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Exkommissar Max Raintaler und sein Freund Josef Stirner finden im Mittenwalder Dammkar zwei tote junge Männer vom Mittenwalder Skiklub unter einer Lawine, die sie selbst gerade fast das Leben gekostet hätte. Ein Anschlag? Wenn ja, wem hat er gegolten? Wo steckt die vermisste Sylvie Maurer? Und warum wird Max’ Freundin Monika daheim in München von einem Unbekannten bedroht? Gemeinsam mit Josef und dem aufrechten Polizeichef Rudi Klotz macht sich Max auf die Suche nach Antworten.
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Seitenzahl: 363
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Michael Gerwien
Alpentod
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © like.eis.in.the.sunshine /
photocase.com
ISBN 978-3-8392-4338-1
Sakrischen Dank an Lilli, Patrick, an meine Eltern und Brüder sowie vor allem an Claudia Senghaas
»Herrschaftszeiten! Was ist denn das schon wieder für eine Scheiße?« Der blonde Münchner Exkommissar Max Raintaler mit den stahlblauen Augen fluchte wie ein Kesselflicker, als er dieselben öffnete und sah, dass er nichts sah. Was auch weiter kein Wunder war, denn um ihn herum herrschte nichts als absolute Dunkelheit. Etwas stach ihn in die linke Backe, sobald er sich auch nur einen Zentimeter bewegte, und er bekam fast keine Luft. Unter größter Anstrengung drehte er seinen Kopf. Dabei war ihm, als lastete eine Zentnerlast darauf. Danach spürte er denselben bohrenden Schmerz, den er gerade links bemerkt hatte, auf der rechten Seite seines Gesichts.
»Verdammt! So ein Mist!« Es musste ein spitzer Stein oder die Oberfläche von einem Felsen sein, auf dem er lag. Er versuchte, seine Hände zu bewegen. Keine Chance, er hatte nicht das geringste Gefühl darin. Das Gleiche galt für seine Beine. Querschnittsgelähmt, kam es ihm. Was sonst? Alles vorbei. Blanke Panik jagte wie ein Stromstoß durch seinen Körper. Er zwang sich dazu ruhig zu bleiben, langsam zu atmen, versuchte, sich daran zu erinnern, was ihn in diese fatale Lage gebracht hatte.
Richtig. Gerade eben war er noch, wie so oft am Wochenende im Winter, mit seinem Freund und Vereinskollegen beim Thalkirchner FC Kneipenluft, dem grandiosen Torwart Josef Stirner, das Dammkar in Mittenwald hinuntergefahren. Freeriden vom Feinsten, genial. Frühmorgens, solang die anderen noch verschlafen beim Samstagsfrühstück saßen, bei strahlend blauem Himmel durch gut 30 Zentimeter hohen frischen Pulverschnee die ersten Spuren ziehen, das war purer Powderalarm! Das höchste aller Gefühle. Sogar jetzt noch, Ende Februar. Wer das Dammkar kannte, brauchte keine Rocky Mountains in Kanada mehr. Genauso wenig wie einen Helikopter. Hier wurde man ruckzuck in gut zehn Minuten mit der Gondel der Karwendelbahn hinaufgeschafft. Auf über 2 200 Meter. Von der Gipfelstation aus durchquerte man anschließend zuerst zu Fuß einen 400 Meter langen eiskalten Tunnel, wonach man auf der Rückseite des Berges wieder herauskam. Die mit sieben Kilometern längste Skiabfahrt Deutschlands führte dann von hier aus zwischen riesigen senkrechten Felswänden hinunter, immens steil, extrem gefährlich und immer schattig. Nur absolute Könner wie Max und Josef durften sich in dieses wilde, naturbelassene Terrain wagen. Jeder untrainierte Anfänger wäre rettungslos verloren gewesen.
Verloren fühlte sich auch Max im Moment. Es herrschte völlige Stille um ihn herum. Er hörte nichts, bis auf seinen eigenen Atem und seinen Herzschlag. Laut und schnell. Verdammt, wo bin ich bloß? Erneut überspülte ihn eine Welle brennend heißer Todesangst.
Was war noch geschehen? Er konnte sich daran erinnern, dass sie laut jubelnd vor Glück durch die glitzernden weißen Schneekristalle gestochen waren. Dabei hatten sie sich gerade dem flacheren Übergang zum Bergwachthang genähert, als auf einmal dieser ohrenbetäubende Knall zu hören gewesen war, der überall von den Felswänden reflektiert wurde. Genau, so war es gewesen. Kurz darauf hatte er einen mächtigen Schlag in den Rücken bekommen und war gestürzt. Als er wieder zu sich kam, lag er hier wie festgenagelt und konnte nur mit äußerster Mühe den Kopf ein wenig bewegen. Sonst nichts. Eine Lawine, wurde es ihm auf einmal bewusst, er lag unter einer beschissenen Lawine begraben. »Das darf doch nicht wahr sein!«, brüllte er gleich darauf. »Verdammt noch mal! Hilfe! Hier bin ich! Hört mich denn keiner? Hey! Holt mich raus! Josef!« Wie viele Meter Schnee und Eis über ihm waren, wusste er natürlich nicht. Er wollte es auch nicht wissen. Er wollte nur noch hier raus, und zwar so schnell wie möglich. Bestimmt würde ihm bald die Luft ausgehen. Die nächste Panikwelle erfasste ihn. Sein Puls klopfte noch lauter und noch schneller. »Hilfe! Josef! Herrschaftszeiten! Hört mich denn niemand?«
Seine letzte Hoffnung war der Piepser der Lawinenausrüstung, die er genau wie Josef dabei hatte. Piepser, Sonde und Schaufel. Ohne dieses Equipment sollte niemand, der nicht lebensmüde war, auf eine Freeridepiste gehen. Die Schaufel und die Sonde nützten ihm momentan natürlich nichts. Aber der Piepser war aktiviert. Wenn Josef nicht ebenfalls verschüttet war, würde er ihn so auf jeden Fall finden. Fragte sich nur, wann. Schon in wenigen Minuten konnte es zu spät sein, denn selbst wenn er nicht starb, konnte er bleibende Schäden davontragen. Sein Gehirn durfte auf keinen Fall zu lange zu wenig Sauerstoff bekommen, das wusste er als krankheitsinteressierter Hypochonder genau. Also ruhig bleiben, auch wenn’s schwerfiel, langsam atmen, Luft sparen. Gott sei Dank hatten er und Josef das richtige Verhalten im Notfall oft genug gemeinsam geübt. »Lieber Gott, ich weiß, wir beide sind nicht unbedingt die dicksten Freunde«, begann er zu beten. »Aber wenn du mir hier heraushilfst, verspreche ich dir, dass ich nie wieder an deiner Existenz zweifeln werde. Zumindest nicht so oft. Bei allem, was mir außer dir heilig ist.« Ihm wurde schwindelig. Er drohte jeden Moment wegzusacken.
