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Ein bewegender, humorvoller Roman voller Hoffnung über den Kampf einer jungen Frau gegen den Krebs und für die Liebe Die neunzehnjährige Mila genießt das Leben in vollen Zügen. Sie freut sich aufs Studium, auf den Auszug von zu Hause, auf ein selbständiges Leben - bis sie von ihrer Krebsdiagnose überrumpelt wird. Innerhalb weniger Sekunden steht alles auf dem Kopf. Mila merkt schnell: Der Krebs ist ein riesiger Egoist, der alles an sich reißt. Doch im Krankenhaus trifft sie auf den mysteriösen aber gut aussehenden Mikael, der ihr über die Widrigkeiten der Chemotherapie und die Eintönigkeit des Krankenhausaufenthaltes hinweghilft. Allerdings steckt in Mikael mehr, als Mila ahnt. Er ist gekommen, um Mila mit sich zu nehmen. Doch mit der Lebenslust und Liebe Milas hat er nicht gerechnet... Für Fans von John Green. Es handelt sich um eine überarbeitete Ausgabe des bereits unter diesem Titel selbst publizierten Werkes der Autorin. »Als der Tod die Liebe fand« von Mariella Heyd ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte erotische, romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite. Genieße jede Woche eine neue Geschichte - wir freuen uns auf Dich!
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Seitenzahl: 351
Mariella Heyd
Als der Tod die Liebe fand
Roman
Knaur e-books
Ein bewegender, humorvoller Roman voller Hoffnung über den Kampf einer jungen Frau gegen den Krebs und für die Liebe
Die neunzehnjährige Mila genießt das Leben in vollen Zügen. Sie freut sich aufs Studium, auf den Auszug von zu Hause, auf ein selbstständiges Leben − bis sie von ihrer Krebsdiagnose überrumpelt wird. Innerhalb weniger Sekunden steht alles auf dem Kopf. Mila merkt schnell: Der Krebs ist ein riesiger Egoist, der alles an sich reißt. Doch im Krankenhaus trifft sie auf den mysteriösen, aber gut aussehenden Mikael, der ihr über die Widrigkeiten der Chemotherapie und die Eintönigkeit des Krankenhausaufenthaltes hinweghilft. Allerdings steckt in Mikael mehr, als Mila ahnt. Er ist gekommen, um Mila mit sich zu nehmen. Doch mit der Lebenslust und Liebe Milas hat er nicht gerechnet …
Liebe Leserinnen und Leser,
ich möchte an dieser Stelle kurz erwähnen, dass alle Handlungen und handelnden Personen dieses Buches frei erfunden sind. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig. Die genannten Orte hingegen existieren zum Teil tatsächlich, und an manchen arbeiten rund um die Uhr, an 365 Tagen im Jahr, Ärzte/-innen, Gesundheits- und Krankenpfleger/-innen et cetera für das Wohl ihrer Patienten. Bevor ich in meiner Geschichte allerdings mit einem Augenzwinkern mit dem ein oder anderen Klischee aufwarte, möchte ich um einen Applaus für die Menschen bitten, die ihre Feiertage und Nächte für andere opfern!
Langsam trotteten Mila und der Rest der zwölften Klasse des Charlottenburger Schiller-Gymnasiums nacheinander aus dem Bus und sahen sich mit hängenden Mundwinkeln um. Von Euphorie keine Spur. Die Abschlussfahrt hatte eine einzige große Party werden sollen und kein Schulausflug in die nächstgelegene Jugendherberge. Schließlich standen die Abiprüfungen bevor, und die ersten Universitäten boten bereits Schnuppervorlesungen an. Aber Frau Hoffmann hatte sich durchgesetzt und gegen den Willen aller eine heruntergekommene Absteige am Waldrand des Düppeler Forsts gebucht.
Freudig klatschte sie in die Hände, und ein irritierend zufriedener Ausdruck legte sich über ihr Gesicht, als sie das alte Gebäude mit den moosbewachsenen Ziegeln anstarrte, vor dessen Tür sich ein Ameisenhaufen direkt neben der Mülltonne platziert hatte.
»Da wären wir. Wie gefällt es euch?« Sie schaute erwartungsvoll in die glanzlosen Augen ihrer Schüler. »Nun kommt schon. Von diesem Ausflug habt ihr mehr als von einer Woche Costa Brava.«
Diese Aussage wurde von einem allgemeinen Raunen quittiert. Sonne, Strand und literweise Sangria klangen sehr viel einladender als ein nasskalter Wald, der außer Laub und Tannennadeln nichts zu bieten hatte.
»Joshua, sag du mal was. Wie gefällt es dir hier?« Ihr Blick fiel auf seinen Kragen. »Und richte dein Shirt. Wir wollen doch einen guten Eindruck hinterlassen.« Frau Hoffmann lief auf ihn zu und zupfte seinen Poloshirtkragen zurecht, was er nur widerwillig mit nach hinten gezogenem Kopf über sich ergehen ließ.
»Ich glaube, die Bäume nehmen es uns nicht übel, wenn unsere Klamotten nicht allzu genau sitzen.«
Schallendes Gelächter brach aus.
»Ach, Joshua.« Frau Hoffmann wirkte empört. »Wir sind hier, damit ich euch den Umwelt- und Naturschutz näherbringen kann. In unserer heutigen Zeit wird die Natur nicht mehr wertgeschätzt. Die meisten Menschen vergessen«, sie drehte sich zum Wald um und breitete ihre Arme aus, »dass wir ohne Bäume überhaupt nicht atmen könnten. Nachhaltigkeit sollte für jeden von euch oberste Priorität besitzen. Gemeinsam sind wir stark und können unseren Planeten retten.« Sie nickte nachdrücklich, mehr zu sich selbst als zu ihren Schülern.
»Wer hätte das gedacht?«, wisperte Joshua Mila zu und stellte seinen Kragen wieder auf. »Die Frau von Captain Planet schlägt wieder zu.«
Frau Hoffmann war der Inbegriff von Naturverbundenheit. Sie trug fair gehandelte Kleidung, lebte vegan und trug ihre Dreadlocks zu einem riesigen Knoten gebunden, der gut und gerne auch ein paar Vögeln Unterschlupf bieten konnte.
»Kinder, für heute Abend steht eine Nachtwanderung auf dem Programm. Ihr werdet sehen, wie viele wunderbare Tiere hier nachts durch das Dickicht schleichen und auf ihre Beute lauern.« Sie ahmte einen Fuchs nach, der auf der Pirsch war. »Zieht euch bitte festes Schuhwerk an.«
Mila stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte Joshua ins Ohr: »Wollen wir nur hoffen, dass wir nicht die Beute sind. Ich will gar nicht wissen, was hier alles im Wald umherirrt.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Keine Sorge. Ich rette dich vor dem bösen Wolf.« Er knurrte.
