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Ende September. Das weltberühmte Oktoberfest ist in vollem Gange, die Stimmung im Bierzelt kocht. Exkommissar Max Raintaler und sein alter Freund Franz Wurmdobler bekommen jeweils 100 Euro von einem ihnen fremden Immobilienwirt aus Grünwald geschenkt. Einzige Bedingung: Sie müssen das Geld noch am selben Abend vertrinken. Keine zwei Stunden später ist der edle Spender tot. Er wurde mit einem Maßkrug erschlagen. Max und Franz machen sich gemeinsam auf die Suche nach dem Täter.
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Seitenzahl: 339
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Michael Gerwien
Mordswiesn
Der fünfte Fall für Max Raintaler
Oktoberfestmord Oktoberfest, die fünfte Jahreszeit in München. Die Stimmung im Bierzelt kocht über. Der Münchner Exkommissar Max Raintaler und sein alter Freund und Exkollege Hauptkommissar Franz Wurmdobler bekommen von Schorsch Huber, einem ihnen fremden Immobilienwirt aus Grünwald, jeweils 100 Euro geschenkt. Einzige Bedingung: Sie müssen das Geld noch am gleichen Abend vertrinken. Wenig später lernt Max die bildhübsche Halbitalienerin Bellina kennen und verlässt das Bierzelt mit ihr, ihrer nicht weniger attraktiven Schwester Mariella und Josef Stirner, seinem Vereinskollegen vom FC Kneipenluft, um Karussell zu fahren. Als er eine gute halbe Stunde später mit Mariella zum Zelt zurückkehrt, liegt der großzügige Schorsch Huber tot davor. Er wurde mit einem Maßkrug erschlagen. Niemand hat den Täter gesehen. Max nimmt die Angelegenheit persönlich und macht sich gemeinsam mit Franz auf die Suche nach ihm. Dabei geraten sie an reichlich skurrile internationale und einheimische Verdächtige.
Michael Gerwien lebt in München. Er arbeitet dort als Autor von Kriminalromanen, Thrillern, Kurzgeschichten und Romanen. Seine Lesungen begleitet er selbst mit Musik.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Petra Hilke – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4154-7
Sakrischen Dank an Lilli und Patrick, Dr. Florian Dering vom Münchner Stadtmuseum, Johan de Blank und vor allem an Claudia Senghaas.
»Country roads, take me home, to the place I belong …«
Das ganze Bierzelt dröhnte und wackelte, während Hunderte von Kehlen ihrer Sehnsucht nach West Virginia freien Lauf ließen. Exkommissar Max Raintaler wunderte sich wie schon so oft darüber, was all diese Menschen aus aller Herren Länder wohl dazu brachte, ausgerechnet in dem winzigen Appalachenstaat unweit der amerikanischen Ostküste ihre Heimat zu sehen. Wussten die denn nicht, wie ärmlich es dort zuging? Noch um vieles ärmlicher als irgendwo sonst in den USA, bis auf den Staat Mississippi vielleicht. West Virginia oder Fürstenfeld in Österreich, das waren seit Jahren die zwei mit Abstand beliebtesten Reiseziele der Oktoberfestgäste. Fast jeder hier schien aus welchen Gründen auch immer unbedingt dorthin zu wollen.
Der sportliche blonde Urbayer schaute sich kopfschüttelnd um. Aber wieso kommt ihr dann alle jeden Herbst hierher nach München?, dachte er und gab sich gleich selbst die passende Antwort darauf: Weil unser Bier so gut schmeckt wie sonst nirgends und weil die Stimmung in unseren Bierzelten weltweit einfach einzigartig ist. Und natürlich weil es bei uns in Bayern sowieso am schönsten ist. Genau. Er grinste zufrieden.
»Prost, Gemeinde. So jung kommen wir nie wieder zusammen.« Der kleine dicke Franz Wurmdobler, Max’ alter Schulfreund und Exkollege bei der Münchner Kripo, nutzte die kurze Musikpause, um mit allen am Tisch anzustoßen. Alle, das waren Max’ hübsche, dunkelhaarige Freundin Monika, der immer lustige, schnauzbärtige und frisch geschiedene Torwart Josef Stirner, mit dem Max gemeinsam beim FC Kneipenluft Fußball spielte, Franz’ sportliche Frau Sandra, Mike, der schlaksige, junge Gitarrist, mit dem Max gelegentlich live in kleinen Musikclubs in und um München auftrat, dessen blonde Freundin Jane und Monikas beste Freundin, die ebenfalls blonde Anneliese. Sie hatte als Einzige am Tisch ein Dirndl an, so wie die meisten Frauen an den anderen Tischen. Monika, Sandra und Jane stellten dagegen auch heuer wieder ihre eigene Auffassung von Wiesnmode zur Schau. Ganz so, als hätten sie sich extra dazu verabredet, trugen sie Jeans, Ballerinas und weiße Blusen.
Anneliese hatte die Box, in der sie saßen, wie jedes Jahr am zweiten Wiesnsamstag ab 18 Uhr für sie reserviert. Was nur möglich war, weil sie den Festwirt über ihren reichen Exmann Bernhard persönlich kannte. Ein normaler Sterblicher würde an einen solch exklusiven Platz gar nicht rankommen, nicht einmal für viel Geld. Annelieses neuer Freund, der schöne Giuliano aus bella Italia wollte später auch noch zu ihnen stoßen.
»Prost, Franzi. Auf unser aller Gesundheit.« Max lachte. Die anderen lachten mit. Natürlich wussten alle, wie ungesund sich die drei bis acht Wiesnmaß, die sie heute jeder tranken, morgen früh anfühlen würden.
»Hey, hey, Baby …« Die Kapelle nahm ihren Dienst am musikalischen Seelenheil der illustren Gäste aus Nah und Fern wieder auf. Alles grölte den eingängigen Refrain von DJ Ötzis Megahit mit.
Nach der zweiten Strophe musste Max dringend einmal wohin. Gemeinsam mit Franz, dem es genauso erging, bahnte er sich den Weg quer durchs Zelt zu den stets überfüllten Toiletten hinüber. Vorbei an tief ausgeschnittenen, drallen Dirndldekolletés und abenteuerlichen, braunen und beigefarbenen Trachtenimitationen im Landhausstil nebst den dazugehörigen, bierselig grinsenden Gesichtern.