»Max!«, hörte er eine entfernte Stimme. Rief ihn Gott bereits zu sich? War das so, wenn man starb? Man wurde beim Vornamen gerufen? Logisch, schließlich war Gott allwissend. Oder nicht?
»Max!«
Aber halt mal. Die Stimme kam ihm doch bekannt vor. Das war doch … richtig, das war gar nicht der liebe Gott. Das war Josef. Auf jeden Fall. Heilige Maria! Gott sei Dank.
»Hier, Josef!«, rief er mit letzter Kraft. »Ich bin hier!«
Kurz darauf stach ihn etwas in den Rücken. Das musste die Spitze von Josefs Sonde sein. Wie tief hatte er sie wohl bis zu ihm hinunter im Schnee versenken müssen? Hoffentlich nicht zu tief. Mach schnell, Junge, sonst ist alles zu spät, dachte er noch. Dann wurde es schwarz um ihn herum.
»Max! Max! Komm schon, wach endlich auf!«
Er spürte einen Schlag in seinem Gesicht und noch einen. Na, das war vielleicht ein toller Empfang hier im Paradies. Erst mal links und rechts eine rein. Sauber. Da hätte man auch gleich auf der Erde bleiben können. Der nächste Schlag traf seine linke Wange. »Ja spinnt ihr denn hier drüben? Von wegen Engel! Hört halt endlich auf!«, beschwerte er sich und bekam einen Hustenanfall. Dann öffnete er seine Augen und schaute direkt in das Gesicht seines guten alten Freundes und Vereinskollegen. »Josef, hat es dich auch erwischt? Haben sie dich auch geschlagen?«
»Max, Gott sei Dank. Das war knapp.« Josef schloss ihn in die Arme und ließ ihn so lang nicht mehr los, bis Max japsend um Gnade bat.
»Was ist denn passiert? War das eine Lawine?«, erkundigte sich Max, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten. Er blickte verwirrt um sich.
»Ja, aber Gott sei Dank keine große.«
»Zum Ersticken hätte es gereicht.« Max zeigte, immer noch atemlos, auf die Schneemassen rund um sie herum und holte erst einmal tief Luft. »Wo sind eigentlich die zwei jungen Burschen, die uns, kurz bevor mich das Ding begraben hat, überholt haben?«, fiel es ihm dann ein. »Die mit den Mützen vom Skiklub Mittenwald.«
»Keine Ahnung. Ich wollte erst mal dich ausbuddeln.« Josef kratzte sich am Hinterkopf. »Meinst du …?«
»Genau das meine ich. Die wurden sicher auch verschüttet. Nichts wie los. Wir müssen sie suchen. Und zwar ein Stück weiter unten. Sie waren ungefähr 20 Meter vor mir.« Max, der sich jetzt wieder genau an alles erinnerte, richtete sich eilig auf, überprüfte kurz, ob alle Gelenke noch funktionstüchtig waren, stellte erleichtert fest, dass es so war, und klopfte sich den Schnee vom Skianzug.
»Und wenn noch eine Lawine abgeht?«
Ein berechtigter Einwand.
»Dann haben wir Pech gehabt. Oder willst du die beiden hier oben sterben lassen?« Max sah seinen Freund fragend an.
»Natürlich nicht. Gehen wir los.«
»Du hast gar keine Skier an. Sind deine auch weg?« Max zeigte auf Josefs Beine, die tief im Schnee steckten.
»Ja, mich hat die Lawine auch erwischt, bloß nicht so schlimm wie dich. Ich konnte mich selbst ausgraben. Die Ski sind noch irgendwo da oben im Schnee.« Josef zeigte auf eine Stelle, ungefähr 20 Meter über ihnen.
Sie rutschten und stapften ein Stück weit bergabwärts und versuchten dort, die Piepser der beiden Burschen zu orten. Dass sie dabei immer wieder im Tiefschnee stecken blieben und sich mit aller Kraft daraus befreien mussten, erleichterte ihnen ihre Aufgabe nicht unbedingt. Max holte unterdessen sein Handy aus dem Rucksack, das den Unfall Gott sei Dank überlebt hatte, und rief bei der Bergwacht an. Sie versprachen, so schnell wie möglich zu ihnen hinaufzukommen.
»Hierher, Max!«, rief Josef aufgeregt, als sie eine Weile gesucht hatten. »Ich hab einen!«
»Bin schon da!« Max beeilte sich, zu ihm hinüberzukommen. Blitzschnell packten sie ihre Schaufeln aus und begannen dort in dem festen Schneegeröll zu graben, wo Josef mit seiner Sonde in gut einem Meter Tiefe auf Widerstand gestoßen war.
»Hier, das ist er!« Josef zeigte auf das kindliche Gesicht, das fünf Minuten später unter ihnen auftauchte.
»Schneller. Wir müssen ihn ganz rausholen.« Natürlich wusste Max genauso gut wie sein Begleiter, dass bei einem Lawinenunglück nur wenige Sekunden über Leben und Tod entscheiden konnten.
Sie schaufelten unermüdlich weiter, bis sie, inzwischen beide trotz der Minusgrade durch und durch nassgeschwitzt, endlich den schmalen Körper des Jungendlichen vollständig aus den Schneemassen ziehen konnten.
»Mist, er atmet nicht.« Max kniete neben ihm nieder, entledigte sich flugs seiner Handschuhe und begann unverzüglich mit künstlicher Beatmung und Herzdruckmassage. So wie er das damals, als er noch bei der Kripo gewesen war, im Erste-Hilfe-Kurs gelernt und seitdem immer wieder aufgefrischt hatte. Dreißig Mal auf das Brustbein drücken, dann Luft zuführen. Dann dasselbe noch mal. Und noch mal. Und wieder. Doch das schmale Gesicht zu seinen Füßen zeigte nicht das geringste Lebenszeichen.
»Verdammt. Das sieht nicht gut aus.« Josef blickte geschockt und resigniert zugleich drein. »Sein Kopf ist auch so merkwürdig abgeknickt. Könnte sein, dass er sich das Genick gebrochen hat.«
»Ich mach trotzdem weiter.« Max schnaufte inzwischen, als würde er gerade die letzten Meter zum Gipfel des Mount Everest hinaufsteigen. Dennoch drückte er unermüdlich weiter in gleichmäßigem Rhythmus auf die schmale leblose Brust unter sich. »Verdammt, komm schon, Kleiner. Komm zurück zu uns! Es ist noch zu früh zum Sterben.«
»Vergiss es.« Nach weiteren zehn Minuten legte Josef seinem Freund die Hand auf die Schulter.
