Alles Zufall - Stefan Klein - E-Book

Alles Zufall E-Book

Stefan Klein

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Beschreibung

+++ Das große Buch über die Kraft des Zufalls – und wie wir ihn uns zunutze machen können +++ Bestsellerautor Stefan Klein zeigt, wie wir uns den Zufall zum Freund machen können. Wir wappnen uns auf jede erdenkliche Art gegen das alltägliche Chaos, organisieren unsere Leben minutiös und haben Angst vor allem, das sich nicht planen lässt. Und doch entkommen wir dem Zufall nicht – ob an der Schlange im Supermarkt, die natürlich länger ist als alle anderen, oder wenn wir einen Freund im Urlaub treffen, den wir seit Jahren nicht gesehen haben. Doch der Zufall hat zwei Gesichter: Er kann Unheil bringen oder uns Glück verheißen. Stefan Klein zeigt uns anhand der neuesten Forschungsergebnisse, was genau der Zufall ist, wo und wie er sein Spiel treibt – und wie wir ihn auf unsere Seite ziehen können.

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Seitenzahl: 503

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Stefan Klein

ALLES ZUFALL

Die Kraft, die unser Leben bestimmt

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoEinleitungTeil I EntstehungKapitel 1 Ein Gott mit zwei GesichternDie Willkür des SchicksalsZwei Arten von ZufallHoffen und BangenEine unsichere WeltUngewissheit birgt ChancenKapitel 2 Die Gesetze des ZufallsDie Handschrift des UnerklärbarenDie magische Zahl SiebenRegeln gegen die DatenflutForschung am SpieltischDas Gesetz der großen ZahlKapitel 3 Kosmisches CasinoDie Welt als UhrwerkWissen ist OhnmachtDer Irrtum des NostradamusHöhere PläneDer unaufhaltsame Vormarsch der UnordnungEin Maß für das UnwissenWas der zweite Hauptsatz wirklich sagtWarum der Zufall immer gewinntDer Unterschied zwischen gestern und morgenExkurs: Der Kult um das ChaosKapitel 4 Jenseits der Grenzen des WissensGeist in der MaschineZufall, Fundament der NaturDurch Wände gehenSpuk in der TeilchenweltDie Physik der zweiten GesichteEine Frage der DimensionGrenzen der SelbsterkenntnisDas Dilemma des HellsehersKapitel 5 Die Kunst des GedankenlesensTrügerische MenschenkenntnisWeissagungen, die sich selbst erfüllenInvestieren mit DartpfeilenWie eine Blase entsteht – und platztDie Aufholjagd der SpekulantenDie Scheuklappen der FuturologenRührende UtopienDer unmögliche PlanTeil II WirkungKapitel 6 Schöpfung ohne PlanZufällige WunderEvolution durch Bodybuilding?Ein Vampir als LehrmeisterTod eines HoffnungsvollenEin Buch, in das man nicht schreiben kannNützliche UnfälleZu neuen UfernIm Bastelkeller der NaturWarum wir zehn Finger habenDie unsichtbare Hand des FortschrittsDie Kunst des BrückenschlagsViagra und TesafilmLernen von der NaturKapitel 7 Die Welt als TombolaZwei Schritte vor, einer zurückInseln für das NeueDie Evolution zurückgespultWer zuerst kommt, bleibt am längstenDas Ende der SaurierZufall Mensch?Kapitel 8 Täuschen und TarnenAufs Geratewohl zum ErfolgDie Theorie des TortenstücksBloß nicht verlierenGleichgewicht des SchreckensAuge um Auge, Zahn um ZahnKapitel 9 Kindheit, Liebe, PartnerschaftTropfen auf der WasserscheideDie Gelegenheit beim Schopf packenGene und UmweltKindlicher EigensinnDie Ohnmacht der ElternIst Erziehung sinnlos?Wo die Liebe hinfälltDie Weisheit der KupplerGegensätze stoßen sich abTeil III WahrnehmungKapitel 10 Wahnsinn mit MethodeWer an Hintersinn glaubt, wird klügerEin Torwächter für das GehirnDas Gehirn neu verdrahtenSind Rouletteräder vergesslich?Die heißen Hände unserer HeldenIm Sog der KlischeesGenauigkeit, die in die Irre führtStoff für VerschwörungstheorienVoreilige SchlüsseKapitel 11 Schafe und BöckeDie Illusion der KontrolleDer Parkplatz und das UniversumNur sehen, was ins Bild passtDie Lust am DeutenDie Biologie der SpekulationLogisch, aber absurdBuchhalterin unter der SchädeldeckeWo der Humor zu Hause istVon Hölzchen zu StöckchenDie dunkle Seite des GehirnsDer verräterische LinksdrallDie Jagd nach dem WarumDie Anziehungskraft einer guten GeschichteDoppelte Buchführung lernenKapitel 12 Ein Sinn für das RisikoUnbewusste StatistikEin Prozessor für HoffnungenVom Wert des ZweitbestenDie Taube in der Hand?Lieber nichts verlieren als gewinnenDas Starenhirn im ChefsesselAnbauten im GroßhirnKapitel 13 Der Fluch der SicherheitZufall ist StressWie der Körper für die Scheu vor der Ungewissheit bezahltDie gefühlte SicherheitIn Vorsicht erstarrtDie hysterische GesellschaftWie man echten Risiken beikommtTeil IV StrategienKapitel 14 Der Zufall als ZerstörerDas sicherste Fahrzeug der Welt?Kleinigkeiten, die zur Katastrophe führenDie Kosten der KomplexitätWarum Murphys Gesetz stimmtGefährliche NetzeOldtimer im AllMit dem Schlimmsten rechnenDie Last auf vielen Schultern tragenSich verstehen oder untergehenDer Lohn der AngstAbschied von Abrahams SchoßKapitel 15 Flirt mit dem ZufallVor vollen Töpfen verhungernDer Preis der besten EntscheidungWenn Raten Leben rettetDie richtige ChecklisteDer Schwund an den UniversitätenMit kleinen Schritten zum ErfolgBesser als der große WurfAuf viele Pferde setzenLob des OrakelsKapitel 16 Unsicherheit als ChanceDie Sintflut des WissensWie Schriftsteller den Zufall entdecktenDie Sehnsucht nach OrdnungGewissheit hemmt das DenkenNeue Ideen durch IrritationKribbelnde ErwartungExperimente statt EffizienzEine kleine WeltWas einen Glückspilz ausmachtGelegenheiten erkennenDer Zufall lehrt AchtsamkeitAnhangDanksagungLiteraturverzeichnisNamenregisterSachregister

Für Dora, die kein Zufall ist

»Wie leben ohne vor sich ein Unbekanntes?«

René Char

Einleitung

Haben Sie sich je gefragt, warum Sie der Mensch wurden, der Sie sind?

Ich zum Beispiel bin Kind einer Firmenpleite, eines verschlafenen Sonntags und des ersten Autos meines Vaters. Es war ein hellblauer VW Käfer 1200, und eigentlich wollte mein Vater den Wagen gar nicht. Er kam nur dazu, weil mein Onkel ein gutes Geschäft witterte. Ein Händler hatte ihm den Käfer billig angeboten, unter der Bedingung allerdings, dass er zwei davon nähme. So erhielt mein Vater, damals ein junger Chemiker ohne großes Gehalt, eines Tages Besuch von seinem Bruder, der ihm einen Vertrag unter die Nase hielt: »Ich habe für dich ein Auto gekauft. Du musst nur noch unterschreiben. Hier.« Im gleichen Jahr brach in Tirol ein Unternehmen zusammen. Die Webstühle, die es herstellte, genossen Weltruf, aber niemand wollte sie mehr haben – 1959 eroberten Nyltesthemden den Markt. Eine fällige Zahlung ließ auf sich warten, die schon angeschlagene Firma war nicht mehr flüssig, die Banken verloren die Geduld. Als das Geld nach ein paar Tagen doch noch eintraf, war es zu spät: Im Haus des Fabrikanten klebte der Kuckuck auf den Möbeln. Nach dem Bankrott zählte jeder Schilling, und so verließ die älteste Tochter, noch Studentin, das Haus. Sie hatte in München eine bezahlte Assistentenstelle gefunden.

Eine Bekannte erzählte ihr von dem jungen Mann mit dem blauen VW. Auch er pendelte zwischen seiner Arbeitsstelle in München und Innsbruck, wo seine Familie lebte. Jeden Freitag holte er fortan die junge Frau ab und chauffierte sie nach Tirol, sonntags traten sie die Rückfahrt an. So ging es Jahre, ohne dass romantische Gefühle in der Fahrgemeinschaft aufkeimten. Doch eines schönen Herbsttages verschlief meine Mutter nach einer durchfeierten Nacht, und ihre Freunde brachen ohne sie zu ihrer verabredeten Bergtour auf. Draußen strahlte die Sonne. Spontan rief sie bei ihrem Käferfahrer an: Ob er etwas mit ihr unternehmen wollte? Er wollte. Ein Jahr später waren sie verheiratet.

