Alltag im Mittelalter - Ernst Schubert - E-Book

Alltag im Mittelalter E-Book

Ernst Schubert

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Beschreibung

Von Wäldern und (Ab)Wässern, vom Fluchen und von der Liebe, vom Unrat auf den Straßen und von Gotteslästerung im Mittelalter handelt dieses Buch. Diese scheinbar weit auseinander liegenden Themen werden von der Frage geleitet, wie der mittelalterliche Mensch mit seinem Lebensumfeld, mit der Natur, mit seinen Mitmenschen umging. Wie konnte er in seiner Welt bestehen? Ernst Schubert gelingt es glänzend, die Alltagsgeschichte der mittelalterlichen Männer und Frauen aus dem Volke zu schreiben, indem er die spezialisierten Zweige der Geschichtsforschung – historische Geographie und literaturwissenschaftliche Mediävistik, Mentalitätsgeschichte und Umweltgeschichte – zusammenführt. Anschaulich und quellennah, derb und amüsant, kommt dem Leser nach der Lektüre manches weit fremder vor, als er es sich vorgestellt hatte, manches aber auch weit »unmittelalterlicher«.

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Seitenzahl: 877

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Ernst Schubert (1941 – 2006) war Professor für niedersächsische Landesgeschichte und Direktor des Instituts für historische Landes-forschung an der Universität Göttingen. Bei der wbg erschien von ihm u. a. „Essen und Trinken im Mittelalter“ (3. erw. Aufl. 2016).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

4. Auflage 2022 (1. Auflage 2002)

© 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Seeheim

Einbandabbildung: Ausschnitt aus Pieter Bruegel d. Ä.,

Bauerntanz, um 1568. © akg-images / Nimatallah

Einbandgestaltung: Harald Braun, Helmstedt

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Printed in Europe

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4438-0

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-8062-4439-7

eBook (epub): 978-3-8062-4440-3

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhalt

Einleitung

Erster Teil:

Natürliches Lebensumfeld

1Das Klima und die Sorge um frische Luft

2Der Mensch und die Erde: Das Beispiel des Waldes

Urwald – „Unland“ – Kulturland: Überleben im Frühmittelalter

Rodung: Die Veränderung von Gesellschaft, Wirtschaft und Herrschaft im Hochmittelalter

Der Wald in Gefahr: Holznutzung als Grundlage spätmittelalterlicher Urbanität und Wirtschaft

Die ersten Maßnahmen zum Schutz des Waldes

3Das Wasser: Voraussetzung des Lebens und Grundlage der Kultur

Geschichte unter den Gefahren von Meer und Fluß

Flüsse als Hauptstränge des mittelalterlichen Verkehrsnetzes

Natur und Kunst: Die Brücke

Wasser als Nahrungsspender: Die Fische

Die Stadt und das Wasser: Die Gaben der Natur und die Leistung der Menschen

Bürger und Umwelt: Die Entsorgung von Abfällen und Unrat

4Der unmittelbare Umgang mit Gottes Schöpfung: Menschen und Tiere

5Umrisse des Natur- und Umweltbewußtseins

Die ersten Erfahrungen einer Veränderung der Umwelt: Der Verlust der Wildnis

Die Natur: Gottes Zeichensetzung oder von ihm verhängtes Schicksal. Gelehrte Deutung und populäre Erfahrung

Zusammenfassung und Ausblick: Ausgangs- und Rahmenbedingungen eines Umweltbewußtseins

Zweiter Teil:

Menschliches Miteinander

1„Deutsch reden“: Grundlagen der Kommunikation

2Umgangsformen: Der Alltag hinter der höfischen Etikette

Willkommen und Abschied

Der lange Weg vom „Du“ zum „Sie“

3Direktheit: Wie beurteilen die Menschen einander?

4Die Beschimpfung des Mitmenschen

5Flüche und Segen: Gott und seine Heiligen im alltäglichen Umgang

6Gefährliche Direktheit: Jähzorn und spontane Gewalt

7Mitleid, die Grenzen des Mitgefühls und die Schadenfreude

8Die Grundlage des Umgangs: Mißtrauen und Vertrauen

9Freundschaft, Gesellschaft, Nachbarschaft

10Die Menschenkenntnis des Mittelalters

11Kinder, Ehefrauen, Ehemänner: Wie ging man innerhalb der Familie miteinander um?

Kinderleben und Kinderschicksal

Die Ehefrau: „Nicht Magd, sondern Genossin“?

Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Überlebensgemeinschaft Ehe

Die Heirat junger Mädchen, die Hausherrschaft erfahrener Frauen

Die Ehe als Überlebensgemeinschaft armer Leute. Der Hintergrund der Bigamie im Mittelalter

12Die Liebe als Thema des Umgangs der Menschen miteinander

Wurde die Liebe im 12. Jahrhundert entdeckt?

Liebe und Vertragsehe: Die evolutionäre Wirkung eines kirchenrechtlichen Grundsatzes

Mittelalterliche Erscheinungsformen eines überzeitlichen Renommierzwangs oder: Der Beischlaf als Mannesstolz und die Akzeptanz der Sexualität

Entspanntes Verhältnis zur Sexualität? Die Erscheinungsformen der Obszönität

Die Rationalität des Liebeszaubers

Schluß: Wie ‚mittelalterlich‘ war das Mittelalter?

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Register

Einleitung

Natur und Geschichte: Die Sorge um die Zukunft, sei es um die von lokalen Ökosystemen oder gar die der Erde, beherrscht die ökologische Diskussion der Gegenwart; die historische Dimension jedoch kommt in dieser Diskussion zu kurz. Und oft wird die Vergangenheit schlichtweg entweder als Kronzeuge für eine frühere heile Welt in den Zeugenstand berufen oder aber wegen früheren Raubbaus auf die Anklagebank gesetzt. Und selbst der Hinweis auf die Klimageschichte kann an dieser Aussage nichts ändern. Witterungsdaten werden in der Öffentlichkeit nicht in ihren historischen Voraussetzungen, sondern in ihren Auswirkungen auf die Gegenwartsprobleme diskutiert, die widersprüchlichen, Sorgen erregenden oder Sorgen beschwichtigenden Daten werden stets auf die Gegenwart und die ihr zugeordnete Zukunftserwartung projiziert.

Die Geschichte war nie dazu nutze, Rezepte für die Gegenwart zu liefern, ihre Aufgabe liegt in der Präzisierung der zentralen gegenwärtigen Fragen, indem sie diesen Fragen nicht nur in ihrem Werden, sondern auch in ihren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen nachgeht. Das kann nie zu einer direkten Ableitung der Gegenwart aus der Vergangenheit führen, sondern zu einer Art Dialog mit den nunmehr toten Menschen, die in ihrer Gegenwart ebenfalls Antworten auf die gleichen Grundsatzfragen finden mußten. Weltgeschichtlich ist, aus der Perspektive von Natur und Geschichte gesehen, Europa ein begünstigter Kontinent,1 weit weniger von Witterungs- und Naturkatastrophen gefährdet als etwa der südasiatische Raum, in dem im 15. Jahrhundert etwa 80% der Weltbevölkerung lebten.2 Erdbeben beispielsweise hatten im spätmittelalterlichen Europa schlimme, die Menschen zutiefst erschreckende Folgen, und doch wirkten sie bei weitem nicht so verheerend wie etwa in Ostasien.3

Selbst wenn die Natur den von ihr eher begünstigten europäischen Kontinent nicht so heimsuchte wie andere Regionen der Erde, bleibt uns auch hier die Aufgabe, nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte zu fragen. Mit Recht warnte Arno Borst davor, die historischen Erfahrungen auszublenden: „Natur ist immer auch die erschütterte Welt, Geschichte immer auch das Unvorhersehbare und Unbewältigte.“4

Grundsatzfragen sind – und hier greifen wir das Stichwort der gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge wieder auf – allen Eiferern zum Trotz in ihrer Komplexität stets historisch fundiert und dabei noch nicht einmal in historischem Spartendenken, etwa sozialgeschichtlich, isolierbar. Was in der Gegenwart im Nebel der Nebensächlichkeiten, den jede erregte Diskussion aufsteigen läßt, schwer zu erkennen ist, klärt der Rückblick in die Vergangenheit. Wenn wir zuspitzend und damit übertreibend formulieren, daß das, was sich heute als Kampf um die Natur darstellt, in früheren Zeiten ein Kampf mit der Natur war, so ist mit dieser Überspitzung nicht etwa ein simples Konstrukt von der Eigenständigkeit der Moderne gegenüber einer abgelebten Geschichte benannt, sondern das genaue Gegenteil: Die Fragen mögen neu anmuten (was die wirklich wichtigen Fragen allerdings niemals sind), aber der Fragende ist selbst bis in seine Wahrnehmungsmuster hinein abhängig von der Geschichte. Das gilt unter anderem auch für die sozialgeschichtlichen Abhängigkeiten. Ein Beispiel unter vielen: Selbst der in Umweltfragen engagierteste Lehrer muß anerkennen, daß die Freiheit seiner Argumentation nicht nur ihm selbst, sondern auch der Entwicklung des Lehrerstandes vom Gemeindediener des 18. zum Staatsbeamten des 19. Jahrhunderts geschuldet ist. Abhängigkeiten der individuellen Urteile von der Geschichte: Der Atheist, der die Natur mit einem emotionalen Wert ausstattet, fragt nicht anders als viele gläubige Philosophen und Theologen des Mittelalters und noch der frühen Neuzeit. Und schließlich: Ist der Naturwissenschaftler, der die Entstehungsbedingungen des Lebens enträtselt, in seinen Fragen (natürlich nicht in seinen Ergebnissen) so weit entfernt von den wahrhaften Alchemisten, die nach dem Stein der Weisen suchten, nach jenem Stein, der nicht in der Natur gefunden, sondern nur aus seinem von der Natur erbauten Gefängnis erlöst werden muß?

