Alois Mailänder aus der Sicht seiner Schüler - Erik Dilloo-Heidger - E-Book

Alois Mailänder aus der Sicht seiner Schüler E-Book

Erik Dilloo-Heidger

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Beschreibung

Alois Mailänder (1843-1905) war ein christlicher Mystiker aus dem Allgäu. Als geistlicher Begleiter von Gustav Meyrink und über fünfzig weiteren bedeutenden Zeitgenossen hatte er ab 1886 eine zentrale Stellung in der deutschen theosophischen Bewegung und darü­ber hinaus. Der Schriftsteller Gustav Meyrink, der ein Leben lang die Anregungen seines Lehrers Mailänder geübt und geprüft hat, schrieb über die Ergebnisse dieser Übungen. Karl Weinfurter, der in den 1930er Jahren selbst Schüler auf einem christlichen, spirituellen Weg geführt hat, berichtete, was er Bedeutendes von seinem Lehrer Mailänder gelernt hat. Wilhelm Hübbe-Schleiden hatte we­sentlich dazu beigetragen, in Deutschland eine Theosophische Gesellschaft zu gründen. Er brachte 1886 und 1896 mehrere Wochen im Hause Mailänders zu und berichtete in seinem Tagebuch, was er dort erlebt hat. Der Arzt und Theosoph Franz Hartmann hat Alois Mailänder als erster bekannt ge­macht. Er prüfte, ob Mailänders Methoden syste­matisch zu einer Lehre entwickelt werden könnten.

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Inhaltsverzeichnis

I. Alois Mailänder und seine Schüler

1 Stationen im Leben von Alois Mailänder

2 Zeugnisse seiner Schüler

II. Karel Weinfurter

1 Wie Karel Weinfurter seinen geistlichen Begleiter fand

2 Aus den „Erinnerungen eines Okkultisten“

3 Jeder Schüler erhielt einen „Geistnamen“

4 Mailänders Meditations-Methode

5 Die richtige Art der Konzentration

6 Die Arbeit mit einem Mantram

III. Gustav Meyrink

1 Die Verwandlung des Blutes (1928)

IV. Wilhelm Hübbe-Schleiden

1 München (1884-86)

2 Aus dem Indischen Tagebuch (1894-1896)

3 Tagebücher Dreieichenhain (1896)

4 Aus dem Tagebuch Nr. 18 von 1896

V. Franz Hartmann

1 Gelebter Okkultismus in Deutschland (1885)

2 Interview mit Alois Mailänder (1886)

3 Okkultismus in Deutschland (1886)

4 Unter den Rosenkreuzern (1897-1900)

5 Prestel (1888)

6 Autobiographische Anmerkungen (1908)

VI. Ergänzungen

1 Mailänders Berufung

2 Wer war Prestel?

3 Giulietta von Pott – Mailänders Sekretärin

4 Verzeichnis der Schüler von Alois Mailänder

5 Literatur

Ein herzliches „Dankeschön“

… möchte ich allen aussprechen, die in den vergangenen Jahren geholfen haben, Alois Mailänder neu zu entdecken:

Christine Eike für ihren Beitrag zum Thema "Prestel" und ihre sorgfältige Begleitung beim Entziffern von Handschriften und Evaluieren gefundener Schriftstücke;

Birgit Liljestrom für das Teilen ihres umfangreichen Wissens um die Geschichte der Familie Gebhard;

Roger Heil vom Heimatverein Dreieich für das Zurverfügungstellen vieler Fotos, Urkunden und mündlicher Überlieferungen über das Leben der Mailänder-Gemeinschaft sowie das „Öffnen der Türen zum Bruderhaus“;

Martina Maria Sam für ihre Mitteilung über die Entdeckung der Mailänder-Briefe im Rudolf Steiner Archiv in Dornach und eine Ermöglichung, sie einzusehen.

Frau Will und ihren Mitarbeiterinnen von der Staatsbibliothek von Göttingen für das mühevolle Anfertigen vieler Scanns zum Nachlass von Hübbe-Schleiden;

Chris Allen für sein großes Interesse an der Person von Alois Mailänder und für seine Übersetzungsarbeiten;

Samuel Robinson für die gemeinsame Exkursion nach Dreieichenhain zum ehemaligen „Bruderhaus“ in der Solmischen-Weiher-Straße und die Begleitung in jahrelanger Suche nach Spuren aus dem Leben der Mailänder-Gemeinschaft;

den Stadtarchivaren von Kempten, Franz-Rasso Böck und Thomas Steck für die Erschließung von kirchlichen Urkunden;

meiner Frau Claudia Heidger und Hanns-Ulrich Henn für das Korrekturlesen.

I. Alois Mailänder und seine Schüler

Abbildung 1: Mailänder, in seinen letzten Lebensjahren

1Stationen im Leben von Alois Mailänder

Mailänder war ein spiritueller Lehrer, der Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Kreisen in ihren Lebenskrisen unterstützte und sie auf ihrer spirituellen Suche begleitete. Seine Schüler kamen teilweise von weit her zu ihm gefahren – aus Prag, Wien, aus Wuppertal und München; ja er hatte sogar einige Schüler, die aus England, Nordamerika und Frankreich zu ihm kamen. Selbst ein junger indischer Mann aus dem Umkreis der Theosophin H.P.Blavatsky ließ sich von ihm beraten – Babaji, der später in Madras als Lehrer des Vedanta lebte.1