»Mich bitte auch«, mischte sich Niki ein und klimperte mit den Augen. »Hey, ich glaube, wir dürfen endlich unsere Zimmer beziehen. Sie geht rein.« Niki hakte sich bei Mila unter und schnappte sich ihre Tasche.
»Bis später, Joshua«, flötete sie und zerrte Mila zu der großen Eingangstür, zwischen deren Gitterstreben sich ein Spinnennetz spannte.
»Mann, Mann, Mann – und dafür haben unsere Eltern hundert Euro hingeblättert. Das Geld hätten sie lieber in einen Shoppingtrip investieren sollen.« Niki war ebenso wenig begeistert wie Mila. Die beiden hatten gehofft, sich eine Woche unter der Sonne im Süden bräunen zu können und nicht nachts im Wald vor Wildschweinen davonrennen zu müssen. Es wäre ihr erster gemeinsamer Strandurlaub ohne Eltern gewesen. Stattdessen bezogen sie eine muffige Herberge, die früher als Kneipe gedient hatte und deren Rezeption noch heute ein alter Tresen mitsamt Zapfanlage war.
Die Zimmer waren in einem altmodischen Ocker gestrichen, der Boden grau gefliest, und in die Holzgestelle der vier Hochbetten waren schon etliche Namen und Herzchen geritzt worden, die von vielen enttäuschten Schulklassen vor ihnen zeugten.
»Ich schlaf oben«, verkündete Niki und hievte ihre Tasche auf die Matratze. Da die anderen Betten ebenfalls belegt waren, nahm Mila mit dem unteren Schlafplatz vorlieb. So konnte sie wenigstens in Ruhe mit Niki quatschen, auch wenn bei jeder von Nikis Bewegungen eine kleine Schmutzwolke auf Mila herabrieselte.
»Hey, Mädels?« Es klopfte an der Tür, und Joshua und zwei andere Jungs aus der Klasse streckten vorwitzig ihre Köpfe herein.
»Boah, sieht ja fast noch schäbiger aus als bei uns«, scherzte Stephen, während er seinen Blick durch das Zimmer schweifen ließ. Er schob seinen Finger in einen Riss in der Wand, und sofort bröckelte ein Stück Putz auf den Boden.
»Was wollt ihr?«, fragte Niki und kletterte an das Fußende ihres Bettes, damit sie die Jungs sehen konnte.
»Kommt mit, wir zeigen euch was«, forderte Joshua die beiden auf.
Mila und Niki tauschten einen skeptischen Blick, liefen den dreien aber trotzdem hinterher. Am Ende des Flurs blieb Joshua stehen.
»Tada, unser Zimmer!« Er schloss die Tür zu einem Zimmer auf, das dem von Mila und Niki stark ähnelte.
»Wow, und das wolltet ihr uns unbedingt zeigen?« Mila wirkte unbeeindruckt.
Joshua schüttelte den Kopf und zog die beiden zum Fenster. Er rückte die Spitzengardinen ein Stück zur Seite und legte den Blick auf einen kleinen Hinterhof mit Grillstätte frei. Frau Hoffmann schwirrte summend von einer Tanne zur nächsten und schmückte sie mit bunten Bändern und Stoffen, während der kräftige Besitzer der Herberge das Laub von Tischen und Bänken fegte.
»Die ist damit bestimmt noch ewig beschäftigt«, überlegte Joshua laut. »Die Jungs und ich wollen was zu trinken organisieren. Ihr müsst nur Schmiere stehen, damit sie uns nicht erwischt, wenn wir wiederkommen.«
Gott sei Dank! Joshua rettet den Ausflug!
»Geht klar.« Mila schlug sofort ein. Sie würden das Beste aus der Situation machen.
Eine halbe Stunde später hatten die Jungs massenhaft billigen und quietschbunten Alkohol organisiert. Wie in Trance Stofffahnen schwingend und singend, bemerkte Frau Hoffmann nicht, dass ein paar ihrer Schüler klimpernde Flaschen in ihren Jacken hinter ihrem Rücken vorbeischmuggelten.
Nach der angekündigten Nachtwanderung und einem ordentlichen Schub Sauerstoff verkroch sich Frau Hoffmann in ihr Zimmer.
»Gott, die kann man ja bis in den Flur schnarchen hören«, lästerte Dennis und machte keinen Hehl daraus, dass er das so gar nicht attraktiv fand, als er in Joshuas Zimmer kam, wo die kleine Party steigen sollte.
»Wenigstens kriegt sie so ganz sicher nichts mit«, befand Joshua und zog eine Flasche unter dem Bett hervor, die er seinem Kumpel mit einem »Hier, fang!« zuwarf.
»Für die Mädels haben wir Sekt geholt.« Joshua zwinkerte Mila, Niki und den anderen zu, die erwartungsvoll Plastikbecher in den Händen hielten. Es war zwar von allem das Billigste, was der Laden um die Ecke zu bieten hatte, aber es erfüllte seinen Zweck.
Eine Stunde später herrschte bereits eine ausgelassene Stimmung, obwohl sie sicherheitshalber auf laute Musik verzichteten. Niki gab dennoch einen kleinen aufreizenden Tanz zum Besten und sicherte sich damit die Aufmerksamkeit einiger Mitschüler.
Mila verfolgte das Spiel aus sicherer Entfernung und klammerte sich an ihren Becher. Sie wollte nicht riskieren, dass Niki sie ebenfalls in die Sache involvierte, denn im Gegensatz zu ihr war Mila ein ganzes Stück zurückhaltender.
»Wollen wir uns ein ruhigeres Fleckchen suchen?« Joshua hockte sich neben Mila und sah sie abwartend an.
Mila überlegte kurz. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Niki sie zu sich zitieren würde.
»Ja, warum nicht.«
»Alles klar.« Er stand auf, schnappte sich eine weitere Flasche Sekt und verließ mit Mila im Schlepptau den Raum.
»Sind die Mädels aus deinem Zimmer alle hier?«, wollte er wissen und zeigte noch einmal in den überfüllten Raum, der für zwanzig Mann viel zu klein war.
»Ja, ich denke schon.« Mila sah sich sicherheitshalber um, dann nickte sie.
»Dann lass uns zu dir gehen.«
Frau Hoffmann schnarchte noch immer, als sie zum anderen Ende des Flurs liefen.
Als Mila die Tür zu ihrem gemeinschaftlichen Schlafraum öffnete, konnte sie noch das Lachen ihrer Mitschüler hören, die nicht bemerkten, dass sich Mila und Joshua davongestohlen hatten.