Bei allen im Laufe der Geschichte hervortretenden Unterschieden in der Auseinandersetzung mit der Natur ist doch eines, gewissermaßen das überzeitliche Moment, gleich geblieben: Es geht immer um eine Relation, um den Menschen im Verhältnis zu seiner Umwelt. So unterschiedliche Fragen der Fragende stellt, so unterschiedlich auch im Verlauf der Zeiten seine Antworten ausfallen mögen, er bleibt stets derjenige, der die Umwelt als ‚Gegenstand‘ wahrnimmt. In Anführungsstriche haben wir ‚Gegenstand‘ gesetzt, um auch, auf den unmittelbaren Wortsinn zurückgreifend, diejenigen einzuschließen, die, wie etwa Prinz Charles, mit den ihnen anvertrauten Pflanzen sprechen. Ob mit der Natur, ob über die Natur, ob für die Natur gesprochen wird, ist der grundsätzlichen Frage untergeordnet, ob der Mensch tatsächlich der Herr über die Geschichte ist oder ob diese nicht als emergentes Phänomen einen Seitentrieb der Evolution darstellt.

Das Alter der Erde ist sicherlich die umfassende, jede andere Erscheinungsform von Geschichte umschließende Größe, sie umgreift, vom Menschen allenfalls berechenbar, aber nicht erfaßbar, ganz andere zeitliche Dimensionen als die kurze Historie des Menschen. Dessen Geschichte ist zwar auch in Vergesellschaftung zum Beispiel mit Insekten als Populationsgeschichte eines Planeten denkbar, aber wo im Weltall will man den archimedischen Punkt finden, von dem aus sie beschreibbar wäre? Wir wollen uns nicht zur Geschichtsphilosophie aufschwingen, sondern nur die Gründe dafür andeuten, daß das Thema Natur und Geschichte nicht von einer absoluten Setzung des Begriffs ‚Natur‘ her behandelt werden kann. Indem wir von einem Beziehungsverhältnis ausgehen, das wir bisweilen sogar als dialogisch charakterisieren können, sehen wir ‚Natur‘ nicht als eine mit modernen wissenschaftlichen Methoden objektivierbare, sondern als geschichtlich wandelbare Größe an. Denn – nur ein Hinweis – auch ohne Eingriffe des Menschen kann sich die Naturlandschaft verändern,5 und „anthropogene und natürliche Faktoren beeinflussen sich gegenseitig.“6 Was aber die anthropogenen Veränderungen der Oberflächengestalt der Erde angeht, ist vor einfachen Deutungsmustern zu warnen. Obwohl auch das Mittelalter bis zum Raubbau führende Übernutzung der naturgebundenen Ressourcen kennt, würde es eine Erkenntnis hindernde Verkürzung bedeuten, eine durchgängige Linie des Umweltfrevels bis zur Gegenwart ziehen zu wollen.

Was ist ein Naturzustand?7 Natur ist trotz der mit ihr verbundenen Assoziationen an Ursprünglichkeit, an Unverfälschtheit zu keiner Zeit der Gegensatz zu Kultur und Geschichte, Natur ist Teil von Kultur und Geschichte. Die Gefahr für den Historiker liegt darin, daß er nicht wie etwa ein Geologe Natur als absoluten Faktor setzen kann.8 Ebensowenig wie ‚Natur‘ ist ‚der Mensch‘ eine konstante historische Größe (und das gilt auch wortwörtlich).9 Daß die Anthropologie nicht nur ein naturwissenschaftlicher, sondern auch ein geisteswissenschaftlicher Gegenstand ist, daß der Mensch nicht nur von seinen Genen, sondern auch von seiner Geschichte ‚programmiert‘ ist, wird in der modernen Geschichtswissenschaft immer wieder hervorgehoben.10 Die Zeitschrift „Historische Anthropologie“ hat sich inzwischen als unverzichtbares Periodikum erwiesen. Wir haben nur deshalb Anlaß, an Selbstverständliches zu erinnern, weil hier die Rechtfertigung dafür liegt, daß wir zwei äußerlich verschiedene Themen in einem Buch zusammenbinden: die Formen und den Gestaltwandel des Umgangs von Menschen mit der Natur und die Formen und den Gestaltwandel des Umgangs von Menschen miteinander.

Die heutige Umwelterfahrung ist selbst ein historisches Produkt, das aus geschichtlichen Zusammenhängen von Kulturentwicklung und Naturwahrnehmung ebenso hergestellt worden ist wie von Erinnerung prägenden topischen Bildern, von Einstellungsmustern, also etwa von der Wildnis als Topos und Realität oder von der Künstlichkeit des Kanalbaus als eines Eingriffes in die Natur. Viele beunruhigende Diskussionsflächen bietet die übereinandergeschichtete Tektonik der verschiedenen, im Verlauf der Jahrhunderte abgelagerten Wahrnehmungen. Wenn wir diese für das Mittelalter zu beschreiben versuchen, so gilt es stets, die Terminologie zu überprüfen; denn diese steckt voller historisch begründeter Tücken. Das gilt nicht nur für die Wortwahl im konkreten – was ist eigentlich „Wald“? –, das gilt selbst für die zumeist leichthin gebrauchten Grundbegriffe. „Ökologie“ zum Beispiel hatte in der Antike noch ein nahe an der „Ökonomie“ angesiedeltes Wortfeld: Kunde vom Haushalten.11 Die Antike kannte zwar von der Wasserverschmutzung bis zur Müllabfuhr Probleme und Lösungen, die modern anmuten, aber sie hatte keinen Begriff für „Umwelt“,12 den sie künftigen Epochen hätte vererben können. Diesen Begriff können wir auch nicht sorglos für das Mittelalter anwenden, weil er eine eigentümliche Karriere hinter sich hat: Um 1800 als poetische Wortschöpfung entstanden,13 sodann zumeist als Synonym für ‚Milieu‘ verwendet, gewann er seinen heutigen Sinn erst in der jüngsten Vergangenheit, und zwar auffallenderweise nicht über seine Grundform, sondern über seine Komposita wie Umweltverschmutzung und Umweltschutz.14 Diese Begriffsgeschichte erklärt, warum es bis heute keine einhellig akzeptierte Begrifflichkeit von „Umwelt“ und „Umweltgeschichte“ gibt15 und warum im heutigen Verständnis der Mensch nicht mehr Teil seiner Umwelt ist, die nicht einmal mehr als sein Milieu begriffen wird.16 Nachdem ‚Umwelt‘ zum Synonym für eine anthropozentrisch definierte ‚Natur‘ verflacht ist,17 kann die Feststellung nicht überraschen: „Die Umweltgeschichte ist sich nicht einmal ihres Gegenstandes sicher. Umwelt hatte für die Menschen verschiedene Gesichter, quer durch die Zeiten, Räume und sozialen Schichten.“18 Mit ihr waren einst – anders als im Zeitalter der bemannten Raumfahrt – Sonne, Mond und Sterne eng verknüpft.

Wie auch in anderen Fällen, etwa bei dem im Mittelalter begrifflich noch gar nicht vorhandenen ‚Staat‘, gilt es im Falle einer Geschichte der ‚Umwelt‘ abzuschätzen, was anachronistische Setzung ist und was von der Sache her vorhanden sein kann, wenngleich vielleicht nur in Ansätzen und terminologisch nicht fixiert. Obwohl frühere Zeiten den Begriff ‚Umwelt‘ im heutigen Sinne gar nicht kennen, so kennen sie doch selbstverständlich die gedankliche Objektivierbarkeit des eigenen Lebensraumes, und genaue Beobachter können bereits den Wandel dieses Lebensraumes wahrnehmen. Um 1300 notiert ein Colmarer Dominikaner die großen Veränderungen, die das Elsaß in den letzten einhundert Jahren durchgemacht habe.19 Diese früheste Beschreibung eines Kulturlandschaftswandels in deutschen Landen enthält bereits Ansätze dessen, was später ökologisches Bewußtsein genannt werden wird. Diese erstaunliche Quelle zeugt von naturwissenschaftlicher Schulung und damit auch von dem Nachwirken des Albertus Magnus als Lehrerpersönlichkeit.20 Das genaue Beobachten, das er seinen Naturstudien zugrunde legte, wird er, der so häufig in den Studienhäusern seines Ordens unterrichtete, auch seinem Colmarer Ordensbruder vermittelt haben.

Eine Umweltgeschichte im modernen, im engeren Sinn des Begriffs liegt ebensowenig in unserer Absicht wie der Versuch einer historischen Geographie.21 So unverzichtbar die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Ergebnisse ist, so besteht dabei immer die Gefahr der Perspektivenverkürzung; denn es geht dem Historiker nicht um die Umwelt im Sinne einer dem Menschen gegenüberstehenden Gegebenheit, sondern – wie wir es hilfsweise nennen – um den historischen Dialog des Menschen mit der Natur.

Kehren wir zu unserer einleitenden Feststellung zurück, daß in der heutigen ökologischen Diskussion die historische Erfahrung ‚Umwelt‘ kaum berücksichtigt wird,22 so hat dies auch mit den eingangs erwähnten gesamtgesellschaftlichen Ursachen zu tun. Diese sind normalerweise nur mit umständlich langatmigen Ausführungen zu belegen. Unglücklicherweise aber gibt es ein schlagendes Beispiel, das uns – wir bedauern es – dieser Notwendigkeit enthebt, weil die Wolken und Nebelschwaden der Diskussion um die gesamtgesellschaftlichen Ursachen bei der anhaltenden Trockenheit bürokratischer Verordnungen und administrativer Verfügungen in den entsprechenden Problemfeldern sich gar nicht erst bilden können: Skandalös wird die Geschichte des Mittelalters im Unterricht deutscher Schulen verkürzt. Die Schüler erfahren nicht mehr, daß vor der trennenden Entwicklung von Nationalstaaten dauerhaftere Grundlagen einer gemeinsamen europäischen Kultur gelegt worden waren. Baukunst, Recht, Philosophie des Mittelalters sind nur aus europäischer Perspektive zu erfassen. Bei allen Nuancen sind sich die Lehrpläne der deutschen Bundesländer doch darin einig: Die Stadt ist zu behandeln; in den meisten Lehrplänen stellt sie den einzigen Unterrichtsstoff für die Zeit zwischen 800 und 1500 dar.23 Ein aufschlußreiches Zeugnis für die Arroganz im Umgang mit der Vergangenheit.

