Sommer ohne Abschied - Walter Grond - E-Book

Sommer ohne Abschied E-Book

Walter Grond

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Beschreibung

EIN SUBTILER ROMAN ÜBER DIE NERVOSITÄT DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT. PSYCHOLOGISCHE RAFFINESSE, UNTERGRÜNDIGE SPANNUNG, FEINNERVIGE SPRACHE Eine KLEINSTADT IN DER PROVINZ, zwei Paare, ein zugezogenes, ein alteingesessenes, und MYSTERIÖSER VORFALL, der die Gemüter im Ort bewegt - doch was ist wirklich in jener Nacht passiert? Mit UNERBITTLICHEM SOG entwickelt WALTER GROND seine Geschichte von einer KLEINBÜRGERLICHEN IDYLLE, DIE GEHÖRIG INS WANKEN GERÄT und ohnehin, wie sich bald zeigt, nur Fassade ist. SENSIBLES PORTRÄT DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT Zentimetergenau vermisst Walter Grond den BODEN ZWISCHENMENSCHLICHER BEZIEHUNGEN, sei es Bekanntschaft, Freundschaft, Nachbarschaft oder Ehe. Auf einer zweiten Ebene erzählt Grond von der TIEFSITZENDEN ANGST EINER GEMEINSCHAFT, SICH FREMDEM GEGENÜBER ZU ÖFFNEN, von der SORGE EINER UNGEWISSEN UND BEDROHT SCHEINENDEN ZUKUNFT - und von der letztlich nie sicher überbrückbaren KLUFT ZWISCHEN STÄDTERN UND LANDBEWOHNERN. Ein psychologisch FEIN GEWOBENER ROMAN von schlichtem sprachlichem Glanz, der auf subtile Weise die Nervosität der Gegenwartsgesellschaft bloßlegt.

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Walter Grond

Sommer ohne Abschied

Roman

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
I
II
III
Walter Grond
Zum Autor
Impressum
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Und doch, wer wendet sein Herz nicht gern der Zukunft zu, wie die Blumen ihre Kelche der Sonne?

Heinrich von Kleist

I

Die Narbe über der Lippe war die einzige Spur. Eine unscheinbare Linie, die nicht einmal Therese erwähnte. Dabei betonte sie bei jeder Gelegenheit, wie gern sie das Gesicht ihres Mannes betrachte, und schilderte jedem, ob er es hören wollte oder nicht, Rolands pantherhafte und doch weiche Gesichtszüge, die breite Stirn, die ebenmäßige Nase, das flache Kinn. Sein Freund Guido lästerte, Therese wache darüber, ob irgendeine Veränderung in Rolands Gesicht auf eine Affäre hindeute. Ich vermutete eher eine exhibitionistische Neigung, die in der kleinen Ortschaft auszuleben für sie undenkbar war und die daher als manisches Reden über ihren Mann zum Ausdruck kam. Jedenfalls konnte Therese Rolands Gesicht bis ins Detail beschreiben und erwähnte doch niemals die Narbe über seiner Lippe.

Die längst verheilte Wunde war so winzig, dass man ihre Geschichte kennen musste, um sie überhaupt wahrzunehmen. Weder meine Frau noch ich wussten etwas von jenem Unfall in Rolands Kindheit, da ihn ein Stück Blech, das durch die Luft wirbelte, über der Lippe verletzt hatte. Nichts von all dem, was er mir kurz nach jener Nacht im Haus seines Freundes Guido erzählte, nach jenem ungeheuerlichen Vorfall, dessen Ursachen ich zu ergründen versuche.

Mir ist nicht klar, wie zerknirscht Roland in diesem Augenblick, als er mir von dem Unfall erzählte, wirklich war, oder ob er nicht einfach nach einer Rechtfertigung für sein Schuldigwerden suchte. Vielleicht benutzte er diese Kindheitsgeschichte als eine Art Amulett, das ihn vor jeglichen Folgen seines Verhaltens schützen würde. Vielleicht suchte er jemanden, der ihn freisprach, ebenso diskret wie auch dazu in der Lage, aufkeimenden Gerüchten entschlossen entgegenzutreten. Oder er wollte sich einfach die alte Wunde von der Seele reden und hatte eben mich zu seinem Zuhörer erwählt.