Max ließ völlig erschöpft von dem Jungen ab. »Du hast recht. Es ist zu spät. So eine Scheiße! Ruf du noch mal die Bergwacht an. Die sollen sich gefälligst beeilen. Ich suche solang nach dem anderen. Vielleicht hatte der mehr Glück.« Er schaute in das wachsbleiche Gesicht des toten Buben mit der Skiklubmütze auf dem Kopf. Wieso hat er die eigentlich immer noch auf?, fragte er sich verwundert. Die müsste die Lawine ihm normalerweise doch heruntergerissen haben. Komisch, meine hab ich auch noch auf. Was es nicht alles gibt. »Herrschaftszeiten, Kleiner. Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte.« Die Tränen traten ihm in die Augen, während er aufstand, hilflos die Arme hob und gleich darauf, so schnell er konnte, erneut den steilen Hang hinunterpflügte.
Josef zog derweil ebenfalls seine Handschuhe aus, fischte mit fliegenden Fingern sein Handy aus der Innentasche seines Skianzuges, ging ein paar Meter weit hin und her, bis er sich in keinem Funkloch mehr befand, und wählte den Notruf, wo man ihn sogleich zur Bergwacht weiterverband. »Sie sind spätestens in einer halben Stunde da!«, rief er Max zu, der ein paar Meter weiter unten bereits hektisch mit seiner Sonde im Schnee stocherte.
»Alles klar«, erwiderte der. »Komm her, ich glaub, ich hab den anderen gefunden.« Er winkte ihn herbei.
Während sich Josef, immer wieder in den Tiefschnee einbrechend und deshalb lauthals fluchend, von oben näherte, grub Max in Windeseile, bis er auf den Bauch des zweiten Verschütteten stieß. Schnell legten sie zu zweit den ganzen Körper frei, und Max versuchte, auch ihn wiederzubeleben. Doch wie schon beim ersten Opfer waren seine verzweifelten Bemühungen vergeblich. Der leblose Körper lag im Schnee wie ein vergessener Mantel.
»Verdammt, Josef. Die waren doch noch so jung, hatten ihr ganzes Leben vor sich. Und saugute Skifahrer waren sie auch.« Max setzte sich auf seinen Hosenboden und schüttelte immer wieder erschüttert den Kopf. Er wusste, dass er genauso gut wie die beiden daliegen könnte. Nur noch wenige Minuten länger unter dem Schnee, und es wäre um ihn geschehen gewesen. Was für ein unendliches Glück, dass ihn Josef gerettet hatte. Wieso hatten die jungen Einheimischen vom Skiklub nicht dasselbe Glück gehabt? Lieber Gott, ich nehme mein Angebot hiermit zurück, sprach er zu sich selbst. Das mit den beiden hier war einfach nicht fair. So wie es ausschaut, gibt es dich wohl wirklich nicht. Sonst hättest du das niemals zugelassen. Oder du bist ein ganz seltsamer, schräger Typ, der sich auf äußerst makabere Art und Weise über uns hier unten lustig macht.
»Ein echtes Unglück.« Josefs Stimme klang rau. »Wer bringt das bloß ihren Eltern bei? Ich möchte das nicht machen müssen.«
»Ich auch nicht. Bei der Kripo musste ich fremden Leuten oft genug die Nachricht vom Tod eines Angehörigen überbringen. Der reinste Horror, sag ich dir. Man hat total Mitleid, aber man kann nichts weiter machen.« Max starrte nachdenklich auf seine Skischuhe. »Ein bisschen trösten kann man sie. Aber letzten Endes sind es Fremde. Was willst du denen schon groß erzählen?«
»Hast du auch diesen lauten Knall gehört, bevor die Lawine runterging?«, wollte Josef nach ein paar Minuten gemeinsamen nachdenklichen Schweigens unvermittelt wissen.
Max blickte erstaunt zu ihm auf. »Doch. Ja. Jetzt wo du es sagst, fällt es mir auch wieder ein. Ein ohrenbetäubender Lärm. Wie ein Schuss oder eine …«
»Sprengung«, vervollständigte Josef. »Genauso hat es sich angehört. Als hätte jemand ein Schneebrett gesprengt. Aber die von der Karwendelbahn haben nichts von einer Sprengung gesagt. Da wäre die Abfahrt außerdem gesperrt gewesen.«
»Zumindest hätte man uns nicht hinunterfahren lassen. Also muss jemand inoffiziell gesprengt haben.«
»Meinst du? Wollte uns etwa jemand umbringen?«
»Kann sein. Keine Ahnung.« Max zuckte die Achseln.
»Aber du bist doch der Kriminaler von uns beiden.«
»Kriminaler schon, aber kein Hellseher. Auf jeden Fall hat es den Sprengmeister offensichtlich nicht gestört, dass wir unter dem Schnee begraben wurden.« Max blickte mit zusammengekniffenen Augen den steilen Hang hinauf. Dann hielt er auf einmal inne. »Verdammt, Josef. Schau mal genau hin. Da oben links gleich unter den Felsen ist doch eine Spur.«
»Seine?«
»Kann gut sein. Vielleicht hat er dort auf uns gewartet, gesprengt, und sobald wir alle verschüttet waren, ist er abgehauen.«
»Meinst du wirklich?«
»Schau doch, sie ist ganz frisch. Sie führt da oben entlang, direkt durch die Lawine und dann zum Bergwachthang runter.« Max zeichnete mit der ausgestreckten Hand eine Linie unterhalb der grauweißen zackigen Felswände in die Luft.
»Du hast recht. Jetzt sehe ich es auch.«
»Bei der Spur gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder es war ein Freerider, der, nachdem die Lawine abgegangen ist, vorbeikam und zu feige war, uns zu retten. Oder er holt Hilfe. Oder es war wirklich der Attentäter.« Max straffte ruckartig seinen Oberkörper. Der Instinkt des berufsmäßigen Schnüfflers in ihm war geweckt. Das hier roch verdächtig nach einer ganz miesen Geschichte.
»Aber wenn, dann ist er sicher längst über alle Berge«, winkte Josef ab und strich sich frustriert über seinen völlig vereisten Schnurrbart. »Den holen wir garantiert nicht mehr ein.«
»Logisch. Wie auch, ohne Skier. Ich leih mir nachher unten im Ort welche und fahr noch mal rauf. Dann schau ich mich da, wo er gestanden ist, genauer um«, meinte Max. »Wenn da wirklich einer gesprengt hat, müssen Hinweise darauf zu finden sein.« Und wenn ich welche finde, dann gnade ihm Gott, dachte er weiter. Dann hat er ab heute einen Verfolger an den Hacken, der nicht mehr aufgibt, bis er ihn erwischt hat. Einen Angriff auf mein Leben und das meiner Freunde nehme ich verdammt persönlich.
»Da schau her, die Kavallerie!« Er zeigte zu den vier Skifahrern in Bergwachtmontur hinauf, die sich ihnen näherten.
»Servus, Männer. Was ist geschehen? Sind die beiden tot?« Der ältere Mann mit dem kurzgeschnittenen dunklen Vollbart, der als Erster bei ihnen angekommen war, zeigte auf die leblosen Körper, die nicht weit voneinander entfernt im Hang lagen.
