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Die legendären Wissenschaftsgespräche aus dem ZEIT-Magazin mit den führenden Köpfen unserer Zeit, glänzend geführt vom Bestsellerautor Stefan Klein. Ist der Mensch von Natur aus Altruist? Haben wir eine Seele? Sind Träume Wünsche oder nur sinnlose Hirnaktivität? Diese und viele spannende Fragen mehr stellte der Bestsellerautor Stefan Klein weltweit führenden Wissenschaftlern. Seine glänzend geführten Unterhaltungen bieten anregende, ungewöhnliche und manchmal auch berührende Einblicke in unsere Existenz. Und sie lassen uns teilhaben an den persönlichen Erfahrungen, Einsichten und aktuellsten Forschungen der derzeit klügsten Köpfe. U.a. mit Jane Goodall, Richard Dawkins, Svante Pääbo, Alison Gopnik, Detlev Ganten, und Peter Singer.
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Seitenzahl: 182
Stefan Klein
»Wir könnten unsterblich sein«
Gespräche mit Wissenschaftlern über das Rätsel Mensch
FISCHER E-Books
Seit Menschen denken können, denken sie darüber nach, wer sie sind. Denn von der Antwort hängt ab, wie wir leben können und sollen.
Dieses Buch versammelt einige aktuelle Antworten auf diese Fragen. Sie stammen aus Gesprächen mit Wissenschaftlern, die ich während der Jahre 2010 bis 2013 geführt und in gekürzter Form zuerst im »Zeit-Magazin« veröffentlicht habe. Ich wollte mit ihnen möglichst die ganze Bandbreite der Fragen diskutieren, die das Leben uns stellt: Wie entwickelt sich unsere Persönlichkeit? Woher kommen Gut und Böse? Welches Verhältnis haben wir zu anderen Geschöpfen? Warum werden wir krank, weshalb müssen wir sterben?
Mein Ziel war es, Vertreter möglichst verschiedener Disziplinen zu Wort kommen zu lassen. So stehen die Einsichten einer Molekularbiologin, die das Geheimnis des Alterns zu ergründen versucht, neben denen einer Entwicklungspsychologin, und die Überlegungen zweier Philosophen folgen auf die Erfahrungen eines ehemaligen Palliativmediziners, der sich in einer zweiten Karriere der Erforschung von Freundschaft und sozialen Netzen zugewandt hat. So unterschiedlich wie die Interessen fallen die Beiträge meiner Gesprächspartner aus. Und doch sind sie alle sich einig, wie die Fragen nach dem Rätsel Mensch anzugehen sind: Um den Geheimnissen unseres Daseins näher zu kommen, führen allein Lebenserfahrung und philosophische Spekulationen nicht weiter. Denn diese Zugänge, so wertvoll sie sind, brauchen Unterfütterung durch überprüfbare Fakten. Wer nämlich das systematische, oft auch penible Forschen auslässt, läuft Gefahr, sich im Kreise zu drehen. Erst nachsehen, dann nachdenken und nachspüren – dieses Prinzip liegt eigentlich auf der Hand. Leider wird es noch immer von vielen Intellektuellen und kritischen Beobachtern bestritten, die meinen, dass die Naturwissenschaft vielleicht etwas über schwarze Löcher und Rädertierchen, aber nichts über das Wesen des Menschen aussagen kann. Die in diesem Buch zusammengestellten Gespräche treten den Gegenbeweis an.
Dass die Erkenntnis der Natur und die des Menschen voneinander untrennbar sind, ist im Grunde lange bekannt. Dieser Gedanke durchzieht schon die Schöpfungsgeschichten im Buch Genesis. Der Mensch entsteht bekanntlich am sechsten Tag, unmittelbar nachdem Gott die Tiere, die Pflanzen und den Kosmos hervorgebracht hat. Später wird beschrieben, wie Gott den Menschen und alle Tiere aus demselben Material des Erdbodens formt. Der Name des ersten Menschen erinnert noch einmal daran – »Adamah« bedeutet im Hebräischen Staub oder Boden. Dann sieht der Herrscher der Welt zu, wie Adams gerade erwachter Verstand in seiner ersten Tätigkeit die Tiere benennt. Wir sind in Körper und Geist Teil der Natur.