Über hundert Jahre lang wusste man von Alois Mailänder nur sehr wenig. Erst nach dem zweiten Weltkrieg, als man den Nachlass des Theosophen Wilhelm Hübbe-Schleiden ordnete und in die Universitätsbibliothek von Göttingen einbrachte, entdeckte man den bürgerlichen Namen der Person, die bisher durch ein Schweigegebot verborgen war.2 Man fand einen umfangreichen Briefwechsel dieses bisher unbekannten Menschen mit dem Theosophen Wilhelm Hübbe-Schleiden. Die Briefe waren mit dem Namen „Johannes“ unterzeichnet. Sie waren in Kempten, in Vohwinkel (Wuppertal) und in Dreieichenhain bei Frankfurt abgefasst worden. Notizen im Tagebuch von Hübbe-Schleiden beweisen, dass der Verfasser der Briefe, die mit „Johannes“ unterzeichnet waren, den bürgerlichen Namen „Alois Mailänder“ trug. Mailänder war im Jahr 1905 verstorben. Nun, vierzig Jahre später, nach dem Ende zweier Weltkriege, wurden diese Briefe entdeckt.3 Nach und nach zeigte sich, dass jener „Johannes“ ein bedeutender christlicher Mystiker war, der eine große Anzahl namhafter Schüler gehabt hatte.

Wer Schüler von Alois Mailänder wurde, musste ihm zusichern, dass er seinen Namen und Wohnort niemandem verraten würde. Alle haben sich daran gehalten. Deshalb entdeckte man erst so spät diesen Lehrer des inneren geistlichen Wachstums.

Was man nicht kennt, darüber bildet man sich Vorurteile. Und so rankten sich um Alois Mailänder schon zu Lebzeiten allerlei Gerüchte. Man muss sich vorstellen: In das kleine Städtchen Dreieichenhain bei Frankfurt am Main, wo er zuletzt wohnte, kamen regelmäßig fremde Gäste von ferne angereist. Sie blieben in der Regel nur einige Tage und reisten dann wieder ab. Über alles, was sie mit Mailänder erlebt hatten, schwiegen sie beharrlich. Die Bevölkerung machte sich daraus einen Reim. Man meinte, Alois Mailänder sei ein „Freimaurer“ gewesen.4 Das war er nachweislich nicht.

Der Grund für das Schweigegebot, mit dem Mailänder verborgen wurde, war wohl sein Charisma. Sehr viele Menschen wollten ihn sehen – oft nur aus Neugier. Es kamen ständig Anfragen, ob er nicht neue Schüler annehmen könne. Gegen diesen großen Andrang und auch vor den neugierigen Blicken musste er sich schützen. Allzu viele wollten Kontakt zu ihm haben. Dem konnte sich Mailänder nur durch das strikte Schweigegebot entziehen, das er seinen Schülern abverlangte.

Alois Mailänder wäre wohl auch weiterhin unbekannt geblieben und sicher vergessen worden, wenn nicht nach seinem Tod einige seiner berühmt gewordenen Schüler über ihn geschrieben hätten – inkognito, versteht sich, ohne Nennung seines bürgerlichen Namens und ohne Nennung des Wohnortes Dreieichenhain, an dem er zuletzt gelebt hatte. Dadurch, dass Emil Bock den umfangreichen Nachlass Hübbe-Schleidens gefunden und identifiziert hatte, konnte man nun Schritt für Schritt verschiedene Fundstücke zusammen legen und manches Rätsel lösen. Dadurch wurde die Person Alois Mailänder mehr und mehr sichtbar.

Vor allem die beiden Schriftsteller Gustav Meyrink und Karel Weinfurter schrieben über ihre Erfahrungen mit Mailänder. Meyrink wurde bekannt als ein Meister der phantastischen Literatur und der antibürgerlichen Satire. In Deutschland weniger bekannt, aber um so mehr in der Tschechei berühmt geworden ist Karel Weinfurter, der esoterische Literatur ins Tschechische übersetzte, die Zeitschrift Psyché redigierte und sich als Lehrer der Mystik einen Namen erwarb. Weinfurter und Meyrink waren miteinander befreundet und tauschten sich untereinander aus. Beide waren sie Schüler von Alois Mailänder.

Meyrink hat Mailänder im Jahr 1892 kennen gelernt. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt und befand sich in einer ernsten Lebenskrise. Er wollte sich das Leben nehmen. In dieser Situation konnte Mailänder sein Vertrauen gewinnen, ihn mit großer Anteilnahme begleiten und so lange Kontakt zu ihm halten, bis Meyrink im Leben wieder Fuß gefasst hatte. Sein ganzes Leben lang hat Meyrink daraufhin Themen bearbeitet, die ihm durch den Kontakt mit diesem Lehrer erschlossen wurden. Vor allem in seinen großen Romanen experimentierte Meyrink mit Inhalten, die aus der mystischen Welt von Mailänder stammten; besonders in den Romanen „Der Golem“ (1915) und „Das grüne Gesicht“ (1916).

Der deutsch-tschechische Schriftsteller Karel Weinfurter ist Alois Mailänder auf eine andere Weise treu geblieben: Er unterrichtete in den 1930er Jahren in Prag selbst eine ganze Reihevon Menschen in einer Weise, die er durch Mailänder kennen gelernt hatte. In seinem Lehrbuch der Mystik, das den Titel „Der brennende Busch“ (1930) trägt, hat er beschrieben, wie er verinnerlichte, was er durch Mailänder erfahren hatte.5

Von dem Theosophen Franz Hartmann sagte Meyrink, er habe neunzig Prozent seines Wissens von Mailänder bezogen.6 Das ist wohl weit übertrieben, denn die vielen Bezüge zu Indien und zur Alchemie im Werk von Hartmann stammen ganz gewiss nicht von Mailänder. Trotzdem bezeichnete Hartmann gegen Ende seines Lebens in seinen autobiographischen Anmerkungen Mailänder als seinen wichtigsten Mentor: „Ich wusste, dass durch seine Hilfe ein Strahl der Weisheit zu mir kommen würde.“7