»Eine Lawine«, erwiderte Max mit finsterer Miene, während er langsam aufstand. »Mich hat sie auch erwischt. Aber mein Freund hier hat mich ausgegraben. Wir konnten leider nichts mehr für die Burschen tun.«
»Seid ihr verletzt?«
»Nein.«
»Wahnsinn.« Der Bärtige starrte auf die reglosen Leiber. »Ich schau trotzdem gleich noch mal selbst nach ihnen. Waren noch andere Skifahrer außer euch vieren unterwegs?«
»Nein. Nur wir vier waren hier unten im Hang. Höchstens an der Kante oben könnten welche gestanden haben, die nach uns gekommen sind. Aber die hätte es bestimmt nicht erwischt. Außerdem wären sie längst hier unten bei uns.« Max zeigte auf die sonnenbeleuchtete Einfahrt zu dem mächtigen, von grauen Felsgipfeln umrahmten schattigen Steilhang über ihnen.
»Wir rufen trotzdem Verstärkung und schauen sofort noch einmal gründlich nach, ob nicht irgendwo doch noch einer liegt«, meinte der Bärtige daraufhin, während er sich zu dem toten Körper, der ihnen am nächsten lag, hinunterbeugte. »Habt ihr versucht, sie wiederzubeleben?«, fragte er Max über seine linke Schulter hinweg.
»Natürlich.«
»Richtig?«
»Richtig und gut 20 Minuten pro Mann. Ich weiß, wie so was geht. Sie sind tot. Soviel ist sicher.« Max ließ resigniert die Arme hängen.
»Merkwürdig, dabei hatten wir heute gar keine Lawinenwarnung.« Der Bärtige schüttelte verwundert den Kopf und untersuchte den toten Jungen weiter. Hörte sein Herz ab, versuchte seinen Puls zu ertasten. Nichts.
»Ihr könntet auch bei der Bergstation anfragen, ob nach uns noch jemand durch den Tunnel gegangen ist«, mischte sich Josef ins Gespräch.
»Mach ich. Gute Idee.« Der Mann in der roten Bergwachtjacke ließ von dem jugendlichen Leichnam ab und erhob sich wieder. »Ich bin übrigens der Hias. Der Heini, der Lucky und der Peter kommen gleich auch noch. Wir kümmern uns um die beiden Toten. Ihr könnt derweil schon zur Dammkarhütte vorausgehen. Schafft ihr das?«
»Logisch, Hias. Ich bin der Max. Und das ist der Josef.« Max deutete auf seinen schnauzbärtigen Freund neben sich. »Wird hier zurzeit gesprengt? Wir haben vor dem Lawinenabgang beide einen lauten Knall gehört. Genau wie bei einer Sprengung.«
»Was? Wirklich? Die kann aber nicht offiziell gewesen sein. Sonst hätte man euch erst gar nicht hier hoch gelassen.« Hias blickte erstaunt drein. Offensichtlich war ihm so etwas noch nicht untergekommen. Er schlüpfte eilig aus seiner Bindung und rammte seine Skier senkrecht in den Schnee. Dann stapfte er unter Zuhilfenahme seiner Skistöcke so schnell er konnte die paar Meter zu dem Ersten der beiden Toten hinauf.
»Wir glauben, dass es eher so etwas wie ein Anschlag war«, rief ihm Max hinterher. »Nur warum wissen wir nicht. Und wer es war, natürlich auch nicht. Aber dass da oben jemand gewesen und weggefahren ist, nachdem die Lawine unten war, sieht man ganz deutlich.« Er zeigte auf die Skispuren unter dem Felsrand, auf die er zuvor bereits Josef aufmerksam gemacht hatte.
»Tatsächlich. Unglaublich.« Hias, der sich zu ihnen umgedreht hatte, sah hinauf und schüttelte langsam den Kopf. »Hier. Trinkt erst einmal einen Schluck. Ihr müsst doch total durchgefroren sein.« Er warf ihnen einen Flachmann zu.
»Mir ist kalt und heiß zugleich«, erwiderte Max. »Aber ein Schnaps kann so oder so nicht schaden.«
»Eben.«
Hias machte sich mit Heini, Lucky und Peter, die inzwischen auch angekommen waren, daran, auch die andere Leiche eingehend zu untersuchen und anschließend in einem der Akias, die sie mitgebracht hatten, zu verstauen.
Max und Josef stellten die kleine Schnapsflasche in den Schnee, nachdem sie davon getrunken hatten, und machten sich zur Dammkarhütte auf, die ein paar Hundert Meter weiter unten lag.
»Noch einen Jagertee, die Herren?« Die freundliche Wirtin der im Jahr 1950 aus festem grauen Gestein errichteten Dammkarhütte blickte fragend auf Max und Josef herab, die, in dicke Decken gehüllt, neben dem Kachelofen in der gut geheizten Stube saßen. Ihre vom Abstieg völlig durchnässten Hosen, Anoraks sowie Mützen und Handschuhe hatten sie gleich daneben auf einer kurzen Wäscheleine zum Trocknen aufgehängt.
»Bevor ich mich schlagen lasse, nehme ich gern noch einen«, erwiderte Josef, seine eiskalten Hände reibend.
»Für mich bitte auch«, schloss sich Max an. Er zitterte am ganzen Körper, ohne etwas dagegen tun zu können.
Erst seit sie sich hier drinnen in Sicherheit befanden, war ihm das ganze Ausmaß der Katastrophe, die sie gerade überlebt hatten, bewusst geworden. Verdammtes Glück gehabt, Raintaler, sagte er sich immer wieder. Jetzt galt es, so schnell wie möglich fit zu werden und wieder ins Tal zu gelangen, um erneut mit der Gondel zum Gipfel zu fahren. Dann würde er das Areal unterhalb des Felsrandes, das er vorhin ausgemacht hatte, gründlich nach Spuren eines eventuellen Attentäters absuchen.
Sie bekamen ihren heißen, nach Alkohol und Gewürzen riechenden Jagertee, wie schon den ersten, in zwei großen Kaffeehaferln serviert und tranken gierig.
Wenig später polterte Hias mit nassen Skistiefeln zur Tür herein. »Der Heli ist gleich wieder da und nimmt euch mit runter. Die beiden Opfer sind schon unten im Krankenhaus.«
»Das wird ihnen auch nichts mehr nützen. Wie alt waren die beiden eigentlich?«, erkundigte sich Max. »Weiß man das?«
»Hubert Hornsteiner, der Ältere, war gerade mal 18, und Rainer Staller 17«, antwortete Hias. »Sie waren beide für den DSV-Kader vorgesehen. Ein Wahnsinn. Sie waren noch Schüler. Die haben doch noch gar nicht richtig zu leben angefangen, da müssen sie schon wieder damit aufhören. Ich habe selbst zwei Buben. Ewig schade. Unglaublich.« Er zog Mütze und Handschuhe aus, setzte sich zu ihnen und bestellte ebenfalls einen Jagertee. Spezial, mit extra viel Rum. »Und ihr glaubt tatsächlich, dass es eine Sprengung war?«, fuhr er dann fort.