Gemeinsam saßen sie auf der unteren Etage von Milas Bett, tranken, lachten, alberten herum und wurden mit jedem Schluck offener. Sie und Joshua waren nun schon eine ganze Weile befreundet, aber als sie so herumalberten und sich spielerisch anschubsten, wurde ihr bewusst, dass sie zum ersten Mal richtig alleine mit ihm war, ohne dass Niki oder einer seiner Freunde anwesend waren. Es fühlte sich irgendwie merkwürdig an.
»Was willst du eigentlich nach dem Abi machen?«, fragte er und drehte den Becher in seinen Händen.
»Studieren. Ich werde mich an ein paar Universitäten bewerben.«
»Cool. In welche Richtung soll’s gehen?«
»Wirtschaftswissenschaften. BWL macht ja fast jeder. Nach der Fahrt will ich mir eine Wohnung suchen. Wahrscheinlich eine WG. Einen Nebenjob brauche ich auch noch. Niki meinte, ich soll kellnern. Da findet sich immer eine Stelle. Was hast du vor?«
Er zuckte mit den Achseln und schob die Unterlippe vor. »Keine Ahnung. Eigentlich hab ich keine Lust mehr zu lernen. Ich würde lieber mit dem Rucksack durch Australien reisen und dann, mal sehen. Ich weiß nur, dass ich irgendwann eine Familie haben will und einen Hund. So richtig happy family eben. Klingt kitschig, stimmt’s?«
»Sagen wir, ich habe nicht damit gerechnet, dass deine Zukunftspläne so bodenständig sind.«
»Ja, ich weiß. Ich bin eher der lockere Typ, aber das will ich doch nicht mein ganzes Leben lang sein. Ich meine, Partys sind schön und gut und die Mädels auch«, er lachte in sich hinein, »aber langsam merke ich, dass ich einfach mehr will. Eine Beziehung, was richtig Ernstes.« Er sah Mila fragend an, und sie hielt seinem Blick einen Moment zu lange stand. Es war diese eine berüchtigte Sekunde, die zwischen Freundschaft und mehr entschied.
Er beugte sich ein Stück weiter nach vorne, und Mila konnte seinen süßen Atem riechen.
Nein, nein, nein! Ich bin bloß betrunken und er auch. Joshua ist überhaupt nicht der Typ für eine Beziehung. Vielleicht ist das auch nur seine Masche, mit der er alle Mädchen rumkriegt.
Trotzdem blieb ihr Blick an seinen Grübchen hängen. Er verharrte mit seinen Lippen noch immer direkt vor Milas.
Zaghaft biss sie sich auf die Lippe. Der Moment zog sich ungnädig in die Länge.
Soll ich ihn wirklich küssen?
Die Tür schwang auf, und ein heller Lichtstrahl brach zwischen den beiden hindurch. Geblendet kniff Mila die Augen zusammen.
»Hey! Hier seid ihr!« Niki und zwei andere Mädchen standen plötzlich im Zimmer und warfen die Tür hinter sich ins Schloss. Sie kicherten aufgeregt und hüpften in ihre Betten. Sofort stellten sich alle schlafend – bis auf Niki.
»Versteckt die Flasche und legt euch ins Bett.«
»Was ist los?« Joshua stand auf und sah Niki fragend an.
»Pscht! Versteck dich!« Von oben drückte sie Joshuas Kopf wieder nach unten. »Frau Hoffmann ist wach und hält Lisa und Max gerade eine Standpauke, weil sie, na ja …« Niki grinste diebisch.
Es herrschte die gleiche Stimmung wie auf einem Schulausflug der fünften Klasse.
Draußen auf dem Flur ertönten Schritte.
»Schnell, Joshua, versteck dich endlich!« Niki selbst zog sich kichernd die Decke über den Kopf.
»Scheiße, wo soll ich hin?« Joshua stand noch immer ratlos vor Milas Bett.
»Unter die Decke«, flüsterte Niki von oben herab.
In letzter Sekunde legte sich Joshua flach an Milas Seite zwischen Wand und Hüfte und versteckte sich unter der Bettdecke, während Mila all ihre schauspielerischen Fähigkeiten einsetzte, um sich möglichst authentisch schlafend zu stellen. Quietschend öffnete sich die Tür, und ein schmaler Lichtstrahl fiel herein. Mila musste sich eine Hand auf den Mund pressen, um nicht laut loszulachen.
Frau Hoffmann trat ein und leuchtete allen mit einer Taschenlampe ins Gesicht. »Schlafen alle«, murmelte sie schlaftrunken und schlurfte wieder hinaus.
»Schlafen alle«, äffte Niki sie nach und kicherte.
»Pscht«, mahnte Joshua.
Mila sah ihn an. Sie spürte seinen warmen Körper an ihrer Seite und seinen Atem, der zart über ihre Haut kroch. Sie bildete sich sogar ein, sein Herz schlagen zu hören, aber vermutlich war es nur ihres, das aufgeregt wummerte.
»Hey, willst du etwa bei Mila übernachten?«, flüsterte Niki nach einer Weile und streckte ihren Kopf über das Geländer, wobei ihre langen Haare in wirren Strähnen nach unten fielen.
Joshua verdrehte die Augen. »Wo sie recht hat …«
Er hob die Bettdecke an und legte ein Bein über Mila. Sein Gesicht schwebte direkt über ihrem. Er grinste, weil er sich der eindeutigen Position bewusst war, zog kurz die Decke über ihre beiden Köpfe und hauchte einen kurzen Kuss über Milas Lippen. Er war so kurz wie eine Kaugummiblase, die beim Platzen die Lippen streifte, aber er genügte, um Milas Puls in die Höhe zu treiben.
»Ciao, ciao«, hauchte er in ihr Ohr, bevor er aus dem Bett krabbelte und sich aus dem Zimmer stahl.
Mila stand mit leicht geöffnetem Mund vor dem Schminkspiegel (dem Herzstück ihres Zimmers), der unter ihrem Atem beschlug. Vorsichtig drückte sie ein mit Kajal verschmiertes Wattestäbchen gegen ihren Wimpernkranz, um den falschen Wimpern mehr Halt zu verleihen.
»Perfekt.«
Sie drehte ihren Kopf kurz nach links und rechts, um ihre neue Wimpernpracht zu bewundern.
»Niki, die musst du nächstes Mal auch kaufen. Die sind der reinste Wahnsinn.« Sie sah ihre Freundin mit großen Augen an, um ihr zu demonstrieren, wie puppenhaft die neuen Wimpern ihre Augen wirken ließen, und wie gut der tiefschwarze Mascara ihre braunen Rehaugen zusätzlich zur Geltung brachte.
»Nicht schlecht«, bemerkte Niki, die sich interessiert nach vorne lehnte und mit zusammengekniffenen Augen die falschen Wimpern ihrer Freundin musterte.
»Sind das die neuen Lashes to go?«
»Ja, die kosten leider ein kleines Vermögen.« Mila verdrehte die Augen.
