Angel Kisses: Das Weihnachtswunder von New York - Mariella Heyd - E-Book
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Angel Kisses: Das Weihnachtswunder von New York E-Book

Mariella Heyd

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Beschreibung

Ein gefallener Engel und ein aufstrebendes Model auf der Suche nach einem Wunder: ein magischer Roman im winterlichen New York für alle Fans von Laura Kneidls »Light and Darkness« und des Filmes »Stadt der Engel«  Charly hofft in New York auf den Durchbruch als Model, um die Farm ihrer Familie in Alabama zu retten. Allerdings empfängt die Großstadt sie nicht mit offenen Armen und Charly strandet in einer schäbigen Wohnung mitten in der Bronx. Dort lernt sie schnell, dass Wunder nicht einfach vom Himmel fallen – oder doch? Denn eines Abends landet ein sturzbetrunkener Engel auf der Feuerleiter vor ihrem Fenster und behauptet, ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen zu können - der Beginn eines himmlichen Abenteuers...

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© 2019 Piper Verlag GmbH, MünchenRedaktion: Julia FeldbaumCovergestaltung: Cover&Books by Rica AitzetmüllerCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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Inhalt

Cover & Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Epilog

1. Kapitel

29. September

Ein Blitzlichtgewitter donnerte auf Charly ein, aus dem sie nur noch flüchten wollte. Der Applaus war verklungen, und die Fotografen drängten sich nun im Halbkreis um sie. Alle winkten und riefen ihren Namen, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie pferchten Charly ein, bis sie mit dem Rücken zur Bühne stand. Jemand tatschte ihr von hinten an die Hüfte, hielt sie fest und richtete die pinkfarbene Schärpe, die ihr von der Schulter bis zum Becken reichte. Es gab kein Entkommen.

»Lächeln«, raunte ihr der Moderator an ihrer Seite ins Ohr. Anschließend grinste er mit seinen chlorweißen Beißern, die so gerade waren wie eine Reihe Tic Tacs, in jedes Objektiv, während er einen Arm um ihre Taille legte. Er zog sie dabei so nah an sich heran, dass sie seinen Schweiß riechen konnte, der durch den Polyesterstoff seines Sakkos sickerte.

»Halt den Blumenstrauß etwas höher«, rief einer der Fotografen.

»Hier drüben! Schau mal her, Miss Elmore County!«, flötete ein anderer.

Charly versuchte auszumachen, welcher der Fotografen ihr zurief, und drehte sich auf gut Glück nach links. Automatisch bewegte sich die Meute mit ihr. Wie sie es eingeübt hatte, legte sie den Kopf schräg, schob die Hüfte nach vorn und stemmte den linken Arm in die Taille. Die Pose war zwar die einer verrenkten Schaufensterpuppe, aber auf Fotos sah es gut und vor allem professionell aus. Die Blitzlichter der Kameras regneten auf sie ein wie das Stroboskoplicht in einer Disco. Im Affekt hob sie schützend einen Arm vor die Augen, aber der Moderator packte ihr Handgelenk und drückte es wieder nach unten.

»Du sollst lächeln und dich nicht verstecken. Himmel Herrgott, andere genießen die Aufmerksamkeit.« Das breite Lachen des Moderators wirkte allmählich angespannt, seine Mundwinkel zuckten vor Anstrengung.

Charly erspähte inmitten der Journalisten ihre Mutter. Sie grinste aufgesetzt wie Stephen Kings Pennywise und deutete mit beiden Zeigefingern auf ihre Mundwinkel.

Ja, ja, ich weiß schon. Lächeln nicht vergessen.

Alles in dieser Sporthalle drehte sich nur um Charly. Bloß eine Person interessierte sich nicht für die neue Miss Elmore County: die Frau mit dem akkuraten Longbob und der Sonnenbrille, die noch immer auf ihrem Stuhl saß und geschäftig auf dem Display ihres Smartphones tippte, während sich um sie herum die Reihen lichteten.

Wer ist sie?

Nach und nach verschwanden die Zuschauer, der Moderator ließ mit seiner verschwitzen Hand endlich von ihr ab, und die Blitzlichter wurden weniger. Als sich auch der letzte Fotograf verabschiedet hatte, wurde Charly von dem Pressebuffet mit den Leckereien wie magisch angezogen. Auf drei Schulbänken waren neben der Bühne Kaffee, Brownies und Donuts angerichtet worden. Sie hätte sich am liebsten auf das süße Gebäck gestürzt, um das nachzuholen, was sie sich in den vergangenen Wochen an Kohlenhydraten hatte verkneifen müssen. Über den Tischen hatte man zwischen zwei Klettergerüsten ein Banner befestigt, auf dem in großen schwarzen Druckbuchstaben Wahl zur Miss Elmore County 2018 stand. Abgesehen davon hatte man in der Turnhalle der Wetumpka High School reihenweise bekritzelte Stühle aus den Klassenzimmern aufgestellt. Hier und da lagen Flyer auf dem Boden, über die schon mindestens fünfzig Menschen getrampelt waren. Sonst deutete nichts auf die Misswahl hin.

Nur ein winzig kleiner Happen. Die nächste Wahl steht schließlich erst in ein paar Monaten an.

»Charleen, komm mal.« Ihre Mutter winkte sie zu sich heran.

Die Chancen auf einen Donut mit Zuckerglasur schwanden. Wehmütig wandte sie sich von dem klebrig-schmackhaften Anblick ab.

»Was gibt’s, Mom?«

Ihre Mutter riss für den Bruchteil einer Sekunde mahnend die Augen auf und nickte unauffällig in Richtung des Mannes, der neben ihr stand und einen Notizblock umklammerte. Mit der Nerdbrille, der Kamera um den Hals und dem Stift im Anschlag war offensichtlich: Hier war ein Reporter auf eine gute Story aus. Ab jetzt wollte jedes Wort gut überlegt sein, denn auch der kleinste Patzer wurde aufgezeichnet.

»Das ist Will Sanchez. Er ist Journalist bei der Elmore County Zeitung. Er würde dir gern ein paar Fragen stellen.«

»Natürlich. Gern.« Charly lächelte ihm freundlich zu.