Ich habe mich oft gefragt, wie es gekommen wäre, hätte sich auch nur eine dieser Begebenheiten anders zugetragen: Wenn der Autohändler meinem Onkel nicht dieses seltsame Angebot gemacht hätte; wenn das Geld rechtzeitig bei meinem Großvater eingegangen und ihm der Konkurs erspart geblieben wäre; oder wenn an jenem Septembertag 1963 Wolken die Alpen eingehüllt hätten – würde es mich heute geben? Können es wirklich solche Kleinigkeiten sein, die in keinerlei Zusammenhang zu stehen scheinen, denen wir unser Leben verdanken – und die seinen Lauf bestimmen?

Solche Fragen fesseln uns und lassen uns zugleich schaudern. Dieses zwiespältige Gefühl muss auch der Philosoph Johann Gottfried von Herder empfunden haben, als er den Zufall »einen der beiden großen Tyrannen der Menschheit« nannte (der andere war für ihn die Zeit).[1] Die Naturwissenschaftler erschraken ebenfalls vor dem Chaos im Universum, als sie entdeckten, wie wenig die Natur unseren Vorstellungen gehorcht. Noch im Jahr 1970 beschrieb der französische Molekularbiologe und Nobelpreisträger Jacques Monod den Menschen als einen Glückstreffer im großen Lotteriespiel der Natur, der sich seine Verlorenheit endlich eingestehen sollte: »Der Mensch weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Alls hat, das für seine Musik taub und gleichgültig ist gegenüber seinen Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.«[2] Im Laufe der letzten Jahre jedoch hat sich die Wissenschaft so intensiv mit dem Unvorhersehbaren beschäftigt wie nie zuvor – und dabei eine ganz neue Sicht des Zufalls entwickelt: Das Schaudern ist dem Staunen gewichen.

Was verbirgt sich nun hinter dieser seltsamen Erscheinung, von der manche behaupten, sie sei nichts als eine Illusion? Mathematiker haben bewiesen, dass der Zufall sogar dort auftritt, wo alles streng nach Regeln verläuft; Physiker untersuchen, wie das Unvorhersehbare entsteht und warum es vor ihm kein Entrinnen geben kann; Evolutionsbiologen begreifen zunehmend, in welchem Maß Menschen dem Zufall ihr Dasein verdanken. Groß angelegte psychologische Studien zeigen, wie unvorhersehbar die Entwicklung einer Persönlichkeit und nicht zuletzt die Wege der Liebe verlaufen. Hirnforscher und Philosophen schließlich klären auf, warum es uns dennoch so schwer fällt, mit dieser schöpferischen Kraft Frieden zu schließen. Ihre Arbeiten begründen, weshalb uns der Glaube an ein Schicksal, einen höheren Plan, so tief eingeprägt ist.

Der Zufall ist mächtiger, als wir es uns je vorgestellt haben. Seine Erforschung rührt an die großen Rätsel der Wissenschaft, wie die Frage nach dem Aufbau der Welt und nach der Entstehung des Lebens, und betrifft zugleich im Kleinen den Lebensweg eines jeden von uns. Und doch ist es nicht der Dämon der Unordnung, den der Aufklärer Herder verwünschte, der hier sein Gesicht zeigt. Die englische Sprache betont von jeher die freundlichen Züge des Zufalls: Chance bedeutet eben auch »Möglichkeit«, ja sogar »Glück«.

Auch die Wissenschaft hat diese Seite des Zufalls erkannt – und lernt jetzt, ihn zu nutzen. Empfindliche Systeme wie elektronische Schaltungen lassen sich durch seine Wirkung stabilisieren; auch unsere Gehirne funktionieren so.[3] Und der Zufall, so zeigt sich, ist nicht nur Motor der Evolution, sondern ebenso aller menschlichen Kreativität. Selbst unsere menschlichsten Züge – Altruismus, Mitgefühl, die Fähigkeit zur Moral – würde es nicht geben, wenn unser Handeln stets vorhersehbar wäre.

Allerdings bezahlen wir für diese Errungenschaften einen Preis: Unsicherheit. In unsicheren Situationen aber fühlen sich die meisten Menschen unwohl. Deshalb vermeiden wir sie, wo immer es geht – und berauben uns damit vieler Chancen.

Wie können wir mit dem Stress der Unsicherheit besser fertig werden? Gibt es Strategien, aus Überraschungen den größten Nutzen zu ziehen? Kann man lernen, ein Glückspilz zu sein?

Dieses Buch will Sie mit dem Phänomen »Zufall« vertraut machen. Weil das Unvorhersehbare alle Bereiche unseres Handelns, Fühlens und Denkens durchdringt, kann es ihm nur in einer umfassenden Sicht gerecht werden. Zufälle haben eine Menge mit unerwarteten Zusammenhängen zu tun. Es wäre daher sinnlos, nur einen Aspekt herauszugreifen. Erst im großen Bild, in der Zusammenschau ist zu verstehen, wie der Zufall unser Leben bestimmt.

Im ersten Teil werden Sie erfahren, was Zufälle sind und wie sie entstehen. So viele Gestalten sie auch annehmen mögen, lassen sich doch erstaunlicherweise alle Erscheinungsformen – ob beim Glücksspiel, im Reich der Physik, in der menschlichen Gesellschaft – auf nur zwei gemeinsame Ursachen zurückführen: Komplexität und Selbstbezüglichkeit.

Diese Gedanken führen zu dem Problem, ob Ereignisse, die uns zufällig erscheinen, wirklich keiner Gesetzmäßigkeit folgen – oder ob wir diese Regeln lediglich nicht erfassen können. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die uralte Frage: »Zufall oder Schicksal?« Die Kapitel 3 und 4 in diesem ersten Teil sind die anspruchsvollsten des Buches, denn sie behandeln das grundlegende Rätsel, woher Zufälle kommen. Ich habe versucht, Ihnen den Weg durch die Gedankengänge der Physik so leicht und anschaulich wie möglich zu machen. Wer nicht so tief in die physikalischen Hintergründe einsteigen will, kann diese Kapitel auch überspringen. Das Verständnis des Folgenden hängt nicht davon ab.

Der Zufall als Schöpfer ist Gegenstand des zweiten Teils, der Sie mitnehmen will auf eine Reise von den Anfängen des Lebens auf der Erde bis zur Entwicklung des Computers, von der Entstehung des Menschen bis zur Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden von uns. In welchem Maß bestimmt der Zufall, wie sich unser Charakter herausbildet, wie wir leben, wen wir lieben?

Nur durch Zufall kommt Neues in die Welt. Dieser Abschnitt soll deshalb auch aufzeigen, wie wir zu unseren Ideen finden. Allerdings setzt sich nicht jeder gute Einfall durch. Es braucht Glück und Raffinesse, einer Neuerung zum Erfolg zu verhelfen, und wie in jeder Konkurrenz siegt oft derjenige, der sich unvorhersehbar verhält. Zufall ist in vielen Fällen die beste Strategie.

Normalerweise entgeht uns, wie viel wir dem Zufall verdanken. Unser Gehirn ist darauf programmiert, nicht an Zufälle zu glauben. Damit wir uns in der Welt orientieren können, spiegelt es uns oft mehr Gewissheit vor, als wir haben. Der dritte Teil des Buches behandelt unseren Umgang mit Zufällen und Unsicherheit; er ist eine Wanderung durch das Reich der Illusionen. Eine der gefährlichsten davon ist, sich zu sicher zu fühlen – oder zu glauben, es könne vollkommene Sicherheit geben. Gerade dann nämlich gehen wir unkontrollierte Risiken ein und erleben häufig ein böses Erwachen.

In einer zunehmend unübersichtlichen Welt müssen wir ständig entscheiden, ohne im Besitz aller dafür nötigen Informationen zu sein. Der vierte Teil zeigt Wege, sich vor verhängnisvollen Fehlschlüssen zu schützen: Wir können unser Handeln so ausrichten, dass es uns auch dann nützt, wenn sich die äußeren Bedingungen überraschend verändern. Dadurch machen wir uns den Zufall zum Freund. Das Spiel mit dem Unerwarteten eröffnet zudem Strategien, Ideen zu entwickeln und systematisch günstige Gelegenheiten zu schaffen.

Allerdings gibt es diese Chancen nicht umsonst. Wer von ihnen profitieren will, muss von einem beliebten Trugbild Abstand nehmen: dass wir unser Leben restlos planen können. Sich mit dem Zufall zu beschäftigen lehrt Bescheidenheit.

Im Grunde wissen wir, wie oft wir uns Sicherheit nur einreden. Wenn wir uns näher mit dem Phänomen Zufall beschäftigen, weichen solche Trugschlüsse dem Vertrauen auf das Unverhoffte – und dem Selbstbewusstsein, aus Überraschungen das Beste machen zu können. Den Zufall zu kennen beruhigt. Wenn wir uns auf das Ungewisse einlassen, werden wir viel öfter von ihm beschenkt, als wir es erwarten. Mit Wundern ist zu rechnen.