Die Stadt ist zwar für den Menschen der neuesten Zeit zum wichtigsten Erfahrungsraum geworden, für das Mittelalter jedoch, in einer Zeit, in der über 85 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande lebten, bildet sie eine Ausnahme. Was die Schüler lernen sollen, ist nicht nur in der Auswahl problematisch, sondern auch in der Art, wie nach den Vorstellungen von Ministerialbürokraten der Gegenstand behandelt werden soll: ein dröges Gemisch aus Verfassungs- und Sozialgeschichte. Selbst die Chance wird vertan, den Sonderfall der Stadt, in der sich auf engstem Raum allgemeine, und damit aktuelle Probleme im Verhältnis des Menschen zur Natur, zu Wasser und Wald konkretisieren, didaktisch zu nutzen.

Wir haben nicht die Absicht, die Lehrpläne zu ergänzen – diese sind so grottenschlecht, daß eine Verbesserung aussichtslos ist. (Es ist schließlich eine systembedingte Art von administrativer Weisheit, sicherheitshalber die vom Steuerzahler besoldeten Professoren nicht zur Beratung solcher Pläne heranzuziehen.) Aber es sind nicht nur die Lehrpläne, die den Blick auf die Vergangenheit verstellen, es sind auch unsere sauberen Museen und die um sorgfältige Restaurierung etwa des Fachwerkhaus-Bestandes besorgten Denkmalpfleger, die eine Stadt herausputzen und damit nicht nur vergessen lassen, daß der Fachwerkbau in der frühen Neuzeit als Billigbau galt. Verschleiert wird – allerdings notwendigerweise – das Alltagsproblem einer mittelalterlichen Stadt, der Dreck. Anders als im Fall der Lehrpläne kritisieren wir natürlich nicht Denkmalschutz und Museen. Es wäre eine auf die Spitze getriebene Historisierung, wollten wir verlangen, daß in sauberen Museen der Dreck sinnlich erfahrbar wäre, daß ein Marktplatz nicht in dem Glanz stabiler Häuser erstrahlen, sondern immer ein baufälliges Haus und einen abschreckenden Gefangenenblock aufweisen müsse. Die künstliche Inszenierung der Vergangenheit ist unvermeidbar; sie bedarf aber des Wissens von den im Interesse der Gegenwart diktierten Bedingungen dieser Inszenierung.

Naturgemäß hat es die junge Umweltgeschichte schwer, sich im Kreis der älteren historischen Spezialwissenschaften zu etablieren. Weiterhin ist sie sich ihrer Methoden noch keineswegs sicher,24 was angesichts des universalgeschichtlichen Gegenstands auch keineswegs verwundert. Beides bietet aber auch Chancen. Die Umweltgeschichte darf sich als junger Wissenschaftszweig noch ungebärdig geben, darf Ansätze verfolgen, die in älteren Wissenschaftszweigen, die sich zur ‚Disziplin‘ verfestigt haben, verpönt sind. Joachim Radkaus unter modischem Titel verborgene Weltgeschichte der Ökologie, welche alle historischen Epochen und alle fünf Kontinente behandelt,25 ist das wohl gelungenste Beispiel für das Nutzen dieser Chancen. Zugleich zeigt Radkau die Gefahren für den jungen Wissenschaftszweig auf. Von der Zeitgebundenheit zahlreicher Fragestellungen in der heutigen Diskussion ganz abgesehen,26 ist die Umweltgeschichte auf das engste mit Zweigen anderer Wissenschaften verflochten, mit denen der Naturwissenschaft von der Biologie bis zur Historischen Geographie, mit denen der Geschichtswissenschaft von der Alltags- bis zur Religionsgeschichte.27 Überfordert wäre jeder, der sich anheischig machen wollte, als einzelner Umweltgeschichte in all ihren methodischen Anforderungen schreiben zu wollen. Unverzichtbar ist also neben dem intellektuellen Vagantentum Joachim Radkaus28 auch das intellektuelle, seßhafte Kleinbauerntum des Spezialisten, und gerade deshalb braucht eine historisch fundierte Ökologie auch denjenigen, der wie ein städtischer Bote des Mittelalters die Verbindungen zwischen den verschiedenen Kommunen, aber auch zwischen Städten und Fürsten herstellt. Als ein solcher Bote versteht sich der Verfasser dieses Buches; er versucht zwischen den verschiedenen Disziplinen zu vermitteln.

Vermittlung zwischen Disziplinen. Läßt sich die Geschichte, von den notwendigerweise unterschiedlichen Forschungsstrategien einmal abgesehen, in verschiedene Erkenntnisziele etwa zwischen Agrar- und Mentalitätsgeschichte aufspalten? Nüchtern stellte Arno Borst den Zusammenhang zwischen diesen beiden Disziplinen her: „Die Böden mußten schon kultiviert sein, wo man die Köpfe kultivieren wollte.“29 Ein weiteres einfaches Beispiel: Die Umweltgeschichte hat eine große Schnittmenge mit der Sozialgeschichte.30 Schließlich sind es einfache Menschen, die Wälder roden, die Sümpfe entwässern, Angehörige des Volkes, das den Herren gleichgültig ist, „des volkes, des man nicht enaht.“31

Das ambitionierte Bemühen um Vermittlung zwischen wissenschaftlichen Disziplinen verlangt, um nicht an der eigenen Ambitioniertheit zu scheitern, Beschränkungen. Deshalb haben wir unsere Untersuchungen auf den deutschen Sprachraum begrenzt. Diese Begrenzung hat auch den Sinn, der Gefahr der Beliebigkeit in der Faktenauswahl und damit der Gefahr der Manipulation zu begegnen. Obwohl wir ein Thema der europäischen Geschichte anschlagen, würde doch eine Berücksichtigung des gesamten Kulturraums den Verdacht nähren, eine subjektive Problemauswahl vorgenommen zu haben, ein Verdacht, den wir nicht einmal bei der Untersuchung der deutschen Lande selbst bei möglichst detaillierter Darstellung völlig ausräumen können.

Den Dialog mit der Natur in historischer Perspektive darzustellen, haben wir als unsere Aufgabe beschrieben. Hinter dieser Formulierung verbergen sich folgende Probleme: Was ist in einer nichtschriftlichen Gesellschaft, genauer: in einer Welt des alltäglichen Lebens vor der Schrift ein Dialog, und wer sind die Partner dieses Dialogs? Anthropologisch verstanden ist diese Frage zuerst die nach der Raumerfahrung, die wir in Hinsicht auf den historischen Raum zunächst für das frühe Mittelalter verfolgen werden. Dabei sind wir durch die Quellen gezwungen, im Widerspruch zu unseren Vorsätzen ‚den Menschen‘ als kollektiv handelndes Subjekt zu fingieren. Es wäre aber unredlich zu verschweigen, daß es auch einen gewissermaßen individualistischen Forschungsansatz gibt. Von der Körpergeschichte ausgehend, konnte August Nitschke die mittelalterlichen Wahrnehmungsweisen von Umwelt herausarbeiten, wobei von grundsätzlicher Wichtigkeit ist, daß diese Wahrnehmungsweisen nach sozialem Status unterschiedlich ausfallen.32 Die Rekonstruktion der Gebärdensprache stellt ein stummes Erzählen dessen dar, was die Quellen ansonsten verschweigen.

So faszinierend die von August Nitschke eröffneten Perspektiven sind, so können wir diese doch mit unserem Ansatz nicht weiterverfolgen; denn es geht uns weniger um die individuelle Erfahrung, sondern um jene Gestaltungen, die aus natürlichen Gegebenheiten historische Räume entstehen lassen,33 also nicht um Zeremonien oder Tänze, sondern um Bäume oder Gewässer. Der Hinweis auf einen anderen möglichen Forschungsansatz sollte auch eine Begrenzung unserer Untersuchung benennen. Die von uns gefällten Aussagen vertragen im einzelnen durchaus jene Differenzierungen, welche zum Beispiel die hier stellvertretend für andere moderne Ansätze benannte Körpergeschichte eröffnet.

‚Stummes Erzählen‘ rekonstruiert die Körpergeschichte, ein stummes Erzählen aber bildet zum Beispiel auch die Geschichte des Waldes, wobei der Mensch nicht als Individuum, sondern als kollektiver Sammelbegriff verstanden wird. Die Setzung eines Kollektivums ‚Mensch‘ kann – wir nehmen Zuflucht zu einer Grunderkenntnis der mittelalterlichen Philosophie – nicht ohne die Definition der Essenz dieses Kollektivbegriffes auskommen, also nicht ohne Berücksichtigung dessen, was ‚Menschheit‘ ausmacht: die Sprachfähigkeit. Noch Luther sah ganz in mittelalterlicher Tradition allein in der Sprache das Geschenk, mit dem Gott den Menschen vor anderen Kreaturen bevorzugte.34 Aber: Wir dürfen gar nicht darum herumreden, daß wir gar nicht mehr wissen können, was Menschen im Alltag früherer Zeiten so herumredeten. Nur indirekte Aufschlüsse über die Rahmenbedingungen sind möglich. Ein direktes, ein sogar wortreiches Erzählen liegt dem gewissermaßen klassisch zu nennenden Ansatz zugrunde, mit dem die hochmittelalterlichen Naturerfahrungen des Adels am Beispiel der höfischen Dichtung dargestellt werden können.35 In der Ausgestaltung der „curialitas“, der höfischen, als vorbildlich gesetzten Lebensnormen, begegnet erstmals ein zivilisatorisches Spannungsverhältnis zur Ursprünglichkeit, zur Natur. Aber auch hier beschleicht uns ein Unbehagen. Wieweit können literarische Aussagen repräsentativ für eine Welt vor der Schrift sein? Mit theoretischen Vorentscheidungen allgemeiner Art wird man der bewundernswerten, ja staunenswerten Flexibilität mittelalterlichen Erfahrungshungers nicht gerecht. Immer wieder werden wir im Einzelfall Beweise dafür finden, daß literarische Fiktionen durchaus kollektive Bewußtseinslagen wiedergeben können; aber Handreichungen im Sinne einer strikt anzuwendenden Methode bei der alltagsgeschichtlichen Auswertung literarischer Quellen getrauen wir uns nicht zu geben.