»Okay. Cool. Du hast gerade den Titel zur Miss Elmore County gewonnen. War das dein erster Schönheitswettbewerb?«

»Nein, ich nehme schon an Misswahlen teil, seit ich klein bin. Meine Mutter hat mich bereits zu Wettbewerben für Kinder geschleift, als ich kaum stehen konnte.« Sie lachte.

Er nickte und machte sich Notizen.

»Nicht geschleift. Streichen Sie das«, ordnete ihre Mutter an und zeigte auf den Block. »Sie hat sehr gern teilgenommen. Schon als kleines Mädchen hatte sie Spaß daran, auf der Bühne zu stehen, nicht wahr, Charleen? Sie war immer ganz verrückt danach, hübsche Kleidchen anzuziehen.« Sie strich sich eine Strähne ihres blonden Haares hinter die Ohren und nickte nachdrücklich.

»Ja. Natürlich.« Charly rang sich zu einem Lächeln durch. Ich liebe es ja so sehr. Ihre innere Stimme triefte vor Ironie.

Der Journalist sah sie einen Moment lang an. Es schien, als wägte er ab, ob er dieser Aussage Glauben schenken durfte. Charly hielt seinem Blick stand und lächelte weiterhin.

»Okay ... «, erwiderte er gedehnt und strich den letzten Satz durch. »Hat schon als Kind gern an Wettbewerben teilgenommen. Darf ich das schreiben?«

Ihre Mutter nickte.

»Gut. Wie oft hast du gewonnen?«

»Ich habe dreimal den Titel Little Miss Wetumpka gewonnen. Später viermal den Titel zur Miss Teen Wetumpka.«

»In Coosada und Deatsville hat sie ebenfalls schon mehrere Titel gewonnen«, ergänzte ihre Mutter.

»Wooow.« Der Journalist wirkte nicht beeindruckt, aber er notierte es. Charly konnte sehen, wie er mit den Augen rollte. Scheinbar musste er sich öfter mit Müttern herumschlagen, die ihre Töchter auf Schönheitswettbewerbe zerrten. Sie hätte ihre Mutter gern in Schutz genommen, denn hier ging es nicht darum, dem Jugendtraum ihrer Mom hinterherzujagen. Es ging um viel mehr.

»Wie wird es nun für dich weitergehen? Willst du nächstes Jahr an der Wahl zur Miss Alabama teilnehmen?«

»Ja, ich denke ... «

»Nein, nein. Streichen.« Ihre Mutter unterbrach Charly, wies wieder auf den Block und schürzte die roten Lippen, während sie die Aufzeichnungen überflog.

»Nein?«, fragte Charly kleinlaut, aber ihre Mutter überhörte sie und korrigierte stattdessen den Journalisten.

»Sie hat mit diesem Titel neben dem Preisgeld in Höhe von zweitausend Dollar einen Modelvertrag bei Catwalk Models gewonnen. Sie wird diese Chance nutzen und für ihren großen Durchbruch nach New York ziehen.«

Werde ich das? Bisher waren alle Gewinne abseits der Preisgelder in der nächstbesten Mülltonne gelandet. Allein bei dem Gedanken an ein Flugzeug schüttelte es sie. Sie war noch nie über die Grenzen Alabamas hinaus verreist. Sicherheitshalber nickte sie aber, als der Mann sie ansah.

»Ich darf nichts schreiben, was nicht stimmt. Das ist Ihnen klar, oder?« Er fixierte abwechselnd Charlys Mom und sie.

»Keine Sorge. Ich sage die Wahrheit. Meine Tochter wird den Schritt wagen.«

»Okay, gut. Das war’s schon. Der Artikel erscheint vermutlich schon am Montag. Wir brauchen dringend Beiträge, um das Spätsommerloch zu füllen.« Er steckte den Stift in die Brusttasche seines Hemdes. »Vielen Dank. Ich wünsche noch einen schönen Tag.« Er drückte kurz und fest Charlys Hand und die ihrer Mutter, ehe er sich umdrehte und verschwand.

»Schleifte«, höhnte Charlys Mutter, sobald der Journalist außer Hörweite war und schüttelte den Kopf. »Was hast du dir dabei gedacht? Willst du, dass solche Aussagen abgedruckt werden?«

»Es sollte lustig sein.«

»War es aber nicht. Er hätte daraus eine Story machen können, die deinem Ruf schadet. Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir: Sklaverei bei Misswahl – das Geschäft mit der Schönheit.«

»Übertreib doch nicht gleich.«

»Ich bin bloß vorsichtig. So etwas darfst du dir in New York nicht leisten. Ich wünschte, ich könnte mitkommen und ein Auge auf dich haben.«

»Apropos New York. Wann haben wir beschlossen, dass ich nach New York ziehe? Wir wollten bloß das Preisgeld einheimsen. Von einem Modelvertrag war nie die Rede.«

»Hör zu. Wir brauchen ... « Sie verstummte. Ihr Blick schweifte über Charlys Kopf hinweg, und sie setzte wieder ihr strahlendes Lächeln auf.

»Charleen Coleman?«, hörte sie eine fremde Stimme hinter sich.

Charly drehte sich um und sah die Frau mit der Sonnenbrille. »Ja?«

»Sie müssen der Talentscout ... die ... ähm ... Talentscoutin ... sein. Wie sagt man noch gleich?«, mischte sich ihre Mutter nervös lächelnd ein und streckte der Frau die Hand entgegen.

»Ich bin die Agentin von Catwalk Models. Liza Tailor. Sie müssen die Mutter von Charleen sein. Sehr erfreut.« Sie nickte Charlys Mutter kurz zu, ignorierte die entgegengestreckte Hand und wandte sich wieder an Charly. »Sie sind also die neue Miss Elmore County.« Liza Tailor schob ihre Brille zur Nasenspitze hinab und musterte Charly von Kopf bis Fuß. Sie rümpfte die Nase und drückte die Sonnenbrille wieder hinauf. »Wie dem auch sei ... Sie haben einen Vertrag bei unserer Agentur gewonnen.«

»Ja, das hat sie, und sie wird mit ihrem Südstaatencharme sicherlich alle umhauen. Genau das braucht das Modelbusiness«, mischte sich Charlys Mutter erneut ein und streckte euphorisch eine Faust in die Höhe.