Niki kräuselte die Lippen. »Na ja, aber dafür sehen sie echt Kardashian-like aus.«
»Aber nur so lange, bis Emma sie in die Finger kriegt. Ich bin froh, dass ich das kleine Biest heute nicht am Hals hab.«
»Wo steckt denn deine Schwester?«
»Übernachtet bei einer Freundin.« Mila winkte ab und griff nach einem Lippenstift.
Mila und Niki waren absolute Beautyjunkies: Nachmittags nach der Schule schauten sie am liebsten bei einem Chai Latte Beautytutorials auf YouTube und shoppten die gehypten Kosmetikprodukte in der Drogerie. An den Wochenenden stylten sie sich oft stundenlang unter der Anleitung von millionenfach abonnierten YouTuberinnen für anstehende Partys. Das Einzige, was Mila im Moment noch mehr interessierte als Make-up, waren Jungs. Ein Junge. Joshua. Seit der Abschlussfahrt war nichts mehr, wie es einmal war. Ständig musste sie an ihn denken, an den Kuss, der nun schon so lange zurücklag, dass Mila fast glaubte, sie habe ihn sich nur eingebildet.
»Hallo? Mila? Ist jemand zu Hause?« Niki winkte ihr zu und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. »Hast du mir überhaupt zugehört? Ist ja auch egal. Bist du endlich fertig?«
»Ja, klar. Hast du Sarah eigentlich schon erreicht?«, fragte Mila und zog ihr Paillettentop sicherheitshalber noch ein Stück tiefer, um ihren Ausschnitt zu betonen. Ihre Mutter würde einen Schreikrampf bekommen, wenn sie ihre Tochter so sehen würde, aber Mila wollte alle Register ziehen.
»Ja, sie hat getwittert, dass sie etwas später kommt.« Niki zwinkerte Mila verschwörerisch zu.
»Später, soso.«
Das konnte nur bedeuten, dass Thomas bei Sarah zu Besuch war – in ihrem Bett.
»Dann ziehen wir eben ohne sie los.« Mila hatte keine Lust, auf Sarah zu warten. Die beiden waren nie wirklich befreundet gewesen. Sarah war eine von Nikis Freundinnen, die sie noch aus der Grundschule kannte. »Ich hab nämlich keine Lust, den halben Abend hier zu versauern.«
Außerdem habe ich mir in den Kopf gesetzt, Joshua um den Finger zu wickeln.
Dieses Geheimnis behielt sie allerdings noch für sich. Niki ahnte nicht einmal annähernd, dass sich Mila in ihren gemeinsamen besten Freund verliebt hatte. Auch den Kuss hatte Mila ihr verschwiegen.
»Geht klar. Ich habe auch keine Lust zu warten. Zum Schluss kommt sie ja doch wieder nicht.« Mit ihren Fingern zog sie genervt ihren Kaugummi in die Länge. »Hast du eigentlich was von Joshua gehört?«
»Ja. Er ist schon so gut wie im Klub.« Mila versuchte, beiläufig zu klingen.
Drei Wochen lag der Ausflug nun schon zurück, und seitdem lag diese Verlegenheit zwischen den beiden in der Luft, obwohl nichts zwischen ihnen gelaufen war. Niki und die anderen aus der Klasse hatten noch nichts bemerkt, aber Mila und Joshua registrierten die verräterischen kleinen Veränderungen. In den Pausen standen sie plötzlich immer nebeneinander, ihre Arme berührten sich rein zufällig, und immer wieder suchten sie den Blick des anderen. Musste er über etwas lachen, fiel Mila automatisch ein. Wenn Mila eine Idee blöd fand, winkte Joshua ebenfalls ab. Es bestand kein Zweifel daran, dass sich Mila in ihn verliebt hatte und er sich in sie. Nach der Schule schrieben sie sich fast stündlich Nachrichten, meistens unter einem Vorwand, um dann doch über Belanglosigkeiten zu reden oder sich noch besser kennenzulernen. Nach und nach lernte sie ihn als einen Joshua kennen, der so anders war als der, den er in der Schule und auf Partys verkörperte. Erst gestern hatte Mila erfahren, dass er total auf Tarantino-Filme stand.
Pulp Fiction zu schauen, stand nun ganz oben auf ihrer Prioritätenliste, um mit ihm darüber reden zu können. Sie täte dann einfach so, als hätte sie den Film schon mindestens zehn Mal gesehen. Heute würde Mila aber fürs Erste den entscheidenden Schritt wagen, um dieses unausgesprochene Etwas zwischen ihnen voranzutreiben. Sie hatte gehofft, Joshua würde den ersten Schritt machen, aber seit dem Kuss wartete er wohl auf ein eindeutiges Zeichen von ihr. Bei dem Gedanken, die Initiative ergreifen zu müssen, zog sich Milas Magen aufgeregt zusammen. Sie war noch nie wirklich mit einem Jungen zusammen gewesen und vor allem nicht mit einem, der bereits so viel Erfahrung hatte.
Nur Mut, das haben auch schon andere vor mir geschafft, redete sie sich gut zu. Vielleicht können wir den Film dann auch zusammen ansehen.
Sie lächelte bei dem Gedanken in sich hinein.
Das Klingeln des Telefons riss Mila Stunden später aus dem Schlaf. Müde rieb sie sich die verquollenen Augen.
»Mist.« Sie drückte zwei Finger gegen die Schläfe, um das dumpfe Pochen zu unterbinden. Vergeblich. Ihr Gehirn pulsierte. Sie griff nach dem Hörer, blinzelte auf das viel zu helle Display und nahm den Anruf entgegen.
»Hallo?«, stöhnte sie ins Telefon.
»Wo ist Emma?«, dröhnte die wütende Stimme ihrer Mutter zu ihr durch.
»Was? Emma?« Langsam setzte sich Mila auf. Wenn ihre Mutter derart schlecht gelaunt war, hieß das nichts Gutes. Sie blinzelte zweimal, und der Raum hörte auf, sich zu drehen. Das flaue Gefühl in ihrer Magengegend blieb.
»Emma. Deine Schwester Emma! Du solltest sie um dreizehn Uhr bei ihrer Freundin Yvette abholen!«
Im Hintergrund konnte Mila ihren Vater hören, der versuchte, seine Frau Dana zu beruhigen.
Scheiße! Erschrocken starrte Mila auf die Uhr. Es war tatsächlich schon vierzehn Uhr.
»Mila, hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, Mama.« Sie strampelte ihre Pyjamahose von den Beinen und suchte auf ihrem von Kleidern überhäuften Stuhl nach einer passenden Jeans.
