Almasy - Walter Grond - E-Book

Almasy E-Book

Walter Grond

4,7

Beschreibung

Der junge Produktmanager Nicolas Lemden wird nach Ägypten geschickt, um den neuen "Almasy", ein wüstentaugliches Geländefahrzeug, vorzustellen. Fast schockartig wird er mit der für ihn fremden und doch so faszinierenden Welt Nordafrikas konfrontiert, er verliebt sich in seine Dolmetscherin und gerät zwischen die Fronten gemäßigter und fundamentalistischer islamischer Kreise. Und er erfährt alles über das geheimnisvolle Leben des Mannes, nach dem das neue Fahrzeug benannt ist, eines Mannes, der mit der Geschichte dieser Region eng verbunden ist: Ladislaus Almásy, österreichisch-ungarischer Flugpionier und Abenteurer der dreißiger und vierziger Jahre. Seit Michael Ondaatjes Roman "Der englische Patient" und dem gleichnamigen oscargekrönten Film ist der Name Almásy allgemein bekannt. Das Vorbild für die literarische Figur war ein charmanter Lebemann, Wüstenforscher und - deutscher Agent in Rommels Diensten, der seine Spionagetätigkeit in Nordafrika mit der gleichen spielerisch-ironischen Leichtigkeit zelebrierte wie seine homosexuellen Affären.

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ALMASY

Walter Grond

ALMASY

Roman

© 2002

HAYMON verlagInnsbruck-Wienwww.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7520-6

Umschlag: Benno Peter unter Verwendung eines Fotos mit Ladislaus Almásy an einer improvisierten Landepiste in der Wüste, um 1933 (aus dem Familienarchiv auf Schloß Bernstein)

Diesen Roman erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

INHALT

Die Höhle der Schwimmer

Kairo

Paläste und Müll

Das Heer des Kambyses (1945 - 1947)

Die Jalousie

Prophezeiungen

In der Wüste

„So wie Almásy bin ich selbst von der Wanderlust besessen. Acht Tage, bevor wir losfuhren, glaubte ich noch nicht daran, daß wir die Expedition in die Libysche Wüste zustande bringen würden. Endlich gelang das Unerwartete doch. – Es war im März 1933; der Boden Mitteleuropas wankte. Die Welt, in der ich gelebt hatte, war im Begriff, einzustürzen. Ich ließ die Wirklichkeit hinter mir und fuhr in ein Traumland, wo jenseits des Randes der bekannten Welt vielleicht das letzte Märchen schlummert.“

Richard Bermann alias Arnold Höllriegel,in „Zarzura. Die Oase der kleinen Vögel“

1

DIE HÖHLE DER SCHWIMMER

Von Ladislaus Eduard Almásy machte sich Nicolas Lemden während der Produktkonferenz zum ersten Mal ein Bild. Der Autopionier und Wüstenforscher war groß und hager, sein Haar blond und nach hinten gekämmt. Auf vergilbten Fotos posierte er vor einer Limousine, auf einem Wüstenflugplatz, neben einem Kamel. Unbeholfen ließ er die Arme hängen und drehte die Füße nach außen. Die Art aber, wie Almásy – auf anderen Aufnahmen – die Zigarette mit gestreckten Fingern hielt, bestärkte Lemdens Vorstellung von einem Aristokraten.

Den Managern, die um den Konferenztisch saßen und dem Film über Almásy folgten, war die Neugierde ins Gesicht geschrieben. Der legendäre Abenteurer hatte in den zwanziger Jahren als Werksfahrer gearbeitet. Stimmungsvoll erzählte der Film von waghalsigen Wüstenfahrten, die Almásy anfänglich organisiert hatte, um in Ägypten einen neuen Markt für Autos zu erschließen.

Wichtige Konferenzen wie jene über das Werbekonzept für den neuen Geländewagen fanden mit Blick auf den Himmel statt. Die Vorstandsetage befand sich im zwölften Stock des Towers, der mit einer Glasfront umhüllt war. Das Video spielte auf den sechs Monitoren in der Teakholzwand, Fenster in eine Welt, die die Männer in ihren Lederstühlen zu hypnotisieren schien. Längst zog Almásys Flug über die Wüste die Konzernleiter in seinen Bann. Sie umkreisten die Pyramiden von Giza, flogen hinaus in die Dünen.

Als die alten Werksanlagen in der Provinz ins Bild rückten, ging ein Gelächter um den Tisch. Hier hatte Ladislaus Almásy seine erste Wüstenreise geplant. Daher griff die Marketingabteilung eine Idee der Werbeagentur auf und schlug vor, das Auto auf den Namen dieses schillernden Aristokraten zu taufen – als ALMASY sollte das Geländefahrzeug auf den Markt kommen.

Den Einwand, daß niemand den alten ungarischen Namen richtig aussprechen würde, nämlich das s als sch und die Betonung auf der ersten Silbe wie im Ungarischen üblich, ließ man nicht gelten. „Soll doch jeder sagen, wie er will“, hatte es in einer Diskussion zu dem Punkt geheißen. Und: „Den mißverständlichen Akzent über dem zweiten a lassen wir einfach weg.“

Für das neue Produkt bedeutete Almásy tatsächlich das ideale Image, sagte sich auch Nicolas Lemden. Ein Rennfahrer, Flieger und Techniker, Expeditionsleiter, Forscher und Entdecker, im Zweiten Weltkrieg Offizier und Spion. Ein verwegener Mann, ein verwegenes Fahrzeug, ein verwegener Käufer. Der junge Produktmanager notierte den möglichen Slogan und beobachtete dann wieder seine Vorgesetzten.