Während für das frühe und selbst noch für das hohe Mittelalter nur auf indirekten Wegen Aufschlüsse über Naturerfahrungen möglich sind, liegen für das spätere Mittelalter direkte Zeugnisse vor. Quellen gibt es jetzt, die, da um Welten von dem intellektuellen Niveau der Gelehrten entfernt, gerade deshalb alltagsgeschichtlich interpretierbar sind. Reiseschilderungen gehören zu solchen direkten Zeugnissen, Quellen, die aber nicht einfach als Abbildungen einer vergangenen Wirklichkeit verstanden werden können.36 Sie belegen allerdings realitätsnah, welche Umwelterfahrungen sich mit der Mobilität, dem „Fahren“, ohne das die mittelalterliche Gesellschaft nicht überlebensfähig gewesen wäre,37 verbinden. Auch wenn das Goethe-Wort schon für die frühen Reisewahrnehmungen Gültigkeit hat, wonach der Mensch nur das sieht, was er weiß, wenn also die Wahrnehmung der Landschaft von Bildung und Interessen und damit von kulturellen Traditionen abhängig ist, so zeigt sich doch – nicht zuletzt wegen des spätmittelalterlichen Urbanisierungsvorgangs, der Verstädterung von Kultur –, daß Natur in ihrem Eigenwert nicht nur theoretisch erkannt, nicht nur in ihren Gefahren gefürchtet, nicht nur in ihren Chancen für den Menschen ausgenutzt, sondern in ihrem Eigenwert im wörtlichen Sinne „erfahren“ wird, denn „wandern“ heißt im Mittelalter „fahren“.38

Nur andeuten können wir die immer nur im Einzelfall zu lösende grundsätzliche Schwierigkeit, daß viele Quellen, die wir auf einen Wandel des Umweltbewußtseins hin befragen, selbst bereits Produkte eines solchen Wandels sind. Die Scylla eines anachronistischen Durchgriffs nach Maßgabe heutiger Fragestellungen droht ebenso wie die Charybdis selbstgenügsamer Historisierung. Die Untersuchung des Rechts, welches – wenngleich oft verspätet – auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert, ist wohl am geeignetsten, sowohl einer anachronistischen als auch einer historisierenden Betrachtungsweise vorzubeugen. Die im Werden begriffene Umweltgeschichte39 sollte nicht den Fehler der Geschlechtergeschichte wiederholen, die Rechtsgeschichte auszuklammern, jenen Fehler, den wir auch bei der Forschungsrichtung zur sogenannten „kulturwissenschaftlichen Wende“ befürchten. (Die Übernahme einer Terminologie des modernen Schwimmsports sollte nicht dazu führen, die bereits seit über zweihundert Jahren durchmessenen Bahnen der Rechtsgeschichte zu übersehen; denn auch der Schwimmer interessiert sich im nachhinein für die Zeit, für die Ergebnisse auf der ersten Bahn, bevor er die Wende vollzog. Daß auch Historiker neuen Zeiten entgegenschwimmen, ist nur natürlich; aber Bestmarken werden nur erreicht, wenn man die Wende als integralen Bestandteil der zurückgelegten Bahnen versteht.) Sowohl die Geschichte der Umwelt als auch die des Umgangs von Menschen weisen auf das große überzeitliche Thema der Willkürbegrenzung als Grundlage allen zivilisatorischen Fortschritts zurück. Deshalb mag hier ein Hinweis ausreichen, um die Bedeutung zu begründen, die wir der Rechtsgeschichte für unsere Untersuchung einräumen. Sie zeigt unter anderem, daß das Thema Mensch und Umwelt nicht von der Frage des Herrenrechts am Menschen abzutrennen ist. Mit Spott, in dem Zorn erkaltet war, hatte Mitte des 13. Jahrhunderts der berühmte Spruchdichter Freidank die Ausdehnung hochadeliger Herrschaftsansprüche auf die natürliche Umwelt der Menschen gescholten: Gewaltsam ziehen die Fürsten Felder, Berge, Gewässer und Wälder an sich. Sowohl die wilden als auch die Nutztiere wollen sie ihrer Herrschaft unterwerfen. Am liebsten würden sie selbst die Luft, die doch ebenfalls allen Menschen gehört, beanspruchen. Könnten sie uns den Sonnenschein, Wind und Regen vorenthalten, müßte man ihnen den Nutzungszins in Geld aufwiegen. „die fürsten twingent mit gewalt / velt, stein, wazzer unde walt, / dar zuo beidiu wilt unde zam; / si taeten lufte gerne alsam, / der muoz uns doch gemeine sîn. / möhten s’uns der sunnen schin / verbieten, ouch wint unde regen, / man müeste in zins mit golde wegen.“40

Die Geschichte des Rechts bildet unter anderem die methodische Klammer, mit der diescheinbar so disparaten Sachverhalte vom Umgang der Menschen mit der Natur und vom Umgang der Menschen miteinander zusammengehalten wird. Das Recht ist im Verständnis des Mittelalters noch nicht aufgespalten in die verschiedenen Disziplinen vom Straf- bis hin zum Urheberrecht. Das Recht ist ein Wert an sich; ein Wert, der zwischen Gott und den Menschen steht. Statt ausufernder Diskussionen: eine Welt, in der das Sprichwort entstehen konnte, „das Recht ist barmherziger als wir sind“,41 eine solche Welt, in der „ê“, also Ehe, sowohl das Alte und Neue Testament als auch die Lebensgemeinschaft zwischen zwei Menschen bezeichnen konnte, eine solche Welt ordnet das Recht nicht den „Juristen“ zu – eine bezeichnenderweise erst im 15. Jahrhundert als Selbstbezeichnung der einschlägigen Experten sich durchsetzende Bezeichnung.42 Das Recht gestaltet den Alltag. Dies ist die Klammer unserer beiden Ansätze. Das Recht gestaltet die Waldnutzung, den Umgang mit der Natur, das Recht gestaltet den Umgang der Menschen miteinander.

Es ist keineswegs hergeholt und nur sprachlicher Zufälligkeit zu verdanken, wenn wir den Umgang mit der Umwelt gemeinsam mit dem Umgang von Menschen untereinander in das Gedächtnis zurückrufen. Zum Beispiel kann das, was die Individualität eines Menschen ausmacht, durch sein persönliches Verhalten ebenso bestimmt sein wie durch seinen Lebens- und Erfahrungsraum. Familiennamen erinnern daran: Der „Steinacker“ hat es schwerer, seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, als der „Dinckelacker“, auf dessen Feldern die feine Weizenart gedeiht. Und weiterhin: „Persönliche“ Namen tragen nicht nur Menschen, sondern zum Beispiel auch Brunnen. Den Tieren werden menschliche und das meint: naturgegebene Eigenschaften zugesprochen, der störrische Esel kann dem störrischen Nachbarn entsprechen. Erst der moderne Ordnungssinn trennt Zusammenhänge einer Welt, in der selbstverständlich der Mitmensch zu dem gehörte, was wir heute als „Umwelt“ bezeichnen.

Unser wichtigstes Argument für das Zusammenfassen zweier scheinbar nicht zusammengehöriger Themen. Eine Geschichte der Umwelt ist nie von der Geschichte menschlicher Arbeit abzutrennen.43 Im Mittelalter ist der Zusammenhang von Arbeit, Überleben und Umwelt zu eng, als daß kollektives Handeln von Menschen in ihrer Umwelt unabhängig von der Frage ihres Umgangs miteinander behandelt werden könnte. Umwelt und Umgang. Wer zum Beispiel ein Kunstwerk bewundert, möchte auch wissen, wer es geschaffen hat, wie er fühlte, dachte, lebte. Nichts anderes tun wir. In Bewunderung von Leistungen, die mit nur geringen technischen Hilfsmitteln im wesentlichen mit der Hände Arbeit erschaffen wurden (der teure Kran ist eine Sehenswürdigkeit,44 und auch er ist technisierte menschliche Hand), in dieser Bewunderung der Leute, die Bäume – ohne Säge – entästeten und ausrodeten, die Deiche errichteten, Flüsse eindämmten, Holzbohlen in sumpfigen Untergrund rammten, in dieser Bewunderung alltäglicher Qual, die Steine von den Äckern zu entfernen – die Steinlesehaufen, die der Kundige am Rande heute überwaldeter mittelalterlicher Wölbäcker noch finden kann,45 mahnen ihn, nicht nur an die Qualen beim Bau der Pyramiden zu denken, wenn es um Menschheitsleistungen geht –, in dieser Bewunderung schließlich – wir wollen die Baedeker-Geschichte nicht ausschließen – für die Steinmetzen, die Kirchen bauten, die Hilfsarbeiter, die Wände flochten – wie widerspenstig kann der Zweig einer Weide sein –, in dieser Bewunderung wollen wir nicht bei dem am Schreibtisch leicht auszustoßenden Seufzer stehenbleiben, wonach das Mängelwesen Mensch doch zu erstaunlichen Leistungen fähig ist. Das, was allen zivilisatorischen Rückschlägen zum Trotz als Fortschritt in der Geschichte bezeichnet werden kann, ist nur zu einem geringen Teil Verdienst großer Persönlichkeiten, ist in der Hauptsache kollektive Leistung von Leuten, die um ihr Überleben kämpften. Nur dank der Arbeit dieser Menschen kann ich achtlos an steinbereinigten Ackerfluren vorbeigehen, kann ich mein ästhetisches Bedürfnis bei der Raumwirkung von Hallenkirchen ausleben (wie viele Unfälle in schwindelnder Höhe mag es wohl auf den Gerüsten gegeben haben?), kann ich Straßen befahren, die mehrheitlich erstmals im Spätmittelalter angelegt worden waren. Und schließlich lebe ich nur deshalb, weil unter den Gefahren von Armut und Not der Überlebenswille unzerstörbar war.46 Es ist – zugegebenermaßen unwissenschaftlich – einfach ein Stück aus Dankbarkeit gebotener Achtung, daß ich frage: Wie seid ihr, meine Vorfahren, angesichts kaum noch vorstellbarer Härten des Lebens miteinander umgegangen?

Erster Teil

Natürliches Lebensumfeld

1 Das Klima und die Sorge um frische Luft

Unter allen Umweltfaktoren ist das Wetter dasjenige, das der Mensch am wenigsten beeinflussen kann. Die Faszination der Wetterkarte ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, daß der planende Mensch der Neuzeit eine Ohnmachtserfahrung kompensiert: das nicht planbare Schicksal.