»Nein, du hörst mir nicht zu. Ich höre das doch schon an dem Unterton in deiner Stimme.«
»Mama, ich ziehe mich gerade an, und dann hol ich Emma sofort ab. Ehrenwort.«
»Das wird nicht mehr nötig sein. Yvettes Mutter bringt sie nach Hause, bevor sie zur Arbeit fährt.«
Doppelte Scheiße! Nun konnte Mila ihren Fehler nicht einmal wiedergutmachen. Als hätten sie sich abgesprochen, klingelte es in dem Moment an der Haustür. Mila schob die Gardine in ihrem Zimmer beiseite und sah gerade noch den roten Wagen von Yvettes Mutter davonfahren. Mila lief nach unten und öffnete Emma, die kommentarlos ihre Schuhe in die Ecke unter der Garderobe donnerte.
»Emma, es tut mir leid.«
»Mir egal.« Sie streckte trotzig die Zunge raus. Mit verschränkten Armen starrte sie das Telefon in Milas Hand an.
»Ist das Mama?«
Mila nickte.
»Gib sie mir. Gib her, ich will mit ihr sprechen.« Sie streckte ihre Hände nach dem Telefon aus.
»Mila, du hättest nur deine Schwester abholen sollen. War das wirklich zu viel verlangt?«, redete nun ihre Mutter auf der anderen Seite auf sie ein. »Wie sieht denn das aus? Was denkt denn bloß Yvettes Mutter von mir?« Sie stöhnte auf. »Ich kann verstehen, dass du jung bist und feiern willst. Denk bloß nicht, ich wüsste das nicht. Ich war auch mal jung. Aber ich habe trotzdem meine Pflichten ernst genommen. Meine Mutter konnte sich immer auf mich verlassen.«
»Mama, es tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Milas Mutter atmete hörbar aus. In dieser Pause lag so viel Spannung, dass ihr innerer Kampf deutlich zu spüren war. »In Ordnung, aber wenn dein Vater und ich später nach Hause kommen, reden wir noch mal darüber. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Und bei Yvettes Mutter entschuldigst du dich auch. Gib mir jetzt bitte Emmchen.«
»Mach ich.«
Mila reichte das Telefon weiter.
»Mama? Mama, bist du’s? Mila hat mich einfach vergessen. Ich wollte schon alleine nach Hause laufen, aber Yvettes Mama hat gesagt, das dürfte ich nicht. Das wäre viel zu gefährlich, aber ich wäre trotzdem gelaufen, wenn sie nicht gewesen wäre.«
Oh, du bist unmöglich! In Mila brodelte es vor Wut. Nein, du wärst ganz sicher nicht gelaufen.
Emma war das intriganteste Wesen, das dieser Planet zu bieten hatte. Mila konnte den Wutausbruch ihrer Mutter durch das Telefon hören. Emma stierte ihre Schwester währenddessen überheblich an und hielt den Hörer ein wenig von sich weg, sodass Mila jedes Wort verstehen konnte.
Na super! Jetzt muss ich mir wahrscheinlich anhören, dass Emma hätte gekidnappt werden können.
»Nächstes Mal«, zischte Mila ihrer kleinen Schwester ins Ohr, »trete ich dir in den Hintern, und dann fliegst du nach Hause.«
Mila wollte sich nicht länger anhören, was Emma noch gegen sie vorbringen wollte, und ging zurück in ihr Zimmer.
Nicht mehr lange, und ich habe meine eigenen vier Wände!
Noch fertig von der vergangenen Nacht, warf sie sich auf ihr zerwühltes Bett. Ihr Blick fiel auf ihr Handy. Niki hatte ihr eine Nachricht mit einem Foto gesendet.
14:07 Niki: Selfie von gestern :-D
Auf dem Schnappschuss lächelten Mila und Niki fröhlich in die Kamera. Das Foto war entstanden, bevor die beiden zum Klub aufgebrochen waren. Bevor die Katastrophe ihren Lauf genommen hatte. Niki hatte zu viel getrunken und hemmungslos die ganze Nacht mit Joshua getanzt. Mila hatte gar keine Chance mehr, sich Joshua zu nähern, geschweige denn zu klären, wie es zwischen ihnen weitergehen sollte. Ihre beste Freundin hatte nicht die leiseste Ahnung, dass sie Mila damit gehörig verletzt hatte, was aber eigentlich ein gutes Zeichen war, denn es bedeutete, dass sich Niki nichts dabei gedacht hatte. Heute und mit klarem Kopf, fühlte sich Nikis Tanzeinlage auch nicht mehr annähernd so bedrohlich an wie gestern. Eigentlich hatte Niki dabei sogar ziemlich lächerlich ausgesehen, wie sie betrunken um ihn herumgetorkelt war.
Ich sollte es ihr trotzdem sagen.
14:10 Mila: Können wir uns treffen?
Sofort erschienen zwei blaue Häkchen, und Niki antwortete.
14:11 Niki: Stimmt etwas nicht? :-(
Mila musste grinsen.
14:14 Mila: Alles in Ordnung. Aber es gibt etwas, das ich dir persönlich sagen muss.
14:15 Niki: Okay. In einer halben Stunde bei einem Chai Latte an unserem Stammtisch?
14:15 Mila: Geht klar.
Niki saß bereits an einem der Fensterplätze und scrollte über ihr Handydisplay, als Mila völlig außer Atem dort eintraf. Sie brachte mit der Schwingtür einen Schwall kalte Luft herein. In dem Café war es gemütlich warm, und es roch nach gerösteten Kaffeebohnen, sodass man sofort das nasskalte Herbstwetter vergessen konnte. Die Einrichtung war modern, aber dennoch behaglich. Das Parkett auf dem Boden erinnerte an alte Eichenfässer. Tische, Sessel und Bänke waren aus schwarzbraunem Holz mit lila Sitzpolstern. Hellgrüne und anthrazitfarbene Dekokissen brachten ein paar Farbtupfen in die Einrichtung. An den unverputzten Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotos und Lebensweisheiten in altmodischen Rahmen. Auf Regalen tummelten sich Bücher mit bunten Buchrücken und ein paar Pflanzen. Am Wochenende war das Café immer voll besetzt. Die Gäste waren in der Regel junge Studenten, die den Kater vom Vorabend mit einem doppelten Espresso bekämpfen wollten, und ältere Damen, die mit ihren Freundinnen ein Sektfrühstück zelebrierten.
»Sorry, ich hab mich total beeilt, aber dann hab ich den Bus doch knapp verpasst«, entschuldigte sich Mila und gab ihrer Freundin zur Begrüßung einen Kuss.
»Kein Problem. Setz dich.« Niki zog den Stuhl neben sich zurück und winkte dem Kellner zu. »Dein Vanille-Chai kommt sofort. Ich hab schon bestellt.«
»Danke.« Mila legte ihren Schal auf die Fensterbank, lehnte sich zurück und kam langsam an. »Ich musste mich beeilen, weil das kleine Biest im Moment alles gegen mich verwendet.«
Seit Wochen trieb Emmas neu entdeckte hinterhältige und manipulative Art – laut Milas Mutter nur eine Phase, die alle Mädchen durchlebten – ständig einen Keil zwischen Mila und ihre Eltern.