Die Männer richteten sich aus ihrer gebückten Haltung auf und gerieten immer mehr in den Sog der Vergangenheit. Ein Europäer hatte in den dreißiger Jahren seinen Wohlstand der Leidenschaft für die Wüste geopfert! Der Schauspieler, der im Werbefilm diesen Almásy darstellte, hantierte mit einem Kompaß, während andere einen kleinen, mit Ausrüstung überfrachteten Lastwagen über eine Düne manövrierten. Eine dunkle Stimme kommentierte, in der Zwischenkriegszeit sei ein ausgeprägter sportlicher Geist eher britischer Art im einstigen Hochadel der österreichisch-ungarischen Monarchie durchaus vorhanden gewesen, dazu noch in der Person Almásys eine pfadfinderhafte Romantik, Abenteurergeist, exzellente Fitneß, eine hohe Allgemeinbildung und Selbstsicherheit im Auftreten. Almásy sei auch ein Pionier der Lüfte gewesen, langjähriger Fluglehrer in Ägypten, der Internationale Airport von Kairo trage seinen Namen: Al Maza.

In zwei Monaten würde Nicolas Lemden als Leiter eines Teams den neu entwickelten Wagen bei der Automesse in Kairo präsentieren. Seinerzeit hatten Wüstenexpeditionen außergewöhnliche Gewandtheit im Kompaßlesen und Kartenzeichnen erfordert. Almásy war ein Orientierungsgenie, das neue Fahrzeug ein High-tech-Gerät der Luxusklasse, würde sogar Halbschuhtouristen Wüstensafaris ermöglichen. Mit einem Satelliten-Navigationsfunksystem ausgestattet, könne der Bordcomputer nicht nur jeden x-beliebigen Standort berechnen, sondern erlaubte es dem Lenker auch, vom letzten Wüstenwinkel aus mit seinen Freunden zu kommunizieren.

Der Kommentator sprach in geheimnisvollem Tonfall, hauchte geradezu, Almásy sei immer wieder nach Ägypten zurückgekehrt. Er habe als erster ausgedehnte Autofahrten unter den extremen Bedingungen der Sahara gewagt und später kombinierte Flug- und Autoexpeditionen geleitet, ein von Gerüchten umrankter Mann, ein Europäer, den seine Beduinenfreunde Abu Ramla, Vater des Sandes, genannt hätten.

Im Video war das Geräusch eines Filmprojektors zu hören. Nicolas beugte sich vor und schaute gespannt auf den Monitor. 1929 hatte ein Kameramann den Abenteurer in die Wüste begleitet, und dessen Aufnahmen waren nun auf dem Video zu sehen. Auf flimmernden Schwarzweißbildern betrat jetzt der echte Almásy eine Veranda am Rand einer Wüste, über die die Kamera schwenkte. Almásy rauchte, lächelte, durchaus charmant, ein wenig verschlagen. Sprach er mit Afrikanern, stützte er seine Arme in die Hüfte, nicht herrisch, eher gütig und herablassend.

Hotel Mena House – Wir Wüstennarren.

Männer mit Lederkappen, Almásy auf einer Couch, wie er ein Whiskeyglas zum Toast hebt. Automobilisten, die sich ins Cockpit ihrer Fahrzeuge zwängen.

Eine schwere Prüfung für Auto und Fahrer.

Männer, die einen Wagen auf Strickleitern über eine Düne ziehen. Räder, die im Sand durchdrehen, Almásy auf den Knien, mit den Händen schaufelt er ein Rad frei, Schwarze eilen herbei, mit Spaten und Strickleitern.

Der Assistent am unteren Ende des Konferenztisches war längst in Träume versunken, die Augen des Technischen Direktors glänzten, und selbst aus dem Gesicht des Generaldirektors, der den Ruf peinlicher Korrektheit genoß, war jegliche Nüchternheit verschwunden. Vor siebzig Jahren hatte ein Mitteleuropäer sein halbes Leben in der Wüste verbracht, Land vermessen und Karten gezeichnet, neue Routen durch die Dünen versucht, Expeditionen angeheuert, um nach alten Legenden zu stöbern. Und nun gingen Männer, die einem großen Konzern vorstanden, diesem Almásy und seinem Wüstenwahn auf den Leim!

Durch die Glasfront fiel diffuses Licht, und bei dunklen Bildern spiegelte sich Nicolas’ Gesicht auf einem Bildschirm. Nicolas verstand sich als Analytiker, der hart zu kalkulieren wußte. Als Stratege verbarg er das freilich, und so stellte er jetzt zufrieden fest, wie gewinnend sein Bild auf dem Monitor lächelte.

Mit der filmischen Morgenröte verschwand das Gesicht vom Bildschirm. Warum gingen Europäer in die Wüste? fragte sich Nicolas. Wollten sie den Tod überwinden? Ein Fall für die Couch eines Psychoanalytikers? Oder hieße es nicht besser: für den Diwan eines Psychoanalytikers, um den exotischen Reiz zu bedenken, den der Orient auf gelangweilte Europäer ausübte? Die ganze Ägyptologie eine Freudsche Fehlleistung. Nicolas würde nicht in die Falle der Sentimentalität tappen.

Sein Blick schweifte zur Glasfassade, dahinter flatterten mehrere Sonnensegel im Wind. Denk an dich selbst, ging es Nicolas durch den Kopf, denk an die Fähigkeiten, die du in Kürze den Männern um den Konferenztisch unter Beweis stellen wirst. Er besaß ein selektives Wahrnehmungsvermögen, schaute einen Film an, speicherte Informationen, registrierte gleichzeitig die Reaktionen seiner Vorgesetzten und konnte dabei an etwas anderes denken. Gerade malte er sich den Körper seiner neuen Praktikantin aus, ja, sie sitze unten im Park, räkle sich in der Frühlingssonne. Sie hatte Konsequenz als ihre hervorstechende Eigenschaft bezeichnet. Eine Frau, die konsequent sein wollte: die Vorstellung erregte ihn.