»Ja. Sicherlich.« Die Agentin zuckte mit dem linken Mundwinkel.

»Vielleicht sollten wir uns auf eine Bank setzen und alles in Ruhe bereden«, schlug ihre Mutter vor.

»Ich denke, das wird nicht nötig sein«, wiegelte Liza Tailor ab. Sie kramte in ihrer schwarzen Lederaktentasche und zog ein paar Papiere heraus. »Hören Sie.« Nun nahm sie endlich die Sonnenbrille ab und blinzelte, als schiene in der Turnhalle die Sonne. »Ich glaube, Sie machen sich falsche Vorstellungen davon, was der Vertrag bedeutet.« Sie sah Charlys Mutter an, die irritiert eine Augenbraue anhob.

»So? Inwiefern?«

»Ein Modelvertrag macht aus ihrer Tochter keinen Superstar. Mit zweiundzwanzig ist sie für eine große Laufbahn sowieso zu alt. Die Mädchen fangen heutzutage mit fünfzehn an. Manche noch früher.«

»Ja, das hat Charleen. Sie kennt die Bühne, seit sie vier Jahre alt ist. Noch früher geht wohl kaum.«

Die Agentin schnaufte. »Das Ganze wird so ablaufen: Sie unterschreibt den Wisch, wir machen ein paar nette Fotos für die regionale Presse, und ich reise wieder ab. Wir nehmen sie in unsere Kartei auf, und wenn es hier in der Umgebung ein Casting gibt, werden wir Bescheid geben, aber machen Sie sich keine falschen Hoffnungen.«

Gott sei Dank. Charly atmete auf. Sie wollte nicht nach New York und war froh, wenn sie Liza Tailor endlich wieder los war. Sie kannte Frauen wie sie aus Filmen. Der Teufel trägt Prada hatte sie mindestens viermal gesehen und wusste, gegen solche Drachen kam sie nicht an. Die Liza Tailors dieser Welt waren herrisch und kaltblütig und das genaue Gegenteil von ihr. Mit einer solchen Frau wollte Charly keinesfalls in eine fremde Stadt reisen. Reisen war sowieso ein Fremdwort für sie. Charly liebte ihre Farm und hatte noch nie einen Gedanken daran verschwendet, woanders Fuß zu fassen.

»Hier in der Umgebung?« Ihre Mutter wirkte nicht begeistert. »Ich dachte eher an New York.«

»New York?« Die Agentin lachte. »Sie leben ja wirklich in einer Traumwelt. Ihre Tochter wird es in New York nicht schaffen.«

»Das denke ich schon.« Störrisch verschränkte Charlys Mutter die Arme vor der Brust.

»Sie werden nicht lockerlassen, nicht wahr?«

»Nein. Das hier ist unsere Chance, und die werde ich nicht einfach so verstreichen lassen.«

»Meinetwegen. Castings in New York kann sie haben, aber für die Anreise, Unterkunft und die Fahrten zu den Castings muss sie selbst aufkommen. Es gibt keine Vorschüsse, keine Almosen, und sollte sie einen Job bekommen, steht der Agentur eine Provision zu. Aber noch mal: Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Der Vertrag sollte einfach nett für die Stadt aussehen. Ein bisschen was hermachen. Keine Karriere schaffen. Sie ist zu alt und nicht das, was die Designer gerade buchen. Oder jemals buchen werden.«

»Das sehe ich aber anders. Charleen ist schon seit Jahren im Geschäft, und ein Mädchen aus den Südstaaten wäre eine Revolution. Die Models sehen doch alle gleich aus. Groß, dürr, blass. Charleen bringt Sonne mit, Sommersprossen und ein paar Kurven.« Mit einer solchen Inbrunst und Überzeugung konnte nur eine Mutter von ihrem Kind reden.

»Sehen Sie es, wie Sie wollen. New York ist kein Kaff in Alabama. Machen Sie sich keine Illusionen.« Diese Frau war Charlys Mutter eindeutig überlegen, was Arroganz und Selbstbewusstsein anbelangte, obwohl sie sicherlich nur halb so alt war wie sie. Liza Tailor drückte ihr die Papiere in die Hand, als wären sie eine alte Zeitung und kein Vertrag, der Charlys Mutter auf ein besseres Leben hoffen ließ. »Lesen Sie ihn durch, und dann machen wir die Fotos. Beeilen Sie sich bitte. Mein Flug geht um neunzehn Uhr.« Sie winkte einem Fotografen, der mit einer Tasse Kaffee und einem Donut in der Hand näher trat.

»Wären Sie so freundlich und würden ein Foto davon schießen, wie Miss Eloirgendwas den Vertrag unterzeichnet?«

»’türlich.« Er leckte sich ein paar Krümel von den Zähnen und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter. »Dann wollen wir mal.«

Er polierte mit dem Ärmel seines rotbraunen Holzfällerhemdes das Objektiv, sagte »Bitte lächeln!« und schoss ein paar Bilder, während Charly ihre Unterschrift unter einen Vertrag setzte, dessen Inhalt sie nicht kannte.

Die preisgekrönte Kuh wurde erfolgreich versteigert.

 

»Das war vielleicht eine arrogante Ziege«, meckerte Charlys Mutter, während sie mit dem rostigen Pick-up-Truck den Feldweg zur Farm entlang holperten. Staubwolken stoben links und rechts der Straße auf. »Zu alt! Die spinnt doch! Und wie die mit mir geredet hat. Ich hätte ihre Mutter sein können. Da sollte man doch etwas Respekt haben. Frechheit. So was ist mir noch nie untergekommen.«

Charly strich über die Satin-Schärpe, die auf ihrem Schoß lag, und überlegte, wie viel Glauben man den Worten der Agentin schenken konnte. Jetzt, da der ganze Wirbel vorüber war, konnte sie alles wieder nüchterner betrachten. Das Krönchen hatte sie zurückgeben müssen, weil es nur eine Leihgabe gewesen war, und den Scheck über zweitausend Dollar hatte ihre Mutter eingesteckt. Die unbequemen Contestkleider lagen zerknüllt in einer Sporttasche auf der Ladefläche des Wagens, und die rutschte in jeder Kurve herum. Im Anschluss an die Wahl hatte Charly die Kleider sofort gegen abgeschnittene Jeans, Sneakers und ein einfaches Baumwollshirt getauscht. Von ihrem Sieg würde bis auf ein paar kleine Zeitungsberichte in Kürze schon nichts mehr übrig bleiben, und New York wäre ebenso in ein paar Tagen vom Tisch.