»Zicke«, kommentierte Niki und knabberte an einem Keks mit großen Schokoladestückchen. »Was ist bloß mit ihr los?«
Niki lehnte sich ein Stück nach hinten, damit der junge Kellner die beiden Tassen auf den Tisch stellen konnte.
»Emma ist beleidigt, weil ich ihr verboten habe, in mein Zimmer zu kommen. Ständig platzt sie rein, will meine Sachen anziehen, mein Make-up benutzen, und überhaupt will sie mir nur auf die Nerven gehen.« Mila leckte etwas aufgeschäumte Milch von ihrem Löffel.
Fassungslos schüttelte Niki den Kopf. »Bin ich froh, dass ich die kleine Schwester in unserer Familie bin.«
Für einen Moment kehrte Ruhe ein, als beide an ihren Getränken nippten und durch die neusten Nachrichten auf ihren Handys scrollten.
»Der Klub hat schon Fotos von gestern Nacht online gestellt.« Niki wurde rot.
»Und? Sind auch welche von uns dabei?« Neugierig beugte sich Mila über den Tisch, um einen Blick auf Nikis Handy werfen zu können.
»Nur eins.« Sie öffnete das Foto und zeigte es Mila. »Hier, siehst du? Aber man sieht zum Glück mein Gesicht nicht.«
Nein, das sieht man wirklich nicht. Du hast es ja auch in Joshuas Halsbeuge vergraben.
Auf dem Foto tanzte Niki in eindeutiger Pose mit Joshua, während Mila gelangweilt danebenstand und an einem Cocktail nippte.
»Niki, wir müssen reden.«
Beschämt vergrub Niki ihr Gesicht in ihren Handflächen. »Mila, ich weiß. Ich war so peinlich. Ich darf gar nicht daran denken. Ich trinke nie wieder Alkohol. Ich schwöre, der Martini war schuld. Die Putzfrau flippt bestimmt aus, wenn sie die Sauerei sieht.«
»Es geht nicht um dich«, platzte Mila heraus.
»Nicht?« Niki hob den Kopf. »Worum denn dann?«
Mila geriet ins Straucheln. Jetzt oder nie.
»Sag schon! Was ist los?« Niki wirkte verunsichert, aber neugierig.
»Niki, ich … ich hab mich in jemanden verliebt.« Mila spürte, wie die Hitze in ihre Ohren kroch. Bei einem anderen Jungen wäre das nicht passiert, aber es war schließlich Joshua, den die beiden immer nur als Spaßvogel und Partytier gesehen hatten und nicht als potenziellen Freund.
»Oh mein Gott! Wer ist es? Hast du ihn gestern kennengelernt?« Nervös ließ sie den Löffel durch ihren Tee rotieren.
»Nein, eigentlich kenne ich ihn schon länger – und du kennst ihn auch.«
Niki knabberte gebannt an einem Keks.
»Jefzt maffs nif so pfannend«, nuschelte sie mit vollem Mund.
»Du hast nicht die geringste Ahnung, oder?«
Sie schüttelte energisch den Kopf.
»Es ist … Joshua.«
Niki prustete drauflos, und Kekskrümel landeten auf dem Tisch. Die Seniorenrunde vom Tisch nebenan warf Niki einen kurzen Blick zu.
»Joshua? Ist nicht wahr! Unser Joshua?« Sie hustete und klopfte sich auf die Brust, als hätte sie sich verschluckt. »Joshua Haas?« Sie wischte die Krümel mit ihrem Ärmel auf den Boden.
Mein Joshua.
»Ja, Joshua.«
»Du machst Witze?«
»Nein.«
»Okay, okay, seit wann? Und vor allem warum? Ich meine, Joshua? Ernsthaft?« Sie hob völlig überrumpelt ihre Handflächen nach oben. »Ich dachte, dass er so was wie ein Bruder für uns ist.«
Mila überhörte den letzten Satz geflissentlich. »Seit der Abifahrt.«
»Abschlussfahrt«, überlegte Niki angestrengt. »Ihr zwei habt euch irgendwann ausgeklinkt.« Erkenntnis flackerte in ihren Augen auf. »Moment! Ihr habt doch nicht etwa …? Direkt unter mir?«
»Nein! Niki!« Mila sah sich hektisch um und hoffte, dass sie niemand gehört hatte. Auch wenn das Café eine heimelige Atmosphäre bot, war man dennoch nicht in einem schalldichten Raum.
»Nun tu doch nicht so.«
»Nein, wirklich. Wir haben uns nur unterhalten, und irgendwie hab ich mich plötzlich in ihn verliebt. Ich kann es ja selbst nicht glauben. Ich sehe ihn plötzlich mit ganz anderen Augen.«
»Durch die Augen würde ich auch mal gerne gucken. Vielleicht brauchst du eine Brille.« Niki schüttelte fassungslos den Kopf. »Joshua … Ich kann es immer noch nicht glauben.«
»Ja, ich auch nicht.«
»Weiß er es?« Neugierig reckte Niki ihr Kinn vor.
»Jein.«
»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Ja oder nein?«
»Wir schreiben viel miteinander, und die Art, wie er mich ansieht, wie wir den Kontakt zueinander suchen … Ja, er muss es wissen, aber offen darüber geredet haben wir noch nicht. Bisher war nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Du musst es ihm sagen.« Niki nahm ihr Handy in die Hand und suchte eilig seine Nummer.
»Warte.« Mila nahm ihr das Smartphone weg. »Bitte, ich will es ihm sagen. Alleine. Deshalb hab ich es bis jetzt geheim gehalten. Ich will es langsam angehen lassen. Er ist nicht nur irgendein Typ, sondern Joshua eben. Falls ich mich getäuscht und mir das alles nur eingebildet habe, will ich ihn nicht als Freund verlieren, weil ich ihn verschreckt hab.«
Niki haderte einen Moment mit sich und ihrer Sensationsgier. »Geht klar, aber du musst es ihm sagen.«
»Ich wollte es ihm ja sagen …« Mila warf Niki einen vielsagenden Blick zu.
»Oh nein, doch nicht etwa gestern?«
Mila zuckte mit den Schultern.
»Oh, ich bin so eine blöde Kuh!« Niki schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Mila, wenn ich das geahnt hätte, hätte ich doch niemals …« Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen im Raum stehen.
»Ist schon gut. Ich weiß es ja. Ich hätte es dir auch viel früher sagen müssen.«
Niki riss die Augen auf und sprang sofort auf dieses Schuldeingeständnis an.