Er lehnte sich zurück in den Stuhl. Da spürte er eine Hand im Rücken, der Werbeagent hatte sich auf die Lehne gestützt, ein schwammiger Vierzigjähriger mit langem Pferdeschwanz. Neben dem Generaldirektor saß eine junge Frau. Ihr kurzes Haar ließ die Ohren frei, große wohlgeformte Ohren, und sie behielt ihre Hände unter dem Tisch. Nicolas kannte sie nicht.

Englische Missen.

Frauen in Tropenanzügen, zum Ausflug in die Wüste gebeten, die Fahrt entlang der Pyramiden von Giza, bestaunt von Beduinen und Kamelen.

Der Kampf mit dem Sand beginnt.

Sandstürme, die Fahrzeuge nebeneinander auf ebenem Wüstengelände.

Und wieder blieb Nicolas’ Blick an der Fremden am unteren Ende des Tisches hängen. Er taxierte sie als durchschnittlich attraktiv, im etwas billigen Outfit wirkte sie fehl am Platz.

Riskierte Überfahrt.

Ein Floß, Almásy raucht eine Zigarette, Kinder ziehen mit Seilen das Gefährt über den Fluß.

Fliegenplage im Zelt.

Männer unter Moskitonetzen. Bei der Rückkehr dunkelhäutige Piccolos mit Champagner und Whiskey, die Veranda des Hotels. Almásy erscheint und nimmt auf der Couch Platz, die im selben Augenblick gelb aufleuchtet.

Das Rattern des Projektors, Stummfilmgesten.

Dann, im ockerfarbenen Sand unter blauem Himmel, steht die Couch am Fuß einer Düne, orientalische Saitenklänge. Der Kommentator, ein weißhaariger Mann im T-Shirt, tritt ins Bild und macht es sich auf der gelben Couch bequem. Auf dem gelben Diwan, berichtigte sich Nicolas, beobachtet der Kommentator also, wie der Lastwagen aus der Ferne näher kommt. Das Auto hält vor dem Diwan an, der Almásy-Schauspieler steigt aus, in kurzen Hosen, kniehohen Strümpfen und mit einem Tropenhelm auf dem Kopf, eine Zigarette im Mundwinkel.

„In den dreißiger Jahren“, sagt der Kommentator, „machte Almásy Furore, indem er die sagenumwobene Oase Zarzura entdeckte. Er hatte sich auf die Suche nach der verschollenen Armee des persischen Königs Kambyses begeben. Herodot berichtet, 520 vor unserer Zeitrechnung seien die 5000 Mann mit den gewaltigen Schätzen einer Oase in einem Sandsturm untergegangen. Für viele war Zarzura, die ‚Messingstadt’ aus Tausendundeiner Nacht, nur ein Hirngespinst, ein hoher Bau, mit festgefügten Säulen, mächtig und schauerlich, der einem sich türmenden Berg glich. Er war aus Quadern erbaut und hatte dräuende Zinnen und ein Tor aus chinesischem Eisen, das da glänzte und die Augen blendete und aller Blicke auf sich wendete, und bei dem der Verstand endete. Almásy ließ sich nicht beirren. Er suchte nach der geheimnisumvollen Oase, und schließlich, im Jahr 1933, entdeckte er das Tal der kleinen Vögel, gemeinsam mit einem Engländer, einem Ungarn, einem Österreicher und einem Deutschen. Das kleine Wüstental im Gilf Kebir mußte vor tausenden Jahren bewohnt gewesen sein. Zwar fand Almásy keine Stadt aus Messing, aber eine Fülle von vorgeschichtlichen Höhlenmalereien. Wer waren die urzeitlichen Künstler gewesen, fragte sich der ungarische Graf, war er auf die Wiege der Menschheit gestoßen, auf den Beweis, daß die Kultur der ägyptischen Pharaonen in den Tiefen Afrikas entstanden war? Aus dem Autopionier war ein Forscher geworden.“

Höhlenmalereien, schwimmende Menschen, dunkelbraune Körper, die sich anmutig durch Wasser bewegen, Bilder von Giraffen und Löwen, von Jägern mit Pfeil und Bogen, die Antilopen erlegen, von grasenden Rindern und Langhörnern.

Der Almásy-Schauspieler klettert durch zerklüftetes Gestein. Zwischen den Felsplatten lagern Felder von Sand und Geröll, die wie Landzungen in die Wüste hineinragen. Dann gelangt der Schauspieler an den Rand einer Klippe und blickt in eine Klamm. Überhängende Felsen lassen die Schluchten wie Höhlen aussehen. Bizarre Formen, Tore, Bögen und Luken. Zurück am Lagerplatz, findet er im Schatten eines Felsvorsprungs den neuen ALMASY vor, steigt in das Auto und braust in die Sandwüste hinaus. Die Sonne geht über der Wüste unter. So endet der Film.

Erneut betrachtete Nicolas sein Gesicht auf dem Monitor. Unter dem Millimeterschnitt traten Hautwülste hervor, die seinen Nacken noch bulliger machten, das hormonelle Signum der überschüssigen Kraft. Er mochte die wuchtigen Backen, die breiten Lippen und die kräftigen Augen. Um dieser Männlichkeit eine Kontur zu verleihen, kultivierte er zerbrechliche Bewegungen. Er war schlank und doch stämmig. Sein kragenloses Hemd aber, das Seidenjackett und der Limonenduft seines Parfums waren Momente eines Stils, der das Massige seines Körpers in etwas Künstliches umwandelte.

„In Kürze wird uns Scheich Abdul el Manzur aus Kairo zugeschaltet“, riß ihn der Generaldirektor aus der eitlen Selbstbetrachtung, „die Kampagne für unseren Geländewagen wird, meine Herren, das Top-Ereignis im Jahr 1999.“

Tatsächlich erschien der Scheich, ein wichtiger Lobbyist in den arabischen Staaten, auf dem Bildschirm. Er bewegte seinen schlanken Oberkörper hin und her, als könne er so aus dem Monitor heraussteigen. Die junge Frau neben dem Direktor hatte einen Kopfhörer auf und sprach in das Mikrophon.