»Wer weiß. Sie kennt sich besser aus als wir. Vielleicht hat sie recht?«

»Charleen, ich bitte dich. Du bist zweiundzwanzig. Schau dir doch mal Gigi Hadid an. Deren Karrieren blühen.«

»Die haben aber auch früh angefangen.«

»Das hast du auch. Nur eben bei Misswahlen und nicht als Model.«

»Nehmen wir an, diese Liza Tailor hat trotzdem recht. Was passiert dann?«

»Dann kommst du zurück und nimmst weiter an Misswahlen teil.«

Charly rollte mit den Augen und legte den Kopf zur Seite. Für ihre Mutter war immer alles so einfach und sonnenklar. Vor der Seitenscheibe rauschte das Maisfeld mit der lächelnden Vogelscheuche vorbei. Aufgeschreckt durch den Wagen flatterten ein paar Krähen durch die Luft, die zuvor dem Strohmann noch Gesellschaft geleistet und ihm Heu aus dem Ärmel gerupft hatten. Die Hälfte des Feldes hatte Charly gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder Owen vor wenigen Tagen abgeerntet.

»Was ist, warum sagst du nichts?«, fragte ihre Mutter und parkte neben dem grünen Traktor vor der Farm.

»Ich bin zweiundzwanzig. Ich werde langsam zu alt für solche Sachen.«

»Charleen ... « Sie sah ihre Tochter flehend an. Lautstark entwich Luft aus ihren Nasenlöchern.

»Mom ... Das kann nicht ewig so weitergehen. Es gibt keine Wahlen zur Miss Wetumpka 30+.«

»Tu es für Dean, okay?«

Dean. Ein Name und ein schlagendes Argument.

Charly schloss für einen Moment die Augen.

2. Kapitel

»Für Dean und für uns.« Charly schlug die Wagentür zu und stemmte die Hände in die Hosentaschen ihrer Hotpants. Die kleine Farm, neben der sich unermüdlich ein Western-Windrad drehte, sah aus wie jede andere Farm in der Umgebung des Coosa Rivers. Der weiße Lack blätterte bereits von der Holzfassade. Ein rostiges Metallschild mit der Aufschrift Coleman Farm quietschte im Wind. Vor der Tür mit dem Fliegennetz war eine kleine Veranda mit Schaukelstuhl und Hollywoodschaukel angebracht, die ihre besten Tage schon längst hinter sich gelassen hatte, wie der verblichene Stoff der Polster bewies. Neben dem Stuhl stand ein überfüllter Aschenbecher. Jeden Tag zur Mittagszeit saß ihr Vater dort, rauchte und erholte sich von der Arbeit auf dem Feld. Meistens zog er sich danach den löchrigen Cowboyhut aus Stroh ins Gesicht und machte ein Nickerchen. Owen saß derweil meistens auf den beiden Stufen vor ihm und hielt sein übliches Plädoyer darüber, dass neue Maschinen her müssten. Nur die Schaukel, auf der Dean immer gesessen hatte, blieb seit zwölf Jahren leer. Lediglich die Kuhle auf dem Polster erinnerte daran, dass er dort immer seine Mittagspause verbracht hatte.

»Charleen, wo bleibst du? Komm endlich.« Ihre Mutter war schon vorgegangen und streckte den Kopf aus der Tür. Dabei löste sie den Bewegungsmelder der Laterne aus, um den ein Schwarm Stechmücken schwirrte.

»Bin auf dem Weg.«

Charly ging ins Haus und verriegelte die Tür. Während draußen eine seichte Brise über das Feld strich, war es drinnen schwül und roch nach dem Kartoffelauflauf vom Vortag, den es auch heute wieder geben würde. Obwohl es schon Ende September war, war es noch fast fünfundzwanzig Grad warm. Die hohe Luftfeuchtigkeit war das eigentlich Unangenehme daran. Charly zog die Sneakers aus.

»Charleen?«, hörte sie die raue Stimme ihres Vaters aus dem Wohnzimmer.

»Ich komme schon.«

Er lag mit überkreuzten Beinen auf dem Sofa und sah sich ein Footballspiel an, während Owen vor einem sirrenden Ventilator saß, der bunte Plastikstreifen durch die Luft flattern ließ.

»Da haben wir ja unseren Goldesel«, witzelte ihr Dad und sah in ihre Richtung.

»Wer hätte gedacht, dass mein Schwesterchen mal berühmt wird«, sagte Owen und bewegte sich in die Richtung, in die der Ventilator blies.

»Ach, hört auf. Es ist nur ein Titel.« Sie ließ sich auf einen braunen Cordsessel fallen, dessen Lehnen bis auf den Leinenstoff abgewetzt waren, und legte die Füße auf den Couchtisch. Mit den Zehen hangelte sie nach der Fernbedienung, um umzuschalten.

»Es ist nicht bloß ein Titel«, entgegnete ihre Mutter und stellte drei Gläser mit Limonade auf den Tisch. »Du hast zweitausend Dollar gewonnen und einen Vertrag bei einer großen New Yorker Modelagentur.«

»Wir haben zweitausend Dollar gewonnen«, korrigierte Charly. »Und den Vertrag muss ich erst noch mal überdenken.«

»Überdenken ... Als wären wir in der Situation, in der wir so ein Angebot überdenken könnten«, spöttelte ihr Vater und griff nach einer Dose Bier, die neben ihm auf dem Tisch stand. Er nahm einen tiefen Schluck und unterdrückte ein Rülpsen. »Das ist deine Chance. Wenn du dort drüben das große Geld machst, kann ich endlich einen neuen Motor für den Traktor kaufen. Dein Bruder hängt mir damit schon seit Monaten in den Ohren. Der alte geht mir außerdem langsam auf die Nerven. Alle zwei Tage gibt das Ding rauchend den Geist auf.«

»Und wenn dann noch etwas für mich übrig bleibt«, mischte sich Owen ein, »kann ich nach der Highschool auf das College. Ein Jahr hast du noch Zeit, um meine Bildung zu finanzieren.« Er zwinkerte seiner Schwester zu.