Wilhelm Hübbe-Schleiden wurde bekannt, weil er sich zwanzig Jahre lang unermüdlich für das Zustandekommen einer theosophischen Bewegung in Deutschland eingesetzt hatte. Der erste Versuch (1884-1886) musste schon nach zwei Jahren wieder zurückgenommen werden. Nach weiteren Versuchen kam 1902 eine Theosophische Gesellschaft zustande, die sich dann weitgehend ohne seine Beteiligung weiter entwickelte. Im Januar 1885 nahm er mit der Gemeinschaft um Alois Mailänder Kontakt auf, wurde sein Schüler und hielt den Kontakt zu ihm fünfzehn Jahre lang. In den Sommerwochen von 1886 und 1896 weilte er gar mehrere Wochen bei ihm. In seinen Tagebüchern8 hat Hübbe-Schleiden sorgfältig alles niedergeschrieben, was er bei Mailänder erlebt hatte. Das Thema der inneren seelischen Entwicklung, das Mailänder bei all seinen Schülern veranlagt hatte, vertiefte Hübbe-Schleiden durch eine Kontrasterfahrung in Indien, wo er 1895/96 im Umkreis der Vivekananda-Bruderschaft in Almora im Himalaya den Yoga durch praktische Übung kennen zu lernen trachtete. In der Theosophischen Gesellschaft nach 1902 wurden weiterhin Anstrengungen unternommen, eine seelisch-geistige Entwicklung der Suchenden anzuregen; diesmal durch Rudolf Steiner. Dies zu erörtern würde hier zu weit führen.

In dem vorliegenden Buch wurde zusammengetragen, wie sich die vier Schüler – Weinfurter, Meyrink, Hübbe-Schleiden und Hartmann – über ihren Lehrer geäußert haben. Man findet diese Inhalte in den Nachlässen (Meyrink), in tschechischen Veröffentlichungen (Weinfurter), in englischen Zeitschriften (Hartmann) oder antiquarisch, wenn man Glück hat. Hübbe-Schleidens Tagebuchnotizen wurden bisher nirgends veröffentlicht. Die Mühe des Zusammentragens all dieser Zeugnisse habe ich hiermit den Lesern erspart.

Es ist erstaunlich, dass sich die vielen Schüler – Gustav Meyrink spricht von 54 an der Zahl9 – an das Schweigegebot gehalten haben. An seinem Wohnort Dreieichenhain in der Nähe von Frankfurt am Main wurde Mailänder geachtet als ein liebenswerter Mensch. Ein Nachruf erinnert an ihn „als Wohltäter, der besonders im Stillen so manches Leid linderte und so manche Träne trocknete. Auch für die öffentlichen Anstalten unseres Städtchens hatte er allzeit eine offene Hand. Allen, die mit ihm Umgang hatten, wird sein stilles, freundliches Wesen unvergesslich bleiben“.10

Wir wissen von Alois Mailänder nur durch seine Schüler. Er selbst hat keine Bücher geschrieben. Er selbst konnte nur mühsam schreiben. Aus armen Verhältnissen stammend, konnte er kaum eine Schule besuchen. Er schrieb nur seinen Namen unter Briefe, die er diktiert hatte. Die vielen Briefe, durch die er Kontakt mit seinen Schülerinnen und Schülern unterhielt, haben andere für ihn geschrieben. Mailänder wirkte durch das gesprochene Wort. Was wir über ihn erfahren können, müssen wir aus uns aus dem erschließen, was andere festgehalten haben. Hier muss besonders eine Person genannt werden, welche über viele Jahre hinweg diese vielen Briefe – und auch andere Niederschriften – verfasst hat. Man nannte sie „Mailänders Sekretärin“. Durch Mailänder erhielt sie den „Geistnamen“ Gabriele. Ihre Aufgabe war, den Kontakt zur Welt herzustellen; zu „verkündigen“. Der Name dieser bescheidenen, aber sehr wohl gebildeten Frau ist erst kürzlich entdeckt geworden: Es war eine adelige Dame, Frau von Pott, geborene Freiin Gabriele von und zu Weichs an der Glon. Sie bezog als Adelige eine bescheidene Pension und lebte in der Mailänder-Gemeinschaft in Dreieichenhain, wo sie über zehn Jahre lang die Korrespondenz von Alois Mailänder führte. Sie las Mailänder die eingehende Post vor und schrieb Briefe, die Mailänder diktierte.

In der Zeit zwischen 1885 und 1892 führten andere Mitglieder der Mailänder-Gemeinschaft die Korrespondenz, vor allem Nikolaus Gabele, Mailänders Schwager; aber auch Johann und Karl Ebner, zwei weitere Mitglieder der Hausgemeinschaft.

Kindheit und Jugend

Die Kirchenbücher nennen „Fidazhofen“ als Geburtsort von Alois Mailänder.11 Das ist ein kleiner Weiler oberhalb der Weißenau, der heute nach Ravensburg im Oberschwäbischen eingemeindet wurde. Er entstammt also dem Hinterland des Bodensees. Einst bestand Fidazhofen aus wenigen großen Bauernhöfen, die an die dreihundert Jahre alt sind. Die mächtigen Fachwerkhäuser neben weitläufigen Stallungen und Scheunen sind von Obstplantagen umsäumt. Unterhalb von Fidazhofen im Tal findet man die „Weißenau“. Das war bis zur Säkularisation im Jahr 1803 ein großes Kloster. Danach wurde es in ein Krankenhaus umgewandelt, das es heute noch ist. Für Wanderarbeiter wie Anna Mailänder gab es in der Bodensee-Region vielfältige Möglichkeiten, Arbeit zu finden: in der Landwirtschaft, bei der Heu- und Obsternte, beim Hopfenernten, und eben auch in einem Krankenhaus.

