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Freitag, 8. November, 1918. Kurt Eisner ruft den Freistaat Bayern aus. Nur wenig später nimmt eine grausame Mordserie ihren Lauf. Junge blonde Frauen fallen einem bestialischen Täter zum Opfer. Oberinspektor Weinberger und seine Kollegen von der Münchner Kriminalpolizei stehen vor einem Rätsel. Der Mörder ist ihnen immer einen Schritt voraus. 30 Jahre später beginnt das Morden erneut. Wird es der Polizei diesmal gelingen, den Täter zu fassen?
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Seitenzahl: 325
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Michael Gerwien
Gründerjahr
100 Jahre Freistaat Bayern
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Schattenrächer (2017), Schattenkiller (2016), Stückerlweis (2016),
Brummschädel (2015), Krautkiller (2015), Andechser Tod (2014),
Wer mordet schon am Chiemsee? (2014),
Jack Bänger (E-Book Only, 2014), Alpentod (2014),
Mordswiesn (2013), Raintaler ermittelt (2013), Isarhaie (2013),
Isarblues (2012), Isarbrodeln (2011), Alpengrollen (2011)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – A. & E. Frankl
ISBN 978-3-8392-5620-6
Vielen Dank an Patrick und Lilli. Großen Dank wie immer auch an meine Lektorin, Claudia Senghaas.
»Die Dynastie Wittelsbach ist abgesetzt! Bayern ist fortan ein Freistaat!« Freitag, 8. November 1918. Ausrufung Kurt Eisners in der ersten Sitzung der Arbeiter- und Soldatenräte im Mathäserbräu, München.
Freitag, 22. November 1918
Die junge Frau mit den blonden Haaren, die er sich vorhin am Eingang zu den südlichen Isarauen im Dunkeln über die Schultern gelegt hatte, stöhnte laut.
Aha, sie ist wieder wach.
Er warf sie zwischen zwei hohen Bäumen abseits des Weges auf den Boden. Da er ihr die Hände auf den Rücken gefesselt hatte, konnte sie sich nicht abfangen und schlug hart mit dem Kopf auf.
Nur der Mond schickte sein fahles Licht durch die kahlen Äste über ihnen. Das Gras glänzte feucht vom nächtlichen Tau.
Es war kalt. Vorgestern hatte es zum ersten Mal geschneit.
Sie riss mit schmerzverzerrter Miene die Augen auf, zappelte und schrie.
Er schlug ihr hart mit der Faust ins Gesicht.
»Schrei noch einmal und du kannst was erleben!«, zischte er. Holte dabei erneut aus. »Wenn du ruhig bleibst, passiert dir nichts.«
Sie nickte schnell. Atmete hektisch durch ihre blutende Nase. Starrte ihn panisch aus angsterfüllten Augen an.
Er hatte sie zunächst aus der Ferne beobachtet. Wie sie an der Haltestelle Humboldtstraße aus der Tram stieg.
Dann hatte er sich ihr unauffällig genähert. Sie gefragt, ob sie Feuer habe.
Sie hatte sich sogleich hilfsbereit und freundlich gezeigt. Schenkte ihm eine Schachtel Zündhölzer. Lachte ihn dabei offen an. Sie brauche sie sowieso nicht. Habe sie ebenfalls von jemandem geschenkt bekommen.
Großzügig, hatte er vermerkt. Obwohl ihr billiger Mantel und die abgewetzten Schuhe an ihren Füßen unschwer darauf schließen ließen, dass sie nicht zu den Bessergestellten gehörte.
Bestimmt arbeitete sie als Wäscherin, Zimmermädchen oder in einer Fabrik. Möglicherweise bei den Bayerischen Motorenwerken oder bei der Reinlicht Farben GmbH. Oder gleich drüberhalb der Isar beim Handschuh-Roeckl.
Viele Engel tarnten sich mit solch irdischen Tätigkeiten. Damit sie nicht erkannt wurden. Aber er war schlauer als sie. Er durchschaute sie sofort.
Sie war Mitte zwanzig, hatte blondes Haar, blaue Augen, wie er aus der Entfernung bereits innig gehofft hatte, und war von kleinem Wuchs.
Alles an ihr entsprach seinen Vorstellungen. Sie war perfekt.
Er hatte ihr höflich angeboten, sie nach Hause zu begleiten. Bei dem ganzen politischen Gschwerl, das sich zurzeit in den Untergiesinger Straßen herumtriebe, sollte eine junge Frau nicht alleine unterwegs sein. Noch dazu eine so ansehnliche. Viel zu gefährlich.
Sie hatte geschmeichelt eingewilligt. Sich ohne Arg bei ihm untergehakt. Ihm mitgeteilt, dass sie nicht weit entfernt im Kutscher- und Geflügelviertel wohne. Dann hatte sie eine Konversation über das zurzeit allgegenwärtige Thema begonnen. Den Niedergang der Monarchie und die kürzliche Ausrufung des Freistaates.
»Der Kurt Eisner ist ein großartiger, gerechter Mensch, meint mein älterer Bruder«, hatte sie gesagt. »Er verhilft uns kleinen Leuten zu einem anständigen Leben. Sogar uns Frauen will er erlauben, zur Wahl zu gehen. Der König hat nichts auf uns gegeben.«
»Mag sein«, hatte er erwidert und sogleich das Thema gewechselt. Politik war nicht gerade sein Steckenpferd. Er bewegte sich dabei auf unsicherem Terrain. »Wohnen Sie noch bei Ihrer Familie?«
»Wieso interessiert Sie das?« Eine Spur von Misstrauen war in ihren Augen aufgeblitzt.
»Nur so. Weil Sie von Ihrem Bruder erzählt haben.«
»Ach so.« Sie hatte genickt und verstehend gelächelt. »Nein. Der lebt in Dachau. Wir sehen uns kaum. Ich lebe allein. Mein Mann und unser Vater sind vor Lüttich gefallen. Unsere Mutter ist vor drei Jahren gestorben. Beidseitige Lungenentzündung. Nichts mehr zu machen.«
»Mein Beileid. Schwere Zeiten für uns alle.«
Lieber Herrgott im Himmel. Besser hätte es gar nicht kommen können. Niemand würde sie in den nächsten Stunden vermissen.
»Ja, es ist nicht leicht in dieser Zeit. Gerade für eine junge Frau. Das kann ich Ihnen sagen.«
Ihre Augen, ihr Mund, ihr Blick. Alles an ihr hatte ihn immer stärker dazu gedrängt, sein Werk endlich zu beginnen.