Woher kommt bloß immer wieder dieser seltsame Zwang zur Uniformierung, überlegte Max, der in seiner schwarzen Jeans und seinem schwarzen Lieblings-T-Shirt mit der Frontaufschrift ›Knödelgrab‹ zum Feiern angetreten war. Es ist doch noch gar nicht so lange her, dass wir für lange Haare, Freiheit und Individualität gekämpft haben. Soll das alles etwa völlig umsonst gewesen sein? Anscheinend ja, so wie es aussieht. Ja, ja. Die guten alten Zeiten kommen halt immer mehr aus der Mode. Er stellte sich kopfschüttelnd in die Reihe der Wartenden.
»Jetzt schau dir bloß einmal diese vielen halbgaren Bürscherl an, die hier drinnen aufs Klo wollen. Und saumäßig heiß ist es auch noch. Oder?« Der riesige Mann in der kurzen Hirschledernen und dem weißrosa karierten Hemd vor Max und Franz hatte sich zu ihnen umgedreht. Dem Dialekt nach stammte er wie sie aus Oberbayern. Er bedachte sie mit einem großväterlich freundlichen Fünfmaßblick.
»Ja mei. Beim Bieseln ist die Jugend halt immer vorn dran. Weil sie alle noch ihre Konfirmandenblasen haben. Und saumäßig heiß ist es wirklich. Aber das ist auch kein Wunder bei dem afrikanischen Spätsommer draußen.« Max nickte zustimmend. Er hatte seine schwarze Lederjacke schon lange ausgezogen und über seine Schulter gehängt. Ja, ist der Lackel kräftig beieinander, dachte er mit Blick auf seinen breitschultrigen Vordermann. Zwar schon reichlich alt, aber ausschauen tut er wie der Schmied von Kochel persönlich. Allein möchte ich dem nicht im Dunkeln begegnen.
»Und gerade, wenn es so heiß ist, muss so eine Maß halt auch wieder raus. Damit die nächste wieder genug Platz hat, wegen der Kühlung«, fügte Franz fachmännisch hinzu, während er sich mit einem riesigen, karierten Taschentuch den Schweiß von der Glatze wischte. Er schwitzte deutlich mehr als Max. Was er einerseits seiner dicken Lederhose und dem grauen Wollsakko über dem weißen Leinenhemd zu verdanken hatte, andererseits lag es aber zum größten Teil an seiner stattlichen Wampe, die er sich über die Jahre hinweg angeschafft hatte. Der sanfte Riese vor ihnen lachte herzhaft.
»Ihr seid in Ordnung, Burschen«, meinte er. »Ich bin übrigens der Huber Schorsch, Immobilienwirt aus Grünwald. Und wer seid ihr?«
»Ich bin der Max, Expolizist aus Thalkirchen«, stellte sich Max freimütig vor.
»Und ich der Franz«, fügte Franz hinzu. »Polizist aus Thalkirchen. Aber momentan nicht im Dienst.« Er grinste breit.
»Freut mich«, erwiderte Schorsch. »Die Polizei privat auf der Wiesn. Wenigstens seid ihr nicht vom Fernsehen. Sonst sind in München alle immer vom Fernsehen, oder sie arbeiten bei einer Werbefirma.«
»Oder bei einem Start-up-Unternehmen im IT-Bereich.« Franz hob die Augenbrauen und den Zeigefinger.
»Genau. Oder bei BMW. Ihr gefallt mir. Ich würde euch zu gern mal in eurer feschen Uniform sehen.«
Max und Franz grinsten, während Schorsch sie weiter gründlich von oben bis unten musterte.
»Da schaut einmal her, was ich für euch habe«, verkündete er dann. »Hier ist ein schöner Hunderter für jeden. Weil ihr mir gar so sympathisch seid.« Er fuhr sich rasch durch seine üppige graue Mähne und kramte die zwei Scheine aus seiner Brieftasche. »Aber die müsst ihr heute noch ausgeben. Das ist meine einzige Bedingung.«
Max und Franz sahen einander verblüfft an. Wo gab es denn so etwas, dass einem heutzutage jemand etwas schenkte. Einfach so! Der wollte doch bestimmt irgendwas dafür. Fragte sich nur was.
»Danke, Schorsch. Passt schon«, sagte Max. »Wir haben selbst Geld.«
Auch Franz schüttelte ablehnend den Kopf.
»Nix da. Keine Widerrede, Burschen. Wenn der Huber Schorsch ein Geschenk macht, dann wird das nicht abgelehnt. Hamma uns? Ihr müsst nichts dafür tun. Nehmt es einfach bloß. Glaubt mir, wo das herkommt, ist noch mehr davon. Viel mehr.«
Alter Angeber! Hoffentlich bindet er das nicht jedem hier draußen auf die Nase, dachte Max. Das könnte unter Umständen gefährlich für ihn werden, auch wenn er noch so kräftig ist. »Na, gut. Wenn das so ist …«, meinte er dann. »Wenn es wirklich ein reines Sympathiegeschenk ist, dann nehmen wir es halt. Schließlich sind wir nicht im Dienst, sondern rein privat hier. Und da wollen wir auch nicht unhöflich sein. Oder Franzi?«
»Natürlich nicht.« Was soll’s, sagte sich Franz, wenn er sein Geld so dringend loswerden will.
Einem geschenkten Gaul schaute man nicht ins Maul, und wenn es keine Bedingungen gab, war doch alles bestens. Außerdem konnten sie bestimmt 200 Jahre warten, bis wieder mal jemand daherkam und ihnen einen Hunderter in die Hand drückte, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen.
»Na also, Burschen«, freute sich Schorsch. »Dann nehmt die Marie, wie unsere österreichischen Freunde so schön sagen, und lasst euch unser gutes Wiesnbier schmecken. Für jeden zehn Maß. Drunter geht ihr mir heute nicht nach Hause. Hamma uns?« Er überreichte ihnen das Geld und sah nun noch mal ein gutes Stück glücklicher als zu Beginn ihrer kurzen Freundschaft aus.
»Selbstverständlich, Chef. So wird es gemacht.« Franz steckte seinen Hunderter ein und blinzelte Max unauffällig zu.
»Genau«, meinte der und verstaute sein Geld ebenfalls in seiner Brieftasche. »So und nicht anders.«
»Also dann, alles klar. Servus«, dröhnte der Hüne Schorsch. »Ich gehe da drüben rein. Da ist gerade ein schöner Platz an der Rinne frei. Und wenn ihr mal ein Haus kaufen wollt, ruft ihr mich an, abgemacht?« Er gab jedem noch schnell seine Visitenkarte, dann drehte er sich um und verließ sie.