Abbildung 2: „Schwabenkinder“ (1907)

Anna Mailänder, die Mutter von Alois, kam aus dem Dorf Schleis in Südtirol im italienischen Vinschgau bei Meran. Es liegt in einem hoch gelegenen Tal südlich der Ötztaler Alpen. Das Vinschgau ist durch eine Route, die über zwei Pässe führt, mit dem Bodensee - Gebiet verbunden. Eine alte Pass-Straße, die es schon aus der Zeit der Römer gibt, stellt die Verbindung zwischen den Kulturen und der Sprache diesseits und jenseits der Alpen her. Arme Bauernfamilien im Vinschgau, die in Notzeiten eine große Familie nicht ernähren konnten, schickten ihre Kinder an den Bodensee, wo sie als „Hütekinder“ in der Landwirtschaft Arbeit fanden. Man nannte sie auch die „Schwabenkinder“. Anna Mailänder mag einst ein Schwabenkind gewesen sein. Vielleicht nannte man sie einfach die „Mailänderin“, weil sie von jenseits der Alpen gekommen war, wo Mailand der Bezugspunkt ist.

Wer in den Sommermonaten den Weg über die Alpen nahm, musste gut zu Fuß sein. Im Winter konnte man den Pass nicht überqueren. Die Strecke aus dem Vinschgau bis nach Oberschwaben ist weit über zweihundert Kilometer lang. Auf den Märkten von Ravensburg und Wangen standen dann die Kinder in Gruppen herum und hofften auf einen gütigen Bauern, der sie für einen Sommer – oder auch länger – in Haus und Brot nahm. Wenn sie Glück hatten, ergab sich daraus eine langfristige Anstellung. Kinder gerieten aber bisweilen auch an schlechte Arbeitgeber, die sie ausnützten und lieblos behandelten.

Welches Schicksal Anna Mailänder gehabt hat wissen wir nicht, auch nicht, in welchen Verhältnissen sie lebte und arbeitete. Irgendwann wechselte sie von Ravensburg im Schwäbischen ins Allgäu im Umland von Kempten. Aus einem Brief von Mailänder an Wilhelm Hübbe-Schleiden wissen wir, dass Anna Mailänder noch 1887 in Kempten lebte.12 Im Allgäu wurde im 19.Jahrhundert in großem Maßstab Flachs angebaut. Das ist der wertvolle Rohstoff, aus dem man Leinen herstellt. Flachs braucht sowohl bei der Ernte wie auch in der Verarbeitung beim Spinnen und Weben sehr viel menschliche Handarbeit. Erst nach 1860 wurde mehr und mehr Baumwolle importiert, die den Flachs verdrängte, weil sie billiger war sowie weicher und angenehmer zu tragen.

In Kempten

Im Allgäu erlebte man im 18. und dann vor allem im 19.Jahrhundert einen großen wirtschaftlichen Aufschwung durch die Flachswirtschaft. Mit viel Sorgfalt und Arbeit konnte man sogar Wohlstand erwirtschaften. Man erkennt dies an den stattlichen, großzügig errichteten Bauernhöfen sowie an den schön geschmückten Kirchen und öffentlichen Gebäuden, bei denen nicht an Geld gespart wurde.

Ab 1860 wurde das Allgäu auch durch eine Eisenbahnlinie zugänglich, die von Ulm über Kempten bis Sonthofen führt. Weil der Fluss Iller, der durch Kempten fließt, reichlich Wasser führt, konnte an ihren Ufern eine von Wasserkraft angetriebene Textilindustrie entstehen.

Abbildung 3: Mechanische Weberei in Kempten an der Iller (um 1920) Vorne: die Weberei; jenseits der Iller: die Spinnerei

Aus der ersten Lebensperiode von Mailänder ist fast nichts überliefert; dreißig Jahre seines Lebens liegen im Dunklen. Er hat wohl schon bald in der mechanischen Weberei in Kempten gearbeitet — sechs Tage die Woche und bis zu elf Stunden pro Tag. Nur der Sonntag war arbeitsfrei. Der Lohn war gering. Der Arbeitsplatz war laut und unzureichend beleuchtet. In der Luft lag der staubige Abrieb des Flachses. In unendlicher Geduldsarbeit mussten die Kettfäden auf die Webstühle aufgefädelt werden.

Wenn dann nach langer Vorbereitung der eigentliche Webvorgang lief, musste man ihn ständig beobachten und bereit sein, die Maschine anzuhalten und gerissene Fäden zu reparieren. Eine Arbeit, für die man große Sorgfalt, wache Beobachtung und geschickte Finger brauchte.

Abbildung 4: Mechanischer Webstuhl um 1860

Von Kindheit an war Alois Mailänder mit Nikolaus Gabele und dessen Familie befreundet. Mailänder heiratete im Jahr 1874. Seine Frau war Karoline Gabele, die Schwester von Nikolaus Gabele. Nach den Angaben von Franz Hartmann lebten sowohl Nikolaus Gabele als auch Alois Mailänder in ihrer Kindheit im Umkreis eines Menschen, der eine besondere religiöse Ausstrahlung hatte. Sein Name war Prestel. Diesen Namen findet man in den Kirchenbüchern von Kempten, wo es heißt, ein „Franz Josef Prestel“ (geboren 1797 in Kimratshofen) habe im Umland von Kempten gelebt und sei 1872 in Heiligkreuz bei Kempten gestorben. Er sei Mittelpunkt einer religiösen Gemeinschaft gewesen, die man als Sekte bezeichnete, weil ihre Mitglieder sich außerhalb der Kirchengemeinde organisierten und einen von der Allgemeinheit abweichenden Glauben lebten. Es handelte sich wohl um eine pietistische Gemeinschaft.13 Nur Franz Hartmann hat sich über Prestel, den Lehrer von Alois Mailänder, geäußert.