Sobald niemand mehr um sie herum zu sehen gewesen war, hatte er ihr den Mund zugehalten, sie fest von hinten gepackt, hinter ein Gebüsch geschleift, schnell mit Chloroform betäubt und hierher in die Nähe des Flussufers getragen, wo um diese Zeit keine Spaziergänger mehr unterwegs waren.
Ein heruntergekommener Kriegsheimkehrer hatte ihm das Betäubungsmittel in einem kleinen Lokal beim Hauptbahnhof verkauft. Er war Sanitäter gewesen, wie er sagte. Wollte weitertrinken, um die Gräuel der Schlacht zu vergessen, und hatte kein Bargeld mehr dafür.
Er hatte ihm beileibe nichts Falsches angedreht. Die Flüssigkeit in dem braunen Fläschchen wirkte enorm schnell, wie er zufrieden feststellen konnte.
Samstag, 23. November 1918
»Nicht zu fassen. Wer tut denn so was? Das ist doch fast noch ein Kind. Höchstens Mitte zwanzig.« Der 58jährige Kriminaloberinspektor Karl Weinberger blickte schockiert auf die blondhaarige Frauenleiche vor ihnen im Gras.
Musste er denn in seinem Alter wirklich noch solche grässlichen Dinge sehen? Er war ihrer längst überdrüssig bis zum St. Nimmerleinstag. Vor allem jetzt nach dem Krieg. Sehnte sich bereits seit Jahren immer mehr danach, die Welt nur noch in hellem Licht zu sehen. Sich ausschließlich um seine Lieben daheim zu kümmern.
Grantig war er obendrein.
Das hatte seine vornehmliche Ursache darin, dass er am Samstag in aller Früh zu Hause von seinem militärisch kurzgeschorenen Assistenten Hubert Ratgeber geweckt worden war, um zusammen mit ihm hierher in die südlichen Isarauen zu kommen.
Das Ganze auch noch zu Fuß und mit der Trambahn, da sein Dienstfahrrad seit gestern einen Plattfuß hatte.
Genau genommen war allein das bereits eine Zumutung für einen stattlichen Mann von Karls Gewichtsklasse, der das Sitzen hinter dem Schreibtisch jeglicher Bewegung vorzog. Nicht einmal für eine Tasse echten Bohnenkaffee, den seine Frau ihnen gelegentlich auf dem Schwarzmarkt organisierte, hatte die Zeit vor dem eiligen Abmarsch gereicht.
Die dicken, grauen Wolken am Himmel sahen nach Schneefall aus. Der Herbst würde bald in den Winter übergehen.
Er fröstelte in seinem dunklen Anzug und dem eher leichten Sommermantel, obwohl er immer noch vom beschwerlichen Herweg schwitzte. Vielleicht aber auch gerade deswegen. Die kalte, zugige Luft und der Schweiß ergaben ein unangenehmes Gefühl auf der Haut.
Zu dumm, dass er keinen Wintermantel und keine warme Unterwäsche angezogen hatte. Aber so war das nun einmal, wenn einer partout nicht auf sein wohlmeinendes Weib zu Hause hören wollte.
Er gelobte stillschweigend Besserung. Gott sei Dank hatte er wenigstens seinen dunkelgrünen Filzhut aufgesetzt, der ihm den Wind einigermaßen vom nur noch spärlich behaarten Kopf abhielt.
»Tja, wer tut so etwas wohl? Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit über«, erwiderte einer der beiden Wachtmeister im schwarzen Mantel der Schutzpolizei, die den Tatort bis jetzt abgesichert hatten. »Es ist irgendwie … absolut unfassbar.«
Er war ein kräftiger, rotgesichtiger Bursche, der Karl sofort angenehm auffiel. Mochte um die dreißig Jahre alt sein, genau wie Karls Kriminalassistent Hubert.
»Es muss eine regelrechte Bestie gewesen sein«, fuhr der Uniformierte fort. »Sieht so aus, als hätte er ihr zuerst die Wangen von den Mundwinkeln aus mit einem Messer aufgeschnitten, sie anschließend bei lebendigem Leib ausgeweidet und ihr dann den Schädel eingeschlagen. Oder umgekehrt. Auf jeden Fall hat sie sich gewehrt. Das sieht man an ihren abgebrochenen Fingernägeln und dem zerrissenen Mantel.«
»Habt ihr eine Tatwaffe gefunden?«, erkundigte sich Karl, der aufmerksam zugehört hatte. Er war erstaunt und zugleich erfreut über die überdurchschnittlich gute Beobachtungsgabe des Mannes.
»Da drüben liegt ein großer Stein. Er ist voller Blut. Könnte die Tatwaffe sein, die zum Tod geführt hat.«
»Ein Stein? Dann hat er die Tat also nicht geplant. Sieht demnach eher nach einem schnellen Entschluss aus«, sagte Karl. »Vielleicht ein Ehepaar. Sie hatten einen spontanen Streit. Die Sache eskalierte. Er nahm den Stein zur Hand und schlug zu.«
»Aber warum sollte er ihr dann die Wangen aufschneiden und sie ausweiden?«, gab der Uniformierte zu bedenken. »So was tut doch kein normaler Mensch. Außerdem war sie eine Kriegerwitwe, sagt die Frau, die sie gefunden hat.«
»Auch Kriegerwitwen haben ihre Gspusis«, entgegnete ihm Karl. »Gerade die jungen und hübschen. Und unsere Blonde hier war auf jeden Fall eine kleine Schönheit.« Seine klugen grauen Augen betrachteten sein Gegenüber neugierig. »Und was ist schon normal?«
»Ein Freund, meinen Sie? Kurz nachdem ihr Mann gefallen ist? Und so ein blinder Hass? Wohl eher ein Todfeind.«
Karl staunte erneut über die offenbar naturgegebenen kriminalistischen Fähigkeiten seines Gegenübers.
»Wie heißen Sie, junger Mann?«
»Martin Brandl.« Der Polizist salutierte stramm. Zog dabei gekonnt seinen Bauch ein.
»Guter Einwand, Brandl. Sie können übrigens wieder ausatmen. Keine Frauen in der Nähe. Was machen Sie bei der Hilfspolizei? Sie sollten besser für uns arbeiten. Ernsthaft. Unser Kriminalassistent, der Herr Ratgeber hier, hätte das gerade auch nicht besser sagen können. Stimmt’s, Hubsi?«
»Na ja.« Der schmale, knapp 30jährige Hubert nickte errötend. So ganz schien er nicht mit der Einschätzung seines Chefs übereinzustimmen.