»Ja, genau. Ich bin schließlich deine beste Freu–«
Milas Handy unterbrach die beiden. »Ist er das?«
»Nein. Es ist mein Albtraum.« Zögernd nahm Mila den Anruf entgegen. »Hi, Mama.«
»Komm sofort nach Hause.« Sie wirkte aufgebracht und schnaufte in den Hörer. Ein Feuer speiender Drache war nichts gegen die bebenden Nasenflügel von Milas Mutter. Noch bevor Mila fragen konnte, was los war, legte sie auf.
»Verdammt! Ich dachte, sie kommen erst heute Abend zurück. Mama ist vorhin schon ausgerastet, weil ich vergessen habe, Emma bei ihrer Freundin abzuholen.«
»Oh.« Niki verzog die Mundwinkel.
»Du sagst es. Und jetzt hab ich Emma alleine daheim gelassen.«
»Wie alt ist sie noch mal?«
»Neun.«
»Neun! Sie ist doch alt genug, um mal zwei Stunden alleine klarzukommen. Sie wird schon nicht die Bude abfackeln.«
»Ja, das sehe ich auch so, aber Mama …« Sie verdrehte die Augen. »Ich glaube, nächstes Wochenende kann ich mich nicht rausschleichen. Sie weiß es übrigens. Anscheinend hat sie es mir die ganze Zeit über indirekt erlaubt, aber nach der Nummer wohl nicht mehr.«
»Du bist neunzehn! Was ist bloß los mit deinen Eltern? Du brauchst ihre Erlaubnis nicht.«
»Solange ich meine Füße unter ihren Tisch strecke …«
»Jaja. Schon gut. Ich kann den Spruch langsam nicht mehr hören.«
»Ich auch nicht. Aber zum Glück beginnt bald das wahre Leben!« Sie schob ein paar Euro unter die Untertasse ihres Tees und brach auf.
»Was denkst du dir dabei? Ich will nur verstehen, was in deinem Kopf vorgeht.« Milas Mutter erwartete eine Antwort.
»Es tut mir leid. Wie oft soll ich das denn noch sagen?«
»Ich will nicht hören, dass es dir leidtut. Manchmal ist es mit einer einfachen Entschuldigung nicht getan. Vor allem nicht, wenn die Entschuldigungen nichts als heiße Luft sind und du nichts aus deinen Fehlern lernst. Ich will wissen, wie du einfach so deine Schwester vergessen konntest. Und was du dir dabei denkst, ein Kind alleine zu Hause zu lassen!«
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt in letzter Zeit ziemlich viel nicht.« Sie spielte damit auf die letzte Prüfung an, die eher bescheiden ausgefallen war.
Natürlich wurden bei dieser Gelegenheit alle Reibereien der letzten Wochen wieder frisch aufgekocht.
Die Schreierei hatte sich gewaschen. Vermutlich verstand selbst das schwerhörige, alte Ehepaar von nebenan jedes Wort. Das Schlimmste war, dass Mila ihrer Mutter ausnahmsweise sogar recht geben musste. Sie hatte sie gleich doppelt enttäuscht, indem sie nicht nur Emma vergessen hatte, sondern sich auch langsam, aber sicher ihren Notendurchschnitt ruinierte, der ihr Freifahrtschein für die Partynächte war, wie ihre Mutter ihr gönnerhaft erklärt hatte. Dieses Mal schaffte es selbst eine aufrichtige Entschuldigung nicht, ihre Mutter zu besänftigen. Auch ihr Vater stand ihr nicht unterstützend zur Seite. Er stand mit verschränkten Armen hinter seiner Frau und schüttelte müde den Kopf. Er hasste Auseinandersetzungen, und es war ihm anzusehen, dass er diesen Streit mehr als überflüssig fand. In seinem Blick lag Verständnis dafür, dass sie jung war und keine Lust auf Verpflichtungen hatte, aber auch die Frage, wieso sie sich nicht wenigstens an ein paar einfache Regeln halten konnte, um den Hausfrieden nicht ständig zu gefährden.
»Neun Jahre! Verstehst du das? Emma kann sich nicht mitten in einer Großstadt in einen Bus setzen, nach Hause fahren und sich selbst versorgen, Mila.« Milas Mutter reagierte noch immer aufbrausend auf die Schlichtungsversuche ihrer Tochter.
»Mama, du hast recht, und es tut mir wirklich leid.«
»Irgendwann läuft das Fass über, Mila. Du musst lernen, dass eine Entschuldigung nicht alle Probleme aus der Welt schafft. Was hättest du getan, wenn Emma etwas zugestoßen wäre? Dich entschuldigt? Du tust einfach, wonach dir der Kopf steht, ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken.«
»Mama …« Mila wurde die Diskussion langsam leid. Noch mehr Kritik, und sie würde in Tränen ausbrechen. Sie wusste selbst, dass sie einen Fehler gemacht hatte, aber trotzdem war es unfair, immer weiter auf ihr herumzuhacken. Schließlich würde das den Fehler auch nicht wiedergutmachen.
Die beiden stritten selten so heftig, dass es selbst eine Entschuldigung nicht ausbügeln konnte. Zu allem Überfluss stand Emma erhobenen Hauptes daneben und blickte ihre große Schwester abfällig an.
Mila fühlte sich wie eine Ausgestoßene in ihrer eigenen Familie.
»Geh nach oben und kümmer dich um die Schule. Deine letzten Klausuren waren nicht gerade berauschend. Da wirst du dich wohl wenigstens die letzten Wochen vor deinem Abschluss noch auf den Hosenboden setzen und deinen Lehrern beweisen können, dass dir dein Abitur etwas bedeutet«, betonte ihre Mutter erneut, und Mila musste sich eingestehen, dass diese Aussage mehr als untertrieben war. In Erdkunde war sie von einer guten Zwei auf eine schlechte Drei abgerutscht, von Biologie gar nicht zu reden.
»Alles reine Lernfächer«, wie ihre Eltern mehrfach betonten, was Mila ein noch schlechteres Gewissen aufbrummte. Sie wollte ihre Eltern nicht enttäuschen, aber manchmal gab es einfach wichtigere Dinge als Schule. Leben zum Beispiel. Leben und Spaß haben. Sie war längst auf Wohnungs- und auf Jobsuche. Das Studentenleben würde ihr viel eher liegen.
Die vergangene Nacht und der heutige Tag wuchsen Mila über den Kopf: Emma hier, Emma da, verantwortungslose Schwester, Emma, Emma, Emma, grottenschlechte Noten …
Ein riesiger Stressklumpen schnürte Mila die Kehle zu und löste einen Hustenanfall aus.