»Machen wir, Schorsch«, rief ihm Franz hinterher.
»Und danke«, schloss Max sich an.
»Da schau her. Der reiche Schorsch aus Grünwald. Ja, der Wahnsinn! Unglaublich, was einem auf der Wiesn so alles passiert«, resümierte er lachend, während sie wenig später nebeneinander vor dem Urinal stehend ihr Bier wieder dem ewigen Kreislauf der Natur anvertrauten.
»Auf jeden Fall«, stimmte ihm Franz gutgelaunt zu. »Einfach unglaublich. Was meinst du? Ob auf dem Rückweg schon einer wartet, der uns einen Tausender schenken will?«
Einen Tausender hatte ihnen leider niemand aufgedrängt, doch als Max und Franz an ihren Tisch zurückkamen, saß dafür Annelieses Neuer, Giuliano, mit zwei blitzsauberen jungen Frauen neben ihr. Wie fast alle weiblichen Wiesnbesucher trugen die beiden weit ausgeschnittene Dirndl und jeweils auch noch ein großes Lebkuchenherz um den Hals. ›Ich liebe dich‹, stand darauf. Giuliano hatte zwei lustig rot blinkende Teufelshörnchen auf dem Kopf, wie sie überall im Zelt von freundlich lächelnden Mädchen, die riesige Bauchläden vor sich hertrugen, feilgeboten wurden.
»Hallo, Max. Tschau, Franzi«, begrüßte er sie stürmisch. »Setzt euch doch hier hin, neben meine Freundinnen aus Venezia.« Franz wollte sich mit einem kurzen Seitenblick bei seiner Sandra versichern, dass sie nichts dagegen hätte. Doch die bemerkte ihn gar nicht. Sie unterhielt sich gerade einen Tisch weiter mit Monika, Jane und ein paar gut aussehenden bayrischen Burschen in prunkvoller Tracht. Also rutschte er schnell neben die umwerfende junge Frau an Giulianos Seite.
Ob der gute Giuliano weiß, wie bescheuert er mit den Lichtern auf dem Kopf aussieht, fragte sich Max. Wahrscheinlich nicht. Auch er sah erst kurz zu seiner Monika hinüber, bevor er sich setzte. Sie bemerkte ihn aber ebenfalls nicht. Das musste ja ein sehr interessantes Gespräch sein, in das ihre drei Ladys da vertieft waren. Na dann. Er nahm direkt neben der schwarzhaarigen Schönheit gegenüber von Franz Platz. Anneliese scheint es absolut in Ordnung zu finden, dass ihr neuer Galan die beiden Hübschen mitgebracht hatte, bemerkte er. Offensichtlich unterhielt sie sich prächtig mit allen dreien. Keine Spur von ihrer sonstigen Eifersucht. Aber woher konnte sie nur auf einmal so gut Italienisch? Wahrscheinlich hatte sie einen Crashkurs besucht, gleich nachdem sie ihren galanten Giuliano kennengelernt hatte. Zuzutrauen wäre es ihr gewesen.
»Was meinst du Franzi?«, raunte Max seinem Exkollegen und alten Schulfreund leise zu. »Sollen wir als neureiche Männer von Welt eine Runde schmeißen? Damit machen wir bestimmt Eindruck.«
»Auf jeden Fall, Max. Aber nur eine. Den Rest hauen wir selbst auf den Kopf. Schließlich haben wir das dem guten alten Schorsch aus Grünwald versprochen.«
»Genau. So machen wir es und nicht anders.« Max bestellte Bier für alle.
Als die elf Maß gleich darauf von der kräftigen Kellnerin in einem Sitz angeschleppt wurden, bezahlte er mit Schorschs Hunderter und legte noch einen Zwanziger von seinem Geld drauf. Danach ließ der ganze Tisch den edlen Spender erst einmal lautstark hochleben.
»Bellina ist eine gute Freundin aus Venezia, Max. Ihr Vater kennt meinen Vater.« Giuliano deutet auf die dunkelhaarige Frau neben Max, die sich immer noch lebhaft mit Anneliese und der anderen Italienerin unterhielt. Dann packte er ihren Arm und schüttelte ihn.
»Hey, Bellina, sag Tschau zu Max«, forderte er sie auf.
»Tschau, Max.« Sie drehte sich zu dem blonden Münchner Exkommissar um und lächelte ihn strahlender an, als es der schönste Sternenhimmel über Neapel samt Vollmond jemals vermocht hätte.
»Tschau, Bellina. Und, wie gefällt dir das Oktoberfest?«
»Gut.«
»Und München?«
»Auch gut.«
»Und die Bayern?«
»Sehr gut.« Sie lächelte noch ein bisschen strahlender.
Nett ist sie auf jeden Fall, dachte Max. Und verdammt hübsch ist sie auch. Allein diese smaragdgrünen Augen und die vollen Lippen. Sie ist höchstens 15 Jahre jünger als ich. Vielleicht sollte ich vorsichtshalber gleich eine Blutdrucktablette nehmen. Nicht, dass mich ihr Anblick am Ende noch umhaut. Schau doch bloß mal den Franzi an. Der kriegt vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Ob ich genauso blöd aus der Wäsche schaue wie er?
»Das freut uns aber sehr. Und wie heißt deine Freundin?«, fragte er weiter.
»Mariella ist meine jüngere Schwester. Eine sehr späte Nachzüglerin«, antwortete sie. »Hey, Mariella. Sag Tschau zu Max und seinem Freund.«
»Tschau, Max. Tschau, Freund von Max«, ließ die jugendliche Schönheit neben Franz kurz angebunden vernehmen. Sie musterte die beiden längst in die besten Jahre gekommenen Thalkirchner mit einem flüchtigen abschätzigen Blick.
»I-Ich bin d-der Franz«, stotterte Franz, nach wie vor schwer von ihrem hinreißenden Äußeren beeindruckt. Er grinste dabei unentschlossen zwischen ihr und seiner Sandra, die immer noch eifrig mit den jungen Einheimischen einen Tisch weiter beschäftigt war, hin und her.
»Tschau, Franz«, erwiderte sie höflich lächelnd. Sie ließ dabei zwei gerade Reihen makelloser weißer Zähne durch ihre lange schwarze Lockenpracht blitzen.