Teil IEntstehung

Kapitel 1Ein Gott mit zwei Gesichtern

Wie uns der Zufall begegnet

Barry Bagshaw verlor seinen Sohn aus den Augen, als der Junge fünf Jahre alt war. Damals diente Bagshaw als Soldat der britischen Armee in Hongkong. Seine in England zurückgebliebene Frau konnte das Alleinsein nicht ertragen. Nach Monaten der Einsamkeit verliebte sie sich in Bagshaws besten Freund und zog mit dem Kind zu ihm. Als Bagshaw nach seiner Rückkehr dort anrief, wollten weder seine Frau und sein Freund noch sein Sohn etwas von ihm wissen. Verbittert brach Bagshaw jeden Kontakt zu seiner Familie ab. Als er diesen Schritt nach Jahren bereute und sich auf die Suche machte, war es zu spät: Er konnte seinen Jungen nicht mehr ausfindig machen.

Während eines Einsatzes in Nordirland verwundete ihn eine Bombe; Bagshaw musste den Armeedienst quittieren und nahm eine Stelle als Taxifahrer im Seebad Brighton an. Am Abend des 7. August 2001, mehr als drei Jahrzehnte nach der Trennung von seiner Familie, wird er zu einem Motel bestellt. Ein Paar steigt ein. In der Dunkelheit kann Bagshaw die Gesichter kaum ausmachen. Nachdem er den Motor angelassen hat, hört er, wie sich die Frau über den ungewöhnlichen Nachnamen auf der Taxilizenz wundert. Dann fragt eine männliche Stimme: »Ist Ihr Vorname Barry?« Bagshaw zögert. »Woher wissen Sie das?« Schweigen. An der nächsten roten Ampel dreht er sich um. Da sitzt ein gedrungener Mann, Mitte dreißig vielleicht: »Mein Vater hieß so.«

»Und Ihre Mutter Patricia.« Der andere nickt.

»Sie sind Colin Bagshaw.«

»Ja.«

Barry bringt kein Wort mehr heraus. Er fährt weiter. Plötzlich hält er an, läuft um den Wagen, reißt die Autotür auf und umarmt den Fahrgast. »Lass uns etwas trinken gehen.« In einem Pub gehen die beiden die Namen aller Verwandten durch, die ihnen einfallen. Nein, da kann kein Zweifel bestehen: Der Kunde ist Bagshaws verlorener Sohn. Jetzt erst erfährt Barry, dass Colin nach Südafrika ausgewandert und erst vor wenigen Wochen zurückgekehrt ist. In einem Hotel in Brighton hat er Arbeit als Manager gefunden – nur ein paar Straßen vom Haus seines Vaters entfernt, den er für tot hielt. Hat eine Ahnung ihn in diese Stadt geführt? Und vor allem: Wieso schickte die Zentrale unter hunderten anderen an diesem Abend gerade Barrys Taxi zu dem Motel?[4]

Alles Zufall? Geschichten wie diese faszinieren uns und hinterlassen uns ratlos. Ein Wiedersehen wie das von Vater und Sohn Bagshaw, über das sogar die BBC berichtete, ist dermaßen unwahr-scheinlich, dass selbst skeptische Zeitgenossen kaum anders können, als dahinter eine höhere Absicht zu vermuten.[5] Gibt es da eine Macht, die es gut mit uns meint?

Schon der Alltag gibt oft genug Anlass zu solchen Fragen. Die Freundin ruft genau in dem Moment an, da man an sie denkt. Menschen werden zusammengeführt, weil der eine von ihnen eine Flaschenpost oder einen Luftballon ausgesandt hat – wie der Hamburger Wolfgang Staude, der in der Silvesternacht 2002 an einem gelben Gasballon eine Karte mit seiner Telefonnummer aufsteigen ließ. Hundert Kilometer entfernt ging die Botschaft nieder – ausgerechnet im Apfelbaum eines Freundes aus Kindertagen, zu dem Staude längst den Kontakt verloren hatte.[6] Und jeder Liebende zweifelt ohnehin daran, dass allein der Zufall ihn mit seinem Partner zusammengebracht hat.

Für Barry Bagshaw hatte das Taxi schon einmal sein Leben verändert. Zwei Jahre vor dem Wiedersehen mit seinem Sohn schickte ihn die Zentrale bei einer Französin vorbei, die zum Flughafen fahren wollte. Die Frau war in Tränen aufgelöst: Sie musste zur Beerdigung ihrer Mutter in die Heimat reisen. Auf den sechzig Kilometern nach Gatwick gab ein Wort das andere, und am Ziel verriet sie Bagshaw ihre Telefonnummer. Als die Dame aus Frankreich zurückgekehrt war, rief er an. Die beiden gingen essen, und nach ein paar gemeinsamen Abenden verloren sie ihr Herz aneinander. Wenig später heirateten sie. Die Jahrzehnte der Einsamkeit sind für Barry Bagshaw vorbei.

»Zufall ist das Pseudonym Gottes, wenn er nicht selbst unterschreiben will«, hat der Dichter Anatole France einmal behauptet.

Die Willkür des Schicksals

Einen Sinn in dem zu sehen, was uns zustößt, tut uns wohl. Nach einem solchen Halt sehnen wir uns umso mehr, wenn unerklärliche Begebenheiten uns nicht ein freudiges Wiedersehen oder Liebesglück bescheren: Zufälle haben auch die Macht, unsere Existenz zu zerstören.

Am Abend des 10. September 2001 räumt Felix Sanchez sein Büro im Südturm des World Trade Center. Sein Traum von der Selbständigkeit wird ihm am kommenden Tag das Leben retten. Sanchez hat seine Arbeit bei der Investmentbank Merrill Lynch gekündigt, um sein Geld fortan als freier Finanzberater für seine Landsleute aus der Dominikanischen Republik zu verdienen, wie Reporter der New York Times später recherchierten.[7] Die Geschäfte laufen von Anfang an glänzend; genau zehn Wochen später macht er sich auf den Weg in seine Heimat. So besteigt er am 12. November die Morgenmaschine der American Airlines nach Santo Domingo, Flugnummer 587 – das Flugzeug, das gleich nach dem Start über dem New Yorker Stadtteil Queens abstürzt und aus dem niemand lebend entkommt.

Unter den 258 Passagieren ist auch die Serviererin Hilda Mayor.[8] An dem Vormittag des 11. September, als die beiden entführten Jets in die Wolkenkratzer rasten, hat sie in einem Restaurant im ersten Stock des World Trade Center bedient und ist dem Inferno entkommen. Nun stirbt auch sie in der Unglücksmaschine nach Santo Domingo – über einer Wohngegend von Queens, in der viele Feuerwehrleute leben. Die Trümmer des Airbus stürzen in die Gärten von Eltern, die ihre Söhne bei den Rettungsversuchen des 11. September verloren haben.

Es ist schon gespenstisch genug, dass New York binnen weniger Wochen zweimal von Katastrophen heimgesucht wurde, in denen Flugzeuge eine wichtige Rolle spielten – auch wenn die Ermittlungsbehörden versicherten, Ursache für den Absturz der American-Airlines-Maschine sei ein technisches Versagen gewesen, wie es jederzeit und überall auftreten könne. Dass Menschen wie Sanchez und Mayor aber scheinbar durch ein Wunder von einem Desaster verschont bleiben, nur um kurz darauf einem anderen zum Opfer zu fallen, übersteigt unsere Vorstellungskraft.

Unserem Wesen entspricht es, zielgerichtet zu denken und zu handeln; wir können und wollen nicht glauben, dass sich das Universum so offenkundig sinnlos verhält. Oder sollte der chinesische Philosoph Laotse Recht gehabt haben? »Die Himmel erachten die Menschen als Heuhunde«, schrieb er. Zu Zeiten Laotses flochten die Gläubigen Hunde aus Heu und stellten sie vor ihre Altäre, um das Unglück abzuwehren. War das Ritual vorüber, wurden die Heuhunde auf die Straße geworfen und von den Passanten zertrampelt.

Zwei Arten von Zufall

Viele Menschen zweifeln insgeheim, ob es Zufälle wirklich gibt. Sie haben das Gefühl, dass alles, was ihnen zustößt, einem Plan folgt, einer Vorsehung. Und nicht wenige sind überzeugt, diesem ihrem Schicksal in die Karten schauen zu können, indem sie Horoskope befragen oder einen Wahrsager zu Rate ziehen. Selbst ein Staatschef wie François Mitterrand, ein Intellektueller, pflegte vor wichtigen Entscheidungen seine Astrologin zu konsultieren.

Aber sollte uns tatsächlich ein Schicksal an seinen Fäden führen wie Marionetten, welche Rolle spielt dann der Zufall in unserem Leben? Nennen wir einfach nur solche Begebenheiten zufällig, die zwar einem Plan folgen, der uns in unserer Unwissenheit aber verborgen bleibt? Wovon reden wir überhaupt, wenn wir »Zufall« sagen?