„Die AG, eine Familie der innovativsten Köpfe“, ließ der Direktor die Dolmetscherin übersetzen, „unsere Aktionäre erwarten von uns Tatkraft und Mut.“

Der alte Mann im Monitor saß hinter einem pompösen Schreibtisch und inszenierte sich: wacher Gesichtsausdruck, hofierende Gesten. Der Direktor hatte ihn als einen gut Achtzigjährigen bezeichnet. Und nun war sein Haar kaum graumeliert, sein Wuchs zartgliedrig. Er trug einen Gird, das kuttenförmige Baumwollüberhemd, einen schwarzen Mantel darüber und einen Turban. Er zwirbelte seinen krausen Bart, der nicht zur gepflegten Erscheinung paßte. Seine Augen strahlten Aufmerksamkeit aus, vielleicht auch Ironie oder gar Spott, Nicolas war sich darüber nicht im klaren.

Um den Konferenztisch hatten die Männer wieder ihre geschäftigen Mienen angenommen. Nur der Araber auf dem Monitor schien Eile nicht zu kennen. Der Scheich nahm die Schale, die vor ihm auf dem Tisch stand, plazierte sie im flachen Handteller und schlürfte einen kräftigen Schluck.

„Allahu akbar“, sagte er mit sanfter Stimme.

„Gott ist größer“, übersetzte die Dolmetscherin. Schenkte sie nicht Nicolas ein kurzes Lächeln?

„La ilaha illa ’llah.“

„Es ist kein Gott außer Gott.“

So deutlich und betont, wie er sprach, klang sein Arabisch, als rezitiere er. Etwas Mitreißendes ging von seinem Sprechgesang aus, sodaß Nicolas zu verstehen glaubte, was der Scheich dann ausführte, wenn sein Arabisch auch sehr dürftig war.

„Ich wünschte, mein Efendi, ich könnte Sie auf ein Glas frischer Ziegenmilch einladen“, übersetzte die junge Frau, „Allah schenkt uns mit der Milch des genügsamen Tiers Gesundheit und Weisheit.“ Dabei faltete der Scheich die Hände vor der Brust und verneigte sich mehrmals.

Ohne eine Miene zu verziehen, sah die Dolmetscherin Nicolas an, während sie sprach. Zuerst vermutete er, sie schaue geistesabwesend durch ihn hindurch. Bald aber fühlte er sich beobachtet, von Augen, deren Ausdruck er nicht deuten konnte.

„Mein ehrwürdiger Herr Direktor“, sagte der Scheich nun, „wollen Sie die Güte haben, mir den jungen Efendi vorzustellen, den ich in meinem bescheidenen Haus empfangen werde?“

Während Nicolas antwortete, blieb sein Blick auf der Tastatur des Communicators haften. „Ich studierte Elektrotechnik, belegte auch Kunstgeschichte, ein studium irregulare. Nach dem Diplom besuchte ich eine Akademie für Produktmanagement und assistierte bei vier Kampagnen.“

„Lemden ist ein begabter junger Mann“, warf der Direktor ein.

„Mein verehrter Direktor, ich zweifle keinen Augenblick an Ihrer weisen Wahl.“ An Nicolas richtete der Scheich dann den Gruß: „Naharak said, ya Fendi.“

„Naharak said mubarak, ya Schech“, antwortete Nicolas und setzte die lange Reihe der Begrüßungsformeln fort, die er noch am Morgen geübt hatte.

Der alte Mann nickte.

Nicolas lächelte. Er wußte, daß der Scheich selbst den Mann für die ALMASY-Kampagne ausgesucht hatte, den er für orienttauglich befand: ihn, Nicolas Lemden. Sein Vater hatte in Rommels Afrikakorps gedient, aber das stand in keiner Personalakte.

„Der Scheich hat Vorbehalte gegen die ALMASY-Strategie“, murmelte der Direktor, während er in seinen Unterlagen kramte, und zwinkerte Nicolas zu. „Mein lieber Scheich Abdul“, sagte er dann schmeichlerisch in Richtung der Videokamera, „ich registriere mit Zufriedenheit, Sie sind von der ALMASY-Strategie genauso begeistert wie wir!“

„Wie könnte ich Ihrem Urteil widersprechen? Herr Almásy war ein außerordentlicher Mann.“

„Exzellent!“

Wieder nahm der Scheich die Schale in den Handteller und trank von der Milch. „Auch der Dichter der Dschahiliya war ein Freund des Windes, der Sonne und der großen Entfernungen, die rauhe, nackte und feindliche Wüste forderte ihn zum Abenteuer heraus. Er war ein Beduine, in jedem Augenblick davon bedroht, in den Dünen des wandernden Sandes zu verschwinden.“

„Der Scheich beschwört Unheil herauf“, erklärte die Dolmetscherin leise, „Dschahiliya ist die gottlose Zeit vor dem Islam.“ Sie preßte die Lippen aufeinander.

Eilig sagte der Direktor, an den Scheich gerichtet: „Unser ALMASY wird den Ruhm des Propheten vermehren.“

„Oh, gewiß“, lachte der Scheich, um zu aller Überraschung hinzuzufügen, „mir kommt aber zu Ohren, ein urzeitliches Strichmännchen schmückt längst die Plakatwände Kairos und ruft in einer Sprechblase Bitte ein Bit aus. Ein Bierkonzern verwendet Almásys Höhlenzeichnungen! Ich fürchte, wir sind etwas spät dran mit unserer Idee.“

Unschuldig schaute der Scheich um sich. Hinter ihm hing sein Porträt, fotorealistisch und zugleich ikonenhaft gemalt. Die Sekunden des Schweigens, die seinem Vorgesetzten den Nimbus der Unbesiegbarkeit nahmen, kostete Nicolas aus.