»Ja«, antwortete Max. »Aber glauben heißt halt nicht wissen.«
»Ihr seid euch also nicht sicher?« Hias schüttelte langsam seinen schmalen Kopf. Das Geschehen auf der Piste hatte ihn ebenfalls sauber mitgenommen.
Andererseits gab es, bei allem Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen, für ihn aber auch noch die zweite Seite der Medaille. Ein angeblicher Mordanschlag mitten im schönen Luftkurort Mittenwald! Als Hotelbesitzer wollte ihm das gar nicht gefallen. Man konnte nur hoffen, dass die beiden hier unrecht hatten, und dass die Presse keinen allzu großen Wirbel um die ganze Angelegenheit machte. Denn das wäre über Wochen hinaus schlecht fürs Geschäft, und der Hubert und der Rainer wurden davon auch nicht wieder lebendig. Wer weiß. Vielleicht hatten die beiden Fremden ja selbst die Lawine ausgelöst und wollten es bloß nicht zugeben, weil die Buben aus dem Ort dabei gestorben waren. Er trank einen Schluck von dem köstlichen heißen Gebräu, das die Wirtin gerade vor ihm auf dem Tisch abgestellt hatte.
»Doch. Eigentlich schon.« Max trank ebenfalls von seinem Jagertee. »Aber wenn wir Beweise dafür hätten, würde ich mich wohler fühlen.«
»Kann es nicht auch so gewesen sein, dass ihr die Lawine aus Versehen selbst ausgelöst habt?« Hias blickte forschend in Max’ und Josefs vor Schreck immer noch graue Gesichter.
»Absolut nicht.« Max schüttelte den Kopf. Spinnt der Kerl? Meint er vielleicht, wir lügen? Oder steckt er selbst in der Sache mit drinnen und will uns jetzt die Schuld in die Schuhe schieben? »Da hätten wir viel weiter oben sein müssen. Das könnt ihr ganz genau anhand unserer Spuren nachprüfen. Wir waren selbst verschüttet. Und zwar fast bei den Jungs unten.« Er war angesichts des ungeheuerlichen Verdachts auf der Stelle angefressen. »Außerdem hätten wir euch bestimmt nicht gerufen, wenn es so gewesen wäre, oder?«, blaffte er unfreundlich.
»Ich glaube euch ja. Aber wer sollte so etwas tun? Und wem hat der Anschlag gegolten? Euch etwa?« Hias zeigte auf Max und Josef. »Mag euch vielleicht irgendwer nicht?«
»Das gilt es herauszufinden«, brummte Max immer noch verärgert. »Und es wird herausgefunden. Das kann ich auf jeden Fall versprechen.«
»Wie das? Seid ihr etwa von der Polizei?« Hias machte große Augen.
»Ich war bei der Münchner Kripo«, erwiderte Max. »Heute bin ich Privatdetektiv. Habt ihr noch weitere Opfer gefunden?«
»Bis jetzt nicht. Die anderen suchen noch. Ich kann mir so etwas wie einen Mordanschlag auf mehrere Skifahrer, ehrlich gesagt, auch nicht vorstellen«, gab Hias zu bedenken.
Die Sache wurde ihm langsam immer unangenehmer. Hoffentlich machten die beiden hier nicht ein Riesenfass auf. Ein Ehemaliger von der Kripo wollte die Sache bestimmt unbedingt aufklären und würde dabei eventuell auch jede Menge anderen Staub aufwirbeln. Das konnte hier niemand gebrauchen. So viel war sicher. Da wäre es schon eindeutig besser, die Münchner würden nach München zurückfahren. »Wir leben hier in einem kleinen, gemütlichen Ort. Da wird schon mal bei Rot über die Ampel gegangen, aber ein regelrechter Mord? Ich weiß nicht.«
»Zwei«, bemerkte Josef, ernst dreinblickend.
»Was?«
»Zwei Morde.«
»Ach so. Logisch.«
»Habt ihr Steinadler? Vielleicht war es ein durchgeknallter Naturschützer.« Je länger er über alles nachdachte, umso mehr glaubte Max daran, dass hier jemand mit Absicht gehandelt hatte.
»Steinadler haben wir gerade keine. Vor drei Jahren gab es mal welche, aber die sind weg.«
»Ich fahre nachher auf jeden Fall gleich noch mal rauf und schaue mich nach Spuren um.«
»Das halte ich für keine gute Idee.« Hias setzte ein besorgtes Gesicht auf. »Viel zu gefährlich.«
»Es gibt aber Dinge, die getan werden müssen«, beharrte Max. »Am besten schickt ihr auch noch jemanden von der örtlichen Polizei hoch.«
»Wir rufen da sowieso an.« Hias merkte, dass ihm bald die Argumente ausgingen. »Aber was, wenn der Täter sich irgendwo im Fels versteckt hat und eine weitere Lawine abgehen lässt?«, legte er noch mal nach.
»Geh, der ist doch längst weg. Und jemand anderes wird da oben wohl nicht gleich noch mal sprengen. Wir sind ja nicht in Afghanistan, oder?« Max blickte entschlossen drein. Dieser dauerzweifelnde Bergwachtmensch hier würde ihm auf keinen Fall verbieten, zu tun, was zu tun war. Niemand würde das. Nicht, nachdem er und Josef beinahe Opfer eines gewissenlosen Mörders geworden wären. Soviel war sicher.
Der Heli näherte sich, und sie machten sich zum Aufbruch bereit. Als Max und Josef ihre Rechnung bezahlen wollten, meinte die Wirtin, dass der Jagertee aufs Haus gehe, und dass sie sich sehr freuen würde, wenn sie sie bald einmal wieder beehrten. Zwei tapfere Mannsbilder, die furchtlos Leute aus Lawinen gruben, wären hier oben immer gern gesehen. Sie bedankten sich, kleideten sich an, traten einer nach dem anderen in die Kälte hinaus, stapften durch den kniehohen Schnee zum Landeplatz hinüber und stiegen ein. Der Pilot setzte sie auf einer Wiese nicht weit von der Talstation der Karwendelbahn ab.
Max sprang als Erster hinaus und überlegte, wie schon die ganze Zeit über, wo er sich am besten ein paar Skier ausleihen könnte. Dann fiel es ihm ein. Richtig. Beim Bahnhof gab es doch die Skischule von diesem Exrennläufer Max Rieger. Die hatten garantiert die neuesten Modelle da, und seine eigenen würde er noch einmal gründlich suchen, sobald er wieder oben war.
»Pass auf, Josef. Ich hole mir am Bahnhof ein paar Skier und fahre noch mal hoch«, informierte er seinen Begleiter. »Mir lässt die Sache keine Ruhe. Ich muss unbedingt wissen, was da oben vorhin los war. Du kannst ja solang schon mal in unser Hotel gehen.«
»Du glaubst doch nicht, dass ich dich da allein rauflasse. Nix da. Mitgefangen, mitgehangen.« Josef schüttelte mit strenger Miene den Kopf.