»Keine finanziellen Mittel für die Ausbildung, Herr Kriminaloberinspektor.« Martin salutierte erneut. »Und dann der Krieg. Habe an der Front gedient, wie die meisten.«
»So,so.« Karl strich sich kurz über seinen imposanten grauen Schnauzbart. »Aber Ambitionen zu Höherem scheinen mir durchaus bei Ihnen vorhanden.«
»Jawohl, Herr Kriminaloberinspektor.«
»Sieht ganz so aus, als wollte der Täter ihr ein Grinsen ins Gesicht schneiden«, wechselte Karl unvermittelt das Thema. »Aber wozu die Entnahme der Eingeweide? Ich sehe sie übrigens gar nirgends. Hat er sie etwa mitgenommen?«
»Wahrscheinlich.« Martin zuckte die Achseln. »Oder streunende Hunde haben sich darüber hergemacht. Füchse haben wir auch hier in den Isarauen. Wir fanden jedenfalls nicht ein Stück davon.«
»Ein Schlachter oder Fischer? Oder ein geisteskranker Chirurg?« Karl bückte sich zu ihr hinunter. Rollte seinen rechten Ärmel hoch. Untersuchte sie eingehend. »Ich glaub es nicht!«, rief er überrascht. »Es sieht so aus, als hätte ihr jemand etwas in den Bauch gelegt.«
Mit geschlossenen Augen griff er noch ein bisschen tiefer in sie hinein und brachte eine kleine, blutverschmierte Holzfigur zum Vorschein. Sie sah aus wie ein Baby oder eine Putte. So ein kleiner nackter Engel, wie sie oft auf Heiligenbildern auftauchten. Handgeschnitzt, so wie es aussah.
»Aber … das … so etwas tut doch nun wirklich nur ein armer Irrer.« Hubert Ratgeber wurde noch ein gutes Stück blasser, als er es für gewöhnlich war. Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich glaub, mir wird schlecht.«
»Meinen Sie etwa, das war ein Frauenmörder wie dieser ›Jack The Ripper‹ dereinst in London, Herr Kriminalassistent?« Martin machte große Augen.
»Den kennen Sie also auch?«, stellte Karl in Richtung Martin fest, als er sich wieder erhoben hatte. »Ich sag’s ja, ambitioniert. Wenn auch etwas vorlaut.« Er drehte sich zu Hubert um. »Kotz mir bloß nicht auf die Schuhe, Hubsi.«
»Verzeihung. Kriminalfälle sind nun mal mein Steckenpferd, Herr Kriminaloberinspektor.« Martin salutierte zum wiederholten Male.
»Geh, hören Sie schon mit dem militärischen Herumgekaschperl auf. Der Krieg ist aus. Der König im Ausland. Und lassen Sie den Oberinspektor weg, Brandl. Ich bin der Herr Weinberger. Den blassbleichen Herrn Ratgeber hab ich Ihnen ja bereits vorgestellt.«
»Jawohl, Herr Weinberger.« Martins Hand bewegte sich erneut automatisch in Richtung Pickelhaube. Er besann sich aber sogleich eines Besseren.
»Ein Jammer. So eine hübsche junge Frau.«
Karl versuchte, sich wieder auf die vordringlichen Aufgaben zu konzentrieren. Über ihre Steckenpferde konnten sie auch später noch ratschen. Vielleicht bei einem kleinen Frühschoppen im Heumarkt in der Claude-Lorrain-Straße oder im Gasthaus zum Fiakerheim in der Birkenau. Oder in einer der anderen wunderbaren Wirtschaften in der Nähe. Es gab gerade genug davon hier unten.
Dieser Martin Brandl sah ganz so aus, als würde ihm das Bier genauso gut munden wie ihm selbst. Auch wenn es nur ein Dünnbier war.
Anders als der blutleere Hubsi Ratgeber mit seiner ewigen Limonade und seiner überkorrekten Art, die manchmal schon an Selbstgerechtigkeit grenzte.
»Der Leichenstarre nach ist sie wohl schon längere Zeit tot«, fuhr Karl fort. »Die Tat könnte gestern Abend begangen worden sein.«
»Würde ich auch meinen, Chef. Aber da kann uns der Arzt von der Gerichtsmedizin sicher noch Genaueres dazu sagen.« Hubert machte ein wichtiges Gesicht. »Auch darüber, ob sie vergewaltigt wurde.«
»Wo bleibt denn der Doktor Riesler eigentlich?«
»Er sollte längst hier sein. Aber bei den momentanen Verhältnissen auf den Straßen kann er sich auch durchaus noch weiter verspäten.«
»Welche Verhältnisse meinst du?« Karl sah seinen Assistenten neugierig an.
»Die kommunistischen Truppen, die kreuz und quer durch die Stadt laufen und Angst und Schrecken verbreiten.« Hubert zog konsterniert die Augenbrauen hoch.
»Blödsinn, Hubsi. Es gibt keine kommunistischen Truppen. Das ist reine Einbildung. Der Machtwechsel ist friedlich verlaufen und so wird’s auch bleiben. Oder hat uns auf dem Weg hierher etwa jemand angegriffen?«
Im Gegensatz zu seinem glattgeschniegelten Assistenten in den neumodischen Knickerbockern hatte es Karl nie großartig mit den Monarchisten oder den Nationalisten gehabt.
Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf. Von jeher waren bei ihm diese wahren Bedürfnisse des einfachen Volkes immer an erster Stelle gestanden. Sowie diejenigen, die auf politischer Seite dafür einstanden.
Es mochte zum einen daran liegen, dass er selbst sich als braver Bub vom Land aus einfachsten Verhältnissen bis in seine heutige Position hinaufgearbeitet hatte. Dabei aber nie vergessen hatte, wo er herkam.
Zum anderen war eine Politik, die die soziale Gerechtigkeit hintenanstellte, noch nie die seine gewesen. Schließlich war er selbst in erster Linie Polizist geworden, um für Gerechtigkeit jeglicher Couleur zu sorgen.
Wobei er im Laufe der Jahre festgestellt hatte, dass dieses edle Ansinnen leichter gesagt als getan war. Es gab am Ende zu wenige Möglichkeiten, die schlechten Dinge ins Positive zu verkehren.
