten habe ich Namen und Orte bewusst verändert, weil es mir um die Aussage der Geschichte geht, nicht um die Personen, mit denen ich diese Erfahrungen hatte. Sollte sich ein Mensch dennoch persönlich angesprochen fühlen, so ist dies keine Absicht. Es ist aber ein Anzeichen dafür, dass wir gar nicht so unterschiedlich sind, auch wenn wir alle noch so großen Wert auf unsere Individualität legen. Darüber hinaus wird auch deutlich, dass unser Verstand seit Menschengedenken auf eine ähnliche Weise funktioniert: Wir erschaffen unsere Welt immer nur in unserem eigenen Denken und verlieren uns dabei gerne in unseren Konzepten und Vorstellungen über uns und die Welt. Und noch etwas hat sich seit Jahrtausenden nicht geändert, so wandelbar unsere Konzepte und Vorstellungen auch zu sein scheinen. Etwas in uns bleibt von all dem unberührt: die wahre Natur unseres Geistes, das Göttliche, das nicht Benennbare in uns.
Allen Geschichten gemeinsam ist, dass sie als ein weiterer Türöffner auf dem Weg zu unserem Inneren dienen können. Dabei erfreuen und berühren viele dieser Geschichten mich und die Menschen, denen ich sie erzähle oder vorlese immer wieder aufs Neue. Dies zeigt mir immer wieder, wie wohltuend Geschichten für das Kind in uns, für unser Herz und unsere Seele sind. Manche Geschichten berühren uns auch dann, wenn sie im ersten Moment über das intellektuelle Verständnis hinausgehen. Sie sind so komplex und zutiefst spirituell, dass sie vom Verstand nicht erfasst werden können – egal, wie sehr wir uns darum bemühen. Bis zu einem gewissen Grad können wir diese Geschichten zwar intellektuell erfassen, aber vollständig erfahren können wir sie nur über unser Sein.
Die Aufgabe dieser Geschichten ist es, das Herz und den Urgrund des Seins des Lesers unmittelbar zu berühren. So erlebte ich einmal, dass eine betont atheistische Teilnehmerin weinte, als ich »Svetaketu«, eine Geschichte aus den Upanishaden vorlas. Sie wusste nicht warum, aber sie war zutiefst berührt.
Last but not least liebe ich all diese Geschichten so sehr, weil sie auf liebevolle, zynische, witzige, intelligente oder weise Art verdeutlichen, wie menschlich wir alle doch sind und bleiben, egal wie intensiv unsere spirituelle Praxis ist. Das ist ein Aspekt, der für mich persönlich immer wieder etwas sehr Beruhigendes hat.
Vielleicht löst die eine oder andere Geschichte auch bei Ihnen ein Gefühl von Freude, Einsicht und tieferem Verständnis über Sie selbst und das Leben allgemein aus. Vielleicht wird auch Ihr Herz berührt. Vielleicht durchdringt die eine oder andere Geschichte auch Ihr Sein oder Ihre Seele. Vielleicht bringt die eine oder andere Geschichte Sie zum Lachen, weil Sie dabei an Ihr eigenes Verhalten und auch daran erinnert werden, wie hilfreich es für unser Leben sein kann, das eigene Bewusstsein etwas differenzierter zu betrachten. Vielleicht helfen Ihnen die Geschichten auch zu erkennen, dass wir nicht das sind, wofür wir uns halten: Wir haben einen Körper, aber wir sind nicht unser Körper. Wir haben Gefühle, aber wir sind nicht unsere Gefühle. Und wir haben eine Vielzahl von Gedanken, die uns einnebeln, uns verwirren und das Gefühl geben, dass wir unsere Gedanken sind. Aber wir sind auch nicht diese Abertausende von Gedanken.
Mögen Ihnen die Geschichten ein Gefühl von Leichtigkeit und Freude vermitteln und Ihnen aufzeigen, dass alles Yoga ist – und dass das Leben im yogischen Sinne auch ein Spiel ist, das wir nicht immer ganz so ernst nehmen sollten. Es darf auch gelacht werden!
Doris Iding, im Frühling 2010
Du kannst kein Buch öffnen,
ohne etwas daraus zu lernen.