Die Sicht der modernen Wissenschaft trifft sich mit jener der Genesis in einem weiteren Punkt: Beide heben die Bedeutung der Geschichte hervor. Der Text auf der ersten Seiten der Bibel zieht nämlich keine abstrakten Argumente zur Erklärung der menschlichen Eigenheiten heran, anders als spätere Philosophien. Wie und wer wir sind, wird vielmehr aus dem Dasein unserer Vorfahren begründet: Die Scham entstand aus Adams und Evas Verrat an Gottes Gebot, der Ehestreit und die Schmerzen der Geburt erscheinen als göttliche Strafe für das Naschen am Baum der Erkenntnis, und erst die Vertreibung aus dem Paradies machte uns sterblich.
Die heutige Wissenschaft beruft sich selbstverständlich nicht mehr auf diese vor Jahrtausenden im Vorderen Orient entstandenen Mythen. Doch eine historische Perspektive vertritt auch sie: Die Wesenszüge des Menschen bildeten sich als Antwort auf die Lebensverhältnisse unserer sehr fernen Vorfahren heraus. So ist die Evolution ein Leitmotiv der folgenden Gespräche. Mehrere davon drehen sich um die Ursprünge selbst, etwa wenn Jane Goodall ihre Beziehungen zu anderen großen Affen beschreibt oder wenn Svante Pääbo über die Gene als Ausweis der Verwandtschaft aller Menschen nachdenkt. In anderen Gesprächen erscheint die Naturgeschichte eher als Hintergrund, der Bedingungen unseres Daseins verständlich macht. So erklären der Mediziner Detlev Ganten Krankheiten, die Molekularbiologin Elizabeth Blackburn das Altern als Erbe aus der Vergangenheit. Und mit dem Zoologen Richard Dawkins streite ich mich darüber, ob uns der Wettlauf um knappe Ressourcen in einer harten Natur egoistisch und gierig gemacht, und inwieweit er auch Fairness und Großzügigkeit in uns angelegt hat.
Nach »Wir alle sind Sternenstaub« ist dies das zweite Buch meiner Gespräche mit Wissenschaftlern. Eine noch größere Rolle als im Vorgängerband spielten die Erfahrungen der Forscher, ihre Lebensgeschichte und ihr persönlicher Blick. Das ergibt sich aus dem Fokus dieser neuen Serie von Unterhaltungen – schließlich ist es unmöglich, über den Menschen zu sprechen und sich selbst auszuklammern. Damit allerdings sprengen meine Gesprächspartner den Rahmen einer orthodoxen Wissenschaft, die jede subjektive Erfahrung außen vor lassen will. An einem Punkt ihrer Karriere haben fast alle meine Gesprächspartner mit dieser Einschränkung gekämpft: Jane Goodall wurde von ihren akademischen Vorgesetzten belehrt, dass sie als ernsthafte Forscherin keine Freundschaften mit ihren Schimpansen einzugehen habe; der Philosoph Thomas Metzinger bekam zu hören, sein Thema Bewusstsein sei seriöser Wissenschaft unwürdig, da zu »weich«. Jeder meiner Gesprächspartner war auf seinem Gebiet ein Pionier und hat als solcher nicht nur die Kenntnis unserer selbst, sondern auch das Blickfeld der Forschung erweitert.
Umgekehrt wirkte die Wissenschaft zurück auf die Menschen, die sie betrieben. Besonders bewegend waren für mich die Momente, in denen meine Gegenüber erzählten, wie ihre Forschung sie lehrte, ihr eigenes Leben und die Welt in einem grundsätzlich neuen Licht zu sehen. Erstaunlich oft führte die Wissenschaft dazu, dass sich religiöse Überzeugungen wandelten. So nötigte das Studium sozialer Netze dem Mediziner und Soziologen Nicholas Christakis eine tiefe Bewunderung der Lehre der Bergpredigt ab, während der einstige Katholik Christof Koch durch seine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des Bewusstseins im Gehirn schmerzhaft seinen Gottesglauben verlor.