»Zufälle sind Vorfälle, die unversehens kommen«, schreiben die Brüder Grimm in ihrem Wörterbuch der deutschen Sprache lakonisch und setzen hinzu: »Der Zufall bezeichnet das unberechenbare Geschehen, das sich unserer Vernunft und unserer Absicht entzieht.»[9] Genau in dieser doppelten Weise verwenden wir diesen Begriff: Als Zufall erscheint uns ein Vorkommnis, hinter dem wir entweder keine Regel erkennen oder das keiner geplant hat.

Die erste Bedeutung ist die einfachere: Zufällig ist, was wir nicht anders erklären können oder wollen. In zufälligen Abständen prasseln die Regentropfen aufs Fenster; wir können keine Ordnung dahinter sehen. So gebraucht auch die Wissenschaft dieses Wort. Wenn Sie Milch in Ihren Kaffee gießen, bildet sie zufällige Schlieren, bevor sie sich in der ganzen Tasse verteilt. Das ist für einen Physiker eine typische Wirkung des Zufalls, denn er kann die Strukturen, die bei diesem Mischvorgang entstehen, nicht genau berechnen. Davon können Sie sich leicht überzeugen: Jedes Mal, wenn Sie von neuem Milch in den Kaffee geben, werden die Muster etwas anders aussehen.

Die zweite Bedeutung von »Zufall«, die wir oft im Alltag verwenden, ist komplizierter. »Was für ein Zufall!«, sagen wir, wenn Ereignisse so zusammenfallen, dass wir darin einen Sinn sehen, obwohl dieses Zusammenfallen offenbar niemand angestrebt hat. Dies nennt man Koinzidenz; wir könnten auch von »unglaublichen Zufällen« sprechen. So fragen wir uns, ob nicht doch eine lenkende Hand im Spiel ist, wenn die Freundin gerade in dem Augenblick anruft, da wir an sie denken – oder wenn ausgerechnet Barry Bagshaw mit dem Taxi vorfährt, um seinen verlorenen Sohn abzuholen.

Eine solche Begebenheit erscheint uns umso bemerkenswerter, für je weniger wahrscheinlich wir sie halten. In diesem Sinn des Wortes ist ein »Zufall« also ein auffälliges Geschehen, das sich nicht so recht aus dem gewohnten Lauf der Dinge heraus erklären lässt.

Was wir als erstaunlich empfinden, hängt allerdings von unserer Perspektive ab. Wer eine dringende Nachricht von seiner Freundin erwartet, wird kaum Telepathie vermuten, wenn sie sich prompt meldet. Es sind also nicht die Ereignisse selbst, die uns bemerkenswert erscheinen, sondern die unbeabsichtigten Zusammenhänge, die wir darin sehen. Sie bringen uns mitunter zum Grübeln, ob sich dahinter nicht doch tiefere Gründe verbergen. Denn unser Gehirn ist, wie wir sehen werden, darauf programmiert, nach verborgenen Plänen zu suchen.

Weil Zufall eine Frage des Blickwinkels ist, fällt es oft gar nicht leicht, sich darüber zu verständigen. Was dem einen höchst verblüffend vorkommt, findet der andere banal. Der Münchner Komiker Karl Valentin nimmt das aufs Korn, wenn er über einen aus seiner Sicht unglaublichen Zufall philosophiert: »›Denkens Ihnen nur, ich und der Anderl gehen gestern in der Kaufinger Straße und reden grad so von einem Radfahrer – im selben Moment, wo wir von dem Radfahrer sprechen, kommt zufälligerweise grad einer daher.‹ ›Und, weiter, was hat er getan?‹, fragt sein Gegenüber, der Kapellmeister. ›Gar nichts! Weitergfahrn is er wieder.‹ ›Also, das ist doch nichts Besonderes, wenn da in der Kaufinger Straßn a Radfahrer daherkommt! Da kommt fast alle Meter wieder a anderer Radfahrer daher!‹ Der Kapellmeister ist entgeistert, Valentin bleibt ungerührt: ›Ja, aber net, wenn man davon redt!‹«[10] So könnten sie sich ewig streiten, denn Recht haben beide: Der Kapellmeister meint Zufall in der ersten, der Komiker in der zweiten Bedeutung des Wortes.

Hoffen und Bangen

Ob regelloses Ereignis oder ungewollter Zusammenhang – Zufälle faszinieren uns, weil sie sich offenkundig unserem Einfluss entziehen. Allerdings betrachten wir sie mit gemischten Gefühlen: Positive Überraschungen sind wunderbar, doch nicht zu wissen, was die Zukunft bringt, kann uns sehr belasten. Unsicherheit ist Stress.

Ohnehin beschäftigen uns Risiken mehr als Chancen. Die Evolution hat Angst als Signal hervorgebracht, um uns vor Gefahren zu schützen; wenn wir gleich viel Anlass zu Furcht und Hoffnung haben, überwiegt daher immer das negative Gefühl. Oft ist die Sorge sogar dann stärker, wenn wir objektiv mehr Gründe zur Vorfreude haben. So hat uns die Natur konstruiert.[11] Deswegen haben die Menschen schon immer versucht, auf höhere Mächte Einfluss zu nehmen – meist, um sich vor Miseren zu schützen, manchmal auch, um ihr Glück zu befördern. Dreimal auf Holz geklopft, einen Talisman an den Schlüsselbund gehängt, der Muttergottes eine Kerze gestiftet: Wenn es schon nicht nützt, wird’s auch nicht schaden, und zur eigenen Beruhigung dienen solche Vorkehrungen auf jeden Fall. Aber gibt es wirklich Instanzen, die sich auf diese Weise umstimmen lassen?

Selbst die nüchternsten Menschen sind in dieser Frage so rettungslos ambivalent, wie es der dänische Nobelpreisträger Niels Bohr war, der als Vater der modernen Atomphysik dem Zufall in der bis dahin streng mechanistischen Naturwissenschaft Geltung verschaffte. Trotzdem hatte er über der Tür seines Ferienhauses ein Hufeisen hängen, wie Kollegen berichten. Wenn Physiker auf Besuch anmerkten, dass gerade er es doch besser wissen müsste, pflegte Bohr lächelnd zu erwidern: »Es hilft auch, wenn man nicht daran glaubt.«[12]

Eine unsichere Welt

Viele Menschen haben das Gefühl, ihnen wachse über den Kopf, was um sie geschieht. Denn die Welt ist so unübersichtlich und vor allem unkalkulierbar geworden, dass wir uns immer öfter als Spielball des Zufalls empfinden. Zwei Drittel aller Westeuropäer glauben, die nächste Generation werde in einer weniger sicheren Welt leben als heute.[13] Noch für die mittlerweile Sechzigjährigen war es absehbar, wie ein Leben verlaufen würde. Wer im Nachkriegsdeutschland tüchtig war, konnte sich auf Wohlstand und Arbeit bis zur Pensionierung verlassen. Heute ist so etwas wie Karriereplanung beinahe Makulatur. Hoch qualifizierte Angestellte, gerade noch für viel Geld als Hoffnungsträger eingestellt, treffen sich auf dem Arbeitsamt wieder – weil in der Firma die erwarteten Aufträge ausblieben, der Job einer undurchsichtigen Fusion zum Opfer fiel oder auch nur die Stimmung im Vorstand sich gedreht hat.

Natürlich waren die Menschen schon immer Risiken ausgesetzt. Aber in der Vergangenheit waren die Feinde meist bekannt: Krankheiten rafften Schwache dahin, Missernten ließen Bauernfamilien hungern, Frauen starben im Kindbett. Und mitunter machten Naturgewalten die Anstrengungen von Jahrzehnten zunichte: Lawinen verschütteten Alpendörfer, bei Sturmfluten an der Nordseeküste war für die Bewohner der Halligen Land unter. Und doch lebten die Betroffenen in einer überschaubaren Welt. Jeder Mensch wusste, was er zu befürchten hatte – und worauf er hoffen durfte. Schließlich waren auch seine Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, begrenzt, ebenso die Menge der jungen Männer oder Frauen, die als Ehepartner in Frage kamen.

Das hat sich geändert. Wir treffen Menschen aus allen Teilen der Erde, verlieben uns auf Reisen und führen Fernbeziehungen über Kontinente hinweg. Technische Neuerungen wie das Internet wälzen rasend schnell die Arbeitswelt um. Innerhalb von nur fünf Jahren wachsen die Unternehmen der »neuen Wirtschaft« heran – und brechen noch schneller wieder zusammen, die Hoffnungen Hunderttausender Menschen mit ihnen. Zuvor unbekannte Seuchen wie SARS oder Aids breiten sich aus. Die Mauer fällt, über Nacht bekommen Deutschland und Europa ein neues Gesicht. Und was am 11. September 2001 geschieht, ist für die meisten Menschen bis heute unfassbar.