Asiatische Weisheit
Kleshas – Hindernisse auf dem Weg
Yoga kann uns dabei helfen, mit all unseren inneren Kämpfen, eigenen vermeintlichen Unzulänglichkeiten, alltäglichen Schwierigkeiten und scheinbar unüberwindbaren Hindernissen im Leben fertig zu werden. Hierzu braucht es aber die Erkenntnis, was genau uns die Schwierigkeiten im Alltag bereitet. Oft suchen wir die Ursachen für unsere Probleme an der falschen Stelle, im Außen. Yoga, insbesondere das Yogasutra des Patanjali, eine der wichtigsten Schriften aus dem Yoga, hilft uns zu erkennen, dass wir selbst für unsere Gedanken und Handlungen verantwortlich sind, und zu sehen, wo wir uns selbst mit unserem Denken und Handeln auf subtile Weise bekämpfen.
Um diese Wirkmechanismen in der Gänze zu erkennen, müssen wir allerdings einen klaren Geist und eine offene Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln. Nur zu schnell stellen sich uns Hindernisse in den Weg, die unsere Wahrnehmung verfälschen. Im Yogasutra des Patanjali werden diese Hindernisse als Kleshas bezeichnet. Dabei handelt es sich um kosmische Urkräfte, die jedem Menschen innewohnen. Sie führen dazu, dass wir die Welt auf eine subjektive Weise wahrnehmen und dadurch unser Denken und Handeln maßgeblich beeinflussen.
Die Folge davon ist, dass in uns Unzufriedenheit, Leid oder Gefühle von Enge und Unfreiheit entstehen. Und sie vermitteln uns immer das Gefühl, ständig gegen oder für etwas kämpfen zu müssen. Die Kleshas – die subjektive Wahrnehmung, die Ichbezogenheit, die Gier, die Ablehnung und die Angst – beeinflussen unser Leben so vehement, dass wir laut dem Yogasutra sowohl gleichmütig als auch diszipliniert unser Augenmerk auf sie richten müssen und zwar Zeit unseres Lebens.
Das Yogasutra zeigt uns auch einen Weg auf, wie wir lernen können, die Wirkung der Kleshas so gut wie möglich zu reduzieren. Allerdings hält es hierzu eine gute und eine schlechte Nachricht bereit. Die schlechte Nachricht zuerst: Laut dem Yogasutra kann man keines der Kleshas vollkommen überwinden. Die Kleshas sind allgegenwärtig und infolgedessen oftmals so subtil, dass sie nur dann offensichtlich sind, wenn ein Klesha stark wirksam ist. Dann werden ihre Folgen für andere Menschen offensichtlich, was aber längst nicht heißen muss, dass der betroffene Mensch in einer solchen Situation sich selbst dieser Auswirkung bewusst ist. Die gute Nachricht hingegen lautet: Mittels der entsprechenden Praxis bestehend aus Asanas, Meditation, Atemübungen usw., aber auch eines achtsamen Umgangs mit uns selbst und anderen können wir erkennen, wann ein Klesha durch uns hindurch wirkt. Je wachsamer wir sind und je mehr wir uns bewusst sind, dass die subjektive Wahrnehmung, die Ichbezogenheit, die Gier, die Ablehnung und die Angst – mal mehr, mal weniger subtil – durch uns hindurch wirken, desto eher werden wir erkennen, wann wir von ihnen beeinflusst werden.
Um die subtile Wirkweise der Kleshas aufzuzeigen, habe ich für jedes Klesha einige Geschichten zusammengestellt. Vielleicht erkennen Sie sich selbst hier und dort wieder und sehen, dass wir niemals gefeit davor sind, dass ein Klesha auch durch uns hindurch wirkt, egal wie intensiv unsere spirituelle Praxis auch sein mag.