Mir selbst öffneten die Begegnungen, von denen die folgenden Seiten berichten, einmal mehr die Augen dafür, wie unauflöslich wir Menschen mit der Natur verbunden sind, die uns hervorgebracht hat und bis heute unser ganzes Wesen bestimmt. Zugleich wurde mir deutlich, wie sehr der Horizont der Wissenschaft sich noch ausdehnen muss, um mehr als nur winzige Bruchstücke unserer selbst zu erfassen. Zwar sind unsere Gene bis ins Letzte kartiert, und in naher Zukunft werden ähnliche Kataloge der nicht minder bedeutsamen Proteine und aller Neuronen vorliegen. Aber nun gilt es, das derzeit unbeschreiblich komplexe Zusammenspiel der Teile zu begreifen, aus denen der Körper jedes Menschen besteht. Und eine wohl noch größere Herausforderung liegt darin, einen riesigen blinden Fleck der Wissenschaft zu beheben: Kann die subjektive Erfahrung, unser innerstes Empfinden, der exakten Forschung zugänglich werden?
Meine Gesprächspartner haben erste Schritte in diese Richtung gewagt. Vielleicht trägt dieses Buch dazu bei, dass sie Nachahmer finden.
Ich danke allen meinen Gesprächspartnern für die gemeinsam verbrachten Stunden; Christoph Amend, Jörg Burger und Matthias Stolz für ihre Unterstützung und redaktionelle Betreuung beim ZEIT-Magazin; und Nina Sillem für ihr Engagement als Lektorin dieses Buches. Und wie immer stehe ich in der Schuld meiner Frau und Kollegin Alexandra Rigos, für ihre Anregungen und ihre Kritik.
Berlin, im Dezember 2013Stefan Klein
Die Molekularbiologin Elizabeth Blackburn über die Grenzen des menschlichen Lebens, über Gene, die einen uralt werden lassen – und einen Weg, die Lebensdauer vorherzusagen
Dass wir altern, scheint eine der unangenehmen Selbstverständlichkeiten des Lebens zu sein. Aber schon Michel de Montaigne äußerte daran seine Zweifel. Der französische Essayist nannte es ein »ungewöhnliches Glück«, in die Jahre zu kommen, denn »vor Alter zu sterben ist ein seltener Tod« – den wenigsten Menschen in Montaignes von Gewalt und Seuchen geplagtem 16. Jahrhundert war er beschieden.
Heute hinterfragen Naturwissenschaftler, ob es wirklich unausweichlich ist, dass wir körperlich und geistig verfallen. Elisabeth Blackburn gehört zu den Pionieren solcher Forschung. Als zweites von sieben Kindern in einer entlegenen Kleinstadt in Tasmanien geboren, studierte sie in Cambridge Biochemie. Seitdem untersucht sie die genetischen Mechanismen des Alterns. Dafür erhielt sie im Jahr 2009 den Nobelpreis.
In ihrem Labor an der University of California in San Francisco erzählt die heute 63-jährige Forscherin so begeistert von ihren Entdeckungen, als habe sie diese gerade eben gemacht. Nur ihre eigenen Lacher können den Redefluss bremsen. In solchen Momenten ahnt man, dass hinter Blackburns Humor und ihrer großen Freundlichkeit eine noch größere Hartnäckigkeit steht. Ihre sanfte Unbeugsamkeit verdankt sie nicht nur ihrer Karriere, sie führte auch dazu, dass Präsident Bush im Jahr 2004 die damals schon weltberühmte Wissenschaftlerin aus seinem Bioethikrat werfen ließ – ein bisher einmaliger Eklat.
Frau Blackburn, Sie haben Jahrzehnte Ihres Lebens den Wimperntierchen gewidmet. Was ist an diesen Einzellern so faszinierend?
Es sind wunderbare Geschöpfe. Sie können sich ungeschlechtlich vermehren, indem sich ein Tierchen einfach verdoppelt. Trotzdem gibt es bei ihnen sieben Geschlechter, die paarweise Kinder bekommen. Und manchmal tun sich sogar drei Wimperntierchen zur gemeinsamen Vermehrung zusammen. Da fragt man sich schon, warum wir uns damit begnügen, Frauen oder Männer zu sein. Zumal Wimperntierchen, unabhängig vom Geschlecht, wiederum sieben verschiedene Arten der Paarung zur Wahl stehen. Das ist doch wild! Wie kann man diese Organismen nicht lieben?