Bedenkt man die Tatsache, dass Alois Mailänder kaum lesen und schreiben konnte, so ergibt sich ganz von allein die Frage, woher er sein religiöses Wissen hatte. Mailänder soll sehr bewandert gewesen sein in der Bibel, so bezeugen es all seine Schüler. Er hat sein Wissen wohl von diesem Prestel bekommen. Dessen Gemeinschaft hat wohl schon in den 1850er Jahren bestanden, in Mailänders Jugend. Franz Joseph Prestel ist 1872 verstorben. Im Jahr 1885 haben die Theosophen von München mit dieser Gemeinschaft Kontakt aufgenommen. In der Zwischenzeit muss dann die Leitung von Prestels Gemeinschaft auf Mailänder und Gabele übergegangen sein.

In einem Brief berichtet Nikolaus Gabele Hübbe-Schleiden, die Gemeinschaft besäße „einige alte Bücher“, die sie „von einem alten Mann“ vererbt bekommen habe.14 Das wird wohl Prestel gewesen sein. Und aus Briefen von Guiletta von Pott an Gustav Meyrink wissen wir, dass die Gemeinschaft Bücher besessen habe,15 die vom Geiste Jakob Boehmes und von der philadelphischen Gemeinschaft von Jane Leade geprägt waren. Auch „eine alte Bibel“ soll die Gemeinschaft besessen haben. Wenn man sich anschaut, welche Bibelausgaben in der Allgäuer Erweckungsbewegung eine Rolle spielten, so kann man vermuten, dass es sich dabei um die „Berleburger Bibel“ gehandelt hat. Denn ein Teil dieser alten Bibelausgabe wurde 1859 nachgedruckt.16 Zeitungen aus dem Allgäuer Umland bewarben diese Bibel und man weiß, dass diese Bibelausgabe in der Allgäuer Erweckungsbewegung bevorzugt wurde. Diese Ausgabe ist insofern bedeutsam, als sie umfangreiche mystische und pietistische Deutungen der Bibel in einfacher Sprache enthält, die auch ein Laie verstehen kann.

All dies macht verständlich, in welchem religiösen Umfeld Alois Mailänder lebte. Sein persönlicher Glaube ist mit diesen Eindrücken zu seinem religiösen Umfeld jedoch nicht ausgelotet. Alois Mailänder berichtet, dass er „mit 33 Jahren“ – dem Alter Jesu – "berufen wurde". Auch soll er damals eine tiefe Lebenskrise erlitten haben. Was war geschehen?

In einem Brief an Wilhelm Hübbe-Schleiden berichtet Mailänder, am Palmsonntag 1875 sei er "durch Salomonis Wort" auf seinen geistigen Weg gerufen worden, von dem er "anfänglich nichts habe wissen wollen und an den er nicht geglaubt habe."17

Hinzu kommt, dass wir aus den Kirchenbüchern von Kempten wissen, dass im Jahr 1876 dem Ehepaar Mailänder ein Sohn, Anton, geboren wurde. Doch schon im folgenden Jahr 1877 verstarb dieses Kind; es war kaum ein Jahr alt geworden.18 Es starb am Gründonnerstag und wurde am Karsamstag des Jahres 1877 beerdigt.19 Man kann davon ausgehen, dass die Mailänders in dieser Zeit Hilfe und Unterstützung, Gebet und Begleitung durch ihre Hausgemeinschaft bekommen haben.

Die oben genannte Berleburger Bibel deutet Lebenskrisen in religiöser Art:

„Merk! in der Stillen Nacht wird Christus Mensch geboren, und wiederum ersetzt, was Adam hat verloren. Ist deine Seele still, und dem Geschöpfe Nacht, so wird GOtt in dir Mensch, und Alles wiederbracht. Wird er in inneres und äußeres Leiden geführt, so hält er Fasten und Passions-Zeit. Muß er gar mit Christo zum Thor hinaus, oder auch wohl das Leben lassen, so heißt das Marter-Woche oder sein Charfreitag. Bei ihm ists alle Tage Oster-Fest, denn er steht alle Tage mit Christo aus dem Grab der Sünden und befleißt sich ohne Unterlass in einem neuen Leben zu wandeln.“20

So mag im Zeitraum von 1875 bis 1877 für Alois Mailänder ein inneres Licht aufgebrochen sein, das ihn fortan erleuchtete; und nicht nur ihn, sondern auch die Gruppe von Menschen, die mit ihm ihr persönliches Schicksal teilte: seine Frau Karoline, sein Schwager Nikolaus mit seiner Familie und weitere Menschen im Umkreis. Mailänder berichtet, dass über einen Zeitraum von drei Jahren eine Zeit der Selbstfindung stattgefunden habe.21 Man fand zusammen zu einem „Bund der Verheißung.“

Das Leben der Mailänder-Gemeinschaft fand in der Folgezeit Formen und Gebräuche, ihren Glauben zu praktizieren. Später wurden in Dreieichenhain regelmäßig Hausabende abgehalten mit Bibellesung und Gebet. Im weiteren Hauskreis wurden auch erbauliche Schriften vorgelesen, die nicht unmittelbar zum Glaubensleben gehörten. Insgesamt mag sich die Mailänder-Gemeinde nach außen hin ganz so dargestellt haben, wie man das von der Erweckungsbewegung im Umkreis von Kempten seit zwei Generationen kannte: als ein religiöser Hauskreis von Freunden und deren Familien.