Gerade wollte er die Bedenken des Scheichs widerlegen, als der Werbeagent mit der Pferdeschwanzfrisur die Aufmerksamkeit auf sich zog. „Das haben wir gecheckt“, sagte er, „unser ALMASY-Konzept stützt sich auf die Popularität, die der Wüstenforscher derzeit erlebt. Die Idee ist folgende: Wir verwenden das, total inspiriert, weil der Code auf dem Markt bereits eingeführt ist: Bitte einen ALMASY!“

Bis zum späten Nachmittag dauerte die Debatte, dann erst gab der Scheich seinen Vorbehalt auf, und der Vorstand segnete das Werbekonzept für den ALMASY ab.

Den Agenten, der sich mit dem Scheich eine Redeschlacht geliefert hatte, würdigte Nicolas mit einem Seufzer, weil der ihm die Dokumente überreichte, die für Kairo nützlich sein könnten. Nach und nach verließen die Manager den Konferenzraum. Hinter dem Direktor, der per Handy telefonierte, stand noch die Dolmetscherin. Sie verschränkte die Hände vor dem Bauch, vor dem geblümten Kleid, dem wadenlangen, mit dem breiten Gürtel um die schmale Hüfte.

„Ich möchte Ihnen Rita Masary vorstellen, sie wird Sie nach Kairo begleiten“, sagte der Direktor endlich zu Nicolas.

Entschlossen streckte ihm die junge Frau ihre Hand entgegen, als wolle sie ihn daran hindern, ihr zu nahe zu kommen. Während sich der Direktor dem Handy zuwandte und zur Tür schlenderte, legte Nicolas ihr seinen Auftrag dar, und Rita bejahte jeden Satz, mit dunkler Stimme, die einen metallenen Unterton hatte.

„Purple Rose of Cairo“, sagte er.

„Kairo wird Ihnen gefallen, Herr Lemden.“

Hatte sie seine Anspielung nicht verstanden? „Sie kennen doch den Film?“

Sie schwieg.

„Woody Allen. Mia Farrow schaut verzückt auf die Leinwand, in den Kinosessel gekuschelt, und himmelt ihren Star Tom Baxter in Purple Rose of Cairo an. Plötzlich spricht Tom sie von der Leinwand herunter an. Er ist fasziniert davon, daß sie sich schon zum fünften Mal den Film anschaut, und steigt aus dem Bild heraus, zu ihr ins Parkett. Nie davon gehört?“

Ihre Ohren waren groß und wohlgeformt, schmucklos, mit fleischigen Läppchen. Ihre Haut bronzen, die Stirn hoch, die Lippen nicht breit und nicht dünn, die Nase lang wie das ganze Gesicht, schmal, und die Augen? Er zeichnete mit den Augen geradezu ihr Gesicht nach. Die feinen Fältchen auf der Stirn, am Augenrand, um die Mundwinkel.

„Sie sind Ägypterin?“

„Meine beiden Großmütter kamen aus Österreich.“ Dieses ebenmäßige Gesicht, ihr Lachen breit. Dann wiederum benahm sich Rita überaus zurückhaltend. Und doch, diese Augen.

„Sie leben in Wien?“

„Seit dreizehn Jahren. Als mein Vater starb, war ich achtzehn, dann ging meine Mutter nach Wien.“

Die enthaarten Arme. Rita hatte ihm die Hand gereicht, mit langen Fingern, die sich weich und trocken anfühlten. Ihre Haut auf dem fettlosen Körper, die feinen Fältchen.

Er meinte hinter ihrem Gesicht ein zweites zu entdecken. Dieses kam aus seiner Erinnerung hoch, kaum mehr als eine flüchtige Kontur, nahm es Ritas Form an, eine Chimäre, keine wirkliche Frau, vielmehr eine ideale Gestalt. Vielleicht war es eine Frau aus der Kindheit, oder eine Phantasie, die jetzt vor ihm stand. Ein Fotogesicht in seinem Gehirn, ein blindes Verliebtsein.

„Haben Sie Verwandte in Kairo?“ fragte er.

„Manchmal besuche ich meinen Onkel Sherif.“

Sie gingen zur Tür, und ihm fiel ihr Schritt auf, der nicht zu den langen Beinen paßte, nicht sportlich, sondern kurz. Kaum erkennbar wiegte sie ihre Hüften.

Vor dem Aufzug stierte Nicolas auf den Boden. Unter den Glasplatten zwischen den Metallträgern warteten – ein Stockwerk tiefer – einige Firmenangestellte, von den konkaven Linsen in den Glasziegeln ins Weite verzerrt. Der gläserne Schacht der elf Stockwerke darunter ließ ihn daran denken, wie tief man fallen konnte. Er hob den Kopf, schaute durch den Lichtschacht über ihm in den Himmel.

Rita streckte ihm die Hand entgegen. „Ich habe die Telefonnummer Ihrer Sekretärin.“

„Bis dann“, sagte er mit einem mulmigen Gefühl im Magen.

An der Wohnungstür atmete Nicolas auf. Von Kagran bis Wien Mitte hatte die U-Bahn fünfzehn Minuten gebraucht, und von der U-Bahn-Station bis in die Rasumofskygasse war er sechs Minuten marschiert, eine weitere in den dritten Stock hochgelaufen.

Er war froh, nicht von einer Frau in Schürze erwartet zu werden. Das barocke Stiegenhaus, die Stukkaturen, der Messingknauf am Ende des Handlaufs und der geschrubbte Steinboden beschworen die Schreckensvision geradezu herauf. Er stieß die Tür einen Spaltbreit auf, schielte nach Ford Prefect, seinem Hund, der ihm oft in das Stiegenhaus entwischte.