»Ihr wisst echt, wie das geht, keinen Druck auszuüben.«

»Ach ... « Ihr Vater winkte ab. »Lass Owen quasseln. Bildung!« Er kreiste mit dem Zeigefinger neben der Schläfe. »Der hat nicht alle Tassen im Schrank. Um Landwirt zu sein, braucht man kein Papier mit Stempel, das einem das bestätigt.«

»Braucht man kein Papier mit Stempel«, äffte Owen ihn nach.

Ihr Dad nahm ein Kissen und warf es ihm an den Kopf.

»Steve!«, rief ihre Mutter empört. »Ich habe gestern erst aufgeräumt.«

»Hört ihr eure Mutter? Sie hat gestern erst aufgeräumt. Also seid brav. Charly, du gehst nach New York, scheffelst Kohle, und dann jagen wir damit deinen Bruder auf ein College, wo er andere mit seinem theodemischen Quatsch nerven kann.«

»Theoretisch, meinst du.« Owen warf seiner Schwester einen vielsagenden Blick zu. Charly hatte allerdings keine Lust, sich in diesen Streit einzumischen. Nur zu gern würde sie ihrem Bruder das College bezahlen. Sie selbst hatte nur einen Highschoolabschluss, weil die Gebühren für das College unbezahlbar waren. Auch für Owen würde es ein unerreichbarer Traum bleiben.

»Wo steckt eigentlich Dean?«, wollte sie wissen und schaute fragend in die Runde. Es war erst zwanzig Uhr, und für gewöhnlich saß er mit Dad vor dem Fernseher und sah sich ein Spiel an.

Owen zeigte mit dem Daumen in Richtung Flur. »In seinem Zimmer.«

»Geht es ihm nicht gut?«

»Frag ihn doch.«

»Werde ich.« Sie raffte sich auf und verschwand im Flur. Hinter ihr hörte sie ihren Dad grölen, der einen Spieler anfeuerte, während Owen etwas von Foul redete. Gleich würde ein lautstarker Streit im Wohnzimmer darüber ausbrechen, wer mehr Ahnung von Sport hatte. Deans Zimmer lag am Ende des Flurs direkt neben dem Badezimmer. An den Wänden hingen Fotos aus glücklichen Tagen: Dean, Owen und Charly, der Größe nach aufgereiht, auf dem Traktor; Dean mit dem Preis für den größten Kürbis in Elmore County; Dean und Owen mit Dad an einem Schießstand ... 

Man konnte anhand der Bilder genau sehen, wann sich der Unfall ereignet hatte. Seitdem reihten sich bloß etliche Fotos von Charly hintereinander, die sie bei Misswahlen zeigten. Immerhin hatte sie oft gewonnen und mit dem Preisgeld schon so manche Schulden begleichen können.

Die Dielen unter ihren nackten Füßen knarzten und kündigten sie an, noch bevor sie klopfen konnte.

»Charly? Bist du das?«, hörte sie Dean aus seinem Zimmer rufen.

»Ich bin’s! Tada! Vor dir steht die neue Miss Elmore County.« Wenn es um ihren Bruder ging, setzte sie gern die Gute-Laune-Maske auf.

Er formte mit den Händen eine Tröte vor dem Mund. »Whoop, whoop! Herzlichen Glückwunsch, Schwesterherz! Lass dich umarmen.« Er breitete die Arme aus. Im Vergleich zu seinen Beinen wirkten sie überdimensional muskulös.

Charly robbte zu ihm aufs Bett und drückte ihn. »Danke, Großer.«

»Werde ich dich jemals mit Schärpe und Krone sehen, oder feuerst du das Zeug immer gleich in die Ecke?«

»Dort liegt es doch gut, findest du nicht?« Sie rutschte von der Matratze und setzte sich in den Rollstuhl, der vor Deans Bett stand. Sie legte ihre Beine zu seinen und rollte vor und zurück.

Er lächelte sie schief an. »Du bist die schlechteste Schönheitskönigin, die die Welt je gesehen hat.«

»Mag sein. Vielleicht sollte ich die Krone an den Nagel hängen. Wieso bist du nicht draußen bei Dad und Owen?«

Er schnaubte. »Die Stelzen rauben mir den letzten Nerv.« Er schnippte gegen seine Beine und lachte. »Letzten Nerv, verstehst du?«

»Haha.« Charly gab ihm einen Klaps gegen die dünnen Unterschenkel, den er nicht spürte. Seit dem Unfall vor zwölf Jahren gab es keinen Nerv mehr, den Deans Rückenmark mit seinen Beinen verband.

»Also, was hast du?« Sie sah ihn an.

»Ich konnte einfach nicht mehr sitzen. Trotz dem blöden Pupskissen-Kringel.« Er zeigte auf einen mit Luft gefüllten Gummidonut. »Mir tut der Hintern weh. Ich habe mich hingelegt, bevor es schlimmer wird. Noch mal so eine Wunde will ich nicht am Steißbein haben.«

Sie nickte. Es hatte lange gedauert, bis sie wieder verheilt war.

»Soll ich dir eine Schmerztablette geben?«

Er überlegte. »Nein. Die hebe ich mir für schlechtere Zeiten auf.«

»Dean ... Wenn du Schmerzen hast, nimm eine.«

»Und noch eine und noch eine, und schon ist die Packung leer. Die Dinger können wir uns nicht leisten.«

»Ich habe zweitausend Dollar gewonnen. Da wird wohl eine Packung Schmerzmittel drin sein.«

»Es ist dein Geld. Es ist für dich. Nicht für meine Medikamente.«

»Es ist für uns alle.« Sie dachte an den Modelvertrag. Wenn sie es in New York wirklich schaffen sollte, wären alle finanziellen Sorgen vorbei.