Paläoklimatische Daten aus der jüngsten geologischen Vergangenheit belegen, nach Jörn Thiede, daß in dem vom Menschen noch nicht gestörten Ökosystem Erde innerhalb weniger Jahre schnelle klimatische Wechsel eintreten konnten, welche die langfristigen zyklischen Klimaänderungen modulierten. Die schnelle Erwärmung des Erdklimas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts läßt sich aber, so Lennart Bengtsson, nicht mehr mit natürlichen Klimaschwankungen erklären. Die 1990er Jahre waren die wärmsten des abgelaufenen Jahrhunderts, was vermutlich, aber selbst mit Modellrechnungen noch nicht mit Sicherheit beweisbar, auf den Treibhauseffekt zurückgeht.1

Das mit wissenschaftlichen Methoden kurzfristig vorhersehbare Wetter ist Teil des Klimas, von dem heutzutage befürchtet wird, daß es der Mensch durch die verstärkte Freisetzung unter anderem von Kohlendioxid und Methan beeinflußt habe. Dann wäre eine globale historische Entwicklung in Gang gesetzt, die in früheren Zeiten allenfalls in ihrer regionalen Historizität erfaßbar gewesen ist. Denn zu den Anfängen der modernen historischen Methodik gehört das Aufgreifen antiker Theorien durch Jean Bodin, der 1566 die Unterschiede von Schicksal und Charakter der Völker aus dem jeweiligen Klima herleitete.2

Klima als unbeeinflußbares Schicksal. Einige Grundtatsachen: Es gab eine von 500 bis 1200 reichende frühmittelalterliche Wärmezeit, deren Optimum etwa um das Jahr 1000 erreicht war.3 In dieser Epoche lag die Temperatur im Jahresdurchschnitt etwa 1 ° Celsius über der von 1900. Was zunächst als unerheblich erscheinen mag, hat schwerwiegende Folgen, die durch Impressionen verdeutlicht seien: Die ersten Siedler Islands haben 874 wesentlich geringere Gletscherareale angetroffen als wir sie heute kennen. Grönland war damals noch das grüne Land und kein eiswüstes „Unland“. Die Wikingerfahrten nach Vinland um 1000 fallen mit dem Klimaoptimum zusammen. Im 8. und 9. Jahrhundert wachsen in England Ölbäume.4 Auch um nur 1 ° Celsius höhere Temperaturen im Jahresdurchschnitt verlängern die Sommer und vermehren damit agrarische Nutzungsmöglichkeiten; kürzere Winter bewirken mit häufigeren Niederschlägen größere Fruchtbarkeit. Ein Beispiel für die Folgen nur scheinbar geringfügiger langfristiger Klimaveränderungen: Das heutige Wüstengebiet östlich des antiken Antiochia erlebte im 5. und 6. Jahrhundert zahlreiche Stadtgründungen inmitten einer blühenden Agrikultur.5

Die Erforschung der Klimageschichte wurde 1966 auf neue Grundlagen gestellt. Das im Gletschereis geborgene Klimaarchiv der Erde wurde geöffnet.6 Vergleichbar den Wachstumsringen des Baumes enthält auch ein Eisberg Informationen über die zwischen Tauwetter und erneuter Vereisung liegenden individuellen klimatischen Bedingungen eines Jahres. Es gelang einem amerikanischen Forscherteam, bei Camp Century in Grönland aus der senkrecht durchbohrten Eisdecke einen Bohrkern zu entnehmen, der mit einem Durchmesser von 12 cm 1390 m lang war und damit tief in die Geschichte hineinreichte.7 Die Altersbestimmung der einzelnen Schichten des Eiskerns wurde über das Sauerstoffisotop O 18 vorgenommen, das in mehr oder weniger großen Mengen im Gletschereis vorkommt. Dieses Isotop bildet den entscheidenden Indikator für die Klimaschwankungen, weil seine Konzentration hauptsächlich von der Kondensationstemperatur der jeweiligen Niederschläge abhängt. Ein Abnehmen der Temperatur bewirkt eine abnehmende O-18-Konzentration.

Natürlich kann der O-18-Gehalt im Bohrkern der Höhle von Camp Century nur das globale Makroklima, nicht aber das jeweilige regionale Mikroklima anzeigen. Daran können auch die seit 1966 immer mehr verfeinerten, in immer tiefere Zeiten der Erdgeschichte vordringenden Verfahren der Glaziologie nichts ändern. Sie liefern jedoch harte Fakten. Das Makroklima sinkt von durchschnittlich 12,1 ° Celsius im Jahre 1000 auf 11,5 ° im Jahre 1150 und auf 11 ° um 1450, um dann (nach Überwindung der kleinen Eiszeit der frühen Neuzeit) auf 11,7 ° im Jahre 1940 anzusteigen. Eine Wärmezeit wie die des frühen und hohen Mittelalters hat aber nicht nur Vorteile. Beim Wasserhaushalt zeigt sich: Stagnierende seichte Gewässer bilden Brutstätten für Insekten, die gefährliche Krankheitserreger auf den Menschen übertragen können. Unter ökologischen Gesichtspunkten gelesen sind Heiligenviten eine aufschlußreiche Lektüre, die etwa belegen, daß die Malaria im Inneren Frankreichs8 und noch im Deutschland des 12. Jahrhunderts die Menschen heimsuchte.9

Klima, ungesunde Sümpfe, Politik: Otto II. erlag 983 der Infektion durch Malaria und Ruhr. Als die Nachricht Deutschland erreichte, erhob sich ein großer Aufstand der Slawen. Die Katastrophe Friedrich I. 1167 vor Rom, als eine Ruhr- und Malariaepidemie sein Heer dezimierte, war vor allem deshalb von großer Folgewirkung, weil zahlreiche Hochadelssöhne der Krankheit erlagen – so starb die schwäbische Linie der Welfen aus –, was die politische Szene in deutschen Landen zutiefst veränderte.

Ab 1300 wird es kälter in Europa.10 Es bahnte sich die sogenannte kleine Eiszeit an, wie man das Absinken der durchschnittlichen Jahrestemperaturen zwischen 1550 und 1850 übertreibend genannt hat. 1303 und 1306 fror die Ostsee in ihrem südlichen Teil zu.11 In jener Zeit brach die normannische Besiedlung auf Grönland zusammen. Das kältere Klima wirkte sich von Nord bis Süd in den deutschen Landen aus, beeinträchtigte den Weizenbau im Norden und erzwang in den Höhenlagen der Alpenregionen die Aufgabe von Siedlungen.

Aus den wechselnden Daten des Beginns der Weinlese gelang es Christian Pfister, die Klimaverschlechterung des Spätmittelalters, die kälteren Spätsommer seit 1340 nachzuweisen.12 1347 erlitten die Menschen den kältesten Sommer seit 700 Jahren13 – und das inmitten einer Kette von Unglücksjahren.14 1365 und 1435 herrschten so kalte Winter, daß man unterhalb Kölns über den vereisten Rhein gehen konnte.15 Besonders schneereiche Kälteperioden bildeten die Jahrzehnte zwischen 1475 und 1497.16

Die nüchternen Zahlen der Klimageschichte abstrahieren alltägliche Nöte. Winterkälte ist für die Menschen mehr als Zähneklappern in dünnwandigen Häusern, wo bestenfalls nur ein Raum beheizbar ist. Frost und Schnee sind, Klima als Drama, drastische Einschnitte in die Lebensbedingungen. Verständlich wird der Stoßseufzer: „Mohte ich verslâfen des winters zît“.17 Verflucht wird diese Zeit, welche die Natur ihrer Schönheit, ihres Trostes für die Menschen beraubt. „Veiger winter“,18 „wê dir winter ungehiure … heide und ouwe ist bluomen bar“.19 Mit Schaudern erinnert sich Walther von der Vogelweide an die Zeiten, in denen er als Fahrender den „Hornung“ an den Zehen spürte.20

Privilegiert ist der Dichter, der mit Schilderungen der Kälte lediglich den Verlust des Erbarmens beklagt, das die Natur der geschundenen, der trauernden Seele bot. Mehr ist zu befürchten. Man vermied es nach Möglichkeit, im Winter zu reisen.21 Hunderte von chronikalischen Notizen, von denen nur einige ausgewählt seien, lassen die Gründe erkennen.22 Was zunächst als lapidare annalistische Nachricht erscheint, wurde von den Zeitgenossen mit Erschrecken wahrgenommen: Am 16. Januar 1294 herrschte im Elsaß so große Kälte, „daß um Hagenau die Weinstöcke erfroren, die Linden sich spalteten, im Wasser die Fische, im Wald Vögel und Menschen umkamen.“23 Strenge Winter sind für die meisten Menschen eine existentielle Gefahr. Wenn sogar Hirsche in den Wäldern erfrieren mußten,24 war auch der kleine Mann auf einsamer Straße vom Tod durch die Kälte bedroht.25 Zum Beispiel fiel im Winter des Jahres 1392 so viel Schnee, daß Reisende auf den Straßen umkamen und erst im Tauwetter aufgefunden wurden.26 Wer im harten Winter 1442/43 von der Straße abkam, war im tiefen Schnee verloren.27 Die Gefahr war den Menschen bewußt. Deswegen kann im ausgehenden 15. Jahrhundert Sigmund Meisterlin die ihm überlieferte Nachricht, wonach bei einem königlichen Hochzeitsfest in Nürnberg 1215 viele Menschen umgekommen seien, nur so deuten: „do was soliche große scharpfe keltin, dass große schar der menschen erfruren.“28 Tatsächlich aber waren die Menschen gestorben, als der Festsaal durch das große Gedränge eingestürzt war.

Der Mensch des Mittelalters war uneingeschränkt abhängig von den Jahreszeiten: Die Arbeiten der 12 Monate(Karolingische Buchmalerei, 9. Jh., Wien, Österreichische Nationalbibliothek).