Das Bellen kam aus der Küche. Die Armbanduhr zeigte zehn nach fünf. Der Besuch bei der Mutter ließ sich unterbringen, ohne seinen Freund Rupert warten zu lassen, den er um acht in einer Innenstadtbar treffen sollte. Auf der Aluminiumkommode lag eine Nachricht. Ich mußte Ford Prefect einsperren. Verärgert legte Nicolas die Mappe ab und eilte in die Küche. Die Bedienerin, eine Studentin aus Prag, konnte den Hund während ihrer Tage nicht ertragen und hatte den Malteser in den Käfig gesteckt. Nicolas zog ihn unter dem Küchenklapptisch hervor, deckte das Handtuch ab, das darüber gebreitet war, und befreite den Hund. Ford Prefect wedelte mit dem Schwanz, huschte an ihm hoch und schleckte seinem Herrchen das Gesicht ab.

Im Eisschrank fand Nicolas ein Steak. An der Frischhaltefolie klebte ein Zettel: drei Minuten im Mikrowellenherd, Stufe Grillen. Er schnitt das Fleisch in Scheiben, warf es dem Hund hin und beschwichtigte ihn, niemand anderer als Svetlana habe diesen Leckerbissen besorgt. Beim Namen der Bedienerin aber knurrte Ford Prefect.

„Sei ruhig!“

Die Studentin der Betriebswissenschaften räumte nicht nur täglich auf, sondern versorgte auch seinen kleinen Begleiter, exemplarisch und ohne Lohnnebenkosten, da mußte auch ein Hund ein Einsehen für die Marotte haben, gegen die Svetlana während ihrer Regel augenscheinlich machtlos war. Daß der Malteser auf Ford Prefect hörte, hatte Svetlana erst wirklich für den Job eingenommen. Arthur Dent, der Held aus Per Anhalter durch die Galaxis, der mit seinem Begleiter Ford Prefect eine irrwitzige Odyssee durchs Weltall erlebt, entpuppte sich nämlich als Svetlanas Lieblingsfigur der Filmwelt.

Ford Prefect schlapperte Wasser aus dem Napf und huschte ins Wohnzimmer. Nicolas wischte den Boden auf und horchte auf das Geräusch des Müllzerkleinerers, stolz auf die Apparaturen, die seine Wohnung so praktikabel machten. Auf dem Weg zum Arbeitszimmer bemerkte er, daß sich Ford Prefect auf dem roten Wellensofa plaziert hatte. Das Wohnmöbel sah wie der Querschnitt eines Meeresreliefs aus, und der Hund lag im Wellental. Als Nicolas den Fernseher einschaltete, schloß Ford Prefect seine Augen. Mit der Nase stupste er nach der Lampe, und Nicolas knipste auch die Leuchte an. Zufrieden knurrte der Hund, einen Augenblick später schlief er.

An den Computer setzte sich Nicolas bloß, um nach E-Mails zu sehen. Er versäumte nicht, mit der Außenhand über die Bildbände im Regal zu streifen. Die Berührung der Härchen auf seinen Fingern mit den Buchrücken empfand er als Stimulation, die die Vorfreude auf das Schaumbad verstärkte. Die Mappe, die ihm der Werbeagent gegeben hatte, nahm er mit ins Badezimmer. Leise Musik kam aus den Lautsprechern. Ausgestreckt lag er im heißen Wasser und schloß die Augen.

Dann las er in den Unterlagen der Agentur. Kopien aus alten Büchern, der Druckschrift nach zu urteilen: Ladislaus E. Almásy – Unbekannte Sahara, erschienen 1939 in Leipzig. Dem handschriftlichen Kommentar zufolge hatte Almásy über seine Forschungsreisen auf ungarisch, englisch, französisch und deutsch berichtet und seine Manuskripte nicht übersetzen lassen. In diesem Fall hatte Almásy das 1934 in Budapest publizierte Az ismeretlen Szahara selbst noch einmal auf deutsch geschrieben.

Als ich meine Forschungsreisen begann, standen wir vor unzähligen Rätseln … Über die Völker der Sahara haben wir keine früheren geschichtlichen Aufzeichnungen, als die des Herodot 500 vor Christus … Manchmal, während meiner ersten Wüstenabenteuer, traf ich auf Kamelreiter, die angesichts der Motorfahrzeuge ihr Gesicht verhüllten und ihre Reittiere zu schnellerem Trab anspornten.

„Laß sie, mein Herr“, sagte mein Beduinenführer, „die Wüste hat Wege, die nicht jeder gehen kann.“

Mit der Zeit verstand ich die Sprache jener Männer, aus deren Augen die Ruhe des Sandmeeres strahlte. Am Abend an den Lagerfeuern wurde ich auf die Geschichten aufmerksam, die um die Geheimnisse der Wüste gesponnen wurden, und jedes Märchen, jede Erzählung rief mich nur wieder in diese unendliche Fläche hinaus … Was ich dann sah, übertraf meine Erwartungen bei weitem. Ich stieß auf vier mit wunderschönen Bildern bemalte Höhlen … mein einheimischer Begleiter bat mich inständig, die Fundstelle sofort wieder zu verlassen, da sie zweifellos der Aufenthaltsort böser Geister sei. Der ganze Berg sei voll von Bildern, die die Geister geschrieben haben … In der größten konnte man klar erkennen, daß die Decke einst vollkommen bemalt war … Dieses Wadi dürfte einmal ein See gewesen sein. Tatsächlich fand ich in einer der Höhlen die Bildergruppe von schwimmenden Menschen … Meine Gefährten staunten nicht schlecht, als ich sie am nächsten Tag hierher führte.