»Und wie gefallen dir München und seine Männer, Mariella?«
»Ganz gut, Franz«, schnarrte sie knapp. Dann drehte sie sich schnell wieder um und fuhr fort, dem jungen und gut aussehenden Gitarristen Mike im dunkelbraunen Wildlederdress mit Fransen etwas über Eros Ramazzotti zu erklären. Josef, der wie Max in Jeans und T-Shirt gekleidet direkt daneben saß, hörte ihr ebenfalls konzentriert, und hier und da zustimmend mit dem Kopf nickend, zu. So wie alle Männer fortgeschrittenen Alters jungen hübschen Mädchen konzentriert, und hier und da zustimmend mit dem Kopf nickend, zuhörten, sobald diese etwas erzählten. Ganz egal, worum es dabei ging.
Franz blickte zu Max hinüber, hob die Augenbrauen, zog die Mundwinkel nach unten, drehte die Handflächen nach oben und zuckte ratlos mit den Achseln. Der tat es ihm gleich. Dann ließ er Franzi Franzi sein und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Bellina. Ihr offenherziges Lächeln gefiel ihm gerade immer besser.
»Wo habt ihr zwei eigentlich so gut Deutsch gelernt?«, fragte er sie.
»Unsere Mutter ist Deutsche. Sie hat unseren Vater im Urlaub kennengelernt, später geheiratet und ist zu ihm von Köln nach Venedig gezogen.«
»Da schau her. Was man nicht alles aus Liebe tut.« Max grinste. »Dann ist euer Vater also Italiener?«, fuhr er fort.
»Ja.«
»Und du?«
»Wie bitte?«
»Bist du auch Italienerin? Oder Deutsche?«
»Ich habe beide Pässe. Genau wie Mariella.«
»Aha. Und wie fühlt man sich so, wenn man zwei Nationalitäten hat? Sitzt man da nicht andauernd zwischen den Stühlen? Von der ganzen Lebensweise her und so.«
»Nein. Ich genieße es. Ich bin immer Exotin, egal, wo ich gerade bin. Verstehst du? In Italien bin ich etwas Besonderes, weil ich für die Leute dort eine Deutsche bin. Und hier in Deutschland ist es genau umgekehrt. Ich finde das total praktisch. Wenn ich zum Beispiel einen Polizisten, der mich wegen zu schnellem Fahren anhält, nicht verstehen will, spreche ich in meiner anderen Sprache mit ihm.«
»Interessant ist das ja auf jeden Fall.« Max nickte zustimmend mit dem Kopf und schaute ihr etwas länger und tiefer als unbedingt nötig in die Augen.
»Finde ich auch.« Sie erwiderte seinen Blick.
»Ja, du Arschloch, du windiges. Dir hau ich doch gleich dermaßen eine aufs Maul, dass du dich nicht mehr kennst!«
Wie alle anderen am Tisch drehten sich Max und Bellina erschrocken um. Die kräftige Stimme war aus der Gruppe junger Leute direkt hinter ihnen gekommen. Ein breiter Bursche im modernen Bavarian Countrylook stand dort gerade von seiner Bank auf und packte einen schmalen jungen Mann im grauen Anzug am Schlafittchen.
»Lass den Igor in Ruhe, Sepp. Der hat dir überhaupt nichts getan!« Die üppige Blondine im blauen Dirndl neben den beiden erhob sich ebenfalls.
»Andauernd angeschaut hat er dich, dein sauberer Igor. Und ein Bussi hast du ihm gerade auch noch gegeben. Und da soll ich ihn in Ruhe lassen? Ja, müssen wir Einheimischen uns denn neuerdings alles gefallen lassen? Ich glaub, ich spinn. Dem hau ich doch eine aufs Maul, dass er sich nicht mehr kennt.« Der breite Sepp mit den kurzen schwarzen Haaren kriegte sich nicht mehr ein. Sein Gesicht war rot gefleckt vor Zorn, seine Stimme überschlug sich. Zur Untermauerung des Gesagten schüttelte er seinen ungleichen Gegner kräftig durch.
»Ich habe ihm doch bloß was ins Ohr gesagt, weil die Musik so laut war. Ob er noch ein Bier mag, hab ich ihn gefragt. Das war überhaupt kein Bussi, du eifersüchtiger Depp, du blöder! Lass ihn sofort los! Sonst hau nämlich ich dir eine aufs Maul, dass es pfeift. Hamma uns?« Auch das Gesicht der groß gewachsenen Blondine nahm die Farbe eines gut abgehangen Steaks an. So kräftig wie sie aussah, schien sie durchaus in der Lage dazu, ihre Drohung wahr zu machen.
»Du willst mir eine aufs Maul hauen, Sabine? Ausgerechnet du? Dass ich nicht lache. Woher willst du denn die ganzen Arbeitslosen nehmen?« Ihr Widersacher war anscheinend ganz anderer Meinung. »Sag mir das doch einmal. Aber erst wenn ich mit dem sibirischen Zigarettenbürscherl hier fertig bin.« Sepp hob die Faust zum Schlag. Im selben Moment packten ihn zwei kräftige Schwarzuniformierte des Sicherheitsdienstes von hinten und drehten ihm flugs die Arme auf den Rücken. Er schrie vor Schmerz auf. Dann schleppten sie ihn mit vereinten Kräften hinaus, während er sie lauthals als miese Drecksbullen und feige Schweine beschimpfte.
Igor und Sabine setzten sich, und die allgemeine Lage beruhigte sich wieder.
»Wie kann man nur so schlecht gelaunt sein, bei so einem herrlichen Bier?«, fragte Franz aufatmend in die Runde. »Ich sage immer, Appetit holen darf man sich unterwegs. Und ruhig auch einmal ein Bussi. Aber gegessen wird zu Hause. Stimmt’s, Sandra?«
»Stimmt, Franzi«, antwortete seine Frau, die inzwischen wieder neben ihm saß. »Auch wenn es bloß eine kleine Vorspeise gibt.«
»Ja, klar. Äh«, stammelte er daraufhin errötend. »Also dann. Prost, Herrschaften!« Wieso muss sie mich nur immer runtermachen?, fragte er sich kurz, schob den Gedanken aber gleich wieder weg.
Schließlich waren jetzt und hier nichts als fröhlich sein und feiern angesagt. Streiten konnten sie immer noch ausführlich genug, wenn sie wieder daheim waren.