Dean gähnte. »Ich bin müde. Ich werde einfach eine Runde schlafen. Morgen sieht die Welt schon wieder besser aus.«

»Ich verstehe. Du willst mich loswerden.«

»Niemals. Ich bin bloß erschöpft. Feierst du noch ein wenig deinen Sieg mit Dad und Owen?«

»Auf keinen Fall. Die Streithähne bekriegen sich im Wohnzimmer. Ich lege mich auch gleich aufs Ohr. Seit heute Morgen wurde ich geteert und gefedert.« Sie wies auf die zentimeterdicke Make-up-Schicht auf ihrem Gesicht. »Dann schlaf mal gut.«

»Du auch, Schwesterherz.« Er winkte ihr zu, und sie verschwand im Zimmer zwei Türen weiter.

Entkräftet fiel sie auf ihr Bett. New York ... 

So sehr sie ihre Heimat auch liebte, hier würde sie nie genug verdienen, damit ihr Bruder die nötige Versorgung bekam. Außer einem riesigen Meteoritenkrater und den Teufelstreppen, über die lautstark der Coosa River hinwegströmte, hatte Wetumpka nichts zu bieten. Das Geld reichte nicht einmal, um das Badezimmer rollstuhlgerecht umzubauen. Bis auf einen Haltegriff neben der viel zu niedrigen Toilette und der Verbreiterung der Tür hatte sich nichts geändert. Notdürftig hatte ihr Dad die Schwelle zur Dusche eingerissen, damit Dean wenigstens selbstständig duschen konnte. Wie ein kleines Kind ... Sie schluckte einen Kloß im Hals hinunter.

Dean war inzwischen neunundzwanzig, und er hatte immer davon geträumt, die Farm zu übernehmen. Nun konnte er an schwachen Tagen nicht einmal allein zur Toilette gehen.

Und alles ist meine Schuld.

3. Kapitel

30. September

»Charleen, kommst du?« Die Stimme ihres Vaters ließ keine Widerrede zu.

»Sofort!« Sie warf die Schlüssel des Trucks in eine Metallschale hinter der Tür. »Dad, irgendetwas rasselt unter der Haube. Vielleicht kannst du mal nachsehen?«

Sie hörte ihn stöhnen, während sie die Schuhe abstreifte und in die Küche schlenderte.

Den ganzen Tag über hatte sie im Drive-in einer Fast-Food-Kette Burger und Pommes verkauft. Nach acht Stunden an der Fritteuse roch sie selbst wie ein Geordies-Beef-Burger-Menu mit Krautsalat. Sie kämpfte mit der Haarnadel, die noch immer das charakteristische rotblau gestreifte Geordies-Burger-Bude-Hütchen in ihren Haaren befestigte. Als sie die Küche erreichte, blieb sie abrupt stehen und ließ von der Nadel ab. Mom, Dad, Owen und Dean saßen gemeinsam am Küchentisch und starrten sie an. Auf dem Tisch lag ein Briefumschlag.

»Was ist hier los?«

»Sieh in den Umschlag«, sagte ihr Dad und schob ihn zur ihr.

Sie nahm den Brief an sich. Er fühlte sich dick, aber trotzdem leicht an. Sie klappte ihn auf und entdeckte ein Bündel Fünfzigdollarscheine.

Sie nahm es heraus und blätterte die Scheine durch. »Das müssen ... «

»Zweitausend Dollar sein«, vollendete ihr Dad den Satz.

»Was soll ich damit?«

»Das ist das Geld, das du bei der Misswahl gewonnen hast.«

»Und wieso liegt es hier in dem Umschlag?«

Er holte tief Luft. »Weil du es brauchen wirst, wenn du nach New York gehst.«

»New York?« Wieso redeten ständig alle nur noch von New York. Allmählich wirkte die Idee bedrohlich.

»Charleen, dein Dad, deine Brüder und ich haben uns unterhalten, während du weg warst. Das ist deine Chance. Du hast den Vertrag. Eine solche Möglichkeit bekommst du nie wieder.«

»Mom, du hast gehört, was diese Agentin gesagt hat. Ich bin zu alt.«

»Die hatte doch bloß einen schlechten Tag.«

Charly befühlte die Scheine in ihrer Hand. »Das sind zweitausend Dollar. Das sind zehn Raten. Damit können wir uns fast ein Jahr über Wasser halten, wenn alles gut läuft. Ich kann das Geld nicht einstecken und damit nach New York reisen. Ich kann doch auch einfach weiterhin an Schönheitswettbewerben teilnehmen. Mit dem Titel zur Miss Elmore County habe ich mich für die Wahl zur Miss Alabama qualifiziert.«

»Die Wahl findet aber erst nächstes Jahr statt. Daran kannst du immer noch teilnehmen, wenn das mit New York nicht klappt.« Ihre Mom ließ sich offenbar nicht von dem Vorhaben abbringen. Schlimmer noch: Sie hatte auch den Rest der Familie infiziert.

»Ich kann das Geld wirklich nicht annehmen.«

»Doch, du kannst«, insistierte Dean. »Und du musst. Wir haben dein Ticket schließlich schon gekauft. One way, baby.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu.

»Ticket?«

»Schau noch mal in den Umschlag.«

Tatsächlich befanden sich darin ein Flugticket mitsamt Flugplan.

Departure October 2, Monday, 08:00–10:03–2 h 03 m

Montgomery (MGM) – Dallas (DFW)

American 5778 · Economy Class · Canadair RJ 900

 

Stop in Dallas DFW 1 h 27 m

 

Dallas (DFW) – New York City (LGA) 11:30–14:56–3 h 26 m

 

American 1170 · Economy Class · Airbus A321 (Sharklets)

Arrival October 2, Monday 14:56 International Kennedy Airport

 

Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

»Nein, nicht den Kopf schütteln«, mahnte ihr Dad. »Das Ding hat uns dreihundertfünfzig Dollar gekostet. Du wirst uns eines Tages dankbar sein, dass wir das für dich entschieden haben.«

Ihre Hand mit dem Ticket zitterte. 2. Oktober. »Übermorgen? Meint ihr das ernst?«

»Die fackeln in New York nicht lange. Da muss man Nägel mit Köpfen machen«, sagte ihr Dad, als wäre er, der noch nie Alabama verlassen hatte, ein Experte auf dem Gebiet.