Selbst Experten sind heute damit überfordert, Prognosen auch nur für die nähere Zukunft abzugeben. Denn der stürmische Fortschritt der Technik, die Mediengesellschaft mit ihrer Flut neuester Meldungen von überall her und die immer stärkere globale Verflechtung von Unternehmen und Staaten haben Entwicklungen unüberschaubar gemacht. Zunehmend scheinen kleine, zufällige Ereignisse den Lauf der Geschichte zu bestimmen. Wen hätten die Deutschen zu ihrem Bundeskanzler gewählt, wäre nicht im Sommer 2002 die Elbe über die Ufer getreten? Wie wäre die Geschichte verlaufen, hätten die Fluglehrer der Al-Qaida-Piloten Verdacht geschöpft? Und wie sähe die Welt heute aus, wenn nicht ein paar hundert Rentner in Florida bei der Präsidentschaftswahl 2000 ihren Wahlzettel missverstanden hätten?

Ungewissheit birgt Chancen

Wir sehen dem Zufall ins Gesicht wie niemals zuvor. Bei allen Klagen über die Risiken unserer vernetzten Welt übersehen wir jedoch leicht, welche Chancen sie bietet. Zum Beispiel kann eine arbeitslose Sozialarbeiterin schlagartig zu märchenhaftem Reichtum gelangen, weil sie für ihren Sohn zur richtigen Zeit die richtige Geschichte aufgeschrieben hat. Niemand mochte Joanne K. Rowling einen solchen Erfolg voraussagen – schon gar nicht die Fachleute in all den Verlagen, die ihren ersten »Harry Potter«-Roman abgelehnt haben.

Und hätten Sie im Jahr 1988 darauf gewettet, wie bald Deutschland wieder vereinigt sein würde – ganz ohne Gewalt? Das entscheidende Ereignis verdanken wir einem Zufall. Am 9. November 1989 verliest das Ostberliner Politbüromitglied Günter Schabowski vor laufenden Kameras verwirrt und gegen die Absicht seiner Regierung einen Zettel, den ihn jemand zugesteckt hat: Ab sofort dürfe ausgereist werden. Blitzschnell verbreitet sich die Nachricht, vor den jubelnden Massen räumen die Grenztruppen das Feld.

Wer sich in einer so komplexen Welt zurechtfinden und heimisch fühlen will, tut gut daran, sich mit dem Phänomen Zufall zu befassen. Denn Sicherheit ist nirgends mehr garantiert. Wer aber das Unvorhersehbare zu erkunden sucht, wird erkennen, dass Zufall alles andere als Chaos bedeutet. Auch das offenbar Planlose folgt Gesetzen. Um sie zu durchschauen, müssen wir den Zufall näher kennen lernen. So finden wir nicht nur Antworten auf Fragen, vor die uns unglaubliche Begebenheiten immer wieder stellen, sondern fühlen uns auch den Wechselfällen des Lebens weniger ausgeliefert. Nur wer mit den Prinzipien vertraut ist, die hinter Glücksfällen wie dem Wiedersehen von Vater und Sohn Bagshaw – und dem von Millionen Deutschen – stehen, kann die Chancen unserer Zeit nutzen.

Kapitel 2Die Gesetze des Zufalls

Warum wir mit dem Außergewöhnlichen rechnen müssen

Ein Mann geht im Sturm an einem Baukran vorbei. Auf dem Kran, der leicht schwankt, fährt gerade eine Palette Ziegel nach oben. In diesem Moment lösen sich ein paar Steine aus dem Verbund. Ein Ziegel trifft den Mann am Kopf. Aber weil vor einer Zehntelsekunde jemand von der anderen Straßenseite seinen Namen gerufen hat, wendet er sich um. So schrammt ihn der Stein nur leicht an der Schläfe, und er kommt mit einer Platzwunde davon.

Zufall? Wie gesagt, nennen wir Ereignisse zufällig, die wir nicht anders erklären können. Das Glück im Unglück unseres Helden aber können wir scheinbar begründen: Es ist möglich, jeden einzelnen Umstand nachzuvollziehen, der zu dem gefährlichen Zwischenfall führte. Dass ein Freund gerade des Weges kam und den Mann ansprach, rettete ihm vermutlich das Leben. Andererseits: Hätte er nicht gerade in diesem Moment unter dem Kran gestanden, hätte der Stein ihn überhaupt nicht getroffen. Und hätten es die Bauarbeiter mit den Sicherheitsvorschriften genauer genommen, wäre der Ziegel gar nicht erst ins Rutschen geraten.

Diese Koinzidenzen erklären alles – und nichts. Schließlich können wir das Spiel weitertreiben: Warum ging der Mann just in diesem Augenblick hier vorbei? Weshalb waren die Arbeiter so schlampig? Und hatte nicht auch der Sturm seinen Anteil an dem Verhängnis? So erfahren wir immer mehr Details der Geschichte. Der Mann passierte den Kran ausgerechnet in dieser Sekunde, weil er kurz vorher auf der Straße eine Kollegin getroffen und sich mit einem Schwatz aufgehalten hatte. Der Arbeiter, der den Kran beladen hatte, galt zwar als sorgsam, war aber an diesem Morgen mit seinen Gedanken woanders – vielleicht bei seiner Frau, die zur selben Zeit ihr erstes Kind auf die Welt bringen sollte. Und den Sturm hatte ein über dem Atlantik entstandenes Tiefdruckgebiet mitgebracht.

Wer noch mehr nachforscht, wird sich in eine schier unendliche Folge von Ursachen und Wirkungen verstricken. (Weshalb flanierte der Freund auf der anderen Straßenseite entlang? Wieso hatten sich über dem Ozean Turbulenzen zusammengebraut?) Aber wie viele Details wir auch sammeln mögen – es lässt sich im Nachhinein keinerlei Zwangsläufigkeit finden, warum ausgerechnet unserem Helden auf dieser Baustelle ein Unglück geschehen musste und er doch mit einer leichten Verletzung davonkam. Noch weniger hätten wir den Unfall voraussagen können – selbst dann nicht, wenn wir schon zuvor gewusst hätten, dass eine Kollegin den Mann aufhalten, ein Bauarbeiter an diesem Morgen schludrig arbeiten und ein starker Wind gehen würde.

Die Handschrift des Unerklärbaren

Etwas zu erklären heißt ganz allgemein, einen komplizierten Zusammenhang auf eine einfachere Formel zu bringen. Damit scheitern wir bei unserer kleinen Geschichte, da sie zu viele und zu komplexe Zusammenhänge enthält. Wir können das Geschehen nicht schlüssig erklären, selbst wenn wir beliebig viele Einzelheiten kennen.

In der mathematischen Informationstheorie nennt man einen Sachverhalt »zufällig«, wenn er sich nicht weiter vereinfachen lässt. Vergleichen Sie einmal die beiden Zahlenreihen 2 – 7 – 12 – 17 – 22 – 27 – 32 – 37 und 5 – 9 – 14 – 18 – 32 – 38 – 20 – 8. Das eine ist der Fahrplan der U-Bahn, die von meinem Berliner Büro zum Alexanderplatz fährt; das andere sind die Gewinnzahlen des Mittwochslottos vom 1. Oktober 2003 mit Zusatz- und Superzahl. Die Abfahrtzeiten können wir uns auch einfacher merken: zwei nach der vollen Stunde, dann alle fünf Minuten. Wenn wir das noch kürzer, nämlich als 2 + 5 schreiben, genügen ganze drei Zeichen, um die mehr als hundert Abfahrten eines ganzen Tages auszudrücken. Bei den Lottozahlen gibt es eine solche Kurzformel nicht. Um sechs ein- oder zweistellige Gewinnzahlen samt Zusatz- und Superzahl anzugeben, benötigen wir jede einzelne Ziffer. Genau das ist das Merkmal einer Zufallszahl: Es gibt keine kürzere Form, sie auszudrücken, als durch die Ziffer selbst.[14] Nicht anders verhält es sich im Alltag. Um ein regelhaftes Ereignis zu erzählen, genügen wenige Worte. Wollen Sie beispielsweise mitteilen, welche Haltestellen Sie auf Ihrer U-Bahn-Fahrt vom Bahnhof Zoologischer Garten zum Alexanderplatz gesehen haben, sagen Sie einfach: »Ich habe die U2 genommen.« Die Namen der Stationen und deren Aussehen kann sich dann jeder Ortskundige zusammenreimen. Interessiert sich Ihr Gesprächspartner hingegen dafür, wer auf dieser Fahrt alles zufällig in Ihren Waggon ein- und ausgestiegen ist, werden Sie ihm eine Liste mit Dutzenden von Personenbeschreibungen zusammenstellen müssen.