»Prost, Franzi«, rief Max durch den gerade wieder aufbrandenden Lärm der Kapelle. »Gott sei Dank mussten wir nicht eingreifen. Nach unseren drei Maß hätten wir uns dabei bestimmt bloß eine Watschen eingefangen. Stimmt’s?«
»Stimmt auffallend, Max. Und wahrscheinlich nicht nur eine.«
Alle lachten erleichtert. Eine Rauferei brauchte heute wirklich niemand. Selbst wenn sie nur nebenan stattfand. So ein Maßkrug sauste nämlich ganz schnell auch mal in die falsche Richtung durch die Luft. Und dann gnade Gott jedem, der in der Flugbahn saß. Das war dann überhaupt nicht mehr lustig. Gott sei Dank kam das jedoch nur in den allerseltensten Fällen vor.
Nachdem die Biere geleert waren, wollten die zwei halben Italienerinnen unbedingt Karussell fahren. Ganz Kavaliere alter Schule erklärten sich Max und Josef bereit, sie zu begleiten. Monika, die immer noch mit Jane am Nebentisch saß, blickte ihnen einen Moment lang neugierig nach, drehte sich dann aber gleich wieder zu ihren feschen männlichen Gesprächspartnern um und unterhielt sich weiter. Er wird schon wieder zurückkommen, der Max, dachte sie.
»Ich will unbedingt den Fünferlooping fahren. Du auch, Bellina?«
Mariella blickte genau wie ihre Begleiter ehrfürchtig zu dem riesigen, beleuchteten Metallgestänge vor ihnen auf.
»Na klar«, erwiderte ihre ältere Schwester. »Max? Josef? Wie sieht es aus? Kommt ihr auch mit?«
»Wisst ihr, Kinder. Es ist so«, meinte Max und richtete seinen Fokus schnell wieder auf den festen Boden vor seinen Füßen. »Mir wird schlecht dabei. Nach drei Maß Wiesnbier erst recht. Und mit meinem erhöhten Blutdruck darf ich schon gar nicht. Auch wenn ich Medikamente dagegen nehme. Gegen den Blutdruck, meine ich. Aber Josef hat bestimmt Lust.«
»Ja, logisch fahr ich mit euch beiden«, versicherte der durchtrainierte, trotz seiner 50 plus immer noch sehr jugendlich aussehende Torwart des FC Kneipenluft den beiden bildhübschen Frauen. »Und unserem Weichei Max kaufen wir nachher ein Ticket für das Kinderkarussell oder für die Geisterbahn.«
»Ich finde es gar nicht schlimm, wenn jemand nicht da hinauf will«, sagte Bellina und lächelte Max an. »Und ich will auch Geisterbahn fahren.«
»Darfst du auch. Aber erst fahren wir Fünferlooping«, krähte Mariella. Sie nahm Bellina an der Hand und zog sie eilig durch die umstehenden Menschenmassen in Richtung Kassenhäuschen. Josef trottete den beiden, so schnell es sein bisheriger Bierkonsum zuließ, hinterher.
Max blieb stehen, wo er war, und sah sich um. Er bemerkte die zunehmende Dämmerung und stellte mit einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr erstaunt fest, wie schnell die Zeit im Bierzelt wieder einmal vergangen war. Halb acht, vor knapp drei Stunden hatte die Sonne noch alles in ihr spätsommerliches sanftes Licht getaucht. Jetzt begannen bereits die bunten Glühlampen und Scheinwerfer der Bierzelte, Fahrgeschäfte und Buden ringsumher den Abendhimmel zu erhellen. Überall war Musik zu hören. Gebrannte Mandeln, Zuckerwatte, Schaschlik, Ochsenfetzen auf handtellergroßen Semmeln und leckere Bratwürste verströmten ihren unwiderstehlichen Duft.
Es ist schon etwas Besonderes, ein Münchner zu sein, sagte er sich. Wir haben das größte Volksfest, das beste Bier, das schönste Umland und die geringste Arbeitslosigkeit. Wenn man genug Geld hat, befindet man sich hier auf der reinsten Insel der Glückseligen. Da frag ich mich dann schon, warum so viele Leute, die einem auf der Straße begegnen, so grantig und unzufrieden dreinschauen. Verdienen sie am Ende zu viel Geld und können sich deshalb nicht mehr an Kleinigkeiten erfreuen? Oder ist es vielleicht einfach zu schön bei uns, sodass man nach einer Weile unzufrieden werden muss, weil es keine Steigerung mehr gibt? Oder ist der Föhn schuld? Egal. Wie auch immer. Mir gefällt es hier jedenfalls, und ich bleibe hier. Wieso sollte ich auch in die Welt hinaus fahren, wenn die ganze Welt sowieso jeden Herbst wieder zu uns kommt.
»Wahnsinn!« Bellina war mit grünlichbleichem Gesicht vor ihm aufgetaucht. Sie zitterte am ganzen Körper. »Absoluter Wahnsinn!«, fuhr sie atemlos fort. »Sei froh, dass du nicht mitgefahren bist, Max. Mir ist total schlecht. Als Kind hat mir die Achterbahn nicht das Geringste ausgemacht. Aber das hat sich offenbar grundlegend geändert.«
»Ich hab es ja gleich gesagt«, meinte er. »Der reinste Selbstmord, dieses hektische Gewackel durch die Luft. Da hilft normalerweise nur ein Schnaps.« Er zeigte auf den gut besuchten Spirituosenstand, keine 20 Meter weit von ihnen entfernt auf der anderen Seite. »Da trinken wir jetzt einen«, fuhr er fort. »Du wirst sehen, dann geht es dir gleich wieder besser.«
»Aber Mariella und Josef fahren doch gerade noch mal. Wie sollen die uns dann finden?«
»Die finden uns schon. Wir sind ja sozusagen nebenan. Gehen wir?«
»Okay. Mir ist wirklich so was von schlecht.« Sie hakte sich bei ihm unter und ließ sich bereitwillig von ihm quer durch die träge auf und ab ziehende Herde der Vergnügungswilligen geleiten.
Bei der Schnapsbude angekommen, erkämpften sie sich zwei Stehplätze an der Theke, und Max bestellte doppelte Obstler. Wenn schon, denn schon, dachte er. Nachdem Bellina ihr Glas auf Ex geleert hatte, kehrte langsam wieder die Farbe in ihr Gesicht zurück. Max bemerkte, dass er allmählich einen winzigen Rausch bekam. Kein Wunder nach drei Litern Bier und einem Doppelten. Ungeachtet dessen beschlich ihn auf einmal eine Ahnung, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Eine vage Angst, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Bin ich schon betrunkener, als ich gedacht habe?, fragte er sich. Egal. Was soll’s? Hier ist doch sowieso jeder blau. Er bestellte noch mal dasselbe.