Ahnten Sie, dass Sie mit Ihren Untersuchungen an Wimperntierchen daran waren, das Rätsel des menschlichen Alterns zu lösen?
Nein. Wir wollten Grundfragen der Molekulargenetik studieren. Das war aufregend genug: 1975 gehörten mein späterer Mann und ich zu den ersten Menschen, die überhaupt die genetische Information lesen konnten. Wimperntierchen eigneten sich gut für diese Experimente. Als wir im Lauf der Jahre immer weiter vorankamen, meinten wir schon, allmählich ins Herz der Biologie einzudringen. Aber ich hatte nie das Ziel, das menschliche Altern zu heilen.
Doch wenn man die Zeitungsberichte zu Ihrem Nobelpreis 2009 durchsieht, könnte man glauben, genau das sei Ihnen gelungen. Fanden Sie den Rummel nicht übertrieben?
Keineswegs. Lange konnte ich selbst nicht daran glauben, dass sich unsere Entdeckungen an Wimperntierchen auf Menschen übertragen lassen. Aber inzwischen haben wir zweifelsfreie Belege.
Wimperntierchen sind unsterblich.
Auch darin liegt die Schönheit ihrer Biologie: Diese Einzeller können sich unendlich oft teilen.
Und so immer wieder ein neues Leben beginnen.
Wir fragten uns, wie machen sie das? Das Problem ist nämlich: Die Chromosomen, die Träger der Erbinformation in der Zelle, verlieren bei jeder Teilung ein Stück.
Irgendwann werden sie zu kurz, und der Organismus kann nicht mehr funktionieren.
Eben das verhindern die Wimperntierchen mit einem phantastisch gut funktionierenden Reparaturmechanismus. Den Beweis dafür fand meine damalige Doktorandin Carol Greider am Weihnachtstag des Jahres 1984: Im Zellkern der Wimperntierchen gibt es einen Stoff, der die Chromosomenenden immer wieder aufbauen kann.
Ein Elixier der Unsterblichkeit …
… für die Zelle. Wir nannten diese Substanz »Telomerase«. Sie hilft, auf dem Chromosom wieder eine Art Schutzkappe zu errichten – das Telomer. Dem verdankt das Wimperntierchen sein unendliches Leben.
Auch unser Körper kann sich regenerieren. Die Organe verjüngen sich, indem ihre Zellen ebenfalls durch Teilung gewissermaßen die eigenen Nachfolger erzeugen. Nur geht das beim Menschen leider nicht beliebig oft.
Genau. Mit den Jahren sterben immer mehr Zellen ersatzlos ab. Dann lassen die Körperfunktionen nach. Aber auch der Mensch besitzt Telomerase. Vor gut zehn Jahren entdeckten Kollegen nun Familien, deren Mitglieder durch eine Erbkrankheit zu wenig Telomerase bilden – und ungewöhnlich früh Altersleiden bekommen. Damit war bewiesen, dass Telomerase auch bei uns das Altern verzögert.
Werden diese bedauernswerten Menschen frühzeitig dement?
Dazu fehlt ihnen leider die Zeit. Sie sterben vorher an Krebs und allen möglichen Infektionen – als gehe ihrem Immunsystem einfach der Dampf aus. Offenbar hängt es damit zusammen, dass die Telomere zu kurz werden. Seit dieser Entdeckung erleben wir einen wahren Tsunami an Erkenntnissen über den Zusammenhang zwischen Altern, Krankheiten und der Länge der Telomere.
Als gäbe es im Inneren jeder Zelle tatsächlich so etwas wie einen Lebensfaden. In der antiken Mythologie bestimmt dieser übrigens nicht nur die Länge, sondern auch die Qualität unseres Lebens.
Ein schönes Bild. Aber die Entwicklung geht eben nicht immer nur in Richtung Verfall: Gelegentlich bewirkt die Telomerase, dass die Telomere wieder wachsen.
In der Sage spinnen die Schicksalsgöttinnen etwas am Lebensfaden hinzu. Wovon aber hängt es wirklich ab, wie gut sich unsere Zellen regenerieren?