Sie mögen einwenden, dass Sie mit einigem Nachdenken vielleicht doch eine Regel finden könnten, um die obigen Lottozahlen kürzer auszudrücken. Tatsächlich lässt sich dies nie sicher ausschließen. Wie der amerikanische Mathematiker Gregory Chaitin gezeigt hat, existiert im Allgemeinen kein Kriterium, um festzustellen, ob es zwischen scheinbar willkürlichen Daten nicht doch einen inneren Zusammenhang gibt. Chaitins Satz bezieht sich zwar auf unendlich lange Datenreihen – also nicht auf Lottozahlen. Doch gerade deswegen handelt es sich um weit mehr als eine mathematische Spitzfindigkeit. Wie wir nämlich sahen, kann man aus fast jeder alltäglichen Begebenheit eine beliebig lange Geschichte machen, also unendlich viele Daten erzeugen. Darum folgt aus Chaitins Einsicht, dass wir nie wissen können, ob eine Verkettung von Ereignissen, sei es eine beliebige Zahlenfolge oder ein beinahe tödlicher Unfall unter einem Kran, wirklich zufällig zustande gekommen ist. Man kann den Zufall nicht beweisen.[15] So gesehen hat immer Recht, wer in einem Ereignis nicht den Zufall am Werk sehen will, sondern nach tieferen Begründungen sucht.

Die magische Zahl Sieben

Unser Gehirn kann von der Jagd nach Erklärungen ohnehin nicht lassen, denn das Gedächtnis ist auf Ordnungen angewiesen. Warum das so ist, können Sie sich leicht am Beispiel des U-Bahn-Fahrplans und der Lottozahlen klar machen. Vielleicht sind Ihnen die Abfahrtszeiten nicht mehr gegenwärtig, doch Sie werden sich schnell daran erinnern, dass es immer um die Minuten zwei und sieben ging. Aber wie lauteten die Gewinnzahlen vom 1. Oktober 2003? Weil wir in ihnen kein System erkennen, ist es fast unmöglich, sie im Gedächtnis zu behalten. Die darin enthaltene Information lässt sich eben nicht auf eine einfache Regel reduzieren. So müssen wir die ganze Folge auswendig lernen. Das kostet Mühe, und die Wahrscheinlichkeit, Fehler zu machen, ist hoch. Darum tun wir uns so schwer mit unübersichtlichen Situationen: Je weniger Bedeutung wir darin erkennen, desto mehr Wachsamkeit und Speicherplatz im Gedächtnis brauchen wir, um sie verarbeiten.

Denn die Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist begrenzt. Der Flaschenhals, den alle Informationen passieren müssen, ist unsere Aufmerksamkeit – genauer gesagt das Arbeitsgedächtnis. Dieses System im Gehirn jongliert gewissermaßen mit verschiedenen Sinneseindrücken zugleich und hält diese Informationen für den aktuellen Denkvorgang parat. In den 1950er Jahren zeigte der amerikanische Psychologe George Miller, wie wenig Daten das Arbeitsgedächtnis verarbeiten kann: nämlich sieben +/– zwei voneinander getrennte Informationen.[16] Geht die Vorstellung von der magischen Zahl Sieben, die überall in der Kulturgeschichte von den sieben Wochentagen über die sieben Todsünden bis zu den sieben Weltwundern auftaucht, also auf die Beschränktheit unseres Gehirns zurück?

Millers Experimente zur menschlichen Merkfähigkeit wurden immer wieder auf die Probe gestellt, die Theorien über die Funktion des Gehirns immer weiter verbessert, doch die Ergebnisse des Psychologen hielten stand. Allenfalls ist die Zahl Sieben nicht ganz wörtlich zu nehmen: Neuere Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses sogar noch etwas geringer ausfallen könnte. Aber es kommt nicht sehr darauf an, ob das Gehirn mitunter schon mit fünf neuen Informationen ausgelastet sein könnte – entscheidend ist, dass der Flaschenhals in das menschliche Bewusstsein sehr eng ist.[17] Zufälle, unerwartet und regellos wie sie kommen, sperren sich der Vereinfachung. Deshalb sind sie wie Widerhaken für die Datenverarbeitung im Kopf. Letztlich jedoch ähnelt das Durcheinander des Lebens mehr einer wirren Zahlenfolge als einem Fahrplan. Kein Wunder, dass unser Gehirn seine Schwierigkeiten damit hat.

Regeln gegen die Datenflut

Zu viel und zu komplizierte Wirklichkeit können wir nicht ertragen. Um die Übersicht in einer verwirrenden Welt zu bewahren, versuchen wir deshalb, unsere Beobachtungen in Regeln zu gießen. Merksprüche bringen zufällige Daten in eine eingängige Form (»Sieben fünf drei kroch Rom aus dem Ei«); Sprichwörter sollen die Vielfalt menschlichen Verhaltens (»Stille Wasser sind tief«) und Bauernregeln die Launen des Wetters begreiflicher machen (»Im August, beim ersten Regen, pflegt die Hitze sich zu legen«). Selbst im Sinnlosen noch versuchen wir mit meist wenig aussagestarken Weisheiten eine Gesetzmäßigkeit zu erkennen. (»Ein Unglück kommt selten allein.«) Natürlich wissen wir – meistens –, dass die Welt nicht so einfach ist, wie wir sie uns zurechtschustern. Aber wir haben gar keine Alternative, als uns ein grobes Schwarzweißbild unserer Umgebung zu machen. Mehr Realität würde das Aufnahmevermögen des Gehirns übersteigen und wäre oft nicht einmal nützlich.

Wenn ich Ihnen sage, dass ein Mann braune Haare und Augen hat, aus derselben Familie wie ich stammt und zur selben Schule gegangen ist, ebenso wie ich buschige Augenbrauen hat und seine Stimme der meinen ähnelt, mag das einen Haufen Information über diesen Menschen bedeuten, aber nützlicher ist es doch zu erfahren, dass dieser Herr mein Bruder ist. Nicht alle Informationen haben dieselbe Qualität. Mit einer Regel können wir mehr anfangen als mit einem Durcheinander von Daten. Sie beansprucht nämlich nicht nur erheblich weniger Speicherplatz im Gehirn, sondern erlaubt es auch, Voraussagen zu treffen. Wenn Sie wissen, dass ich knapp 1,90 Meter messe, werden Sie vermuten, dass auch mein Bruder kein Zwerg sein dürfte – tatsächlich ist er kaum zwei Fingerbreit kleiner als ich.

Aber eine Regel nützt nur, wenn sie einen Sachverhalt wirklich auf einen einfacheren Nenner bringt. Das leistet sie dann, wenn sie weniger Worte benötigt als die Erzählung der ganzen Geschichte. Andernfalls wird die Sache nicht erhellt, sondern eher vernebelt, und wir fahren besser, wenn wir bei der Begründung »zufällig« bleiben. So hat schon der Philosoph Leibniz argumentiert: »Wenn eine Regel extrem komplex ist, halten wir das, was aus ihr folgt, für regellos.«[18] Wir können also die Wirkung des Zufalls nur dann ausschließen, wenn sich der Hergang eines Ereignisses durch ein einfaches Muster beschreiben lässt. Sehen wir hingegen den Zufall am Werk, ist das Wechselspiel von Ursache und Wirkung keineswegs aufgehoben – nur vermögen wir die Ursachen des Geschehens nicht vollständig zu erklären.

Forschung am Spieltisch

Bis vor historisch nicht allzu langer Zeit haben sich die Menschen und auch die Wissenschaft mit dieser Erkenntnis zufrieden gegeben. Man fand sich damit ab, dass die meisten Ereignisse eben nicht zu verstehen sind. Selbst eine wissenschaftlich orientierte Kultur wie die Gesellschaft der griechischen Antike nahm an, Ordnung sei nur im ewigen Lauf der Gestirne zu finden. Über die Erde dagegen regierten die Götter, und deren Ratschluss sei unergründlich.

Diese resignierte Einstellung der Menschen zum Zufall begann sich erst vor 500 Jahren zu ändern. In der Renaissance wurde das Glücksspiel salonfähig, und was Mathematiker mit seiner Hilfe über den Zufall herausfanden, gehört bis heute zu den größten Leistungen der modernen Zivilisation.

Denn die Bedeutung ihrer Erkenntnisse geht weit über das Zocken hinaus. Ob Würfeln, Kartenspiel oder Roulette – jedes Glücksspiel ist ein stark vereinfachtes Modell des Lebens. Wie im Alltag bestimmen unkontrollierbare Einflüsse das Geschick: Die Roulettekugel wird durch den Kessel geschleudert, und niemand kann sagen, welche Zahl fallen wird. Allerdings haben Menschen in der realen Welt nahezu unbegrenzt viele Möglichkeiten, Entscheidungen zu treffen; praktisch unendlich viele Lebenswege sind möglich. Beim europäischen Roulette hingegen muss eine der Zahlen zwischen 0 und 36 fallen. Anders als das Leben sind Glücksspiele übersichtlich – und darum perfekt geeignet, das Wirken des Zufalls systematisch zu untersuchen.