»Willst du dir das wirklich antun?«
»Ja.«
»Na gut. Dann komm.«
Sie marschierten das kurze Stück und standen eine gute Stunde später mit neuen Brettern in den Händen an der Talstation der Karwendelbahn. Dort kauften sie sich jeder eine Wurstsemmel, setzten sich auf eine der Bänke vor der Tür und warteten kauend auf die nächste Gondel zum Gipfel.
»Schon verdammt hoch hier«, meinte Josef, als sie kurze Zeit später über Fels, Schnee und Eis zwischen der Mittelstation und der Bergstation empor schwebten. »Wenn wir jetzt runterfallen, sind wir unter Garantie Geschichte.«
»Wie die beiden Jungs vorhin.«
Max blickte nachdenklich über den kleinen Kurort, der sich in dem lang gezogenen Nord-Süd-Tal breitmachte. Das reinste Föhnloch. Oft hatte es dank des warmen Fallwindes aus dem Süden sogar im Dezember über zehn Grad plus. Sommer mitten im Winter. Doch jetzt war es Ende Februar, eiskalt und da waren diese beiden toten Jugendlichen. Für Max gab es nur noch einen Gedanken: Der Täter musste gefasst werden. Selbst wenn er dafür die ganze nächste Woche oder mehr hier verbringen musste. In München wartete momentan sowieso nichts Wichtiges auf ihn. Seinen Job bei der Kripo war er seit über drei Jahren los, und die neue Tätigkeit als Privatdetektiv nahm ihn nur sporadisch in Anspruch. Höchstens seine langjährige Freundin Monika könnte ihn vermissen. Aber die kam auch gut allein zurecht. Das hatte sie bereits oft genug bewiesen. Vielleicht war sie sogar froh darüber, ihn für ein paar Tage los zu sein. Wenn sie hörte, was hier passiert war, würde sie auf jeden Fall Verständnis dafür haben, dass er noch nicht heimkam. Vielleicht schaute sie am Montag, wenn ihre kleine Kneipe Ruhetag hatte, vorbei. Sie könnten zusammen am Kranzberg drüben Ski fahren. Dort war es nicht so gefährlich und steil wie im Dammkar. Oder in Leutasch zum Langlaufen gehen. Am Abend könnten sie dann gemeinsam nach Seefeld fahren. Der schicke Erholungs- und Olympiaort lag nur ein paar Kilometer entfernt hinter der Grenze in Österreich. Dort konnte man hervorragend essen und danach im Casino sein Glück versuchen. Monika war ihm bisher bei vielen seiner Fälle mit Rat und Tat zur Seite gestanden und würde ihm bestimmt auch bei der rätselhaften Sache hier nützlich sein. Ihr größtes Plus war schon immer gewesen, dass sie einfach die richtigen Fragen stellte.
Moni muss her, super Idee, bestätigte er sich noch einmal und kramte schnell sein Handy aus dem Anorak. »Hallo, Frau Schindler, Max hier. Was hältst du davon, am Montag mit Anneliese nach Mittenwald zu düsen? Bisserl Ski fahren oder langlaufen und am Abend gemütlich in Seefeld zum Essen gehen.«
Anneliese Rothmüller war ihre beste Freundin. Monika einen Skitag zusammen mit ihr in Aussicht zu stellen, würde die Wahrscheinlichkeit, dass sie herkam, um ein Vielfaches erhöhen, wusste er.
»Ich besorge uns auch ein schönes Quartier«, fuhr er fort.
»Montag passt«, kam die prompte Antwort. »Da habe ich eh noch nichts vor. Und Annie hat sowieso immer Zeit. Außerdem liebt sie doch das Langlaufen, obwohl sie es nicht kann. Die werde ich bestimmt nicht groß überreden müssen.«
»Perfekt!«
Na also, das haute ja hin wie das Breznbacken. Man musste seine Pappenheimer nur gut genug kennen, um sie zu allem Möglichen zu überreden. Moment mal, zu fast allem Möglichen wäre wohl die zutreffendere Formulierung. Alles Mögliche würde Monika garantiert nicht mitmachen. Dazu war sie zu kritisch und zu eigensinnig. Was er andererseits wiederum sehr an ihr schätzte, gingen doch damit ihre absolute Unbestechlichkeit und Verlässlichkeit einher.
»Aber wolltest du nicht morgen Abend zurück sein?« Sie klang leicht verwirrt.
»Schon. Aber hier ist etwas passiert.«
»Etwas Schlimmes?« Die Verwirrung in ihrer Stimme wich aufkeimender Besorgnis.
»Wie man’s nimmt. Wir sind in eine Lawine geraten.« Max bemühte sich, so beiläufig wie möglich zu klingen. Er wusste genau, dass sie sich sonst nur wieder fürchterlich aufregen würde.
»Was? Ja, um Himmels willen! Ist was mit Josef? Seid ihr verletzt?« Sie hörte sich panisch an. Ihre Stimme überschlug sich.
Verdammter Mist. Offensichtlich war sein Tonfall nicht beiläufig genug gewesen.
»Nein, alles okay. Josef hat mich ausgebuddelt.«
»Max, ihr kommt auf der Stelle heim!« Eine Lehrerin hätte sich nicht strenger anhören können.
»Vergiss es. Geht nicht.« Auch Max konnte streng klingen.
»Warum?«
»Weil zwei Jungs aus dem Ort hier die Lawine nicht überlebt haben.« Er drehte sich zum Fenster, sodass der uniformierte Bergbahnangestellte, der mit ihnen in der Gondel fuhr, so wenig wie möglich von seinem Gespräch mitbekam.
»Ja und? Was hat das mit euch zu tun?«
»Wir haben sie ausgegraben.«
»Oh Gott, das tut mir leid. Aber deswegen könnt ihr doch trotzdem heimkommen.«
»Nein.«
Ein klares Nein vom Raintaler setzte normalerweise den Schlusspunkt unter jedes Gespräch. Sowohl beruflich als auch privat. Monika wusste das natürlich. Dennoch fragte sie weiter.
»Und warum nicht, bitte?«
»Es sieht so aus, als hätte jemand die Lawine mit Absicht losgesprengt.« Max kratzte sich mit dem Handschuh durch die Mütze hindurch am Hinterkopf. Irgendetwas dort juckte ihn gewaltig. Herrschaftszeiten. Hoffentlich war es kein Ekzem oder, noch schlimmer, der Beginn einer Schuppenflechte. So etwas konnte lebensgefährlich werden.
»Du meinst, wie bei einem Attentat?« Sie hauchte die Frage ungläubig in den Hörer.
»Ja.«
»Und jetzt willst du die Sache natürlich aufklären. Logisch. Der Raintaler kann es wieder mal nicht lassen. Stimmt’s oder hab ich recht?« Einerseits klang sie vorwurfsvoll, andererseits aber nach wie vor sehr besorgt und ängstlich.