Roland Fischer stammte aus einer alteingesessenen Familie und führte ein erfolgreiches Unternehmen. Seine Firma verkaufte Lichtkomponenten bis nach Südostasien und in den arabischen Raum. War auch in diesem Mai vorigen Jahres viel von drohenden Handelskriegen die Rede, gab es für ihn wenig Anlass zur Sorge. Seine Produkte behaupteten sich auf dem globalen Markt, und er selbst, gerade achtunddreißig Jahre alt geworden, galt als Musterbeispiel eines energischen Unternehmers, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, achtsam und von gewinnender Zuversicht.

Zwischen Roland und mir bestand genügend Distanz und doch eine gewisse Vertrautheit, von beidem ausreichend, um mich für seinen geeigneten Mitwisser halten zu können. Ich lebte noch keine zehn Jahre in der Kleinstadt, nicht weit von Rolands Villa entfernt, und stand im Ruf, ein unbestechlicher Journalist zu sein. Ich kannte ihn als überaus freundlichen Menschen und liebevollen Vater. Als einen Mann, der sich nicht dafür schämte, den Buggy über den Rathausplatz zu schieben oder später seine beiden Kinder von der Schule abzuholen. Manchmal war er zwar unbeherrscht, und doch stets auf Ausgleich bedacht. Widersprach ihm jemand unsinnig, brauste er auf, um sich einen Augenblick später wieder gefällig zu geben. Seinen Kindern gefiel das, denn er führte sie nach jedem Wutanfall in die Konditorei und aß mit ihnen Eis.

Von eher kleiner Statur und leicht untersetzt, war Roland durchaus sportlich, hatte muskulöse Arme und Schultern. Seine gebräunte Haut und das gestylte Haar bekräftigten den Eindruck eines zeitgemäßen Mannes, ein Image, das er mit Understatement pflegte.

Ich bin noch nie jemandem begegnet, der sich anderen so hellhörig zuwandte wie Roland. Er teilte kaum eine Ansicht mit mir und fand es doch faszinierend, dass jemand so dachte wie ich. In all den Jahren mit ihm lernte ich Sympathie als etwas kennen, das – um es mit seinen Worten zu sagen – Bäume zu versetzen in der Lage ist.

So ich irgendetwas an ihm nicht mochte, dann sein kontrolliertes Auftreten, etwas Berechnendes in seinem Wesen. Vor allem aber kannte ich ihn als achtsam. Diese Eigenschaft teilte er mit seiner Frau Therese, die ich wie ihn als ausgesprochen hilfsbereit empfand. In der Logistik seiner Firma beschäftigt, dazu perfekte Hausfrau, Mutter und engagierte Pfarrgemeinderätin, war Therese seine ideale Partnerin. Sie las Psychologie-Zeitschriften und Bücher, über die sie kurzweilig reden konnte, kochte fantastisch und lud gerne zu Partys ein. Ich glaube, die beiden liebten sich nicht nur, sondern hielten sich füreinander bestimmt.

Ich begegnete Roland zum ersten Mal in der Gasse, die vom Rathausplatz zur Pfarrkirche hinunterführt, etwa zwei Monate nach unserer Übersiedelung aus Wien. Er war, wie ich später erfuhr, geschäftlich in China gewesen. Wie er die Gasse heraufkam, schlendernd und mit einem Strohhut auf dem Kopf, wurde ich auf ihn aufmerksam. Seine Art sich zu bewegen und sich umzusehen, hatte etwas Leichtes an sich, er ging selbstbewusst seines Weges.

In diesem Sommer vor neun Jahren, als ich mit meiner Frau und den beiden Kindern unser neues Heim hier in der Kleinstadt bezog, war das Wetter angenehm warm. Wir hatten dem Lärm von Wien entkommen wollen. In der Großstadt war uns alles zu viel und zu schnell und zu unübersichtlich geworden. Die Kinder sollten unbeschwert aufwachsen, angstfrei und wild. Wir würden das selbst gepflanzte Gemüse ernten, die Kirschen und Äpfel von unseren Bäumen pflücken und im eigenen Haus vor allem Chaos der Welt in Sicherheit sein.