Die Lebensumstände spielen eine wichtige Rolle – vor allem chronischer Stress. Gemeinsam mit Psychologen haben wir Mütter von behinderten Kindern untersucht. Weil sie hier in den USA kaum Unterstützung bekommen, stehen sie unter enormer Belastung. Und je mehr Jahre sie ihre Kinder pflegten, desto kürzer waren in der Regel ihre Telomere. Ähnliches fanden wir bei Menschen, die als Kind Traumatisches wie den Tod eines Elternteils oder gar sexuellen Missbrauch erlebt hatten. Je mehr schreckliche Erfahrungen sie verkraften mussten, desto mehr waren, wiederum durchschnittlich, ihre Telomere geschrumpft.
Als wenn jeder Schicksalsschlag etwas vom Lebensfaden abschnitte.
Besonders tiefe Spuren im Zellkern scheinen die frühen Belastungen zu hinterlassen. Damit machen die Ergebnisse eines sehr klar: Wie dringend es ist, die Kinder zu schützen. Allerdings gibt es Menschen, die selbst große Härten erstaunlich gut wegstecken können.
Offenbar ist es auch erblich, wie lange wir leben.
Ja. Ein phantastischer Nachweis dafür ist der Gotha, der deutsche Adelsalmanach. Darin sind die Lebensspannen von rund 45000 hochwohlgeborenen Töchtern aus ganz Europa verzeichnet; mit den Daten der Söhne ist wenig anzufangen, von denen starben zu viele im Krieg. Die Frauen dagegen hatten fast immer ein bequemes Dasein, solange sie nur das Wochenbett überlebten. Vergleicht man nun das Alter, das sie erreichten, mit dem ihrer Eltern, macht man eine erstaunliche Entdeckung: Bis etwa zum 75. Jahr hat das eine mit dem anderen wenig zu tun. Wer bis dahin stirbt, wurde zufällig von einer Krankheit oder einem Unglück erwischt. Wer es aber über seinen 75. Geburtstag hinaus schafft, verdankt es seinen Genen: Diese Adeligen hatten meist auch besonders langlebige Vorfahren.
Doch wir alle geraten immer mehr in die Lage dieser höheren Töchter! Dank guter Hygiene und einer Medizin, wie sie sich früher nicht einmal Königinnen erhoffen konnten, werden die meisten Menschen leicht 75. Setzen dann also die Gene unserem Leben eine natürliche Grenze?
Wir sind vielleicht die erste Generation, die es herausfinden kann. Denn wir leben in einer Umgebung, wie es sie so geschützt nie zuvor gab. Darauf wurde unser Organismus während der Evolution nicht geprägt. Zwar sterben noch immer viele Menschen an Herz-Kreislauf-Krankheiten, aber es werden weniger: Herzinfarkte lassen sich durch gesünderen Lebensstil vermeiden. Ob das auch für den anderen großen Killer, Krebs, gilt, ist eine offene Frage. Wie weit sich die menschliche Lebenserwartung steigern lässt, ist ein riesiges Experiment. Und wir alle sind die Versuchstiere darin.
Was ist Ihre Vermutung?
120 Jahre lässt der momentane Genpool unserer Art offenbar zu. Der bisher älteste Mensch war die Südfranzösin Jeanne Calment. Sie lernte noch mit 85 Jahren das Fechten, fuhr hundertjährig Fahrrad und starb 1997 mit 122. Wie bei den meisten Über-Hundertjährigen, so wurden auch ihre Verwandten sehr alt. Und sie erfreute sich ihr Leben lang bester Gesundheit – dabei rauchte sie wie ein Schlot!
Woran starb sie?
Das ist unbekannt. Möglicherweise hatte ihr Tod gar keine besondere Ursache, wie bei so vielen sehr alten Menschen: Irgendwann wird einfach das ganze System instabil. Dann genügen schon ein kleiner Sturz oder eine Lungenentzündung, und man stirbt. Im Totenschein steht dann »Herzversagen«. Damit liegt man als Arzt immer richtig.
Normalerweise geht die Medizin davon aus, dass Krankheiten und nicht das Alter den Tod herbeiführen. Sie behaupten das Gegenteil.