So erkannten Pioniere wie der französische Mathematiker Pierre Fermat und der Mailänder Arzt Girolamo Cardano, dass sie sich ins Glücksspiel stürzen mussten, um »das vertraute Gesetz in des Zufalls grausenden Wundern« zu entdecken, wie Schiller es ausgedrückt hat. Vor allem dem Universalwissenschaftler Cardano dürfte das nicht schwer gefallen sein. »Ich habe nicht wenig Trost im unentwegten Würfelspielen gefunden«, bekannte er und warnte vor Zeitgenossen, »die Karten mit Seife einschmieren, damit sie leicht gleiten und die eine mit der anderen mitrutscht«.[19] Fermats Kollege Blaise Pascal, der sich nach einem mondänen Pariser Leben ins Kloster zurückgezogen hatte, soll in seiner Zelle sogar mit einem Vorläufer des Roulettes experimentiert haben.

Um dem Zufall auf die Spur zu kommen, fand Cardano ein genial einfaches Verfahren – zählen. Nehmen wir das primitivste Glücksspiel überhaupt: eine geworfene Münze. Wie das Geldstück in der Luft rotiert, lässt sich kaum vorhersagen. Und da wir diese Bewegung nicht kennen, können wir auch nicht wissen, ob am Ende »Wappen« oder »Zahl« fallen wird. Darum hat jeder einzelne Münzwurf ein zufälliges Ergebnis. Und doch ist die Annahme sicher vernünftig, dass alle Würfe ähnlich verlaufen. Die Münze bleibe ja immer dieselbe, argumentierte Cardano. Wäre es darum nicht klug, immer wieder zu werfen und zu sehen, wie häufig jede Seite oben liegt? So entdeckte der manische Spieler Cardano das Gesetz der Wahrscheinlichkeit: Wenn es zwei gleichermaßen wahrscheinliche Möglichkeiten gibt, sorgt der Zufall dafür, dass die eine auf Dauer ungefähr so häufig wie die andere eintritt – »falls es ein ehrlicher Wurf ist«, wie Cardano nie hinzuzufügen vergaß.[20] Für »Wappen« wie für »Zahl« stehen die Chancen 50 zu 50. Die Wahrscheinlichkeit für jede der beiden Möglichkeiten beträgt also ½.

Muss demgemäß nach einer Folge von dreimal »Wappen« ein paar Mal »Zahl« kommen, damit die Bilanz wieder ausgeglichen ist? Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Wenn dem so wäre, könnten wir ja das Ergebnis des vierten Wurfs vorhersagen – und damit den Zufall austricksen. Um einem solchen Irrtum aufzusitzen, war Cardano jedoch ein viel zu erfahrener Spieler: Aus gutem Grund sprach er von »ungefähr« und »auf Dauer«.

Was dies genau zu bedeuten hat, erklärte gut 170 Jahre nach Cardano der Basler Mathematiker Jakob Bernoulli: Wahrscheinlichkeiten erlauben keine Prognose über einzelne Ereignisse. Sie geben nur einen Anhaltspunkt dafür, wie die Resultate bei sehr vielen Wiederholungen ausfallen. Wenn also eine Münze hundertmal in die Luft geworfen wurde und 54-mal auf die Zahl, 46-mal auf das Wappen gefallen ist, dann können Sie daraus nicht schließen, wie das 101. Experiment ausgehen wird. Wohl aber können Sie annehmen, dass sich nach den nächsten hundert Würfen ein ähnliches Verhältnis von »Zahl« zu »Wappen« einstellen wird. Und je mehr Würfe in Ihre Statistik eingehen, desto weniger fällt die Differenz der Ergebnisse ins Gewicht. Das hat Bernoulli bewiesen. Nach 1000 Würfen werden Sie also vielleicht bei 511 zu 489 liegen – auf das geringe Übergewicht von 11-mal »Zahl« kommt es bei so vielen Würfen nun wirklich nicht an.

Mit dem Wirken des Zufalls verhält es sich ein wenig so, als würden Sie aus Steinen einen Hügel aufschütten. Schichten Sie nur wenige Brocken auf, werden Sie kaum eine regelmäßige Form erreichen. Tragen Sie dagegen viele Steine zusammen, verunstalten zwar noch immer viele Zacken und Klüfte die Oberfläche Ihres Hügels.

Doch wenn Sie das Gebilde nun aus der Ferne bewundern, erkennen Sie die Unebenheiten nicht mehr: Sie sehen einen wohlgeformten Kegel. Genauso verschmelzen viele einzelne Zufälle beim Blick aus der Distanz – also beim Betrachten sehr vieler gleichartiger Ereignisse – zu einem ebenmäßigen Ganzen.

Kapitel 3Kosmisches Casino

Wie der Zufall in die Welt kommt

Mitunter lässt sich der Zufall überlisten. Doyne Farmer versuchte es mit einem Computer im Schuh und hatte Erfolg. So trat er an, die Spielbanken von Las Vegas zu sprengen; er und eine verschworene Gruppe von Freunden waren die einzigen Menschen, die jemals auf Dauer mehr Geld vom Roulettetisch nach Hause trugen, als sie verloren.

Farmer war kein professioneller Zocker, sondern Kosmologe. An der Universität der kalifornischen Küstenstadt Santa Cruz erforschte er die Entstehung von Galaxien, ansonsten vertrieb er sich seine Zeit mit Motorradfahren, seiner Bluesharfe und unzähligen Joints. Das war 1975, zur Spätzeit der Hippie-Bewegung. Als ihm die Einstein’schen Gleichungen und Schwarzen Löcher langweilig wurden, begann er, Motorräder nach Mexiko zu schmuggeln.

Ein Freund weckte sein Interesse am Pokerspiel und führte ihn in den Casinos von Las Vegas ein; Farmer sah seine Chance. »Geld ist Freiheit«, lautete sein Credo. Natürlich wusste er, dass alle bekannten Systeme für das Roulettespiel nur die Bank reich machten. Entweder empfehlen diese, nach jedem Verlust den Einsatz so stark zu erhöhen, bis irgendwann ein Gewinn alle Einbußen ausgleicht – leider geht der Spieler vorher fast immer pleite. Oder die Systemspieler hoffen, aus früheren Ergebnissen auf die Zukunft schließen zu können. Das schlägt noch öfter fehl, denn wie jede einzelne Runde ausgeht, wird vom Zufall bestimmt – und der orientiert sich nun einmal nicht am vorherigen Geschehen: »Neues Spiel, neues Glück.«

Aber wie entsteht eigentlich der Zufall? Beim Roulette offensichtlich durch den Lauf von Kugel und Rad. Diese und nicht die Zahlen der Vergangenheit müsste man beobachten, überlegte Farmer. Wer aus der Bahn der Kugel berechnen könnte, wohin die Reise geht, bräuchte nur rechtzeitig vor dem »rien ne va plus« auf diese Zahl zu setzen. Womöglich lag Fortunas Geheimnis in dem, was Farmer gelernt hatte: Physik.

Mit einem Tonband in der Plastiktüte brach er ins Spielcasino auf. Immer wenn die Kugel einen festen Punkt auf dem Kessel passierte, klopfte er auf das Mikrophon. Dann verglich er die Geräusche auf dem Band mit den notierten Ergebnissen: Wirklich, es gab ein Muster. Farmer kündigte den Job an der Uni, investierte 2000 Dollar und kaufte ein Roulette. Nach kurzer Zeit war sein Haus in ein Physiklabor verwandelt und von Freunden bewohnt, die er mit der Begeisterung für sein Projekt angesteckt hatte. Die »Projektoren«, wie sie sich stolz nannten, vertieften sich in Bewegungsgleichungen, die Luftreibung von Roulettekugeln, die Programmierung von Mikroprozessoren. Bald, so hofften sie, würden die Tage der Freiheit anbrechen, Dollars aus Las Vegas über die Kommune regnen, und jeder bekäme seinen Arbeitseinsatz überreich ausgezahlt.

Nach dem Einwurf rotiert eine Roulettekugel völlig regelmäßig am oberen Rand des Rades. Doch weil der Luftwiderstand sie bremst, sinkt die Bahn der Kugel immer tiefer in den Kessel; der Croupier verkündet sein »Nichts geht mehr«. Erst jetzt kommt der Zufall ins Spiel: Die Kugel trifft auf eine der Rauten im Kessel, prallt ab, springt ein paar Mal hin und her, um beim amerikanischen Roulette schließlich in eines der 38 Nummernfächer zu fallen.[23] Aber auch das tut sie nicht regellos. Den Schlüssel zu seinem Erfolg hatte Farmer schnell entdeckt: Wer abschätzen kann, gegen welche Raute die Kugel zuerst schlägt, kann ziemlich zuverlässig sagen, in welche Zahlenfächer sie nicht fallen wird. Weil sich aber die Kugel bis zu diesem Zeitpunkt gleichmäßig bewegt, lässt sich der erste Aufprall leicht berechnen, wenn man die Geschwindigkeit der Kugel gestoppt hat und den Luftwiderstand kennt. Um die entsprechenden Zahlenfächer auf dem Rad zu finden, muss man dann nur noch dessen Drehgeschwindigkeit berücksichtigen. Nach einer Zeit der Laborversuche konnte Farmer den Weg der Kugel ziemlich sicher voraussagen – so, wie ein Fußballprofi aus der Flugbahn des Balls schließen kann, wo ein Flankenschuss eintreffen wird.