»Das tut gut«, stöhnte Bellina, nachdem sie den gesamten Inhalt des zweiten Glases mit einem Schwupp in ihrer Kehle versenkt hatte. »Von mir aus können wir jetzt Geisterbahn fahren, Max.«
»Wollen wir nicht auf deine kleine Schwester warten?« Er hoffte, dass der Kelch mit der Geisterbahnfahrt an ihm vorüberging und direkt von Mariella entgegengenommen wurde. Ihn langweilte die Geisterbahn mindestens genauso wie der Fünferlooping und die anderen Fahrgeschäfte. Zum Biertrinken kam er jedes Jahr wirklich gern auf die Wiesn, aber das alberne Gesause drum herum brauchte er absolut nicht. Trotzdem ahnte er bereits, dass er der ausnehmend hübschen jungen Frau vor ihm ihre Bitte wohl nicht abschlagen können würde.
»Nein«, erwiderte sie entschlossen. »Wir treffen sie nachher im Bierzelt sowieso wieder. Soll die mal ruhig mit Josef zum Freefall und zum Power Tower gehen oder zum Flip Fly, wie sie gemeint hat. Mir reicht es mit dem Karussellzeugs. Außerdem gefällt ihr Josef glaube ich ganz gut.«
»Echt? Der Stirner mit seinem Riesenschnurrbart?«
Erstaunlich, wo die Liebe manchmal hinfiel.
»Ja. Er ist zwar etwas alt für sie mit ihren 24 Jahren. Aber er sieht genau wie du immer noch sehr gut aus. Und vorhin in der Achterbahn hat sie sich die ganze Zeit an seiner Hand festgehalten. Da können wir glaube ich getrost allein zur Geisterbahn gehen.«
Er sah immer noch sehr gut aus? Das hörte man doch gern. War sie etwa auch schon angeheitert? Sie redete auf einmal so langsam. Oder kam es ihm nur so vor, weil er selbst immer blauer wurde. Eine Maß hatte sie vorhin auf jeden Fall gehabt. Aber wer weiß, was die beiden bereits mit Giuliano getrunken hatten, bevor sie zu ihnen gestoßen waren.
»Danke für die Blumen. Du siehst auch sehr gut aus für dein Alter«, scherzte er. »Aber willst du ehrlich Geisterbahn fahren? Das ist doch eigentlich ziemlich kindisch. Oder?«
»Das ist mir piepegal, ob das kindisch ist, Frechdachs. Ich will Geisterbahn fahren. Und zwar auf der Stelle. Mit dir.« Sie sah ihm, so weit es ihr zunehmender Silberblick zuließ, geradewegs in seine stahlblauen Augen und ergriff entschlossen seine Hand.
Auf dem Weg zum Kassenhäuschen begegneten ihnen neben den zahlreichen anderen internationalen Gästen, die sich überall aneinander vorbeidrängten, eine grölende Gruppe männlicher Jugendlicher, von denen zwei besonders dreiste Exemplare Bellina ein Bussi gaben, eine gackernde Horde Mädchen, von denen ein besonders hübsches Max ein Bussi auf die Wange drückte, ein Paar im mittleren Alter, das nicht mehr geradeaus gehen konnte und eine kleine alte Frau, die sie völlig betrunken, aber immens fröhlich angrinste und ihnen viel Glück für ihr weiteres Leben wünschte.
Sobald sich das Tor zur Gruselwelt hinter ihnen geschlossen hatte, rutschte Bellina auf dem schmalen Wägelchen ganz nah an Max heran. Er ließ es sich nur allzu gern gefallen. Beschützend legte er den Arm um sie. Trotzdem zuckte sie bei jedem Geist, der vor ihnen auftauchte, zusammen und schrie laut auf.
»Du musst keine Angst haben, Bellina«, beruhigte er sie grinsend. »Es sind zwar schon Leute in der Geisterbahn verschwunden. Aber das ist bisher nur ganz selten passiert.«
»Du bist ganz fies und gemein, Max«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Ich habe wirklich Angst. Halt mich lieber noch etwas fester.«
Er tat, wie ihm geheißen. In der nächsten Kurve kamen sich ihre Gesichter dabei so nahe, dass sich ihre Wangen kurz berührten. Keinen von beiden wunderte es großartig, dass sie sich bei der Gelegenheit küssten. Und dann noch einmal und noch einmal. Genau genommen ließen sie erst wieder voneinander ab, als sie durch den Ausgang ins Getümmel zurückfuhren.
»Noch mal?«, fragte Max.
»Was noch mal?«, hauchte sie atemlos und schenkte ihm einen verschleierten Blick.
»Eine Runde fahren.« Er lachte. Die Sache mit der Geisterbahn begann ihm nun doch Spaß zu machen.
»Nein. Ist mir zu gefährlich«, erwiderte sie und lachte ebenfalls. »Ich würde lieber wieder ins Bierzelt gehen. Die anderen warten sicher schon auf uns.«
»Das wäre zwar das erste Mal, dass jemand, der in einem Bierzelt sitzt, merkt, wie die Zeit vergeht, aber gut, wie du meinst. Gehen wir zurück und trinken noch was. Die Geister haben mich ganz durstig gemacht. Außerdem müssen wir auf deine kleine Schwester aufpassen.«
»Wir?«
»Du.«
»Eben.«
Er bot ihr seinen Arm an, und sie hängte sich ein. Sie erreichten den Haupteingang ihres Zeltes, vor dem sich eine große Traube Menschen versammelt hatte, gegen halb neun. Sanitäter und Polizisten wuselten eilig dazwischen herum.
»Was ist denn passiert?«, fragte Max einen der uniformierten Beamten.
»Nichts. Gehen Sie bitte weiter«, blaffte der nur genervt.
»Erst wenn Sie mir sagen, was geschehen ist. Nach 20 Jahren Dienst bei der Kripo habe ich wohl wenigstens eine Antwort verdient.« Max band ihm natürlich nicht auf die Nase, dass er seinen Dienst vor gut zwei Jahren beendet hatte. Bellina sah ihn nur erstaunt an. Einen echten Kriminalbeamten habe ich da also kennengelernt, dachte sie. Na, schau mal an. Der wird ja immer interessanter, dieser Max Raintaler.