Die Öffentlichkeit hätte wohl nie etwas von Mailänders Hauskreis erfahren, wenn man nicht im Kreis der Theosophen von München auf diese Gruppe aufmerksam geworden wäre. Im Sommer 1884 war zunächst im Hause des Wuppertaler Fabrikanten Gebhard in Elberfeld und kurz danach am Starnberger See auf dem Anwesen des Malers Gabriel von Max eine Theosophische Gesellschaft gegründet worden. Diese Gesellschaft hatte sich zum Ziel gesetzt, die Geheimnisse von Okkultismus und Mystik sowie den Ursprung der Religionen zu ergründen; dies sollte ganz im Einklang mit der modernen Wissenschaft bewerkstelligt werden.22

Abbildung 5: Die Wohnung im Haus neben dem Waisenturm, Burgstraße 60, V. Stock in Kempten

Anders als die Theosophen in Indien, die sich mit dem Yoga und paranormalen Bewusstseinszuständen bei indischen Fakiren und Eremiten beschäftigten, wollten die Theosophen von München zuerst ihren eigenen Umkreis erkundigen. Man las Jung-Stilling, Kerner23 und das dreibändige Kompendium über Mystik von Joseph Görres,24 man erkundete die mittelalterliche Mystik und studierte Spukphänomene in Europa.25

Abbildung 6: Foto anlässlich der Gründung der Theosophischen Societät im Hause Gebhards in Elberfeld [1884] mit Wilhelm Hübbe-Schleiden (Mitte, neben Mary Gebhard-L’Estrange) und Henry Steel Olcott (mit Bart, hinten).

Anders als die Theosophen in Indien, die sich mit dem Yoga und paranormalen Bewusstseinszuständen bei indischen Fakiren und Eremiten beschäftigten, wollten die Theosophen von München zuerst ihren eigenen Umkreis erkundigen. Man lasJung-Stilling, Kerner26 und das dreibändige Kompendium über Mystik von Joseph Görres,27 man erkundete die mittelalterliche Mystik und studierte Spuk Phänomene in Europa.28 Beim Ergründen von religiösen Phänomenen folgten die Theosophen von München dem naheliegenden Plan, zuerst ihr direktes Umfeld zu ergründen.

Abbildung 7: Nikolaus Gabele

Irgendwer aus dem Kreis der Münchener Theosophen muss in diesem Zusammenhang an die Erweckungsbewegung im Allgäu gedacht haben. Möglicherweise eine der Schwestern von Franz Hartmann. Die Hartmanns stammten nämlich aus Kempten und eine Schwester von Franz Hartmann, Sophie Sprenger, lebte in dieser Zeit immer noch dort. In diesem Zusammenhang mag man sich an eine Nachbarsfamilie der Hartmanns erinnert haben. Diese war in Erinnerung geblieben: die Familie Gabele. Die Mutter Gabele soll eine besonderer Beziehung zu Tieren gehabt haben. Man sagte, sie habe auch geheilt. Also lud man ein Mitglied dieser Nachbarsfamilie aus Kempten in eineVersammlung der neu gegründeten Theosophischen Vereinigung nach München ein. Zuerst trat nicht Alois Mailänder, sondern sein Schwager Nikolaus Gabele in Erscheinung. Ihn konnte man anschreiben. Er konnte lesen und schreiben.

Am Weihnachtstag 1884 war Hübbe-Schleiden im Haus der Baronin Caroline von Spreti eingeladen. Nikolaus Gabele war ebenfalls dort. Im Kalender von Hübbe-Schleiden findet man folgenden Eintrag: „Donnerstag, 25.Dezember (1884) bei Frau Scherupp. Mit dieser und Gabele nachmittags bei Spretis.“29 Alois Mailänder kam erst später in das Blickfeld.

Gleich im Anschluss an diesen Besuch entwickelte sich ein regelmäßiger Briefverkehr zwischen Wilhelm Hübbe-Schleiden und Nikolaus Gabele. Vom 4.Januar 1885 an wurden im wöchentlichen Wechsel Briefe ausgetauscht. Hübbe-Schleidens Fragen, welche vor allem den Lebenswandel betrafen, wurden von Nikolaus Gabele mit einfachen Worten beantwortet: Es ging um Inhalte wie:

Es ging um Inhalte wie:

Muss man als Vegetarier leben?

Ist es erlaubt, Alkohol zu trinken?

Spielen alte Bücher im Hauskreis in Kempten eine Rolle?

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Wie hat sich der Hauskreis entwickelt?

Gibt es Unterschiede zwischen den indischen Weisen und den Anschauungen der Hausgemeinschaft?

Ohne Einschränkung verneinte Nikolaus Gabele äußere Hilfsmittel wie Vegetarismus, Abstinenz und Askese als nicht hilfreich auf dem Weg zur inneren Wiedergeburt. Auf einfache Fragen gab er klare Antworten. Bald schon wurde Wilhelm Hübbe-Schleiden als Schüler der Gemeinschaft aufgenommen: Ihm wurden Sätze anvertraut, die er verinnerlichen sollte. Und ihm wurde ein „Geistname“ zugesprochen, der ihn von nun an auf seinem inneren Weg begleiten sollte. Dieser Name war „Daniel“ in Verweis auf den alttestamentlichen Propheten Daniel, der in einem Käfig von hungrigen Löwen überleben konnte, weil er von einem starken Glauben erfüllt war.