Der Agent hatte auch einige Seiten aus dem 1938 erschienenen Buch Zarzura, die Oase der kleinen Vögel – Die Geschichte einer Expedition in die Libysche Wüste kopiert. Der Autor hieß Arnold Höllriegel, doch war das, einer weiteren handschriftlichen Notiz zufolge, ein Pseudonym jenes Richard Bermann, der als Journalist und Chronist die Almásy-Expedition begleitet hatte. Fotos eines gewissen Hans Casparius zeigten eine wunderliche Männerrunde in der Wüste, nicht gerade attraktive Europäer im Tropengewand, auf Sand, Geröll und zwischen Felsen. Wir sprechen abends am Lagerfeuer lange von diesem Rätsel der Wüste, las Nicolas, wer hat in der fernen Zeit in dieser Wildnis, in der nicht ein Grashalm wächst, um Giraffen gewußt, ein Tier, das grasige Steppen und tropische Wälder zum Leben braucht? … Seit Tagen läßt Almásy der Gedanke an diese „Dschin“ nicht los, die „alle Tiere der Welt“ an die Felsen gemalt haben sollen … Muß er bei sechzig Grad Hitze Kletterpartien unternehmen? Was steigt Almásy fortwährend zwischen diesen glühheißen Basaltkartoffeln herum? Ich hebe schläfrig den Herodot auf, der zu Boden gefallen ist, tue einen Schluck aus der Wasserflasche – pfui, heiße Brühe! … Nach einer Weile höre ich auf dem Berg über mir die Stimme Almásys, der schreit und schreit … Ich finde in der Höhle Almásy, der auf einem Steinblock sitzt … Der Anblick der Höhle ist überwältigend … Das sind, man sieht es sofort, die granitenen Blöcke … In dieser gemalten Höhle nun sitzen, sehr nackt und sehr friedlich, Monsieur und Madame … Diese beiden Liebenden aus einer fernen Zeit sehen eng umschlungen auf uns herab … In dieser bemalten Höhle scheinen die Zeiten stillgestanden zu sein; die ältesten Ahnen sind hier gewesen und die Enkel von heute.

Nicolas ließ die Hand sinken, die Blätter lagen durchnäßt im Schaumbad. Ihm war klar, was Illusionen vermochten. Diese Reflexe auf urzeitliche Kritzeleien in einer Wüstenhöhle waren nicht anders als seine Reflexe auf die sanften Sinustöne aus den Lautsprechern. Der Wüstenwahn dieser Männer, und jetzt die Sound-Manie in ihm, die Höhlenbilder wie der Klangozean, der die Grenzen zwischen Musik und Umgebungsgeräuschen verwischte, und in den er gerade eintauchte.

Rupert Viehhofer sprang eben aus dem Taxi, als Nicolas auf die Drehtür des Schwarzen Cafés zusteuerte. Während er noch die Taxirechnung beglich, rief Rupert, er habe Nicolas die Rotenturmstraße heraufgehen gesehen.

Zwar trieben Massen von Flanierern in Richtung Stephansplatz, zwar hatten die Straßencafés ihre Gastgärten geöffnet, zwar schleckten Kinder ihr erstes Tüteneis. Nicolas aber würde die Lammfelljacke noch lange nicht einmotten, nicht den Schal und die Mütze. Ihn fröstelte beim Anblick des leicht bekleideten Freundes. Rupert, Sohn eines Stahlarbeiters aus Linz, der Mann aus dem Weltall, wie ihn Nicolas nannte, trug unter der luftigen Jeansjacke ein T-Shirt, eine dünne Cargohose und anstatt knöchelhoher Stiefeletten die sommerlichen Leinenschuhe. Schauderhaft.

Selbstsicher wie eben ein Journalist, aber nicht überheblich, kam Rupert her und umarmte ihn. Nicolas fand solche Herzlichkeiten zwar taktlos, bewunderte sie aber. Rupert lachte verschmitzt, und Nicolas grinste freundlich. Neuerdings hatte Rupert sein kurzes Haar weizenblond gefärbt. Man nahm ihm so etwas nicht übel, obwohl er zweiunddreißig und somit zwei Jahre älter als Nicolas war. Die sehnige Gestalt war von Bier, Pizzen und Nudeln nicht zu beeinträchtigen, welche Mengen er auch immer zu sich nahm. Seine Haut blieb pickellos, wie viele Zigaretten er tagtäglich auch rauchte. Das Ringelchen im Ohr verlieh ihm den Nimbus des Unschuldigen, wie vielen Frauen er auch immer den Kopf verdrehte. Nicolas hatte sogar den Eindruck, Ruperts Freundin, die er nur das Wochenende über in Linz besuchte, war ihm nicht einmal böse.

„Ich freu mich, daß Kairo klappt“, lachte Rupert.

Das Schwarze Café hätte längst in Weißes Café umgetauft werden müssen, so weiß war inzwischen alles gestylt. Der Fußboden, die Wände, die Theke weiß, Tische und Stühle, auch die Barkeeper, Gläser und Aschenbecher. Um diese Tageszeit, kurz nach acht, waren an der Theke noch Plätze frei. Während sich Rupert auf einen Hocker schwang, bestellte er zwei Gläser Bier.

Die Sounds kamen mit so einer Lautstärke, daß Nicolas sein eigenes Wort gerade noch verstand. An der Thekenecke nahm er eine Frau wahr: Allein auf einem Barhocker nippte sie an ihrem Rotweinglas. Er lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück, eine üppige Erscheinung, in einem engen Pullover, hüftbetonter ginge es nicht.

„Was läuft bei dir, Rupert?“ sagte er, um sich abzulenken.

„Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.“

„Du willst aussteigen?“

Rupert blickte ins Glas, das er in kreisrunden Bewegungen um den Bierdeckel drehte. Er erläuterte seine düsteren Ahnungen, ohne dabei auch nur einen Deut von seiner gelassenen Ausstrahlung zu verlieren.

„Vergiß die Politik“, sagte Nicolas.

Rupert hatte seinen Arm auf die Theke gelehnt und sein Kinn in die Hand gestützt. Freundlich schaute er zu Nicolas herüber. Ach, Rupert, der linksgrüne Träumer. Klar, auch Nicolas fand diese Geschichte aus der Redaktion einer Tageszeitung abstoßend.