In den ersten Wochen hatte sich das Leben auf dem Land prächtig angefühlt. Die Kinder liebten es, im aufgeschütteten Sand zu spielen, und am Morgen, wenn wir die Fenster öffneten und die Vögel zwitschern hörten, kamen sie fröhlich zu uns ins Bett gekrochen. Architektonisch fand ich die Kleinstadt nicht ohne Reiz. Reste einer mittelalterlichen Mauer zeugten von einer alten Besiedlung, der Ortskern war teilweise barock. Nicht eine Hausfassade war nicht schmuck renoviert, nichts ungepflegt, alles wie in ständiger Erwartung eines hohen Besuchs.

Hätte es Touristen hierher verschlagen, wären sie durch unsere Kleinstadt mit dem selben Eifer wie durch einen Weltkulturerbe-Ort marschiert. Durch ein herausgeputztes Städtchen, das irgendwann einmal für irgendjemanden Bedeutung besessen haben mochte, zwar längst marginal geworden und im Gegensatz zu San Gimignano oder Hallstatt ohne bauliche Sensation, und doch ebenso bereit zur völligen Selbstaufgabe.

Ich schlenderte gern an den alten Häusern vorbei, die dicht an einen kleinen Burghügel gebaut waren, auf dem sich eine verfallene Festung befand. Ein Bach schlängelte sich um den Hügel und floss gegen Süden in die weite Landschaft hinaus. Von den zwei Kirchen war eine protestantisch. Ich hätte dieses Häuserensemble genauso im äußeren Wien vorfinden können, in Hietzing, Döbling oder Mauer, all diesen Dörfern, die von der wachsenden Großstadt einverleibt worden waren, vor zweihundert, hundert oder fünfzig Jahren.

Allerdings war das Gefühl, in einer Idylle zu leben, sehr bald verflogen. Bei meinen Spaziergängen traf ich öfter auf Katzen als auf Menschen und kam mir doch ständig beobachtet vor. Es gab hier kein Flanieren und kein Untertauchen. Ich fühlte mich weder aufgenommen, noch konnte ich mich abgrenzen. Und da ich täglich durch die Straßen und hinaus auf die Wiesen und über die Wege zurück zum Rathausplatz marschierte, hing mir – das spürte ich deutlich – sehr bald der Ruf nach, ein verdächtiger Zeitgenosse zu sein.

Man legte die kürzesten Strecken – oft nur die wenigen Schritte zum Nachbarn – motorisiert zurück. Als vor einigen Jahren der Rathausplatz zur Fußgängerzone erklärt wurde, mussten nach einem halben Jahr der Drogeriemarkt und die Bäckerei schließen. Nur Zugezogene gingen zu Fuß, so wie auch niemand, der von hier stammte, einen öffentlichen Bus benutzte, abgesehen von den Schülern und alten Leuten, die keine andere Möglichkeit hatten.

Als uns zum ersten Mal Freunde aus Wien besuchten, hörte ich aus ihrem Lob für das Haus und den Garten ein gewisses Mitleid mit uns heraus. Es betraf nicht das Haus oder das Grundstück, ein wirklich wohnliches Gebäude und schönes Gelände. Zwischen hohen Platanen und Kiefern wucherte ein wilder Garten, mit allem erdenklichen Gemüse, zwischen Sträuchern gesetzt, in tiefen und hohen Beeten, auf kleinen Trockenmauern und Holzgerüsten, ein raffiniert angelegtes botanisches Archiv, in dem es summte und quakte und zwitscherte. Im Vorbeigehen pflückten wir Himbeeren, Ananaskirschen und Walderdbeeren. Es brauchte keine Begabung, um in einem solchen Paradies etwas Feines auf den Teller zu zaubern. Schon die Namen der Pflanzen regten den Appetit an, Pimpinelle, Austernpilz, Pastinake, Mangold, Topinambur.

Unsere Freunde standen staunend in diesem kleinen Zauberland. Wir schaukelten in Hängematten, plantschten mit den Füßen im Biotop. Und doch machte sie schon der Gedanke panisch, abends nicht in die Großstadt zurückkehren zu können und jemals in solcher Abgeschiedenheit existieren zu müssen. Sie konnten ihr Unbehagen nicht vor uns verbergen, denn mir selbst fehlte inzwischen das urbane Leben, durchaus quälend. Ihr Blick, als wir uns voneinander verabschiedeten, mochte so herablassend wie aufgescheucht gewesen sein, jedenfalls blieb ich in dieser Nacht wach, gekränkt von zwei in die Stadt Zurückflüchtenden (ja sie hielten uns für Verlorene).