Es mögen nur einzelne gewesen sein, die zum Erschrecken ihrer Mitmenschen erfroren sind; sie zollten aber in extremer Weise dem Schicksal der Witterung Tribut, das alle Menschen gefährdete. Die häufigen rheumatischen Krankheiten gingen auch darauf zurück, daß Haus und Kleidung wenig Schutz gegen grimmigen Frost boten.29 Die sich erst später herausstellenden gesundheitlichen Folgen waren dem Menschen wohl weniger bewußt als diejenigen, die er unmittelbar erfuhr. Das Hungerjahr 1226, in dem die Barmherzigkeit der hl. Elisabeth in den Viten hervorgehoben wird, nahm von einem ungewöhnlich langen Winter seinen Ausgang, der ein Viehsterben zur Folge hatte.30 Zu kalte Winter beschworen die Gefahr der „Auswinterung“ der Saaten herauf. Und wenn ein Nürnberger Chronist zum Jahre 1440 bemerkt, „do was ein heftiger langer winter, der wert untz viertzehen tag nach Ostern hinaus“,31 so wußte jeder damalige Leser, was das bedeutete: erstens die Gefahr, daß die Frühjahrssaat, die bis zum 23.4., allerspätestens aber bis Walburgis (1.5.) in den Boden gebracht werden mußte, in dem durchfrosteten Erdreich nicht anging oder durch Frühjahrsfröste die Wintersaat verdarb,32 zweitens daß das Vieh noch nicht auf die Weide getrieben werden konnte, obwohl das Futter in den Ställen längst ausgegangen war („man mußte die schaf abstechen von hungers wegen“),33 und drittens, daß Arbeiter und Tagelöhner in Stadt und Land keine Arbeit bekamen. Der Nürnberger Chronist begnügte sich mit der klimatischen Notiz, sein Zeitgenosse, der Erfurter Hartung Cammermeister erklärte seine Nachricht vom kalten Winter des Jahres 1435: „Davon stund armen luten groz kummer unde jammer uff …, das sie nicht zu arbeit konden komen.“34 Hinter der scheinbar nüchternen Notiz des Nürnberger Chronisten steckt tiefe Sorge. 1440 war die Hungersnot des Jahres 1438 noch in frischer Erinnerung; jedermann wußte, daß die Ursache dieser Not in den harten Wintern lag, die in den zurückliegenden Jahren aufeinander gefolgt waren.35

Ein verregneter Sommer konnte die ganze Ernte vernichten(Petrarcameister, Von Wartung besserer Zeit, 1532).

Witterung und Arbeit:36 Schneefälle konnten von einem Ausmaß sein, daß bis in den März hinein die Waldarbeit unmöglich war.37 Oder: Kälte und Eisgang legten den Betrieb der Mühlen lahm – ein Problem, mit dem sich die Speyerer Domherren im Winter des Jahres 1500 herumschlagen mußten.38 Winterkälte behinderte selbst das Kriegshandwerk wie im Jahre 1388. Viele Pferde der Nürnberger Truppen erfrieren. Die Mannschaften beginnen zu meutern.39 Von den speziellen zu den grundsätzlichen Folgen langer Frostperioden. Vor Hunger brüllendes Vieh in den Ställen,40 stille Verzweiflung bei den Tagelöhnern: Vor diesem Hintergrund gewinnen zahlreiche Nachrichten der städtischen Chronistik über langdauernde Winterkälte kantige Konturen. Ein Beispiel zur Beleuchtung politischen Agierens innerhalb des gefährdeten Alltags: Weil man normalerweise im Winter nicht bauen konnte, hebt der Nürnberger Chronist besonders hervor, daß die Nürnberger ihren Stadtturm, den Luginslant, 1377 im Winter errichten mußten. Man war gezwungen, den Mörtel mit teurem Salz anzurühren. Der Grund für die Eile, welche den Nürnberger Rat keine Kosten scheuen ließ, lag in dem politischen Zweck des Turmbaus, Einblick in die Vorgänge auf der burggräflichen Burg zu gewinnen, „das man darauf ins marggrafen purk moecht gesehen“.41 Nicht nur Akten spiegeln die spannungsgeladene Situation wider, sondern, vielleicht eindrücklicher, auch der mit Salz angerührte Mörtel.

Ein guter Sommer konnte reiche Vorräte für den Winter bedeuten(Pieter Bruegel d. Ä., Die Kornernte, 1565).

Selbst für die höheren Stände, die nicht wegen der Kälte um ihre Arbeitsmöglichkeiten fürchten mußten, waren harte Winter eine Plage. Eine Urkunde für das reiche österreichische Kloster Lilienfeld erinnert daran. Den Mönchen wird die Einrichtung eines Winterrefektoriums gestattet, weil immer wieder Speisen und Getränke eingefroren waren.42

Noch größere Gefahren als strenge Winter beschworen kalte und verregnete Sommer herauf.43 Die Jahre 1314/15 brachten derart hohe Niederschläge, daß allenthalben die Ernten vernichtet wurden. Die europaweite Hungerkatastrophe, die sich in vielen Regionen bis 1318 erstreckte,44 hat die Geschichte genauso stark verändert wie die viel bekanntere Pest der Jahre 1347–1349.45 Die größte Erntekatastrophe des Spätmittelalters darf in ihrer Singularität nicht verkennen lassen, was alljährlich die Menschen mit Sorge erfüllen mußte. Verregnete Sommer:46 Die Erträge der Weinberge verminderten sich dramatisch, eine wirtschaftliche Katastrophe für ganze Regionen,47 und oft genug wußten die Menschen schon Monate zuvor von kommenden Nöten, von Teuerung oder gar Hungerszeit, wenn in naßkalten Sommermonaten die Ernte verdarb. (Erst der Regelungsbedarf des frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaates bündelt wohlmeinend und selbstgefällig Furcht und Freude: Erntedankfest.)

Die Jahreszeiten in einer französischen Buchmalerei um 1460(aus: Petrus de Crescentiis, Le Rusticana, Chantilly, Musée Condé).

Nicht die Behauptungen einzelner Theologen über Hölle und Fegefeuer lehrten die Menschen existentielle Furcht, sondern die vom Himmel herabschwebende Witterung. Die klimatischen Unglücksjahre mit ihren von Verzweiflung durchsetzten Hungerzeiten waren in der Erinnerung gegenwärtig, wenn sich der Blick besorgt gen Himmel richtete. Zu fürchten waren nicht allein dramatische Katastrophen, zu fürchten waren selbst unspektakuläre Wetterschwankungen. Sogar am Wiener Hof wuchs im Sommer 1444 die Sorge, daß die Dürre eine große Teuerung zur Folge haben könnte.48 In der Welt des Mittelalters mußte ökonomische Planung für den gemeinen Mann ein unverständlicher Begriff bleiben. Zu planen war allenfalls die Arbeit – der Hintergrund so mancher Bauernregel angesichts der Launen der Natur: „An Jerry und Marx / gschieht manch Args.“49 Dieses elsässische Sprichwort ist gleichermaßen Warnung und Mahnung. Angesichts der häufigen Frühjahrsfröste zu St. Georg („Jerry“) und St. Markus (23. bzw. 25. April) muß der Winzer mit Schneiden, Sticken, Biegen und Hacken der Reben zu dieser Zeit bereits fertig sein.

Zu bedenken ist die heute kaum mehr bekannte frühere Bedeutung des Weinbaus für den Arbeitsmarkt (zumal in deutschen Landen die Anbaufläche des Weins seit dem Mittelalter auf ein Drittel geschrumpft ist), um zu ermessen, was kalte Tage im Spätsommer, auf die wir heute nur mit Unmut und wärmerer Kleidung reagieren, für Folgen hatten: Frosttage ließen den Wein verderben50 oder wie 1392 nur einen sauren Wein gedeihen, der von den Menschen „ratzemann“ genannt wurde.51 Und umgekehrt: Allzu heiße Sommer beschworen die Gefahr der Trockenheit herauf.52 1393 herrschte in Österreich die größte Dürre seit Menschengedenken, und 1401 sollen hier in der Sommerhitze alle Brunnen versiegt sein.53 Mitte des Jahres 1388 hatte der Rhein einen so niedrigen Wasserstand, daß man in Köln Wasser auf den Straßen verkaufte.54 Eine große Teuerung folgte dem heißen Sommer des Jahres 1375, als drei Monate lang kein Regen gefallen war.55 Der überaus trockene Herbst des Jahres 1513 ließ am Niederrhein die Wasserstände so stark sinken, daß im Winter alle Bäche und Teiche, durch welche die Mühlen betrieben werden konnten, vereist waren. Hungersnot drohte.56

Dankbar waren die Menschen über gutes Wetter aus existentiellen Gründen: „guter, warmer, trukner, seliger sumer“.57 Die Tische waren reicher gedeckt nach einem solchen „seligen Sommer“ des Jahres 1471. 1442 war „dat beste winjair, dat man ie gedenken mochte“.58 Begeistert spricht Burkard Zink von dem „guet fruchtbar jar“ 1467: „der winter was mittel, weder zu kalt noch zu warem … der summer ward nit ze haiß und regens genueg … der hörbst was guet warem und regnet zu gueter maß.“59

Wie schon in mittelhochdeutscher Zeit beklagt um 1500 ein Lied auf einem Einblattdruck das Herannahen des Winters. Spielende Mädchen sollen die bald verlorenen Freuden des Sommers darstellen.

Mochten auch Frühjahrsfröste und Sommerregen gefürchtet werden, so waren sie doch leichter zu ertragen als die Winterzeit.60 Das ist die Realität, deretwegen Dichter die „sueze sumerzît“, ja die „saeligiu sumerzît“ preisen können.61 Es leuchtet ein, daß man im Frühling auf den Kreuzzug zieht, wenn, um mit Otto von Freising zu sprechen, „das junge Grün der Felder ein heiteres Antlitz der Erde bietet und der Welt zulächelt.“62 Der Mai ist den medizinischen Monatsregeln entsprechend der für den Menschen gesündeste Monat, weil die Natur alle Kräfte regeneriert.63 Frühjahrspflanzen wie der Schlüsselblume werden besondere Heilkräfte zugeschrieben, und sie dienen unter anderem auch als Schönheitsmittel.64

Unberechenbare Natur. So beginnt die Limburger Chronik: „Item da man zalt nach Cristi geburt dusent druhondert unde ses unde drißig jar uf daz fest Simonis unde Jude da was der große wint, der tet großen schaiden, der warf groß huis, gezimmer unde torne umb unde fellet große baume in den welden.“65 Die Macht des Windes konnte den Menschen gefährlich werden. Am Ende des prächtigen Mainzer Hoftags im Mai 1184 zerstörte ein Sturm die Zelte und mit der kaiserlichen Kapelle auch die Behelfsbauten, die für den Hoftag auf den Rheinwiesen errichtet worden waren. 15 Menschen kamen dabei um.66 Hier ist bereits bezeugt, was dann in der besonders stürmischen „kleinen Eiszeit“67 den Menschen Sorgen bereiten mußte. Immer wieder ist in den Chroniken von Stürmen die Rede, die von den Kirchen die Dachstühle wegfegten und fest gezimmerte Häuser einrissen.68 Uns interessiert an der einleitend zitierten Nachricht der Limburger Chronik noch etwas weiteres: Der Verfasser erinnert an eine Begebenheit, die etwa elf Jahre vor seiner Geburt stattfand. Das Typische: An Witterungsunbilden erinnern sich Menschen zeitlebens; Naturkatastrophen gar leben noch Generationen später in der Erinnerung.69