»Na ja, nein.« Hubert sah zu Boden. »Angegriffen hat uns niemand. Aber es hätte durchaus sein können.«
»Mumpitz.« Damit war das Thema für Karl erledigt. »Du kümmerst dich wie immer mit dem Doktor um die Spurensicherung, Hubsi. Auch wenn dir dabei schlecht wird. Das Leben ist eben hart. Frag mal die Tote. Fußabdrücke, Fingerabdrücke, Fotografien. Aber das weißt du ja selbst am besten von der Polizeischule her. Kommt der Johann Fetzner vom polizeilichen Erkennungsdienst auch dazu?«
»Natürlich, Chef. Bei Morddelikten immer. Das wissen wir doch.«
»Wir vielleicht. Ich nicht. Hoffentlich bringt der ganze neumodische Kram etwas.« Karl schnaubte ärgerlich. »Ich weiß nur, dass wir früher auch ohne das ganze Zeug ausgekommen sind.«
»Es ist einfach unglaublich. Nicht nur dem Herrn Kriminalassistenten ist schlecht. Mir geht es genauso.« Martin kratzte sich umständlich am Hinterkopf.
»Hilft nichts. Da müssen wir durch als Polizisten. Auch wenn es schwerfällt.« Niemandem am Tatort konnte entgangen sein, dass auch Karls Gesicht blass war. Natürlich ließ ihn die Sache hier auf keinen Fall kalt. Ganz im Gegenteil. Jedoch verdrängte er seinen Schrecken, um den anderen beispielhaft voranzugehen.
Leicht fiel ihm das allerdings nicht.
»Vielleicht war es ja doch ihr Freund oder Geliebter«, meinte Martin. »Sie wurde von ihm schwanger, ließ es wegmachen und er rächte sich an ihr, indem er sie umbrachte. Deshalb auch der kleine Engel aus Holz. Ein Symbol für das nicht geborene Kind.«
»Also kein ›Jack The Ripper‹?« Karl knöpfte seinen Sommermantel bis ganz oben zu, damit der eisige Wind nicht länger hineinpfeifen konnte. »Aber was sollen dann die Schnitte in den Wangen und das mit den Eingeweiden, wie Sie vorhin so trefflich bemerkten, Brandl? Weiß man denn schon, wer sie war?«
»Sie hieß Anna Haberer. Kriegerwitwe, wie gesagt. Arbeitete als Tagelöhnerin bei den Bayerischen Motorenwerken. Die alte Frau Büchner, die sie vor zwei Stunden beim Spaziergang aufgefunden hat, kannte sie anscheinend recht gut. Sie wartet da hinten.« Martin zeigte auf das alte Mütterlein mit gebeugtem Rücken, das in zwanzig Metern Entfernung auf einem abgeschnittenen Baumstumpf saß.
Karl nickte Martin und Hubert kurz zu. Dann näherte er sich der Frau, um sie persönlich zu befragen.
»Haben Sie jemanden in der Nähe gesehen, als Sie die Tote fanden?«, wollte er wissen, nachdem er sich ihr vorgestellt hatte.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist so schrecklich. Die Anna war ein so freundlicher junger Mensch. Sie hat keiner Seele etwas zuleide getan. Niemals. Wer tut so etwas Furchtbares bloß?« Ihre Stimme brach. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Das werde ich herausfinden, Frau Büchner.« Karl schnaufte tief durch. Es war wirklich zum Aus-der-Haut-Fahren. Bisher hatte er versucht, sich seine Empörung und sein Entsetzen über den über alle Maßen grausamen Mord nicht anmerken zu lassen. Doch jetzt konnte er nicht mehr an sich halten. »Ich werde das miese Schwein erwischen, versprochen. Er wird seine gerechte Strafe bekommen.«
»Tun Sie das, Herr Oberinspektor.« Sie schnäuzte kräftig in das weiße Stofftaschentuch, das sie zuvor aus ihrem Jackenärmel gefummelt hatte.
»Hatte sie Feinde?«
»Nicht dass ich wüsste.« Frau Büchner zuckte die Achseln.
»Wer geht hier am Abend normalerweise entlang?«
»Um diese Jahreszeit eigentlich so gut wie niemand. Es ist zu kalt, und wenn es schneit, wird es rutschig. Ich hab mir selbst letztes Jahr bei einem Sturz sauber den Kopf angeschlagen.«
»Und trotzdem kommen Sie her?«
»Was soll ich machen? Der Herr Doktor hat mir Spaziergänge an der frischen Luft verordnet. Ich hab’s auf der Lunge, wissen’s, Herr Kriminaloberinspektor. Die schlechte Ernährung. Was will man machen.«
»Besser, Sie haben es auf der Lunge als ein Loch im Kopf beim nächsten Sturz. Gehen Sie auf alle Fälle vorerst nicht mehr hierher. Wer weiß. Vielleicht kommt der Täter noch mal zurück.«
Es war später Vormittag. Er wusch sich nun bestimmt schon zum zwanzigsten Mal ausgiebig die Hände.
Betrachtete erneut eingehend das Ergebnis.
War nicht zufrieden.
Grunzte kurz.
Schüttelte den Kopf.
Nahm die Seife. Begann von vorne.
Keine Spur von ihrem Blut sollte auf seiner Haut zurückbleiben. Jemand hätte sonst bemerken können, dass er nun ihr Herz und damit auch ihre Seele besaß.
Das durfte auf gar keinen Fall geschehen.
Niemand durfte sie ihm mehr wegnehmen. Sie gehörte nun ihm. Nur ihm ganz allein, während ihre Seele zu den Ihrigen ging.
So sollte es bleiben, bis er sie sich ganz und gar einverleibt hatte.
Letzte Nacht hatte er ihre Eingeweide in seinem Rucksack aus den südlichen Isarauen hierher in seine ärmliche und winzige Zweizimmerwohnung in Haidhausen mitgebracht. Allerdings immerhin mit Kellerabteil.
Gott sei Dank besaß er noch das alte Fahrrad, das ihm ein Bekannter einmal geschenkt hatte. Sonst wäre er ewig lange unterwegs gewesen.
Er hatte ihren Darm sorgfältig entleert, ausgekocht und in Zeitungspapier eingeschlagen. Würde ihn bestimmt irgendwann zum Wurstmachen brauchen.
Leber, Milz und Herz hatte er anschließend in Salzwasser pochiert, fein portioniert, sobald es gargezogen war, und zusammen mit dem Darm in der winzigen Speisekammer, die direkt an die Küchenzeile anschloss, verstaut.
Eine kleine Kostprobe von allem hatte er sich zuvor schon einmal gegönnt. Pfeffer, Salz und ein hartes Stück altes Brot dazu. Gar nicht mal so schlecht.