»Glaub mir, uns ist die Entscheidung auch nicht leicht gefallen. Wir werfen dich nicht gern ins kalte Wasser.« Ihre Mutter hob entschuldigend die Schultern.

»Wo soll ich denn dort hin? Ich habe keine Wohnung, keinen Job ... « Sie war sprachlos.

Ihr Dad winkte ihr, sich zu setzen, aber Charly blieb wie angewurzelt stehen. »Keine Sorge. Das wird schon. Ich habe es im Fernsehen gesehen bei dieser einen Sendung da. Wie heißt die noch gleich?« Er sah Owen an.

»America’s Next Top Model.«

»Genau. Die stecken dich da mit ein paar anderen Mädels in eine WG, du gehst auf Castings und verdienst Geld.« Er sagte es so, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

»Wenn ich allerdings keine Jobs an Land ziehen kann, stehe ich bald ohne Geld da. Wir stehen ohne Geld da. Die Sicherheit, die wir mit diesen zweitausend Dollar haben, ist dann futsch.«

»Nun sei doch nicht so pessimistisch.« Ihr Dad stand auf, ging zum Kühlschrank und nahm sich eine Dose Bier heraus. »Wenn es weg ist, ist es weg. Was wollen die Inkasso-Heinis schon tun? Wo es nichts zu holen gibt ... « Er wies um sich und ließ den Satz in der Luft hängen.

»Dad hat recht«, pflichtete Owen ihm bei. »Also versuch lieber dein Glück, bevor du bereust, es nicht getan zu haben.«

Sie sah wieder auf das Ticket und das Geldbündel. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, wie sich Dean übers Knie strich.

»Hast du Schmerzen?«

»Ein wenig, aber ich wollte mich sowieso gleich hinlegen.« Er löste die Bremsen des Rollstuhls und schob sich vom Tisch weg.

»Warte. Ich fahre dich in dein Zimmer.« Sie steckte sich den Umschlag in die Hosentasche und rollte Dean den Flur entlang. So konnte sie wenigstens dem Insistieren ihrer Familie für einen Moment entkommen. Mit jedem Schritt spürte sie das Kuvert.

»’ne Menge Geld, die viel Verantwortung mit sich bringt, was?«, scherzte Dean und hievte sich aufs Bett. Der Lattenrost ächzte unter seinem Gewicht. Stöhnend sank er in sein Kissen.

»Das kannst du laut sagen. Dann bist da noch du. Ich kann doch nicht nach New York abhauen und dich hier sitzen lassen.«

»Charly ... «

Sie sah zu dem Poster mit der Freiheitsstatue, das an seiner Wand hing. »Du wolltest immer nach New York. Ich nicht. Das ist nicht fair.«

»Chaaarly ... «, wiederholte er gedehnt, »mach dir um mich keinen Kopf. Wenn du erst berühmt bist, kannst du mich einfliegen lassen. Dann zeigst du mir alle Sehenswürdigkeiten deiner neuen Heimat.«

»Fang du nicht auch noch damit an.« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Alle erwarten von mir, dass ich die neue Kendall Jenner bin, wenn ich heimkehre. Was, wenn ich nichts erreiche? Dann ist das Geld weg.«

»Dann ist es eben so.«

»Das sagst du so leicht. Dad tut auch so, als wäre es kein Drama. Er ignoriert völlig, dass die uns die Farm wegnehmen können, wenn wir die Raten nicht regelmäßig zahlen.«

»Ich weiß, ich weiß, aber wenigstens haben wir durch dich alle ein wenig Hoffnung, es könnte sich eines Tages ändern.«

»Und was ist, wenn ich die Hoffnungen zerstöre?«

»Dann sehen wir weiter.«

»Können wir nicht jetzt schon in die Zukunft sehen? Ich bin nicht fürs Modeln geschaffen. Ich bin zu alt und im Vergleich zu den dürren Kleiderhaken auf den Laufstegen auch viel zu dick. Ich habe es sowieso immer gehasst, zugekleistert und kostümiert auswendig gelernte Texte auf der Bühne herunterbeten zu müssen. Ich habe das immer nur für uns getan. Ich würde es auch weiterhin tun, aber hier in Alabama und nicht in einer Großstadt wie New York. Dort werde ich untergehen. Ich bin dort ein Niemand.«

»Du bist kein Niemand. Dich kennt nur noch keiner. Das ist ein Unterschied. Geh hin und versuche, dir einen Namen zu machen. Mit den Misswahlen wird es schließlich nicht ewig weitergehen. Vielleicht noch drei Jahre, wenn es gut läuft. Dann musst du das Feld für Jüngere räumen. Wenn es in New York klappt, ist es nur ein Katzensprung, bis du Filmrollen bekommst, und als Schauspielerin kannst du noch auftreten, wenn du alt und faltig bist.«

Dieselben Gedanken hatte sich auch Charly schon gemacht. Die Misswahlen waren keine sichere Einkommensquelle mehr. Mit jedem Jahr wurde die Konkurrenz jünger und attraktiver. Zudem gab es bei vielen Wettbewerben Altersbeschränkungen.

Wieder rieb Dean sich übers Knie.

»Willst du eine Tablette gegen die Schmerzen?«

»Nein. Wenigstens spüre ich so meine Beine ab und zu.«

»Schlechter Scherz.«

»War auch keiner.«

Charly beäugte ihn. Der Oberkörper eines starken, jungen Mannes auf Streichholzbeinen. Alles war ihre Schuld. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an den Unfall dachte und sich Vorwürfe machte. »Ich bin dir etwas schuldig, Dean.«

»Wenn dich die alte Leier nach New York bringt, werde ich dieses eine Mal keinen Einwand erheben.« Er hob entschuldigend die Hände.

»Volltrottel.« Sie boxte ihm gegen die Schulter.

»Also wirst du fliegen, oder muss ich dabei zusehen, wie dich Dad mit der Flinte übers Feld jagt, weil du dreihundertfünfzig Dollar für das Ticket in den Wind geschossen hast?«

Ihr Magen krampfte sich bei beiden Optionen unheilvoll zusammen.