Geschichten über die subjektive Wahrnehmung
Wer kennt sie nicht, die Geschichte von dem Seil, das fälschlicherweise für eine Schlange gehalten wird. Oder wer hatte nicht schon einmal die rosarote Brille auf, als er verliebt war. Diese Beispiele verdeutlichen, dass wir die Tendenz haben, das Leben nicht so zu sehen, wie es ist. Stattdessen betrachten wir es auf unsere ganz eigene, subjektive Weise. Dabei sind es meist kulturelle Aspekte, z. B. unsere Religion, unsere Erziehung oder unsere Biografie, die unseren Blick auf die Welt beeinflussen. Sie wirken so intensiv und so subtil zugleich durch uns hindurch, dass wir die ganze Welt, andere Menschen, deren Verhaltensweisen, sogar Tiere stets »verzerrt« wahrnehmen. Das führt dazu, dass wir Unreines für rein, Falsches für richtig, Vergängliches für ewig, Schlechtes für gut und Glaubenskonzepte für Wahrheiten halten. Wenn wir die subjektive Wahrnehmung nicht erkennen, projizieren wir, ehe wir uns versehen, schlechte Verhaltensweisen, negative Charakterzüge oder – schlimmer noch – böse Absichten in einen anderen Menschen hinein. Infolgedessen kommt es zum Streit zwischen zwei Menschen, zwei Gruppen oder zwei Ländern. Denn jeder beharrt auf seiner Meinung und glaubt, »recht« zu haben, und vertritt die Ansicht, dass die eigene, die subjektive Sicht auf die Welt die einzig wahre ist und – schlimmer noch – dass nur diese ein Recht auf Existenz und Durchführung hat.
Selbst vor dem Yoga macht Avidyā nicht halt, denn nicht selten hält die eine Yogarichtung sich für die beste und lehnt andere ab. Extreme Yogis verurteilen Menschen, die Fleisch essen, weil sie glauben, dass nur Vegetarier gute Menschen sind. Wieder andere glauben, dass nur Menschen, die Yoga praktizieren, verstehen, worum es im Leben geht. Sie stellen sich gerne über jene Menschen, die keine Erfahrung mit Yoga haben oder keinen Zugang dazu finden.
Avidyā ist dem Yogasutra zufolge der Ursprung aller anderen Kleshas und somit das Haupthindernis auf dem Wege zu größerer innerer Ruhe und Zufriedenheit.
Alles ist Yoga
Vor einigen Jahren organisierte ich gemeinsam mit 40 Yogaschulen ein Event. Alle Studios hatten an diesem Tag ihre Studiotüren geöffnet, sodass Neugierige kostenlos an verschiedenen Yogastunden teilnehmen konnten. Für das gemeinsame Abschlusskonzert des Events hatte ich ganz bewusst eine kleine, etwas heruntergekommene Bar ausgewählt, die ein breites Spektrum an Veranstaltungen anbot: Lesungen, Hardrock- und Klassikkonzerte usw. Da auch die Yogaschulen ein breites Spektrum an verschiedenen Stilen vertraten, schien mir eine solche Bar der richtige Ort.
Ich hatte noch einen weiteren Grund für meine Auswahl. Eine Yogalehrerin hatte mir einmal eine umfassende, ganzheitliche Sicht nahegebracht: »Alles ist Yoga!« Sie sagte mir diese Worte von Sri Aurobindo immer wieder, wenn ich mich mit der Bewältigung meines Alltags schwertat und zweifelte, haderte, bewertete und kritisierte. Dieser Satz hatte mich damals berührt und meine Sicht auf Yoga und das Leben allgemein sehr verändert.
Auch diese Yogalehrerin war zum Abschlusskonzert eingeladen. Als sie am Abend kam, war sie verwundert darüber, dass das Abschlusskonzert, bei dem heiligen Mantren rezitiert werden sollten, in solch einer heruntergekommenen Bar stattfinden sollten. Sie verließ die Bar bereits nach einer halben Stunde. Danach sahen wir uns viele Monate nicht.
Bei unserem nächsten Treffen sprachen wir dann über diesen Abend. »Wie konntest du nur in einer so heruntergekommenen Bar ein Abschlusskonzert veranstalten, bei dem heilige Mantren rezitiert werden?«, fragte mich die Yogalehrerin. Darauf antwortete ich: »Ich hatte diese Bar bewusst gewählt und dabei an den Satz »Alles ist Yoga« gedacht. Wenn ich meine subjektive Sichtweise überwinde, ist das Göttliche schließlich überall – auch zwischen und in Whiskey- und Bierflaschen und den Toiletten solch einer Bar.« Erstaunt schaute sie mich an, senkte etwas den Kopf und meinte: »Naja, alles ist Yoga, aber doch nicht so eine heruntergekommene, alte Bar.«
Der Bauer und der junge Dieb