Fröstelnd vor Freude hatte er dabei bereits gespürt, wie er eins mit ihr wurde. Wie ihre Engelenergie tief in ihn eindrang. Ihm neue Lebenskraft verlieh.
»So etwas Grausiges hast du noch nicht gesehen, Marlene.« Karl hatte seiner Frau gerade von dem Leichenfund in den südlichen Isarauen heute Morgen erzählt. Er schüttelte langsam den Kopf. Wieder und wieder. »Un – vor – stell – bar! Und dann so ein junges Ding. Jünger als unser Bernhard, als er fiel.«
»Wer tut so etwas bloß?« Marlene setzte sich zu ihm an den aufgeräumten Esstisch. Jugendstil, wie nahezu die gesamte restliche Einrichtung. Sie wollte es unbedingt so, als sie damals einzogen, und sie hatte sich durchgesetzt. Nur wenige Stücke von Karl waren darunter. Er hatte sie von seinen Eltern zur Hochzeit bekommen. Zwei Bauernschränke, drei Truhen sowie der urbequeme Sessel, in dem er es sich nach Feierabend am liebsten gemütlich machte.
Den Hinweis auf ihren geliebten toten Sohn ignorierte Marlene. Es war nach wie vor zu schmerzhaft für sie, an ihn zu denken. Geschweige denn, über ihn zu reden.
Stattdessen richtete sie geistesabwesend ihr brünettes Haar, das sie, wie meistens, bereits in der Früh zu einem Dutt hochgesteckt hatte.
Sie hatten ihr spätes Mittagessen vor einer halben Stunde um kurz vor zwei beendet. Bauchspeck mit Steckrüben oder Dodschen, wie man hier in München sagte. Wie immer ein wahres Luxusmenü, verglichen mit der allgemeinen Versorgungslage. Zu verdanken hatten sie das jedes Mal Marlenes außerordentlichem Talent, wie keine Zweite auf dem Schwarzmarkt die besten Preise auszuhandeln.
Am Tisch saßen Karl, sie selbst und Bernhards junge Witwe Eva mit ihrem Sohn, dem fünfjährigen Hans, Marlenes und Karls heißgeliebtem Enkelkind. Ihr kleiner Sonnenschein, der die Welt um sie herum mit seinem unwiderstehlichen Lächeln auch an trüben Tagen im schönsten Licht erstrahlen ließ.
Die fast schon als mager zu bezeichnende blonde Eva wohnte, seit Bernhard gefallen war, mit Hans bei ihnen in ihrer Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss hier im Lehel.
Sie war nach dem Essen mit ihrem Filius nach draußen gegangen. Frische Luft schnappen.
Marlene schenkte sich selbst und Karl noch einen Schluck von dem Rotwein ein, den sie heute Morgen zusammen mit dem Bauchspeck auf dem Schwarzmarkt ergattert hatte.
Der Preis dafür war sogar einigermaßen erschwinglich gewesen, wie sie berichtete. Was Karl nicht weiter überraschte.
Allerdings hatte sie ihr alter Bekannter, Hans Becker, bei dem sie normalerweise kaufte, auch gewarnt. Die Soldaten würden immer schärfere Kontrollen abhalten. Es wäre wohl bald nicht mehr so einfach, gute Ware vom Land in die Stadt hineinzubringen.
Gestern hätten ihn die roten Truppen bereits am Stadtrand nach Fleisch durchsucht. Gott sei Dank wäre er gewarnt worden und hätte vorsorglich nichts dabeigehabt. Sie hätten ihm garantiert alles abgenommen und ihn auch noch eingekerkert oder erschossen.
Karl hatte sie nichts davon erzählt. Sie wusste, dass er nur ärgerlich abwinken würde. Für ihn gab es keine roten oder sonstigen Truppen in der Stadt. Diesbezüglich war nicht mit ihm zu reden.
Hans Beckers Neuigkeit hatte Marlene nicht weiter beunruhigt. Sie würde einfach wieder vermehrt für Lebensmittelmarken anstehen, wenn auf dem Schwarzmarkt nichts mehr zu tauschen oder zu kaufen war. Und wenn gar nichts mehr ginge, gäbe es auch noch die Suppenküchen, von denen zurzeit immer mehr eingerichtet wurden.
»Es kann sich nur um einen total Verrückten handeln«, sagte Karl, nachdem sie jeder einen Schluck getrunken hatten. »Wer sonst schneidet eine Frau auf und legt ihr einen kleinen geschnitzten Holzengel in den Bauchraum. Bestimmt war es ein Ausbrecher aus der Kreisirrenanstalt in Haar.«
»Was hat er getan? Sag das noch mal.« Ihre Stimme zitterte.
»Du hast mich schon richtig verstanden. Ein wahres Monster.«
»Gott steh uns allen bei.« Marlen wurde leichenblass. »Habt ihr das genau überprüft?«
»Was?«
»Na, ob in letzter Zeit jemand in Haar draußen ausgebrochen ist.«
»Sicher. Denen geht aber keiner ihrer Irren ab.« Karl nickte mit nachdenklicher Miene. Er fuhr sich dabei mit der Hand über die kurzen grauen Stoppeln auf seinem breiten Haupt.
Mein geliebter Schwollschädel. Seine niederbayerische Herkunft sei eben nicht zu verleugnen, sagte Marlene gerne.
»Also kommt er von weiter weg«, meinte sie jetzt.
»Gut möglich. Oder er ist bisher noch nicht aufgefallen. Der Arzt meinte, dass es gestern Abend gegen acht Uhr geschah. Da war es längst dunkel. Fußspuren und Fingerabdrücke hat der Hubsi auch sichergestellt. Aber wir können sie nicht zuordnen. Sie befinden sich nicht in unserer Kartei.«
»Man ist sich seines Lebens nicht mehr sicher in diesen Tagen. Erst der schreckliche, sinnlose Krieg. Jetzt die Aufstände. Und dann auch noch so etwas Grauenhaftes.« Marlene sah ihn aus traurigen Augen an.
»Die arme Frau.« Karl nickte. »Ich muss diese Bestie unbedingt erwischen. Und wie oft muss ich es dir eigentlich noch sagen. Es gibt keine Aufstände. Nur einen friedlichen Machtwechsel und einen Haufen sonstiges lichtscheues Gesindel. Ach, ihr Weibsbilder!« Er winkte ärgerlich ab.
»Da seid ihr ja wieder.« Marlene lächelte erfreut, als sie ihren kleinen Enkel zur Tür hereinstürmen sah.