Abbildung 8: Alois Mailänder (1886)

Im Mai 1885 kam der Theosoph Franz Hartmann aus Indien nach Europa zurück. Die theosophische Bewegung in Indien war damals so gut wie zusammengebrochen. Grund dafür waren Skandale und Betrugsvorwürfe, die man Frau Blavatsky machte.31 Hartmann besuchte zuerst seine Schwester Caroline in München und fuhr dann vermutlich anschließend nach Kempten zu seiner anderen Schwester Sophie Sprenger, wo er bis Dezember 1886 lebte. In dieser Zeit weilte er regelmäßig bei Alois Mailänder und seiner Hausgemeinschaft. Hartmann berichtet in seinen „autobiographischen Anmerkungen:“

„Ich ging nach Kempten und wurde mit einem Kreis von Okkultisten bekannt gemacht. Ich besuchte ihre Versammlungen, wurde ein Jünger ihres Anführers und folgte seinen Anweisungen viele Jahre lang.“32

Von da an kamen immer mehr Menschen zu Nikolaus Gabele und Alois Mailänder nach Kempten.33 Im Mai 1886 weilten Mary Gebhard aus Elberfeld und ihre schwedische Freundin, Gräfin Constance von Wachtmeister, bei Mailänder. Beide waren sehr früh schon der Theosophical Society beigetreten; Mary Gebhard war deshalb 1883 nach London gereist. Nun wurde Mary Gebhard eine persönliche Schülerin von Mailänder; im Sommer 1886 kamen auch die Gebhard-Söhne Arthur und Franz nach Kempten und wurden ebenfalls Mailänders Schüler. In der Folgezeit wurden alle Mitglieder der Familie Gebhard bis auf die Tochter Schüler von Alois Mailänder.

Vohwinkel bei Elberfeld

Frau Mary Gebhard-L’Estrange war von einem unstillbaren Kummer erfüllt. Sie hatte ihre beiden jüngsten Söhne verloren, beide durch Suizid. Deshalb suchte sie seelischen Trost und Unterstützung zur geistlichen Auferbauung. In Alois Mailänder fand sie jemanden, der ihr Beistand und Trost geben konnte.Hermann hatte sie mit vierzehn Jahren (1881) verlassen und im April diesen Jahres (1886) war Walter von ihnen gegangen, sein Zwillingsbruder. Beides in der Karwoche.

So ist es verständlich, dass sich Mary Gebhard sehr dafür eingesetzte, Alois Mailänder in die Nähe ihres Wohnortes nach Elberfeld zu holen. Denn bei Mailänder fand sie eine seelische Stütze. Ihm konnte sie sich anvertrauen und durch ihn fühlte sie sich gehalten in den tiefen inneren Erschütterungen, die sie erleiden musste. Im Herbst 1886 ist wohl der Entschluss gereift, Mailänder und seinem Schwager Gabele in Vohwinkel bei Elberfeld eine Stelle in Gebhards Weberei anzubieten.

Es waren oft leidvolle Erfahrungen, welche Menschen dazu veranlassten, sich an Alois Mailänder zu wenden. Menschen kamen aus seelischer Not oder wegen starken psychischen Belastungen. Bei Mailänder fanden sie Trost. Er hatte ja selbst größte eigene Not erlitten und dadurch viel an innerer Kraft gewonnen. Fortan konnte er andere Menschen in schweren Lebenssituationen begleiten.

Zum Jahreswechsel 1886/87 zog also die ganze Hausgemeinschaft Mailänder / Gabele von Kempten nach Vohwinkel in Wuppertal. Dieser Wechsel war hart für sie. Nie zuvor hatten sie ihre Heimat im bayerischen Alpenvorland verlassen. Nun lebten sie auf einmal im industrialisierten Ruhrgebiet.

Das Leben in der Weberei von Wuppertal – Vohwinkel wurde für Alois Mailänder bald zu einer großen Belastung. Starke physische Anstrengung am Arbeitsplatz, lange Arbeitszeiten, dann der Lärm der Maschinen, die von Staub erfüllte Luft in der Fabrik und zusätzlich die psychische Belastung durch viele Gespräche sowie ständige Anfragen nach Terminen waren zu viel für Alois Mailänder. Gesundheitliche Probleme, Blutstürze, meldeten, dass es so nicht weiter gehen konnte.

Dreieichenhain

Nach drei Jahren, im Jahr 1890 bot sich eine neue Situation: Das Familienoberhaupt der Familie, Gustav Gebhard, entschloss sich, seine Verhältnisse neu zu ordnen. Seine Frau war gesundheitlich angeschlagen, er selbst durch Arbeit überlastet und die familiären Probleme zehrten auch an ihm. Aus der Leitung der Fabrik wollte er sich zurückziehen. Fabrik und Anliegen in Elberfeld wurden verkauft, die Verwandtschaft und die Kinder ausgezahlt und ein Umzug nach Berlin vorbereitet.

Abbildung 9: Gustav Gebhard

In Berlin hatte Gustav Gebhard beratender Weise noch genug zu tun: Im Bankenwesen34 und in diplomatischen Geschäften als ehemaliger Konsul von Persien – Nordindien gehörte damals noch zu Persien.