»Entschuldigung, Herr Hauptkommissar. Ich habe Sie nicht erkannt«, lenkte der Beamte eilfertig ein. Natürlich erkannte er Max immer noch nicht und wusste auch nicht, ob der wirklich ein Hauptkommissar war oder nicht. Aber dem Alter nach konnte es hinkommen. Und dann, was sollte es? Wenn es sich um Vorgesetzte handeln könnte, ging man am besten auf Nummer sicher. »Hinter dem Bierzelt hat jemand anscheinend einen Maßkrug auf den Kopf bekommen«, fuhr er fort. »Er wird gerade da vorn von den Sanis versorgt.« Er zeigte auf den Breznstand auf der anderen Seite des Eingangsbereiches.
»Habt ihr den Tatort gesichert?«
»Ja, zwei Beamte passen auf, dass dort niemand herumtrampelt und Spuren verwischt.«
Max ließ Bellina stehen, wo sie stand, und eilte zu den Sanitätern hinüber. Dort warf er einen Blick auf den Verletzten, der neben ihnen auf dem Boden lag und erschrak. Es war Schorsch Huber, der großzügige Immobilienwirt aus Grünwald, der da in seinem Blut lag. Ja, so ein Mist. Der Schorsch! Also hat mich meine Vorahnung vorhin nicht getäuscht. Max war mit einem Schlag wieder nüchtern.
»Den kenne ich. Lebt er noch? Wo bleibt denn der Notarzt?«, herrschte er die Männer in Weiß unduldsam an.
»Sein Puls schlägt noch. Wenn auch nur schwach. Der Doc kommt gleich«, antwortete der kleinere von beiden. »Eine Frau hat sich im Autoskooter den Arm gebrochen. Er versorgt sie gerade noch.«
»Die kann warten, verdammt noch mal. Ruft sofort euren Doc an und sagt ihm, dass es eilt. Wehe, wenn der Mann hier stirbt. Ich mache euch zwei persönlich dafür verantwortlich. Das ist ein Versprechen!« Max’ Ton verschärfte sich immer mehr. Aufgebracht kehrte er zu Bellina zurück.
»Würdest du bitte reingehen und Franzi holen?«, bat er sie. »Der ist bei der Kripo. Und das hier fällt in sein Aufgabengebiet, auch wenn er heute frei hat.«
»Klar, mach ich. Aber du bist doch auch bei der Kripo.«
»Nein, ich war dort. Aber das erzähle ich dir ein anderes Mal.«
»Aber warum bist du denn auf einmal so blass? Was ist denn passiert?« Sie sah ihn besorgt an.
»Ein Mann wurde niedergeschlagen, Bellina. Ich kenne ihn. Er war noch vor Kurzem sehr freundlich zu mir.«
Nachdem sie fort war, drehte sich Max um und wandte sich an den Polizisten, mit dem er anfangs gesprochen hatte. Herrje, der arme Schorsch, dachte er währenddessen. Ein Mann wie ein Baum, einfach so hinter dem Bierzelt gefällt. Welches Schwein mochte das nur getan haben? Oder welche Schweine. Hoffentlich überlebte er es. »Wie ist der Mann überhaupt hier nach vorn gekommen?«, fragte er. »Sie haben doch gesagt, dass er hinter dem Bierzelt niedergeschlagen wurde.«
»Die vier da drüben sagen, sie hätten ihn hergebracht.« Der Uniformierte deutete auf drei junge, dunkelhaarige Männer in Jeans und T-Shirt und ein blondes Mädchen im Dirndl, die ein paar Meter weiter Richtung Zelteingang eng aneinander gedrängt dastanden und aufgeregt miteinander tuschelten. »Der muss in jungen Jahren mal ein regelrechter Tarzan gewesen sein, so wie er jetzt noch ausschaut«, fügte er mit Blick auf den gefällten Hünen aus Grünwald hinzu.
Max nickte nur und ging zu den Jugendlichen hinüber.
»Hallo, mein Name ist Max Raintaler«, stellte er sich vor, als er bei ihnen ankam. »Ich kenne den Mann dort drüben. Habt ihr zufällig gesehen, was mit ihm passiert ist?«
»Nein, leider nicht«, erwiderte das Mädchen. Die Jungs sahen ihn nur mit großen Augen an und rückten noch etwas näher zusammen.
»Sie verstehen kein Deutsch«, erklärte die Blondine, »sind Italiener. Aber sie haben auch nichts gesehen. Wir sind zusammen hinter das Bierzelt gegangen, und da lag er. Er hat fürchterlich gestöhnt. Wir haben ihm aufgeholfen und ihn hierher gebracht. Dann ist er wieder umgekippt.«
Max sparte sich die Frage nach dem Grund für ihren gemeinsamen Ausflug in das Dunkel hinter dem Zelt. Das hier war schließlich ein freies Land. Da durfte jeder machen, was er wollte, solange er damit andere nicht verletzte oder in ihrer Freiheit beeinträchtigte. Nur für die Superreichen galt das nicht und für die Regierung und die Gangster. Die taten so oder so, was sie wollten, egal, ob sie jemanden damit verletzten oder in seiner Freiheit beeinträchtigten. 20 Jahre Polizeidienst bei der Kripo hatten ihn in dieser Ansicht aus seinen Jugendtagen nur noch bestätigt. Skrupellosigkeit, Macht und Geld regierten definitiv die Welt. Das war immer so gewesen, und es würde wohl auch in aller Zukunft so bleiben, in Bayern genauso wie überall sonst. Nur dem guten Schorsch Huber schien sein Reichtum heute Abend nicht viel genützt zu haben. Eher im Gegenteil. Da durfte er sich aber auch nicht wundern. Wer herumlief und einfach so Geldgeschenke an Wildfremde verteilte, der musste damit rechnen, dass er dabei nicht nur an nette Leute geriet. Wollte der kräftige Immobilienwirt das etwa mit Absicht provozieren? Wollte er etwa sterben? Vielleicht, weil er krank war?
»Servus. Was ist passiert?« Franz stand neben ihm und unterbrach seine Gedanken.
»Servus, Franzi. Schorsch Huber liegt da hinten bei den Sanis auf dem Boden. Er wurde niedergeschlagen.«
»Herrschaftszeiten. Hat man denn nicht mal in seiner Freizeit Ruhe? Wer macht denn so was? Die Wahnsinnigen sterben einfach nicht aus, was?« Franz kratzte sich ärgerlich am Kopf.