Was meinen wir eigentlich mit dem Wort »Krankheit«? Es bedeutet verschiedene Dinge: Da sind zum einen die Leiden mit einem klaren Auslöser. Irgendein Bakterium oder Virus befällt uns, und die Symptome setzen ein. Hier feiert die Medizin ihre großen Erfolge. Aber zum anderen gibt es so etwas wie Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs oder Altersdiabetes. Sie entstehen aus dem Organismus selbst und bauen sich über lange Zeit auf. Die Ärzte können heute meist nur helfen, mit diesen Leiden zu leben – wenn überhaupt. Denn unsere Medizin blickt zu eng auf die Symptome. Der Diabetologe versucht mit Ihrem Diabetes fertig zu werden, der Internist mit der Arteriosklerose und so weiter. Aber der Grund für diese Krankheiten ist allgemeiner: Offenbar versagen körpereigene Reparaturmechanismen.
Und Sie wollen mit Ihrer Forschung einen Zugang zu diesen Leiden eröffnen.
Ja.
Der wäre?
Die drei großen Killer Krebs, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Lungenleiden haben eindeutig mit dem Zustand der Telomere zu tun. Um das genauer zu verstehen, haben wir uns mit einer großen amerikanischen Krankenkasse zusammengetan. Gemeinsam durchforsten wir die Krankengeschichten und Gewohnheiten von 100000 Versicherten über 65, analysieren ihre Gene und vermessen ihre Telomere. So wollen wir erfahren, welcher Lebensstil bei welchen Erbanlagen welche Belastung für den Körper bedeutet.
Die Versicherten wehren sich nicht dagegen, dass ihre Kasse sie von Grund auf durchleuchtet?
Im Gegenteil: Die Leute rannten uns schon bei den Vorstudien die Türen ein, um teilnehmen zu dürfen. Manche brachten ihren Lebenslauf persönlich vorbei. Andere ließen uns wissen, dass sie wegen ihrer täglichen Yogaübungen wissenschaftlich besonders interessant seien. Sie alle wollten erfahren, wie es um ihre Telomere steht.
Gefällt Ihnen die Rolle als moderne Handleserin, die den Menschen den Zeitpunkt des Todes voraussagt?
Aber den wird doch niemand von mir erfahren! Die Länge der Telomere steht nur statistisch für eine bestimmte Lebenserwartung – so, wie man mit einem hohen Blutfettwert mit einer größeren Wahrscheinlichkeit, aber keineswegs unbedingt einen Infarkt erleidet. Leider fällt es vielen Menschen schwer, Statistik zu verstehen.
Weil sie sich verständlicherweise nicht sehr dafür interessieren, wie viele von hundert Patienten mit einer bestimmten Telomerlänge nach fünf Jahren noch leben. Sie wollen ihr eigenes Schicksal erfahren.
Zumal es so verführerisch anschaulich ist, wenn man sich vorstellt, dass die Länge der Telomere einfach dem biologischen Alter entspricht!
Sie haben eine Firma mitgegründet, die solche Tests noch in diesem Jahr für jedermann anbieten will. Warum?
Weil die Nachfrage danach besteht. Unser Universitätslabor konnte die Anfragen nicht mehr bewältigen, so hat alles begonnen. Und nun muss irgendjemand als Erster an die Öffentlichkeit gehen. Lieber, wir machen es gut als andere schlecht. Darum werden Sie Ihre Probe auch nicht selbst, sondern nur über Ihren Arzt einschicken können.
Was habe ich davon, wenn ich es tue?
Sie bekommen eine Information über Ihren Körper …
… mit der man leider wenig anfangen kann. Sie haben doch gerade erst begonnen, zu erforschen, was genau der Zustand der Telomere für die Gesundheit bedeutet.
Wir behaupten auch nicht, dass wir die Antworten kennen. Jeder, der teilnimmt, soll wissen, dass seine Daten der laufenden Forschung dienen.
Wer sich testen lässt, riskiert ein Ergebnis, das höchst belastend sein kann. Würden Sie erfahren wollen, dass Sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent in den nächsten fünf Jahren sterben?
Dazu haben wir ebenfalls eine Vorstudie angestellt: Niemanden schien sein Testergebnis besonders zu kümmern. Auch die Erfahrung mit anderen Gentests zeigt, dass die Menschen mit den Resultaten erstaunlich gut umzugehen verstehen. Wenn Sie kurze Telomere haben, ist das einfach ein Warnsignal, genauer hinzusehen – wie wenn auf dem Armaturenbrett das rote Lämpchen für niedrigen Ölstand aufleuchtet.