»Mensch, Mila, morgen gehst du sofort zum Arzt. Du trägst die Erkältung schon Wochen mit dir rum«, sagte ihr Vater ruhig und klopfte ihr auf den Rücken. »Geht’s wieder?«
»Wahrscheinlich wäre das nicht der Fall, wenn sie nachts nicht in der Eiseskälte vor irgendwelchen Diskotheken herumlungern würde«, warf ihre Mutter ein. Obwohl es eindeutig ein bissiger Kommentar war, brach dennoch ein besorgter Unterton durch.
»Ach, nach einer anständigen Ladung Antibiotika ist Mila schnell wieder auf dem Damm, stimmt’s?«
Mila nickte.
Der Montag machte seinem Namen alle Ehre. Es regnete in Strömen, Mila verpasste den ersten Bus zur Schule, ihre Schuhe waren nicht wasserdicht, und Herr Grimm kontrollierte die Hausaufgaben, die sie natürlich vergessen hatte. Kurzum, die Welt war gegen sie.
Joshua hatte sie auch nur kurz in der Pause sprechen können. Für mehr als ein »Hi, wie geht’s?« hatte es nicht gereicht. Aber sie nahm sich fest vor, sich am Wochenende mit ihm zu treffen und reinen Tisch zu machen. Niki war damit zwar nicht einverstanden und wollte lieber alles sofort klären, aber es war schließlich Milas Lovestory, nicht Nikis.
Nach dem Unterricht fühlte sich das Herumhocken im Wartezimmer der Arztpraxis fast wie Erholung an. Es war trocken, warm, und weit und breit waren weder Lehrer noch nervige Eltern oder Emmas zu sehen. Nur eine ältere Dame, die sich im Sekundentakt die Nase schnäuzte, ein Mann in Bauarbeiterkleidung, der so laut hustete, dass er mit seinem Bellen sämtliche Hunde aus der Nachbarschaft aufschrecken könnte, und ein Junge, der sich mit fieberroten Wangen an die Brust seiner Mutter drängte.
Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und die Sprechstundenhilfe streckte den Kopf herein.
»Frau Mila Kuhn, bitte.«
Sie stand auf und folgte der Frau in Behandlungszimmer Nummer vier.
»Der Arzt kommt gleich zu Ihnen.«
Mila nickte und setzte sich auf die altmodische grüne Liege, über die man eine Rolle Papiertücher gelegt hatte. Neben einem vergilbten Monitor standen abgegriffene Medizinbücher und einige Utensilien zur Blutentnahme, Desinfektionsmittel, ein paar Tupfer und Spatel.
»Mila, hallo, schön, dich zu sehen.« Doktor Voigt schloss die Tür hinter sich. Er und seine Frau waren seit Kindertagen Milas Hausärzte, und noch immer fühlte sie sich wohl in deren Praxis. Er betrieb sie gemeinsam mit seiner Frau, die als Kinderärztin tätig war. Inzwischen war er in die Jahre gekommen und hatte graue Haare bekommen. Trotzdem trug er noch immer ein jugendliches Lächeln auf den Lippen. Er reichte Mila kurz und kräftig die Hand, ehe er sich die Hosenbeine ein Stück nach oben zog und auf einem weißen Hocker mit Rollen vor dem Computer Platz nahm.
»Was genau führt dich denn in meine Praxis, Mila?«
»Eine Erkältung. Die schleppe ich schon seit ein paar Wochen mit mir rum.«
»Ich verstehe.« Er tippte etwas in seinen Computer. »Das Wetter trägt auch nicht gerade dazu bei, dass man schnell wieder gesund wird.« Er ließ seinen Blick kurz aus dem Fenster schweifen und sah in den grauen, wolkenverhangenen Himmel. »Im Moment kommen täglich Patienten mit hartnäckigen grippalen Infekten. Du bist also kein Einzelfall.« Er lachte. »Wie lange hast du die Erkältung denn schon?«
»Hm, fünf Wochen ungefähr.«
»Fünf Wochen?« Doktor Voigt staunte und rückte seine Brille zurecht. »Donnerwetter, da hast du dir aber Zeit gelassen mit dem Arztbesuch. Hast du in der Zwischenzeit irgendwelche Medikamente genommen?«
»Salbeitee, Salbeibonbons, Tropfen gegen Halsschmerzen, Nasensprays, das Übliche.«
»Also hast du überwiegend Symptome im Hals-Nasen-Rachen-Bereich?«
»Nicht nur. Ich habe auch Fieber und fühle mich allgemein ziemlich schwach. Seit ein paar Tagen habe ich auch ab und zu mit Schwindel zu kämpfen, aber ansonsten nur etwas Husten, Schnupfen, was man eben so kennt.«
Er nickte.
»Schauen wir uns die Sache mal genauer an, und dann finden wir schon das richtige Mittel für dich.«
Doktor Voigt legte sich ein Stethoskop um und schnappte sich einen Spatel. Auf seinem Hocker rollte er zu Mila heran.
»Warst du in den letzten Wochen trotz Erkältung in der Schule?«
Mila nickte schuldbewusst. »Wir haben bald Abiprüfungen.«
»Hm.« Er warf ihr einen enttäuschten Blick zu. »Es ist gefährlich, Erkältungen einfach so zu übergehen. Ihr jungen Hüpfer seid in der Hinsicht einfach unbelehrbar. Aber gut, lass mich zuerst mal deinen Hals untersuchen.«
Mila streckte ihm die Zunge heraus und sagte »Ah«, während er ihren Rachen beleuchtete.
»Leicht gerötet.« Doktor Voigt nahm den Spatel aus ihrem Mund und warf ihn in den Abfallbehälter. »Dann hören wir jetzt noch deine Lunge ab.«
Das Stethoskop fühlte sich eiskalt auf ihrem Rücken an. Sie atmete tief ein und wieder aus.
»Der Husten klingt aber schon wieder ab«, sagte er zufrieden. Als Nächstes befühlte er mit gerunzelter Stirn Leber und Milz. »Gut, lass mich noch deine Lymphknoten fühlen.«
Mit Zeige- und Mittelfinger tastete er sich an Milas Kiefer entlang bis zu ihrem Hals.
»Die sind eindeutig geschwollen. Hm …« Er überlegte. »Müde bist du auch häufig und ziemlich blass um die Nase.« Er rollte zurück zu seinem Computer und durchforstete eine Datei.
»Deine letzte Blutuntersuchung ist schon eine ganze Weile her. Ich würde sagen, wir machen ein Blutbild, sehen uns deine Entzündungswerte an und werfen dabei auch gleich mal einen Blick auf deine Eisenwerte. Du bist inzwischen keine Vegetarierin geworden, oder?«
Mila lachte. »Nein, ich liebe Burger.«
»Dann bin ich ja beruhigt. Immer diese neumodischen Trends. Ich schicke gleich Frau Arnold bei dir vorbei. Mach schon mal deinen Arm frei.«