Seine Frau Mary zog sich ganz aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Sie starb, nachdem sie mehrere Schlaganfälle erleiden musste, im Jahr 1892. Im Zusammenhang mit der Neuordnung der Besitzverhältnisse wurde ein stattliches Haus mit landwirtschaftlichem Anwesen in der kleinen Stadt Dreieichenhain in Hessen (zwischen Darmstadt und Frankfurt gelegen) erworben. Im Jahr 1890 zog Alois Mailänder mit seiner ganzen Hausgemeinschaft dorthin. Ob anfänglich weitere Pläne mit diesem Haus verfolgt wurden, ist bislang unklar. Auch, ob einer der Gebhard-Söhne, die Rede war von Rudolf, für eine gewisse Zeit ebenfalls dort wohnte.

Der älteste Sohn der Familie, Franz Gebhard, erwarb kurze Zeit später (1892) ganz in der Nähe das weitläufige Landgut „Dippelshof“ bei Darmstadt, das von großen Obstplantagen umgeben ist. Ob man beide Anwesen ursprünglich zusammen gedacht hatte? Im Jahr 1898 hat Franz Gebhard den Dippelshof wieder veräußert – seine Begabung lag nicht in der Landwirtschaft.

So wurde das schöne Haus in Dreieichenhain zum „Bruderhaus“ und damit zum Mittelpunkt des Wirkens von Alois Mailänder. Dies entsprach ganz dem Wunsche der Familie, insbesondere dem Anliegen von Mary Gebhard-L’Estrange.

Das repräsentative Haus in der Solmischen-Weiher-Straße 22 in Dreieichenhain wurde in der Zeit zwischen 1890 und 1905 zu einem Wallfahrtsort für die vielen Schülerinnen und Schüler von Mailänder, die fortan aus aller Welt nach Dreieichenhain kamen, um dort Beratung und Hilfe in ihren Lebensfragen zu bekommen und um für die Zeit ihres Besuches in Mailänders spirituelle Welt einzutauchen.

Mailänders Schüler

Nicht nur aus innerer Not kamen Menschen zu Mailänder. Sie kamen auch, wenn sie religiös und spirituell auf der Suche waren. Interessante Persönlichkeiten waren darunter. So etwa der Erfinder und Weltmann Carl Kellner, der es verstanden hatte, wie man durch den Einsatz von Elektrizität chemische Reaktionen hervorrufen kann. Damit revolutionierte er die Chemie. Kellner war mit dem ältesten Sohn der Familie Gebhard, mit Arthur Gebhard, befreundet.

Auch Friedrich Eckstein gehörte zu seinen Freunden. Eckstein war ein bemerkenswerter Mensch, der im gesellschaftlichen Zentrum Wiens lebte, und das über einen Zeitraum von über fünfzig Jahren. Er war bekannt und befreundet mit einer Vielzahl von Kulturschaffenden, die in der Zeit zwischen 1880 und 1940 in Wien lebten. Täglich konnte man Eckstein zu einer bestimmten Zeit in seinem Stammcafé, dem Café Greinsteidl, antreffen, stets in angeregtem Austausch mit Intellektuellen und Künstlern aus Wien.

Zu Ecksteins Freunden gehörte Sigmund Freund; mit ihm zusammen wurde die Theorie des Unbewussten erörtert; durch Leo Trotzki – der ein Jahr in Wien weilte – war Eckstein über die politischen Verhältnisse in Russland informiert. Mit Hugo von Hofmannsthal war Eckstein verschwägert, die Schriftsteller Franz Werfel, Rainer Maria Rilke, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Robert Musil und Gustav Meyrink gehörten zu seinen Freunden. Eckstein war nicht nur Schüler von Anton Bruckner, sondern auch dessen Privatsekretär und Mäzen, so wie später von Hugo Wolf. Der Schriftsteller René Fülöp Miller beschrieb Eckstein als einen universal interessierten und gelehrten Menschen: „Architekten legten ihm ihre Baupläne, Mathematiker ihre Gleichungen, Physiker ihre Formeln, Komponisten ihre Partituren zur Begutachtung vor. Juristen und Psychoanalytiker besprachen ihre Fälle mit ihm. Schauspieler befragten ihn über ihre Rollen und Historiker über ihre Geschichtstheorien.“35

Friedrich Eckstein wurde schon früh ein Schüler von Alois Mailänder und als Theosoph – er begründete die Theosophische Bewegung in Österreich – war er bekannt geworden mit den leitenden Gestalten der damaligen theosophischen Bewegung: Helena Blavatsky hatte er in Ostende 1886 aufgesucht, über Arthur Gebhard war er mit W.Q.Judge bekannt, mit Annie Besant korrespondierte er, G.R.S.Mead besuchte ihn in Wien und der Theosoph und spätere Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, bezeichnete die Freundschaft mit ihm als außerordentlich wichtig für seine eigene Entwicklung. Eckstein wiederum behauptete, Steiner habe die wesentlichen Ideen für seine später entfaltete Weltanschauung der Anthroposophie durch den Kontakt mit ihm, Eckstein, erhalten.36 Viele suchende Menschen vermittelte Eckstein weiter zu Mailänder. Künstler und Intellektuelle, ein hochrangiger Militär und mehrere Industrielle kamen mit ihren Anliegen zu dem einfachen mystisch begabten Handwerker. Viele von ihnen wollten getröstet und in Lebenskrisen unterstützt werden und einige suchten eine Wegleitung in ihrer spirituellen Orientierung.

Gustav Meyrink sagte, Mailänder habe „54 Schüler“ gehabt. Woher hatte Meyrink diese Zahl?37 Von diesen Schülern konnten bisher an die fünfzig namentlich identifiziert werden. Manche von ihnen waren nur für eine kurze Zeit bei Mailänder, andere viele Jahre lang. Die Schülerinnen und Schüler kamen aus dem In- und Ausland, aus Österreich, der Tschechei, aus England, aus den Vereinigten Staaten und aus Frankreich. Selbst ein Inder, Babaji