Können wir als Erwachsene etwas tun, um den Abbau der Telomere umzukehren – oder wenigstens zu stoppen?
Unsere Studien dazu stehen noch am Anfang. Eines immerhin lässt sich schon sagen: Menschen, die sich mehr bewegen und besser schlafen, haben längere Telomere.
Kennen Sie die Länge Ihrer Telomere?
Ja. Ich bin nicht besorgt. Mir geht es gut.
Hat das Ergebnis Ihren Lebenswandel verändert?
Nein. Ich versuche ohnehin, mich jeden Tag eine halbe Stunde zu bewegen. Das ist die einzige Wunderwaffe gegen den körperlichen Verfall, die ich akzeptiere. Die Datenlage dafür ist überwältigend.
Nur Sport? Sie sind eine Minimalistin. Vom Milliardengeschäft mit Nahrungsergänzungsmitteln gar nicht zu reden, wird auch unter Wissenschaftlern ein ganzer Strauß von Rezepten gegen das Altern gehandelt: Verzicht auf Zucker, Rotwein, Vitamin E, grüner Tee …
Jeder versucht eben, was ihm hilfreich erscheint. Aber leider konnte nie jemand die Effekte nachweisen. Kein Mensch versteht, wie die angeblich so segensreichen Stoffe in Rotwein und grünem Tee, die Polyphenole, wirklich wirken – und ob überhaupt. Von Vitamin E in größeren Mengen bekommen Sie Krebs. Sparsam mit Zucker umzugehen ist bestimmt sinnvoll. Aber die Lebensqualität zählt für mich auch.
Sie sind 63. Stören Sie die Anzeichen des Alters denn nicht?
Ich finde mein Alter vorzüglich. Als ich so alt war wie Sie …
… 46 …
… war ich Mutter eines Kleinkinds. Gleichzeitig nahm mich meine Forschung völlig in Anspruch. Ich fühlte mich entsetzlich gestresst. Außerdem habe ich heute einen weiteren Blick auf die Welt. Ich würde nicht tauschen wollen – auch wenn ich damals besser Ski gefahren bin.
Viele Menschen empfinden es als beschämend, dass ihre Fähigkeiten nachlassen und sie nicht mehr aussehen wie früher. Frauen leiden besonders darunter.
Aber das muss nicht so sein. Frauen können einen zweiten Frühling erleben, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Dafür brauchen sie allerdings Unterstützung. Leider ist es in unserer Gesellschaft immer noch üblich, dass man ältere Frauen missachtet.
Sie persönlich werden sich kaum darüber beschweren können – bei den Ehren, zu denen Sie kamen.
In den USA ist man als Nobelpreisträger keine solche Rarität – als Nobelpreisträgerin eher. Wenn ich öffentlich auftrete, werden viele Leute ganz aufgeregt und wollen, dass ihre Tochter oder ihre Enkel mich sehen. Allein dass es mich gibt, beweist für sie: Es ist möglich, so etwas zu schaffen. So bemerkte ich irgendwann, dass ich gar nichts mehr tun muss, um nützlich zu sein. Es genügt, am Leben zu bleiben.
Möchten Sie 120 oder gar 200 Jahre alt werden?
Oh ja! Allerdings müssen Sie sagen, welches Lebensalter Sie ausdehnen wollen. Darauf, die Jahre zwischen 80 und 90 zu vermehren, verzichte ich gerne. Die meisten Menschen würden wohl am liebsten die Zeit zwischen 20 und 30 verlängern.
Ich nicht. Zu viel Liebeskummer.
Andererseits sind wir in diesen elenden Jahren auf dem Höhepunkt unserer geistigen Leistungskraft. Wenn ich es mir genau überlege, würde ich mit einem 20-jährigen Gehirn immer wieder von vorne anfangen wollen. Erst würde ich 25 Jahre lang wieder das machen, was ich getan habe. Dann würde ich versuchen, gründlich Mathematik zu lernen und in die Kosmologie zu gehen. Da gibt es so aufregende offene Fragen, dass ich mich oft frage, warum verschwendest du eigentlich deine Zeit mit Biologie. Ich würde öfter Klavier spielen. Und viel mehr Ski fahren.