Die Situation war gerettet. Sonst hätte es nur wieder eine von Karls berühmten Endlosdiskussionen gegeben, aus denen er dank seiner Sturheit und Eloquenz immer als Sieger hervorging.
»Na, wie war es draußen, Hansi?«, fragte sie.
»Wir haben Soldaten gesehen.« Hans riss seine Mütze vom Kopf. Er warf sie achtlos auf den Tisch.
Marlene nahm sie wortlos an sich, um sie später aufzuräumen.
»Ja, da schau her. Hatten sie Gewehre?«, erkundigte sich Karl mit einem gutmütigen Lächeln im Gesicht.
»Ja.« Hans nickte begeistert. »Ganz große sogar. Was ist eine Bestie, Großvater?« Er sah Karl neugierig an.
»Hast du etwa gelauscht?« Karl hob mahnend den Zeigefinger. »Wie lange steht ihr denn schon vor der Tür?«
»Nicht lange.«
»Na gut. Eine Bestie ist ein böses Tier«, erklärte er ihm. »Ein wilder Tiger zum Beispiel, der ohne Grund auf alles und jeden losgeht. Manchmal nennt man aber auch böse Menschen so.«
»Und du musst so ein böses Tier erwischen?«
»Nein.« Karl schüttelte langsam den Kopf.
»Dann einen bösen Menschen?«
»So ist es, Hansi.«
»Aber Karl, nicht doch«, protestierte Marlene empört. »Das ist nichts für den Jungen.«
»Er darf ruhig wissen, dass es böse Menschen gibt. Darum soll man auch nie mit Fremden mitgehen. Stimmt’s, Bub?«
Hans nickte erneut, während er mit seinen großen braunen Augen von einem zum anderen sah.
»Ich muss los.« Die gestern 24 Jahre alt gewordene Sarah Hartmann schlüpfte hastig in ihre Schnürstiefel.
Sie war wie immer spät dran zu ihrer Verabredung mit ihrer besten Freundin Lissi Angerer.
Die beiden wollten um halb neun mit Freunden im Café Größenwahn in der Amalienstraße sein. Bekannte und unbekannte Künstler gaben sich dort die Klinke in die Hand.
Ein höchst aufregendes Ambiente, wie Sarah fand.
Ihre Mutter durfte allerdings nichts davon spitzkriegen. Sie hätte sofort wieder geschimpft, dass das kein Umgang wäre dort. Schon gar nicht für eine junge Dame der gehobenen Kreise aus Bogenhausen.
Was auch immer das heißen sollte.
Sarah selbst hielt nichts davon, die Menschen in Kategorien wie reich und arm, gut und böse oder hübsch und hässlich einzuteilen. Bogenhausen war ihrer Meinung nach genauso gut oder schlecht wie jedes andere Viertel von München.
Zum Beispiel das benachbarte Haidhausen. Oft wohnten dort die Arbeiter zu mehreren in einer kleinen Wohnung. Das war sicher unterhaltsam. Wiewohl auch etwas beengt. Trotzdem erschienen ihr diese Menschen meist freundlich.
Ihre Mutter dachte da ganz anders. Für sie waren die Leute in ihren heruntergekommenen Mietshäusern nichts als arme Schlucker, mit denen man sich am besten nicht einließ.
»Mach’s gut, Kind!«, rief sie jetzt aus dem Wohnzimmer herüber. »Und bleib immer da, wo die Leute sind. Es ist dunkel und gefährlich draußen.«
»Schon gut, Mama. Mir wird schon nichts passieren. Lissi und ein paar unserer besten Freunde sind dabei. Die sind alle kräftig und beschützen uns.«
»Komm nicht zu spät heim, und geh bloß nicht in die Amalienstraße. Da sind nur die ganzen Verrückten. Hörst du?«
»Ja, Mama. Mach dir keine Sorgen. Mir wird schon nichts geschehen.« Sarah schüttelte entnervt ihren hübschen blondgelockten Kopf. »Servus!«
Sie öffnete die Tür. Trat fröhlich vor sich hin summend in den Garten hinaus.
Endlich. Der Abend konnte beginnen. Ohne Gezeter und Angstmacherei.
Auf der Straße angelangt, schlug sie den Weg zur Tramhaltestelle der Linie 4 am Max-Weber-Platz ein. Die fuhr vom Ostbahnhof nach Neuhausen.
Am Promenadeplatz würden Lissi und sie aussteigen und den Rest zu Fuß gehen. Wenn es hochkam, brauchten sie von dort eine halbe Stunde bis ins Café Größenwahn.
Sie entschied sich wie immer für den karg beleuchteten Fußweg am Hochufer entlang. Dort war es um diese Zeit besonders romantisch. Allerdings auch reichlich dunkel.
Egal. Wovor sollte sie schon groß Angst haben. Der liebe Gott würde sie auf jeden Fall beschützen, so wie er das immer tat. Außerdem kannte sie die Strecke seit Jahren in- und auswendig.
Eine wunderschöne Geburtstagsfeier hatte sie gestern zu Hause gehabt. Mit all ihren alten Freundinnen. Ihre Mutter hatte einen feinen Blechkuchen mit Äpfeln darauf gebacken. Sogar echten Bohnenkaffee hatte sie ihnen gemacht.
Er musste ein halbes Vermögen auf dem Schwarzmarkt gekostet haben. Und sie hatte ihr ein Kleid genäht, so wie sie zurzeit modern waren.
Sarah hatte es heute natürlich gleich angezogen.
Die Leute im Café würden sicher große Augen machen, wenn sie sie darin sahen.
Sie seufzte. Ihre Mutter war wirklich herzensgut, aber eben auch viel zu ängstlich und ganz gewiss zu streng.
Es war nicht mehr weit.
Mit flotten Schritten betrat sie den kleinen Park am Hochufer. Nur wenige Laternen und der Mond beleuchteten ab hier den Kiesweg zu ihren Füßen.
Ihm war unerträglich heiß. Außerdem hielt er es nicht mehr in der bedrückenden Enge seiner winzigen Wohnung aus.
Gott sei Dank war der Mietzins so niedrig, dass er sie nicht auch noch mit jemandem teilen musste, wie es zurzeit wegen der Arbeitslosigkeit und der großen Wohnungsnot überall in der Stadt üblich war.
Das hätte er ganz sicher keine zwei Stunden lang ausgehalten.
Er lief hektisch hin und her. Vom Eingang zum Fenster und zurück. Fand und fand keine Ruhe.