»Da magst du recht haben. Er hat anscheinend einen Maßkrug auf den Kopf bekommen. Es kann also nur im Streit passiert sein. Oder jemand wollte ihn ausrauben. Wundern täte es mich nicht, so wie er mit seinem Geld in der Gegend herumgewedelt hat. Lass uns zu ihm rüber schauen.« Max bedankte sich bei den Jugendlichen und verabschiedete sich von ihnen. Die Uniformierten würden sich wegen ihrer Aussagen und Personalien weiter um sie kümmern. Einen verdächtigen Eindruck machten sie nicht. Noch dazu hätten sie, wenn sie es gewesen wären, ihr eigenes Opfer bestimmt nicht hierher vor das Bierzelt geschleppt. Er ging voraus. »Was ist mit ihm?«
»Exitus. Leider nichts mehr zu machen«, erwiderte der inzwischen neben Schorsch kniende, ältere Notarzt auf Max’ Frage, nachdem der ihm Franz als Hauptkommissar der Münchner Kripo vorgestellt hatte. »Ich habe versucht ihn wiederzubeleben. Aber seine Kopfverletzungen waren zu stark. Der Blutgerinnung nach muss er die Schläge vor kurzem abbekommen haben. Vielleicht vor einer halben Stunde. Gegen 20 Uhr.«
»Was? Das darf doch gar nicht wahr sein. Nur, weil Sie zu spät gekommen sind, ist er gestorben«, empörte sich Max. »Wo waren Sie denn die ganze Zeit? Das hat noch ein Nachspiel. Das verspreche ich Ihnen, Herr Doktor!« Ja, so ein Depp. Er zitterte vor Wut. Warum hat sich dieser Lahmarsch in seiner orangenfarbenen Weste denn nicht schneller herbemüht? Wegen Altersschwäche? Der Scheißarm von dieser Frau hätte doch warten können. Daran stirbt man schließlich nicht gleich. Aber an einer Kopfverletzung eben schon. Herrschaftszeiten. So ein Mist, so ein verdammter.
»Ja, ja. Schon recht. Damit treffen Sie mich nicht«, antwortete der leicht übergewichtige Mann gleichmütig. »Was meinen Sie, wie oft ich das schon gehört habe?«
»Anscheinend nicht oft genug, Sie Schlafmütze«, ereiferte sich Max mit zornigem Blick.
»Ach, hören Sie schon auf. Hier passiert doch andauernd irgendetwas. Ich und meine Kollegen können einfach nicht überall gleichzeitig sein. Glauben Sie im Ernst, dass wir jemanden mit Absicht oder aus Faulheit sterben lassen? Dann machen Sie doch bloß mal eine Stunde lang meinen Job. Ich bin gespannt, was Sie dann sagen.«
»Lass es gut sein, Max«, meinte Franz und nahm seinen alten Freund und Exkollegen beiseite. »Er hat recht. Wahrscheinlich wäre der gute Schorsch auf dem Weg ins Krankenhaus sowieso gestorben. Lass uns erst mal die Obduktion abwarten. Dann kannst du dich immer noch aufregen.«
»Okay, Franzi«, brummte Max nach wie vor sichtlich in Rage und wandte sich gleich darauf erneut an den Notarzt. »Aber Ihren Namen notiere ich mir auf jeden Fall, Herr Weingärtner.« Er deutete mit dem ausgestreckten Finger auf das Namensschild an der Brust des Heilkundigen.
»Tun Sie doch, was Sie wollen«, erwiderte der, während er seine Sachen zusammenpackte und aufstand. »Der arme Mensch hier kommt auf jeden Fall erst in die Pathologie. Und überlegen Sie sich mein Angebot. Machen Sie bloß mal eine Stunde lang mit, was wir von der Rettung hier zwei Wochen lang mitmachen.« Er ging ohne sich von ihnen zu verabschieden. Die nächste Bierleiche wartete schon auf ihn. Oder Schnapsleiche. Oder das Opfer einer Keilerei. Oder gleich mehrere.
Franz hatte auf dem Revier angerufen und die diensthabenden Kollegen verständigt, damit sie sich in Absprache mit den Uniformierten um die weiteren Zeugenbefragungen, die Presse, die Benachrichtigung der Angehörigen und die Spurensicherung am Tatort kümmerten. Er hatte heute schließlich frei, und sauber angetrunken war er obendrein. Den Täter jetzt noch hier auf der Wiesn zu finden, war sowieso völlig unmöglich. Eher fand man die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Gleich am Montag würde er einen Zeugenaufruf mit Schorschs Bild in der Zeitung veröffentlichen lassen, am besten auch in Englisch und Italienisch. Schließlich war zweiter Wiesnsamstag, und das traditionelle Italienerwochenende hatte längst begonnen. Wer hatte das Opfer zuletzt gesehen? Wer hatte etwas beobachtet? Danach würde man bestimmt bald mehr wissen. Sobald er einigermaßen ausgeschlafen im Büro wäre, würde er sich höchstpersönlich um die Sache kümmern.
»Lass uns ins Zelt zurückgehen und noch einen auf den guten Schorsch trinken«, schlug er Max mit rauer Stimme vor. »Schließlich haben wir ihm versprochen, unsere zwei Hunderter heute noch auf den Kopf zu hauen. Stimmt’s?«
»Stimmt«, pflichtete ihm der immer noch wütend dreinblickend bei. »Herrschaftszeiten, immer trifft es die Falschen. Na warte, den Kerl finde ich, der das getan hat. Der darf sich auf was gefasst machen. Das bin ich Schorsch schuldig. Nicht wegen der 100 Euro, es ist mehr so ein Gefühl. Verstehst du, Franzi?« Er blickte ins Rund. Vielleicht war der Täter ja noch da und machte sich einen Spaß daraus, die Szenerie zu beobachten. War alles schon da gewesen. Aber wie sollte er ihn erkennen?
Obwohl ihm der Sonntag normalerweise heilig war und er einen granatenmäßigen Kater hatte, war Franz auf den Weg nach Grünwald, um dort Schorschs Witwe zu befragen. Die Kollegen hatten sie bereits gestern Abend vom Tod ihres Mannes unterrichtet. Seine Krachlederne und das weiße Hemd hatte er gegen eine leichte dunkle Leinenhose und ein grünes Polohemd eingetauscht. Nur sein graues Wollsakko erinnerte noch an den Franz vom Vorabend.
Die meisten Gewalttaten hatten familiäre Hintergründe, wusste er aus Erfahrung. Deshalb war es nichts als logisch, bei Schorsch zu Hause mit der Suche nach seinem Mörder zu beginnen. Ansonsten hatte der Immobilienmakler nur noch eine Schwester in Moosach gehabt, Hildegard Huber, eine ledige Lehrerin. Sie war ebenfalls von den Kollegen benachrichtigt worden.