»Ja.« Max wusste natürlich, dass ihre Frage rein rhetorisch gemeint war, und reagierte deshalb gar nicht weiter darauf. Er nahm seine Mütze ab und sah nach, ob etwas darin war. Fehlanzeige. Beunruhigt entledigte er sich seines rechten Handschuhs und tastete seinen Kopf ab.
»Geh, Max. Wieso überlässt du das denn nicht der Polizei dort? Die sind doch bestimmt auch nicht blöd.«
Sie hörte sich sehr ungeduldig an, was ihn nicht weiter verwunderte. Oft genug hatte sie ihn bereits von allen möglichen riskanten Vorhaben abbringen wollen, immer nur zu seinem eigenen Besten natürlich, das wusste er auch. Trotzdem gab es Dinge, die ein Mann einfach tun musste, egal was man ihm riet und wie klug diese Ratschläge waren.
»Du bist gut. Ich wäre dabei fast draufgegangen. Das kann ich doch nicht auf mir sitzen lassen.« Aha, hab ich dich, dachte er und fischte ein kleines Steinchen aus seinen Haaren. Das musste da hineingeraten sein, während er unter der Lawine lag. Nichts Schlimmes, Gott sei Dank. Mit dem triumphierenden Lächeln des Überlebenden und Immer-noch-Gesunden schnippte er es auf den Kabinenboden.
»Das alte Fieber. Alles klar«, hauchte sie mit rauer Stimme, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte.
»Ja. Wenn du so willst.«
»Okay, Max.« Sie räusperte sich. »Dann komme ich übermorgen auf jeden Fall mit Anneliese zu euch runter. Vielleicht kann ich dir bei der Sache helfen. Brauchst du noch irgendwelche Klamotten?«
»Ein paar Unterhosen und ein paar T-Shirts wären nicht schlecht und Socken. Und eins von meinen warmen Sweatshirts. Und meine Blutdrucktabletten. Ich habe nicht genug dabei. Es müssten noch ein paar davon auf deinem Nachttischchen liegen. Und deine Hilfe kann ich natürlich immer gebrauchen.«
»Alles klar. Ich bringe alles mit. Was macht ihr jetzt?«
»Josef und ich fahren gerade noch mal ins Dammkar hoch, um Spuren zu suchen.« Er setzte seine Mütze wieder auf und blickte auf die eindrucksvollen vereisten Felsformationen, die unter ihnen vorbeizogen.
»Was? Noch mal? Dass euch die nächste Lawine überrollt? Seid ihr denn total verrückt?«
»Ja. Das weißt du doch, Moni.« Er grinste.
»Na gut. Pass aber auf. Wirklich. Servus, bis Montag.«
Er bildete sich ein, ihr ungläubiges Kopfschütteln aus dem kleinen Lautsprecher an seinem Ohr zu hören.
»Servus, Moni. Ich freu mich auf dich.«
Sie legten auf. Weiter grinsend verstaute er sein Handy wieder im Anorak. Es tat gut, geliebt zu werden.
»Ins Dammkar dürft ihr aber nicht hinter wegen der Lawine. Die suchen da noch nach Überlebenden«, meinte der vollbärtige Bergbahnangestellte mit der roten Zipfelmütze, während sie in die Gipfelstation einfuhren. »Ihr könnt höchstens in der Grube hier bei uns vorn ein bisserl fahren.«
»Wir waren heute Morgen um kurz vor neun doch die Ersten hier oben? Wir und die zwei Burschen vom Skiklub, stimmt’s?«, erwiderte Max, ohne auf ihn einzugehen. Du Kaschperlkopf glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass du mich davon abhalten kannst, meinen Mörder zu finden, dachte er.
»Ja, schon. Ihr zwei und der Hubert und der Rainer. Und ich natürlich.«
»War jemand im Restaurant?«
»Nein. Das hat vorhin noch zugehabt.«
»Hat ein Fremder hier übernachtet?«
»Nein. Hier darf niemand übernachten. Alle müssen mit der letzten Bahn ins Tal runterfahren.«
»Auch die Angestellten vom Restaurant?«
»Auch die. Jawohl.« Der Mann nickte bedächtig.
»Na, dann passt doch alles.« Max streifte seinen Handschuh wieder über, nahm seine Ski und die Stöcke an sich und stieg aus.
Natürlich passte nichts, denn zwei junge Menschen waren tot. Aber auf jeden Fall war es schon einmal gut zu wissen, dass es keine weiteren Opfer geben konnte. Außer sie wären zu Fuß durchs Kar aufgestiegen. Aber Tourengeher wären ihnen garantiert aufgefallen. Nein, nein. Es war schon so. Sie und die beiden Jungs aus dem Ort waren vorhin die einzigen Skifahrer hier heroben gewesen. Es sei denn, der Bergbahnangestellte wäre mit ihnen auf der Abfahrt gewesen. Blödsinn. Der war mit der nächsten Gondel ins Tal hinunter gefahren. Was sonst? Das war schließlich sein Job.
Max strebte dem Ausgang entgegen. Josef folgte ihm auf dem Fuße. Sie ließen den mit offenem Mund dastehenden Gondelbegleiter in Sekundenschnelle hinter sich und begaben sich in den langen, düsteren Tunnel, der zur Skiabfahrt auf der Rückseite der Karwendelspitze führte. Als sie am anderen Ende herauskamen, wurden sie von der Sonne, die nun schräg über ihnen stand, derart geblendet, dass sie erst einmal stehen blieben und für einen Moment ihre Augen schlossen. Eilig setzten sie danach ihre dunkelgetönten Skibrillen auf.
»Wenigstens ist es nicht mehr ganz so kalt wie heute früh«, stellte Josef erleichtert fest. »Der ideale Skitag, wenn nicht alles so traurig wäre.«
»Sehe ich auch so. Ich fahre vor, okay?« Max steckte entschlossen seine Hände durch die Schlaufen seiner Skistöcke und stieg in die Bindung.
»Logisch, Max. Du bist der Exrennfahrer.« Josef grinste und tat es ihm gleich. Obwohl er nie Skirennläufer wie Max gewesen war, fuhr er mindestens genauso so gut wie der. Er war bereits als Kind jeden Winter mit seinen Eltern in den Bergen gewesen und hatte damals in etlichen Skikursen gelernt, wie man mit den zwei Brettern unter den Füßen zurechtkam. Aber wenn der Herr Detektiv unbedingt meinte, durfte er natürlich gern den Chef spielen.
Nach knapp fünf Minuten halsbrecherischer Fahrt über den anfangs noch in der Sonne glitzernden Pulverschnee, kamen sie an der schattigen Stelle unterhalb der Felsen an, wo Max vorhin die Skispur entdeckt hatte. Sie setzten ihre Brillen wieder ab und blickten sich um. Ein Stück weiter unten war die Bergwacht immer noch mit Suchhunden dabei, den Lawinenkegel nach weiteren Opfern abzusuchen. Max, der sich 100prozentig sicher war, dass sie niemanden finden würden, beachtete sie nicht weiter.