Das musste sich sofort ändern. Bevor er platzte.
Da es draußen zurzeit immer kälter wurde, zog er sich warm an. Schal und Hut dazu.
Dann begab er sich vor die Tür, um sich bei einem ausgiebigen Spaziergang Entspannung zu verschaffen. Zunächst würde er Richtung Prinzregentenstraße marschieren. Dann über das Isarhochufer und den Max-Weber-Platz zurück nach Haidhausen hierher in die Weißenburger Straße.
Eine schöne Runde.
Das Herz des blonden Engels von gestern hatte er vorhin vollständig zum Abendbrot verzehrt.
Doch anstatt ihn nachhaltig zu sättigen und zu beglücken, hatte es ihn noch hungriger gemacht. Als gäbe es ein riesiges Loch in seinem Magen, das umso größer wurde, je mehr er davon aß.
Es mochte an dem intensiv blutigen Geschmack gelegen haben.
Ihre Leber und die Milz hatte er bereits zum Frühstück und als Mittagstisch gehabt. Beides mit dem gleichen anfänglichen unbeschreiblichen Glücksgefühl und der anschließenden brennenden Leere in seinem Inneren, die ihn auch jetzt noch nicht wieder verlassen wollte.
So wurde das nichts. Er würde keine anhaltende Freude empfinden.
Nur ein weiteres Herz konnte ihn zufriedenstellen, ahnte er. Ein Engel- und Seelensammler wie er sollte so viele wie möglich von ihnen einfangen, um satt zu werden, und dabei so wenig Zeit wie möglich verlieren.
Bald schon würde er sich wieder auf die Suche machen. Vielleicht war er bereits morgen oder an einem der nächsten Tage erfolgreich.
So dachte er.
Doch das Schicksal plante offenbar anders für ihn.
Kaum hatte er während seines Rückweges einige Schritte auf dem Bogenhausener Isarhochufer hinter sich gebracht, blieb er mit vor Staunen offenem Mund stehen.
Sie kam direkt vor ihm aus einer schmalen Gasse. Blond und von zierlichem, kleinem Wuchs.
Er wusste sofort, dass sie die Richtige war.
Unfassbar, welch ausgesuchtes Glück ihm zurzeit beschieden war. Zwei wunderschöne Engel innerhalb von zwei Tagen. Beide waren ihm geradezu rein zufällig vor die Füße gestolpert.
Eins stand fest. Der Herrgott meinte es gut mit ihm. Er hatte ihn zu seinem Auserwählten gemacht und räumte ihm den Weg frei.
Als er sie überholte, um unauffällig einen Blick auf ihre Augen zu erhaschen, stöhnte er leise wohlig auf.
Sie waren blau, und dem jungen straffen Gesicht nach sollte sie keinesfalls älter als 26 Jahre sein.
Perfekt.
Er sprach sie nicht an. Das hätte sie möglicherweise frühzeitig verschreckt, da außer ihnen niemand auf der Straße unterwegs war.
Flugs bog er in die nächste Gasse links ein, versteckte sich in einem Hauseingang und wartete geduldig, bis sie an ihm vorbei war.
Eine halbe Minute später folgte er ihr.
Gut 500 Meter, bevor sie die Tramhaltestelle am Max-Weber-Platz erreicht hätten, beschleunigte er seinen Schritt.
»Großvater, wollen wir Karten spielen?« Hans sprang auf Karls Schoß, der, wie immer nach dem Abendbrot, in seinem Lieblingssessel beim Fenster saß, und zog an seinem Hemdkragen.
»Gerne.« Karl grinste stolz. Er hatte seinem Enkel bereits vor Monaten den aufgedeckten Schafkopf beigebracht, den man auch zu zweit spielen konnte. Seitdem war Hans kaum noch ohne mindestens eine Partie ins Bett zu bekommen. »Aber erst in einer Stunde vor dem Schlafengehen. Bis dahin muss der Großvater noch nachdenken.«
»Über die Bestie?« Hans sah ihn neugierig an.
»Genau, mein Kleiner. Frag solange die Mama oder die Oma, ob sie etwas mit dir malen.«
»Au ja. Ich male eine Bestie.« Hans sprang mit einem Satz auf den Fußboden.
Er sauste wie ein Wirbelwind zu Marlene und seiner Mutter hinüber, die es sich ohne ihre obligatorischen Haushaltsschürzen um die Körper am Esstisch gemütlich gemacht hatten. Eva nähte eine Hose für Hans. Marlene schmökerte in einem Kochbuch, um sich Inspirationen für den morgigen Mittagstisch zu holen.
Aus wenig viel zu machen, hieß dabei, wie bereits in den Jahren zuvor, die Devise. Schmalhans war zurzeit in allen Münchner Haushalten Küchenmeister. Da biss die Maus keinen Faden ab.
»Oder mal ein schönes Haus«, rief Karl Hans noch nach.
Da hab ich ja was Schönes angerichtet. Hoffentlich bekommt er keine Alpträume, schoss es ihm kurz durch den Kopf.
In der Inspektion hatten sie heute Nachmittag gemeinsam mit allen beteiligten Abteilungen etliche Fälle durchgesprochen, die in eine ähnliche Richtung gingen wie der Mord an der jungen Anna Haberer in den Isarauen.
Recht viel weitergekommen waren sie dabei jedoch nicht.
Brutale Mörder gab es zwar immer wieder. Aber das mit dem geschnitzten Engel im Bauchraum der Toten war ihnen allen ein Rätsel geblieben.
Der Amtsarzt hatte ihnen nach seiner eingehenderen Untersuchung in der Gerichtsmedizin noch mitgeteilt, dass die junge Frau nicht vergewaltigt wurde. Also war das Motiv nicht unbedingt im Bereich etwaiger verrückt gewordener Sittentäter zu suchen, sondern möglicherweise woanders. Fragte sich nur, wo.
Wer tat so etwas Schreckliches?
Und warum?
Eine feste Beziehung schien Anna Haberer nach den Aussagen ihres näheren Umfeldes – Arbeitskolleginnen, Nachbarn, Bekannte – aktuell nicht gehabt zu haben.
In ihrer näheren Verwandtschaft ließ sich kein Motiv finden. Sie hatte nur noch einen Bruder, der sie offensichtlich sehr geliebt hatte und ein hieb- und stichfestes Alibi besaß. Er hatte zum Tatzeitpunkt Überstunden gemacht, was etliche Arbeitskollegen von ihm bestätigten.