Natur – das war auch immer das Unvorhersehbare. Wenn 1446 Würmer die Wurzeln des Getreides in katastrophalem Ausmaß zerfressen, notiert Burkard Zink, daß selbst alte Leute sich nicht an ein vergleichbares Unglück erinnern konnten.70 Und das ist die Wendung, mit der immer wieder Chronisten auf die Unberechenbarkeit der Natur reagieren: Seit Menschengedenken habe man das nicht erlebt;71 eine Steigerung benutzt der Kölner Chronist, der zum Winter 1434/35 notiert: „do was der kaldeste winter, der sint gotz geburte je gewas.“72 Nur ausnahmsweise finden sich präzise Zeitangaben: das größte Unwetter seit 20 Jahren.73 Wie wenig man solchen Zeitbestimmungen trauen darf, zeigt Heinrich Deichsler, der zu 1498 von dem kältesten Winter seit 20 Jahren spricht74 und offenbar vergessen hat, daß er für das Jahr 1490 den kältesten Winter seit 50 Jahren vermerkt hatte.75

Unberechenbare Natur. An überaus milde Winter konnten sich Zeitgenossen erinnern, etwa als in Österreich um 1408 schon Anfang Februar Veilchen und Palmkätzchen zu sehen waren, als 1424 zu Weihnachten die Sonne wie zu Ostern schien und bereits Mücken herumschwirrten.76 Am Niederrhein fingen zu Weihnachten 1504 die Blumen an zu blühen, Bäume trieben Blätter.77 Und umgekehrt konnte im Mai Schnee fallen.78 Die Natur überrascht die Menschen stets aufs neue und oft aufs grausamste.79 Große Stürme wie etwa 139780 und Erdbeben wie etwa 134881, 135682 und 1395.83 Das Erdbeben von 1348, dessen Epizentrum bei Villach lag und ein Schüttergebiet von 600 km im Durchmesser heimsuchte, war eines der die Zeitgenossen bedrückendsten Ereignisse, wie die erstaunlich hohe Zahl von 80 Belegen in Chroniken erkennen läßt.84 Selbst wenn leichtere Beben keinen größeren Schaden anrichteten wie jenes, das 1504 zwischen Duisburg und Köln das Geschirr an den Wänden klirren ließ, so lösten sie doch großen Schrecken aus.85 Lokale Ereignisse, die gleichwohl zum gefährdeten Alltag gehörten, waren die Hagelschläge – immer wieder begegnen Nachrichten über solche Schauer mit Körnern von der Größe von Steinen oder Hühnereiern, die Dächer und Kirchenfenster einschlugen.86 Sogar die damals noch seltenen Steinhäuser konnten 1279 in verschiedenen Orten des Elsaß durch Hagelschlag beschädigt werden.87

Eine seit der Karolingerzeit immer wieder, allerdings in großen zeitlichen Abständen bezeugte88 Naturkatastrophe bedeuteten die an die biblischen sieben Plagen gemahnenden Heuschreckenschwärme.89 Das Jahr 1338 erschien den Chronisten weniger als das Jahr des reichspolitisch so bedeutsamen Rhenser Weistums, sondern als das Jahr jener Tiere bemerkenswert, die mit ihren „behelmten Köpfen“ in dichten Schwärmen sich auf den Feldern niederließen und ganze Landstriche kahlfraßen.90 Historische Merkverse komprimierten die allgemeine Erinnerung an die Katastrophe,91 die von manchen Zeitgenossen in einen Zusammenhang mit den Judenpogromen gestellt wird.92 Heuschreckenschwärme in den folgenden Jahrzehnten waren, wie etwa 1362, offenbar nur regionale Ereignisse – aber immerhin, für die betroffenen Landschaften bedeutete es die Vernichtung von Ernten, wenn die Heuschrecken „wie Schnee“ auf den Feldern niedergingen.93

Labile Welt. Lawinen und Bergrutsche verursachten menschliche Tragödien.94 Das wenigste davon ist in den Quellen überliefert und läßt sich nur andeutungsweise erfahren, wenn die Herrschaftswelt in Mitleidenschaft gezogen, wenn also etwa die Grande Chartreuse bei Grenoble durch eine Lawine nahezu vollständig zerstört wird.95 Als Abt Rudolf von St. Trond im Winter 1127 über die Alpen reiste, verschüttete eine Lawine zehn seiner Begleiter.96 Das läßt verstehen: Wer im Winter über die Alpen steigen muß, und das sind im 12. Jahrhundert bereits Tausende, pflegt am Morgen des ersten Aufstiegs zu beichten.97 Gefahren und Solidarität des Erbarmens: Um 1050 wurde das Hospiz auf der Paßhöhe von jenem Adeligen gegründet, nach dem der Berg heute heißt: St. Bernhard – für Jahrhunderte der höchste dauernd bewohnte Platz Europas.98

Den Bergrutschen in den Alpen entsprechen die Abbrüche an den Steilküsten der Meere. Die Kliffs an der dänischen und mecklenburgischen Ostsee sind in historischer Zeit entstanden, als die Küste teilweise mehrere hundert Meter vor dem Meer zurückwich.99 Noch weniger aber als von den Gefahren des Alpenübergangs erfahren wir von den Gefahren auf See. Erst im Spätmittelalter finden sich vereinzelte Nachrichten. Bis nach Köln drangen 1424 Berichte von einem verheerenden Orkan in der Nordsee, durch den viele Menschen ertranken und viele Kaufleute ihr Gut verloren.100

Erdbeben und Flutkatastrophen hatten schon die antike Zivilisation schwer heimgesucht. Selbst das Stadtbild der weltbeherrschenden Metropole Rom wurde zwischen 193 und 148 v. Chr. durch Erdbeben, Überschwemmungen und Brände zutiefst umgestaltet. Auch in der hochentwickelten mediterranen Kultur wird nicht intensiv nach seismologischen und vulkanologischen Ursachen gesucht, vielmehr versuchen die Menschen, sich durch Tempelbauten und Gelübde vor den Naturgewalten zu schützen. Der Unterschied zum Mittelalter besteht in einem übergreifenden Katastrophen-Management, das in der römischen Kaiserzeit entwickelt wird.101

Klima – Gott – Natur: Gottes Zorn drücke sich, so fürchteten die Menschen, in Unwettern, in Hagelschlag und Frösten aus.102 Kollektivstrafen, die alle trafen. Gott lebte nicht in der Natur, sondern er argumentierte mit ihr. Die Missetat des einzelnen kann Gottes Strafe nach sich ziehen, die dann alle trifft. Die Ehescheidung König Ottokars II. von Böhmen beantwortet der Himmel, wie der Steirische Reimchronist meinte, mit Unwettern.103 Entgegen dieser allgemeinen Auffassung hatten einzelne immer wieder versucht, den rationalen Ursprung von Naturkatastrophen zu erweisen;104 es lag nicht zuletzt an den schwierigen Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikation, daß diese individuellen Erklärungsansätze lange keinen größeren Einfluß gewannen.

Konnte auch der Teufel mit der Natur argumentieren? Offensichtlich haben dies viele gefürchtet. Einsichtige sollten hingegen immer davor warnen, die Heimsuchung der Menschen durch Unwetter, Pflanzenkrankheiten, Raupen- und Heuschreckenfraß für Hexenwerk zu halten.105 Schon im frühen 9. Jahrhundert hatte der einflußreiche Erzbischof Agobert von Lyon gegen die Vorstellung vom Wetterzauber angekämpft,106 wie nach ihm noch zahlreiche weitere Theologen: Gott ließe sich doch von niemanden, weder von Teufeln noch von alten Weiblein, ins Handwerk pfuschen. Dennoch blieben seit dem Frühmittelalter, als die Volksrechte den Wetterzauber mit Strafen bedrohten,107 das ganze Mittelalter hindurch entsprechende Vorstellungen lebendig,108 in Teuerungszeiten massiv auftretend.109

Wandelhaft war das Klima. Konstant aber erschien den Menschen die Beschaffenheit der Luft in ihrer Region. Nur vorübergehend irritiert durch starke Gewitter oder anhaltende Trockenheit110 gehörte die jeweilige Beschaffenheit der Luft zur – Verzeihung – „regionalen Identität“. Gefahren drohten allerdings auch hier. Ein Deutungsversuch Konrads von Megenberg, der auch vor dem zeitgenössischen Hintergrund der Katastrophenjahre zwischen 1338 und 1348 zu sehen ist: Dünste, die sich im Erdinneren ansammelten, könnten – wie Aristoteles und Albertus Magnus lehrten –, faulig geworden, an die Oberfläche dringen und Ursache für Pest und Erdbeben werden.111

Ebenso wie in der frühneuzeitlichen Modegeschichte hinter der höfischen Kleidung der verflogene Duft des Parfums nicht mehr zu rekonstruieren ist, ist auch die zentrale Bedeutung der Luft in ihrer jeweiligen regionalen Beschaffenheit kein historiographisch zu vergegenwärtigender Sachverhalt mehr. Bestenfalls kann es gelingen, den Verlust einer geschichtlichen Dimension anzudeuten. Ein Beispiel: Michael Gaismairs Tiroler Landesordnung von 1525 fordert die Trockenlegung der Moore im Land, damit „die pösen Tämpf von den Mösern vergiengen und daz Land frischer wurd.“112 Die Ausdünstungen waren schon zuvor häufiger beklagt worden. Herzog Siegmund der Münzreiche hatte sogar versucht, die Sümpfe durch Gräben zu entwässern.113 Was die Forderung Michael Gaismairs so aufschlußreich macht, ist ihre programmatische Wucht im Tiroler Bauernkrieg. Der Führer der Aufständischen formuliert allgemeine Anliegen. Es war von allgemeinem Interesse, daß die stickige Luft, die von den Sümpfen ausging, sauber wurde. Ein Einzelbeispiel? Keineswegs, wie im folgenden deutlich werden wird. Wie so häufig in der Geschichte: Forderungen von Revolutionären können tief in der Vergangenheit wurzeln. Auch die Forderung, daß „daz Land frischer wurd“, hat eine lange Tradition.