„Die haben uns einen fanatischen Katholiken vor die Nase gesetzt“, sagte Rupert, „das verstehen die unter Modernisierung. Weg mit aller Kritik. Jetzt herrscht wieder Krieg. Und meiner Mutter erzähl ich, Rupert, der Sohn, auf den sie so stolz sind, ist Redakteur, ein Meinungsmacher. Da installieren die ein zartes Bürschchen, Flaum auf der Lippe, tiefgläubig, der eliminiert dich, ohne mit der Wimper zu zucken. Es macht keinen Spaß mehr.“

Ach, Rupert, wiederholte Nicolas in Gedanken, deine pazifistischen Träumereien! „Die machen dicht“, hörte er ihn. Seinen linken Kulturpessimismus mußte er doch nicht derart drastisch formulieren, nicht sein Freund Rupert.

Nicolas schneuzte sich. Manchmal verstieg sich Rupert dazu, vom Terror des ökonomischen Totalitarismus zu schwafeln. Rupert, wir mögen doch dieselben Klamotten, dieselbe Musik, dieselben Filme. Er, Nicolas, hatte nichts versäumt, was Zukunft versprach. Ihm war egal, worum es ging, der ganze ideologische Müll, Computerspiele liebte er und Videos. Fühlte sich noch heute, auch im Erfolg, als ein Datendandy. Aber, das mußte erlaubt sein zu sagen, auch gegenüber einem Träumer: ihn faszinierte die allesdurchdringende Rationalität der Ökonomie. Funky Business. Freie Märkte hatten etwas Erotisches an sich. Freilich auch etwas Kriegähnliches, klar.

Einen Augenblick später fragte er: „Wo willst du hin, Rupert?“

Als könne er Gedanken lesen, sagte der: „Die neue Mitte, diese Tatmenschen reden dauernd vom Eingemachten, Schluß mit dem Zweifeln!“

Die ungeheuerlichsten Dinge sprach Rupert gelassen und freundlich aus. Also Ruperts Modernisierungsgeißelung, während ein Sound zum Abheben spielte, man könnte über die Theke hinwegfliegen. Er sah sich schon durch das Fenster segeln, das sich wie eine plastische Haut öffnete, in eine andere Matrix hinüber, Jesusmaria, wie seine Mutter rufen würde.

„Du bist verliebt“, lachte Rupert.

„Bist du verrückt?“

„Typen wie du verlieben sich immer nur, wenn sie wegfahren.“

Ein älterer Herr, glatzköpfig, trat neben die Frau an der Theke. Sie küßte ihn zärtlich auf die schwammige Backe und dann auf den Mund. Jetzt nahm sie eine so sittsame Haltung ein, die Beine aneinandergepreßt und kreuzhohl, daß Nicolas nicht umhinkam sich vorzustellen, was das alte Ferkel mit ihr treiben würde. Der Alte bestellte nichts, wartete, bis sie den Rotwein geleert hatte, und bedeutete dem Barkeeper mit einer abschätzigen Handbewegung, die Rechnung begleichen zu wollen.

Wie sie zur Tür gingen, sie mit einem Hüftschwung, unglaublich, ließ sich Nicolas nicht entgehen. Aus der Drehtürtrommel, durch die sie in die Dunkelheit verschwanden, tauchte ein Kolporteur auf, ein junger Araber in grellroter Jacke mit dem Zeitungsemblem. Als er Rupert an der Theke entdeckte, steuerte er gleich auf ihn zu, grüßte herzlich, und beide umarmten sich. Er reichte Rupert eine Abendausgabe und tänzelte weiter durch das Café. Rupert blätterte in der Zeitung, und nach kaum einer Minute stellte er fest: „Alles klar.“

„Du“, sagte Nicolas, „die bewerben den neuen Geländewagen mit einem Dreißiger-Jahre-Aristo-Typ, Wüstenforscher und so.“

„Das gibt doch eine gute Story ab.“

„Meine alten Herren sind ganz verrückt danach.“

Rupert faßte Nicolas an der Schulter. „Bin ich meine Mutter, die echte Panik hat, von einem Neger vergewaltigt zu werden, weil sie das im Fernseher sah?“

„Klar bist du das nicht.“

„Ich meine, die Wüste kannst du wie das Land sehen, wo ich hin will. Ich weiß nicht, wo es liegt. Das ist die Wüste. Irgendwie sauber.“

„Land ohne Mütter“, lachte Nicolas.

Der Kolporteur kam noch einmal bei ihnen vorbei. „Mein Freund geht nach Ägypten“, sagte Rupert.

„Machen Sie Urlaub?“

„Ich muß beruflich nach Kairo.“

„Oh, Sie sind Ägyptologe, Sie Glücklicher!“

„Klar, unser Nicolas, ein Ägyptologe“, grinste Rupert.

Der Barkeeper hatte sich vor ihnen aufgepflanzt, schüttelte einen Cocktail, die Hände im Rücken.

„Achmed, erzähl ihm deine Geschichte“, sagte Rupert.

„Sie wollen sie hören? Ich kam nach Österreich, und als alle Formalitäten erledigt waren, fragte mich der Beamte, Achmed, wie heißen dein Kamel? Aber ich hatte bis dahin in meinem Leben kein Kamel getroffen. So ging ich mit dem ersten Geld, das ich verdiente, nach Schönbrunn in den Zoo. Dort hab ich mein erstes Kamel gesehen.“

Sie lachten. Der Barkeeper hatte Mochitos gemixt, und Ruperts Einladung wollte Nicolas nicht ausschlagen.

„Bestens!“ rief Rupert, „wir müssen feiern, Kairo und alles.“

2

KAIRO

Gekränkt, weil für ihn ein Platz in der Economy Class vorgesehen war, erklärte Nicolas Lemden, der Flughafen Schwechat entspreche keineswegs internationalem Standard. Dabei lächelte er sanft, und die Frau, die am Computer zu ergründen suchte, wo der Buchungsfehler liege, hörte ihm höflich zu. Am meisten empörte Nicolas, daß dieses Bodenpersonal am -Schalter gar nicht verstand, wie zynisch er seine zur Schau gestellte Ruhe meinte.

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