Ihre Eltern und Annas Mann lebten nicht mehr.
Martin Brandls Theorie mit der Abtreibung und dem sich am Opfer rächenden Freund lag einerseits durchaus im Bereich des Möglichen. Aber welcher einigermaßen normale Mensch schlitzte andererseits eine Frau deswegen gleich von unten bis oben auf und entstellte überdies auch noch ihr Gesicht auf solch brutale Weise, wie es der Täter getan hatte?
Das wäre Karl lediglich dann als einigermaßen logisch erschienen, wenn der Täter bereits, als er sie kennengelernt hatte, verrückt gewesen wäre. So einen ausgeprägten Wahn, wie er ihn offensichtlich mit sich trug, holte man sich nicht von einem Tag auf den anderen.
Außerdem, welcher Freund sollte das sein, wenn ihn niemand jemals gesehen hatte?
Nein, der Mörder musste von außerhalb kommen. Jemand, der einer krankhaften Obsession folgte. Eindeutig irgendein zwanghafter Irrer.
Auch aus den Irrenhäusern bis nach Stuttgart hinüber und nach Würzburg hinauf war jedoch aktuell und in den letzten Monaten niemand geflohen. So viel wussten sie seit heute Nachmittag bereits.
Die Antwort der norddeutschen Kollegen würde erst morgen erfolgen.
Was könnte den Täter angetrieben haben?
Eine schwere Kindheit?
Wurde er gar von seiner Mutter abgelehnt?
Kam er aus dem Waisenhaus?
Hatte seine Frau ihr gemeinsames Kind durch Krankheit verloren und er verarbeitete seinen Schmerz auf die grausame Weise, wie dieser Martin Brandl das am Tatort vermutet hatte?
Stammte daher tatsächlich auch die abartige Idee mit dem kleinen hölzernen Engel in der Bauchhöhle?
Wenn es also wirklich so war, dass er in seinen eigenen Augen einen triftigen Grund für seine Tat gehabt hatte, musste man befürchten, dass bald weitere Morde an jungen Frauen folgen würden.
Karl sagte sich, dass er auf jeden Fall versuchen musste, Martin Brandl zur Verstärkung seiner Truppe in den Kriminaldienst überstellt zu bekommen.
Ein wahrer Jammer, dass ein solch ausgemachtes Naturtalent bei den Uniformierten verkümmerte.
Das durfte einfach nicht sein.
Der Mann war jung, voller Feuereifer und gar nicht dumm. Einen wie ihn konnte er gerade für diesen besonders undurchsichtigen Fall gut gebrauchen.
Karl würde sich höchstpersönlich für seine Ausbildung und seine spätere offizielle Aufnahme bei der Kriminalpolizei bemühen.
Sarah erblickte bereits die Lichter vom Max-Weber-Platz.
Gott sei Dank. Gleich hatte sie es geschafft. Lissi war bestimmt verärgert, dass sie schon wieder zu spät zu ihrer Verabredung kam.
Sie ging schneller.
Wenig später beschlich sie das unbestimmte Gefühl, dass sie von jemandem verfolgt wurde. Möglicherweise der schlanke Mann mit der russischen Pelzmütze, der sie vorhin überholt hatte, bevor er links abgebogen war.
Er hatte lange zu ihr herübergeschaut. Das hatte sie eindeutig aus den Augenwinkeln heraus bemerkt. Sein Gesicht konnte sie dabei allerdings nicht erkennen. Sein Schal war bis über die Nasenspitze hochgezogen gewesen.
Als sie sich jetzt möglichst unauffällig umdrehte, war jedoch niemand zu sehen.
Falscher Alarm.
»Nichts als Einbildung. Du bist schon wie deine Mutter, Sarah!«, schimpfte sie laut mit sich selbst und stapfte entschlossen weiter.
Keine Minute später hörte sie ein knackendes Geräusch direkt hinter sich. Als wäre jemand auf einen herumliegenden Ast getreten.
Die Sache wurde ihr nun doch unheimlich.
Sie legte noch einmal an Tempo zu, sah sich mehrmals um, entdeckte zuletzt vage die Umrisse eines Menschen nicht weit hinter ihr.
Er holte schnell auf.
Bald wäre er bei ihr.
Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Nackte Angst ergriff Besitz von ihr. Einfach so, aus dem Nichts heraus.
Sie hastete weiter.
Stolperte über irgendetwas – eine aus dem Boden gewachsene Wurzel oder einen großen Stein.
Fiel hin, schlug sich das Knie auf. Schrie schmerzgeplagt und erschrocken auf.
Rappelte sich schwer atmend wieder hoch.
Begann zu rennen, so schnell sie konnte.
Sie blickte jetzt nicht mehr zurück. Lief nur noch blindlings geradeaus in die Dunkelheit hinein. Rief dabei laut um Hilfe.
Aber niemand war in der Nähe.
Ihr Herz schlug immer schneller. Sie atmete keuchend, bekam kaum noch Luft.
Stolperte erneut.
»Es ist doch immer dasselbe mit dieser blöden Nuss«, schimpfte Lissi lauthals, nachdem sie die Trambahn Richtung Innenstadt schweren Herzens hatte fahren lassen, um weiter auf Sarah zu warten.
Die nächste Tram würde frühestens erst wieder in einer halben Stunde kommen. Wegen der Folgen des Krieges waren zurzeit nur noch wenige von ihnen im Einsatz, und die fuhren überdies zumeist auch noch unpünktlich.
»Nie kommt sie rechtzeitig«, fuhr Lissi ärgerlich fort. »Mit der nächsten fahre ich auf alle Fälle mit. Egal ob Sarah dann da ist oder nicht.«
Zu Fuß würde sie auf gar keinen Fall von hier aus in die Amalienstraße gehen. Das war ihr zu weit.
Es fühlte sich seltsam für sie an, so ganz alleine an der Haltestelle laut vor sich hin zu schimpfen. Wenn sie jemand hörte, musste er glattweg denken, sie sei verrückt geworden.
Andererseits musste sie ihrem Ärger Luft machen, sonst wäre sie geplatzt. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass Sarah zu spät kam oder sie versetzte.
Es geschah immer wieder.
Ihre beste Freundin schien einfach kein Zeitgefühl zu haben. Oder sie war einfach nur rücksichtslos.
Beides war möglich.
Zweites wollte Lissi ihr allerdings nicht wirklich unterstellen. Immerhin kannten sie sich von Kindheit an. Da lernte man die Vorteile und die Nachteile eines Menschen so anzunehmen, wie sie waren.