Arabischen Reisenden des 10. Jahrhunderts, die aus einem Sonnenland kamen, fiel als Besonderheit Nordeuropas auf: Kälte und – in ihren Nasen – stickige, dicke Luft. Qazwînî, ein arabischer Geograph des 10. Jahrhunderts, urteilte über das Frankenreich: „Seine Kälte ist ganz fürchterlich und seine Luft dick wegen der übergroßen Kälte.“114 Die arabischen Gelehrten, die einen solchen Satz lasen, verstanden sofort, daß der Reisende ihnen weit mehr als eine Klimabeschreibung lieferte: Er sagte auch etwas über die Menschen aus; denn davon waren die Gelehrten überzeugt: Luft wirkt auf den menschlichen Charakter. Aber deswegen wäre niemand auf den simplen Kurzschluß verfallen: Rauhe Luft bedingt rauhen Charakter. Qazwînî hütet sich, vorschnelle Lösungen auf Fragen zu bieten, die erst noch der Klärung bedurften.

Was ein arabischer Gelehrter des 10. Jahrhunderts notierte, wäre hier nicht mehr als eine Anmerkung wert, wenn nicht die Prinzipien seiner Urteilsbildung seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet worden wären. Salerno! Für den Alltag der Menschen war diese nur bis Mitte des 13. Jahrhunderts blühende Gelehrtengemeinschaft viel wichtiger als die berühmteren Universitäten von Paris und Bologna. Nach Salerno zieht Hartmanns von Aue Armer Heinrich, um Heilung zu erfahren. Die verbreitetsten Gesundheitsregeln des Mittelalters liehen sich die Autorität: „Regimen sanitatis Salernitanum“. Bis heute lebende Weisheiten – „nach dem Essen sollst du ruhn“ usw. – gehen auf dieses Regimen zurück. Von Salerno wurde Europa belehrt, wie wichtig die frische Luft für das Leben ist. Die mittelalterliche Medizin griff diesen Gedanken auf. Saubere Luft in den Städten forderten schon 1231 die Konstitutionen von Melfi.115 Sie wollten alle Gewerbe, die unter üblen Gerüchen arbeiteten, aus den Wohngebieten verbannen. Die geistige Herkunft dieser Bestimmung aus der Schule von Salerno, die in der gleichen Herrschaft Friedrichs II. lag, der die Konstitutionen von Melfi erlassen hatte, ist mit Händen zu greifen.

Die Schule von Salerno ist nach ihrer Gründungslegende von einem Griechen, einem Araber, einem Juden und einem Christen geschaffen worden. Personifiziert sind hier, im Prinzip durchaus zutreffend, die kulturellen Vermittlungs- und Rezeptionsvorgänge.116 Abgesehen davon, daß man an dem Juden angesichts des Ansehens jüdischer Ärzte nicht vorbeigehen konnte und daß man den Christen aus Proporzgründen erwähnen mußte, hält die Gründungslegende einen epochalen Vorgang fest: Aus der griechischen Medizin hatten die Araber die sogenannte Humoralpathologie übernommen und weiterentwickelt.117 Der Mensch besteht aus Säften, die den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft entsprechen – und die jeweilige Mischung und Zusammensetzung dieser Säfte entscheidet über den Charakter des Individuums: Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker und Sanguiniker. Über die Araber lernte das Mittelalter durch die Vermittlung Salernos seit dem 11. Jahrhundert dieses Konzept der Griechen schätzen. Die Säftelehre sollte dann zum Grundbestand medizinischer Gelehrsamkeit bis in das 18. Jahrhundert gehören – der Hintergrund der Forderung, daß „daz land frischer würd“.

Auch wenn wir es uns hier versagen müssen, näher auf die Humoralpathologie einzugehen,118 sei doch nachdrücklich darauf hingewiesen, daß sie mehr war als eine medizinische Grundauffassung im heutigen Verständnis. Die Säftelehre enthielt eine seelische Interpretation des Körpers, weil sich von den körpereigenen Säften in ihrer jeweils individuellen Zusammensetzung die Temperamente der Menschen ableiteten. Sie ist also im Kern eine – von der Theologie unabhängige – Anthropologie.119 Innerhalb dieser besagte die gute Luft für den Menschen mehr als nur Wohlbefinden.120 (Deshalb reagierte selbst die asketische hl. Elisabeth empfindlich auf schlechte Luft.)121

Die gute Luft wird im Mittelalter keineswegs als selbstverständlich hingenommen. Wie die Fürsten nach dem Willen des einflußreichen Fürstenspiegels des Aegidius Romanus (1277/ 79)122 haben auch die Stadträte für die gute Luft zu sorgen. Das ist Teil ihrer Verantwortung für den Gemeinnutz. Nicht zu beweisen, aber zu vermuten ist dabei eine Rezeption des Römischen Rechts, fanden sich doch im Codex Theodosianus (14.6) spätantike Gesetze gegen die Luftverschmutzung.123

Natürlich braucht man keine gelehrten Werke, um den Wert frischer Luft zu erkennen. Die meisten entsprechenden Maßnahmen sind nicht überliefert. Zufällig nur ist folgende Nachricht erhalten: Das Stift St. Peter in Mainz läßt 1234 in den Rheinniederungen Reben anpflanzen, um die Luft zu reinigen.124

Zum spätmittelalterlichen Städtelob gehörte der Hinweis auf die gute Luft. So rühmt Aeneas Sylvius die gesundheitsfördernde Lage Basels in der Mitte zwischen Bergeshöhe und dunstgeschwängerter Ebene,125 so rühmt er die milden Winde und die überaus heilsame Luft („aer saluberrimus“) in Passau.126

Die jeweilige, von Landstrich zu Landstrich unterschiedene Zusammensetzung der Luft und ihre Bedeutung für den Charakter eines Menschen bilden den Hintergrund einer Erzählung des Caesarius von Heisterbach anfangs des 13. Jahrhunderts. Ein besorgter Vater schickte seine Tochter über den Rhein, weil ihr dort die Luft besser bekäme. Dieser Vater – Caesarius nimmt keinen Anstoß daran, daß es sich um einen Geistlichen handelt – war besorgt, daß seine Tochter den Verführungskünsten der Männer erliegen könnte. Als eines Tages gar der Teufel sich in Gestalt eines bildhübschen Jünglings nahte, half nur eines: die den Charakter stabilisierende, die ‚bessere‘ Luft jenseits des Rheins.127 Die Luft ist nicht nur für die physische, sondern auch für die psychische Konstitution wichtig. Gemäß dieser Regel handelte noch 1734 jener Arzt, der das dauernde Nasenbluten des neunjährigen Giacomo Casanova und dessen „stumpfsinnigen Gesichtsausdruck“ auf die „Dickflüssigkeit in der Luft“ Venedigs zurückführte und dringend zu einer Luftveränderung riet. Diesem Rat, so Casanova in seinen Erinnerungen, verdanke er sein Leben.128

Luft und Charakter: Dieser Zusammenhang gilt noch den Humanisten, die vielfach mit der mittelalterlichen Gelehrsamkeit nichts anzufangen wissen, als eine Selbstverständlichkeit. So kann die „Norimberga“ des Konrad Celtis, ein Städtelob auf Nürnberg, auf einen Konsens zurückgreifen, wie er zur Gattung des Stadtlobes gehört: Der „Witz“, also die geistige Beweglichkeit und die Erfindungsgabe der Nürnberger, kommt – so Celtis – von der trockenen Luft in der Stadt. Daß diese Luft nicht von schädlichen Dünsten geschwängert sei, wäre nicht allein der Gesundheit förderlich, sondern auch der Spannkraft des Geistes. Wie schädlich schlechte Luft sei – so weiterhin Celtis –, wäre im Kontrast zu den Nürnbergern an den Menschen, die an der Donau lebten, zu erfahren.129 Unabhängig davon, wie ernst Celtis sein Pauschalurteil genommen hat, sind seine Bemerkungen Teil eines Traditionsstranges, der von der antiken Klimatheorie bis zur einleitend zitierten Geschichtsauffassung Jean Bodins reicht.130

Die Frage der guten Luft, die schon im Mittelalter als eine Frage nicht nur des physischen, sondern auch des psychischen Wohlbefindens angesehen wurde, läßt klaffende sozialen Unterschiede erkennen.131 Zu den Gesundheitsregeln, die der Arzt in Heinrich Wittenwilers „Ring“ gibt, gehört, ganz in salernitanischer Tradition, das Leben in frischer Luft und das Schlafen in gut gelüfteten Zimmern.132 Aber solche Zimmer besaßen die meisten Menschen gar nicht. Ihre Katen konnten im Inneren allenfalls durch Vorhänge abgeteilt werden; und wie sollte man das typische „Rauchhaus“ der kleinen Leute lüften, in dessen Mitte ein offener Herd stand, dessen Rauch das Reet- oder Strohdach beizte und undurchlässig machte?

Luft und Gesundheit:133 Im Mittelalter war dieser Zusammenhang so selbstverständlich, daß bei Seuchen zunächst hier die Ursache gesucht wurde. Luftverbesserung bzw. das Aufsuchen von Gegenden mit sauberer Luft gilt in Pestzeiten als Vorsichtsmaßnahme.134 Selbst bei der seit 1495 in deutschen Landen sich schnell verbreitenden Syphilis dachte man wegen des starken Mundgeruchs der Erkrankten als erstes an verdorbene Luft,135 und als 1529 die in England seit 1485 ausgebrochene Seuche des sogenannten „englischen Schweißes“ auf den Kontinent durch Söldner eingeschleppt wurde und vor allem den Norden Deutschlands heimsuchte, war man sicher, daß diese teilweise mit Todesfolgen verbundene Epidemie „aus bösem und vergifftigem Lufft geursacht“ sei.136 Solche Auffassungen hielten sich lange. Als ein Göttinger Professor bereits im Gründungsjahr der Georgia Augusta 1737 starb, wurde von Gegnern der neuen Gründung sofort die Behauptung verbreitet, der Todesfall zeige, wie schlecht es um Luft und Wasser in Göttingen bestellt sei.137