Als mir Roland damals begegnete, haderte ich also bereits mit der Entscheidung, in die Kleinstadt gezogen zu sein. Roland kam die Gasse vom Rathausplatz herunter. Er starrte mich nicht an, nickte, als er an mir vorbeischritt, mit einem feinen Lächeln um den Mund. Der Strohhut, ein Panama, hätte auf dem Kopf eines Kolonialherrn wie auf dem eines geheimnisumwitterten Flaneurs sitzen können.

Beim ersten Wiedersehen grüßte er mich, ja lächelte mir zu, als ich mich wie er in das Café am Rathausplatz setzte, nervös und eingeschüchtert, weil von allen Tischen her misstrauisch beobachtet. Und als wir schließlich ins Gespräch kamen, war er so unumwunden freundlich zu mir, dass ich mich geschmeichelt fühlte. Er hatte eine Menge über mich gehört. Und immer, wenn er mich sah, sagte er euphorisch, „wie geht es dir heute?“, beinahe orientalisch überschwänglich, „ich hoffe, es geht dir gut. Ich habe gehört, du bist viel in Wien, ich nehme an, du hast viel zu tun.“

Die besondere Stellung Rolands in der Gemeinde, ja seine Autorität erschloss sich mir beim ersten Elternabend im Kindergarten. Meine Frau und die Kinder hatten dem großen Ereignis entgegengefiebert, neue Kleider und Hosen gekauft und sich hübsch hergerichtet. Als wir vor dem Kindergarten eintrafen, stieg Roland gerade aus seinem Wagen, wir machten unsere Familien miteinander bekannt und verloren uns dann im Gedränge aus den Augen.

Die Kindergärtnerin erklärte uns die Pädagogik des Hauses, in einem harschen Ton, als würden wir mit unserer bloßen Anwesenheit den Frieden stören, der hier unter dem Kreuz mit dem sterbenden Christus und dem Porträt des Landeshauptmannes an der Stirnwand des großen Saales herrschte. Sie bemühte sich erst gar nicht darum, ihre Abneignung gegenüber Menschen aus Wien zu verbergen. Meine Frau machte ihr Komplimente. Sie meinte, das werde von uns erwartet, und schwärmte daher vom adretten Ambiente, dem Holz, den Wänden in Fengshui-Farben, den Krügen mit dem rechtsdrehenden Wasser und den bunten Steinen. Merkbar besänftigen konnte sie die Kindergärtnerin damit nicht.

Im Garten brannte Feuer, und da ein Lied auf der Gitarre angestimmt wurde und die Kinder zu trällern begannen, gingen wir ins Freie. Die Frauen fotografierten und die Männer tranken Bier. Dann wurde das Buffet eröffnet und wir mischten uns in die Warteschlange, einen Papierteller und Plastikbesteck in der Hand. Es handelte sich ja nur um Blicke, die uns folgten, nur um Körper, die sich mit ausgefahrenen Ellbogen ihren Weg bahnten, nur um Schultern, die sich bei unseren Versuchen, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, abwandten.

Hinter all diesen Unfreundlichkeiten vernahm ich die Botschaft, Menschen aus Wien sollten schlicht und einfach in Wien bleiben. Auch meine Frau hatte etwas zum Buffet beitragen wollen und Muffins gebacken. Die Küchelchen blieben unangetastet in der Dose, von meinen Kindern aus Höflichkeit, und von den anderen aus einem Anflug von Ekel. Es war schon ein seltsames Bild, all das geleerte Tupperware-Geschirr, die Teller und Schüsseln, nicht einmal ein Stück Brot war übrig geblieben, und ganz am Rand die Dose mit den Schokomuffins, die niemand angerührt hatte.

Dann kam meine Kleine weinend zu mir, sie war, weil sie hochdeutsch sprach, von einem Mädchen angepöbelt worden. Ich nahm sie in den Arm. Schon zog sich ein Kreis um uns zusammen, Frauen starrten uns misstrauisch an. Vielleicht waren es ja nicht viele, die uns von hier wegwünschten, und vielleicht war es dem Großteil der Eltern in diesem Kindergarten gleichgültig, ob es uns gab oder nicht und ob wir im Dialekt sprechen konnten oder nicht. Und doch fühlte ich mich angegriffen, mehr noch als mein Kind, das zwar weinte und doch bald einen weiteren Anlauf nehmen würde, mit anderen in Kontakt zu kommen.