Doch ein Casino ist kein Labor. Ein Besuch dort wäre schnell beendet, würde ein Spieler mit Messgeräten und Computern anrücken, um den Lauf der Kugel zu berechnen. So schneiderten sich die Projektoren Kleider, in denen die Elektronik bei Männern unter der Hüfte, bei Frauen an den Brüsten verschwand. Dann wurden Füße trainiert und Körper verkabelt, denn die Computer waren mit einer Tastatur an den Zehen zu bedienen. Eine Spielbank zu sprengen ist Teamarbeit, darum standen die Rechner aller Projektoren in einem Casino über versteckte Antennen im Funkverkehr und gaben ihre Vorhersagen durch schwache Elektroschocks über Hautkontakte bekannt. Als ein defekter Computer einer Projektorin die Brust versengte, verkleinerte Farmer die Geräte noch weiter und baute sie in Schuhsohlen ein. In der Anfangszeit der Mikrocomputer war das eine enorme technische Leistung.

Zu Neujahr des Jahres 1978 nahm das Team sein System in Las Vegas in Betrieb. Nach ein paar Probeläufen und vielen Besuchen auf der Toilette, um die widerspenstige Technik zu bändigen, begannen sich vor Farmer die Chips aufzutürmen. Dass er immer wieder vom Tisch aufsprang wie von einer Wespe gestochen, weil die Elektronik ihm einen Streich spielte, machte den Croupier zwar misstrauisch, doch die Erklärung, nach einer Mexikoreise plagten ihn entsetzliche Durchfälle, wirkte besänftigend. Nach gut vier Stunden musste Farmer seinen Coup beenden: Die Computer, vom Schweiß der Aufregung durchfeuchtet, hatten aufgegeben.

In den folgenden Jahren gewannen die Projektoren Tausende Dollar. Durchschnittlich bekamen sie für jeden Dollar, den sie einsetzten, pro Spielrunde 1,40 Dollar ausgezahlt. Ihr Vorteil gegenüber der Bank war also gewaltig – im Schnitt hat ein Spieler beim amerikanischen Roulette nach einer Runde von einem Dollar nur noch 95 Cent übrig.[24] Reich wurde Farmers Team trotzdem nicht. Denn die Technik, ständig kaputt, verschlang Unsummen. So löste sich der Freundeskreis auf – die Projektoren mussten sich wieder Arbeit suchen, statt dank phantastischer Gewinne in der erträumten Freiheit zu leben. Doch die Leistung von Farmer und seinen Freunden bleibt unbestritten: Nicht nur hatten sie das bis heute einzige brauchbare System erfunden, den Zufall beim Roulette zu überlisten, sondern sie waren zugleich ungewollt Pioniere der Chaosforschung geworden, von der später in diesem Kapitel die Rede sein soll.

Als das Unternehmen bekannt wurde, warfen die Casinos sofort alle Spieler hinaus, die im letzten Moment vor der Absage setzten – darauf beruhten schließlich die Erfolge der Projektoren. Überdies erließ der Staat Nevada ein Gesetz, das den Einsatz von Computern im Casino verbot.[25] Farmer betreibt seine Methoden heute in größerem Stil. Er hat seiner Hippie-Vergangenheit Lebewohl gesagt, ist zum Professor avanciert und hat in der Goldgräberstadt Santa Fe ein Unternehmen namens »The Prediction Company« gegründet (Die Vorhersagegesellschaft). Die Firma mit 150 Angestellten sucht mit Millionen von Dollars einer Schweizer Großbank an der Börse ihr Glück. Wie seine vom Computer gesteuerten Spekulationen funktionieren und welche Gewinne sie abwerfen, darüber schweigt Farmer sich aus. Doch den Vertrag hätten die Schweizer schon zweimal verlängert.[26]

Die Welt als Uhrwerk

Warum konnten die Projektoren mit ihrer Technik Gewinne einheimsen, aber kein Vermögen machen? Und wie weit lässt sich der Zufall jenseits der künstlichen Welt des Casinos im Alltag beherrschen?

Farmers Erfolge waren der Triumph einer Physik, mit der vor gut dreihundert Jahren eine neue Epoche der menschlichen Erkenntnis begann. Angeblich als ihm in seinem Garten in Cambridge ein Apfel auf den Kopf fiel, hatte sich der Bauernsohn Isaac Newton gefragt, ob im Himmel und auf der Erde nicht dieselben Naturgesetze gelten könnten: Dann wären es die gleichen Kräfte, die den Lauf der Gestirne und den Fall eines Apfels bestimmen – natürlich auch das Rotieren einer Kugel am Spieltisch. Und die Mechanik aller Dinge des Alltags ließe sich mit derselben Präzision vorhersagen – und wäre so wenig zufällig wie Aufgang und Untergang von Sonne und Mond.

Wie im Himmel, so auch auf Erden – das war für die Naturforschung im Jahr 1666 ein unerhörter Gedanke. Damals hingen die Gelehrten, und erst recht die Laien, der Auffassung des Aristoteles an. Der große griechische Philosoph und seine Anhänger hatten zwar zugegeben, dass der ewige Lauf der Gestirne vorhersehbar und sogar berechenbar sei, doch auf der Erde galten ihrer Meinung nach ganz andere Gesetze. Hier seien äußere Kräfte nicht von Belang; worauf es vielmehr ankomme, sei ein Drang, der allen Dingen innewohne. Ein Apfel fällt nach dieser Weltsicht nicht deswegen auf die Erde, weil er von der Schwerkraft angezogen wird, sondern weil er im Herbst auf den Erdboden gehört. Ist von Fallobst die Rede, mögen wir über solche Ideen lächeln; aber in vielen anderen Fragen des Alltags denkt mancher heute noch ähnlich. Wenn wir fest davon überzeugt sind, dass nach einer Folge von dreimal Rot beim Roulette nun endlich Schwarz kommen müsse – zeigt sich in einer solchen Erwartung nicht ein tief sitzender und unausgesprochener Glaube daran, die Dinge würden schon von selbst für ihre Ordnung sorgen?

In Newtons Welt gab es für solche Vorstellungen keinen Platz. Unzählige Versuche haben seine Gesetze der Bewegung bestätigt, die ihn zum Vater der modernen Physik machten: Danach können nur Kräfte den Lauf der Welt ändern. Äpfel fallen vom Baum und abgeschossene Kanonenkugeln auf Städte, weil die Erdanziehung wirkt; Raketen nehmen, vom Feuerstrahl getrieben, Geschwindigkeit auf. Wo aber keine Kraft ausgeübt wird, ändert sich nichts, denn Massen sind träge.

Newtons Welt ist ein Uhrwerk. In ihr existieren kein Zufall und erst recht kein unergründliches Schicksal. Gleichungen regeln die Bewegung aller Körper. Wer den heutigen Stand der Dinge und sämtliche Kräfte kennt, kann die ganze Zukunft vorhersagen – sei es der Lauf einer Roulettekugel oder der Monduntergang am 26. Oktober des Jahres 3004.

Welch ein Umsturz diese Ideen bedeuteten, war schon Newtons Zeitgenossen und Schülern bewusst. Der französische Mathematiker Joseph-Louis Lagrange etwa nannte die damals neue Physik die größte aller Ausgeburten des menschlichen Geistes; auch die Öffentlichkeit nahm mit Begeisterung die Kunde auf, dass die Welt logisch sei. In Frankreich hatte Voltaire mit einem populären Buch über Newton als Wissenschaftsautor Erfolg, in Italien fand ein Werk mit dem Titel »Newtonismus für die Dame« reißenden Absatz, und englische Kinder wurden mit einem Buch »Newtons System der Welt, angepasst an die Fähigkeiten junger Gentlemen und Ladies« beschenkt.

Der Optimismus, dass nun nicht nur die Gesetze der Physik, sondern auch des Lebens erkannt seien, hatte kaum Grenzen. Mehr noch, Newtons Lehre nährte die Hoffnung, dass Zufälle und Überraschungen auch im gesellschaftlichen Miteinander bald der Vergangenheit angehören könnten. Bücher über Newton’sche Umgangsformen und über Staatsführung gemäß Newton erschienen.[27] Der schottische Philosoph David Hume übertrug schon 1748 den Newton’schen Determinismus auf das menschliche Verhalten; andere Philosophen versuchten, allgemein gültige Regeln eines Zusammenlebens zu finden, in dem es so aufgeräumt wie in Newtons Mechanik zugehen sollte – eine soziale Physik. Und als der Kaiser Napoleon sich wunderte, warum in dem vielbändigen Werk des Astronomen Pierre-Simon Laplace über die Newton’sche Himmelsmechanik mit keinem Wort der Urheber des Universums, Gott, genannt wurde, soll der Wissenschaftler den berühmten Satz erwidert haben: »Sire, diese Hypothese brauche ich nicht.«

Wissen ist Ohnmacht