»Da vorn!« Er zeigte auf ein halbkreisförmiges Loch im Schnee, das ungefähr 20 Meter vor ihnen lag. »Bleib hinter mir Josef. Nicht zuviel herumtrampeln, falls sich die örtliche Polizei noch hier oben umschauen will.«
Sie näherten sich vorsichtig dem vermeintlichen Tatort, schnallten ihre Skier ab, und Max begann zunächst allein damit, das Terrain zu sondieren. Dann stand er direkt vor dem Loch an der Abrisskante, von der aus sich die Lawine gelöst hatte. Es maß ungefähr zwei Meter in der Tiefe, die Ränder waren dunkel verfärbt, und einige Plastikfetzen lagen weiträumig darum herum verstreut. Max hob einen davon auf und roch daran.
»Gesprengt wurde auf jeden Fall«, rief er seinem Freund zu, der etwa drei Meter hinter ihm stand. »Hier liegen überall verkohlte Reste herum.«
»Also hattest du recht. Ein Mordanschlag«, erwiderte Josef.
»Sieht ganz so aus. Obwohl …, viel ist es nicht, das hier herumliegt. Ich weiß ja nicht, wie viel Kilogramm Sprengstoff man normalerweise verwendet, um so ein riesiges Schneebrett in Gang zu bringen. Andererseits, so wie es aussieht, hat es offenbar genügt.« Max schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Wie meinst du das?« Josef schaute ihn fragend an.
»Vielleicht wollte jemand nur Krach machen oder nur eine kleine Lawine auslösen. Eventuell um seine Zielperson bloß zu erschrecken.«
»Uns?«
»Oder die Jungs. Keine Ahnung.«
»Aber das macht doch keinen Sinn. Eine Lawine bringt dich um oder nicht.« Josef suchte die Felswände über ihnen mit Blicken nach Spuren ab.
»Stimmt auch wieder.« Max steckte ein paar von den Plastikfetzen, die um ihn herum lagen, in die Tasche seines Anoraks. Herrje, dieses Schwein hätte mich tatsächlich fast umgebracht. Hoffentlich habe ich nicht schon einen kleinen Hirnschaden wegen des Sauerstoffmangels vorhin. Mit so etwas ist nicht zu spaßen. Ach was, dummes Zeug, Raintaler. Du bist und bleibst ein alter Hypochonder. »Die Teile hier geben wir unten bei der Polizei ab«, fuhr er an Josef gewandt fort. »Die sollen sie ins Kriminallabor geben. Dann wissen wir wenigstens, was es für Sprengstoff war. Und vielleicht sogar, woher er kommt.«
Josef wollte seine Skier wiederhaben. Also untersuchten sie die Stelle, an der er sich vorhin selbst ausgegraben hatte.
»Vergiss das mit unseren Brettern, Max«, meinte er nach zehn Minuten erfolgloser Bemühungen. »Da können wir den ganzen Hang umgraben und finden nichts. Am besten kommen wir im Sommer wieder, wenn der Schnee getaut ist.«
»Hast recht. Scheiße, meine Skier waren gerade mal zwei Jahre alt.« Max schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Und meine waren nagelneu, wie du weißt.« Josef zuckte resigniert mit den Schultern.
»Elende Sauerei. Wenn ich den Dreckskerl erwische! Der darf sich auf was gefasst machen.«
»Noch mal: Sie wollen mir also im Ernst erzählen, dass jemand inoffiziell im Dammkar gesprengt hat?« Der kurgeschorene hellblonde Polizeiobermeister Lutz Becker mit den zahllosen Sommersprossen auf der Nase betrachtete die beiden Besucher aus der Stadt argwöhnisch aus seinen hellblauen Augen. Er schien gerade zu denken, dass da ja jeder kommen und irgendeinen Schmarrn behaupten konnte, und dann auch noch am Samstag, wo man per se keine Lust zum Arbeiten hatte.
»Es war genau so, wie wir es Ihnen gerade berichtet haben, bevor sie zum zweiten Mal an Ihr Telefon gegangen sind, Herr Becker«, erwiderte Max, den die behäbige Sturheit des großgewachsenen rundlichen Beamten auf der Mittenwalder Polizeiinspektion gerade zusehends nervte.
Sie waren um zwei Uhr zur Skischule am Bahnhof gefahren, um ihre Leihskier abzugeben und sich jeder ein Paar neue Bretter zu kaufen. Anschließend waren sie direkt von dort aus hergefahren, und seit einer guten halben Stunde versuchten sie nun schon dem begriffsstutzigen Polizisten mit dem teigigen Gesicht vor ihnen zu erklären, was passiert war.
»Aber inoffizielle Sprengungen sind verboten.«
»Ach, wirklich? Das beruhigt mich aber.«
Es reichte. Endgültig. Max bekam einen roten Kopf vor Ungeduld. Herrgott noch mal. So einen selten dämlichen Lahmarsch habe ich echt schon lang nicht mehr erlebt, fluchte er innerlich. Was ist denn bloß mit dem los? Die sind doch sonst immer voll auf Zack hier bei der Mittenwalder Polizei. »Ist der Herr Klotz da?«, fragte er, während er genervt von einem Fuß auf den anderen trat. Er kannte den 60jährigen Dienststellenleiter der Inspektion mit dem Nachnamen des berühmtesten Mittenwalder Geigenbauers seit etlichen Jahren vom Skifahren her. Einige sehr zünftige Hüttenabende hatten sie im Zuge dessen ebenfalls miteinander verbracht.
»Der Chef? Schon. Soll ich ihn holen?«
Herrschaftszeiten. Frag nicht lang und glotz nicht wie ein Auto, mach es einfach, du müde Trantüte. Das gibt es ja gar nicht. Haben sie dem etwa einen Liter Valium direkt in die Blutbahn gespritzt? »Das wäre sozusagen genial, Herr Becker.«
Max drehte sich kurz zu Josef um und verdrehte die Augen.
»Sagen Sie ihm, der Herr Raintaler aus München wäre da«, wandte er sich dann wieder an den Beamten hinter dem Empfangstresen. Seinen Tonfall dabei hätte man gut und gerne als von sehr weit oben herab bezeichnen können.
»Na gut.« Der Polizeiobermeister drehte sich gemächlich um und verschwand schlurfend durch die graue Tür im hinteren Bereich des Raumes.
»Hat der keine Lust oder ist er einfach nur zu blöd?«, raunte Josef Max zu.
»Wahrscheinlich beides«, zischte Max zurück und zuckte die Achseln. »Dem Dialekt nach kommt er auf jeden Fall nicht von hier, sondern aus Niederbayern.«
»Was soll das denn schon wieder heißen?«, entrüstete sich Josef auf der Stelle. »Da komm ich auch her. Also nicht ich, aber meine Eltern, das weißt du doch ganz genau. Bin ich etwa auch blöd?«
»Natürlich nicht, Josef. Ihr seid ein ganz anderer Schlag.«