»Ich werde es versuchen.«

»Was versuchen? In New York berühmt zu werden oder schneller zu rennen, als Dad schießen kann?«

»Ich werde versuchen, in New York durchzustarten.« Sie lächelte wenig überzeugt.

»Das ist meine Schwester. So kenne ich dich. Das wollte ich hören.«

Charly hatte noch nie lange gebraucht, um Entscheidungen zu fällen: War der Reifen am Truck platt, packte sie sofort mit an, auch wenn sie ihr bestes Kleid trug. Sollte sie im Burger-Laden einspringen, sagte sie auch dann zu, wenn sie eigentlich etwas anderes vorhatte. Genau genommen war es allerdings nicht Charlys Hang zu Kurzschlussreaktionen, der sie dazu trieb, schnell zu handeln, sondern Dean. Er war schon immer ihr Antrieb gewesen. Der Wagen musste laufen, damit der Handel mit der Stadt funktionierte und Geld für Dean ins Haus kam. Die Sonderschicht zwischen Fritteusenfett und Patties brachte ein paar Dollar mehr für Deans Medikamente ein. Auch dieses Flugticket war ein Funken Hoffnung für Dean – und den konnte sie unmöglich vor seinen Augen ersticken.

»Das ist auch der einzige Grund, weshalb ich es sage.«

»Jetzt verschwinde endlich. Diskussion beendet, und ich habe gewonnen.« Er streckte ihr die Zunge raus und wies sie mit seiner Hand wedelnd an zu gehen.

4. Kapitel

1. Oktober

Charly saß auf der Bettkante und leerte ihr Sparschwein. Ein paar Münzen fielen auf die Matratze, die zerknüllten Scheine zog sie mit den Fingern heraus und strich sie glatt.

»Achthundert Dollar. Das macht zweitausendachthundert Dollar total.«

Eigentlich hatte sie das Geld für Deans Medikamente zur Seite gelegt.

»Ich werde keinen Dollar davon verschwenden, wenn es nicht wirklich nötig ist«, schwor sie sich.

»Was sagst du?« Ihre Mom streckte den Kopf zur Tür herein. Sie stellte einen Wäschekorb mit frischer Kleidung, die nach Sand, Sonne und Maisfeld duftete, neben Charly ab.

»Ich habe bloß gezählt, wie hoch mein Budget ist.«

»Und?« Sie setzte sich zu ihrer Tochter aufs Bett, faltete die Hände im Schoß und betrachtete das Bündel.

»Knapp dreitausend Dollar.«

»Das ist ein schönes Sümmchen.«

»Ja.«

»Wieso so wortkarg? Bist du nervös wegen morgen? Es ist fast Mittag, und ich habe dich heute noch nicht ein einziges Mal außerhalb deines Zimmers gesehen. Sonst bist du doch diejenige, die alle aus dem Bett wirft, wenn du in aller Herrgottsfrühe durchs Haus rennst.«

Charly zuckte mit den Achseln. »Ich bin noch nie geflogen, aber das ist es nicht allein. Ich habe viel mehr Angst, mich dort nicht zurechtzufinden – und vor allem davor, dass alles umsonst ist.« Charly wollte nicht versagen. Bisher hatten sie alle Hürden gemeinsam als Familie genommen, und nun sollte sie losziehen und die Heldin spielen.

»Hör auf, dir Sorgen zu machen. Das bringt Unglück. Es wird schon alles gut gehen.«

»Ich weiß.« Sie nahm sich ein weißes Shirt mit V-Ausschnitt aus dem Korb und faltete es auf ihrem Schoß. »Ich habe noch nichts gepackt. Ich weiß gar nicht, was ich mitnehmen soll.«

»Auf jeden Fall eine warme Jacke.«

»Womit der halbe Koffer schon gefüllt wäre.« Übergepäck konnte sie sich nicht leisten. Sie hatte eh nicht viele Outfits zur Wahl, aber bei der Beschränkung musste sie auch auf Fotos und Maskottchen verzichten, die ihr wenigstens ein kleiner Trost gewesen wären. Über 1690 Kilometer von zu Hause entfernt würde sie mit Heimweh zu kämpfen haben.

»Zieh nicht so ein Gesicht.« Ihre Mom packte sie am Kinn und drückte ihre Wangen zusammen, sodass Charly einen Knutschmund machen musste.

»Laff lof«, nuschelte sie und kicherte.

»Schon besser. Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Du bist eine junge Frau, und das Abenteuer ruft. Du findest bestimmt schnell Freunde. Wer weiß, vielleicht trefft ihr euch dann immer in hippen Klubs und trinkt Cosmopolitans.« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, als hätte sie etwas Verbotenes gesagt.

»Mom ... « Charly rollte mit den Augen.

Vor der Tür hämmerte jemand gegen das Fliegengitter.

»Hallo? Jemand zu Hause?«, rief eine männliche, vertraute Stimme.

»Bitte nicht«, murmelte Charlys Mom und drehte sich zur Zimmertür um, als würde der unerwartete Besuch gleich vor ihnen stehen.

»Mom, soll ich aufmachen?«

Sie schnaubte. »Nur noch dieses eine Mal. Zukünftig muss ich dem Idioten selbst gegenübertreten.«

»Kein Problem.« Charly stand auf, warf das Shirt in den Koffer und trottete zur Tür.

Wieder klopfte es schnell und aufdringlich.

»Schon gut. Ich komme ja.« Sie drehte den Schlüssel im Schloss herum und stieß dem Mann das Fliegengitter entgegen. Angewidert sprang er zur Seite und zupfte sich etwas von der Zunge.

»Mücke verschluckt, Mr Dearing?« Sie grinste ihn an.

»Wundervoller Humor. Ist Ihr Vater da – oder Ihre Mutter?« Er klemmte sich seine lederne Aktentasche unter den Arm, stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte sein Kinn in die Höhe, um an ihr vorbeispähen zu können.

Aktentaschenträger. Ihr seid doch alle gleich. Unwillkürlich musste sie an die Agentur-Agentin denken. Charly stellte sich ebenfalls auf die Zehenspitzen und versperrte ihm die Sicht. »Um Haaresbreite verpasst. Was ein Jammer«, erwiderte sie.

»Aber der Wagen steht doch da.« Er wies auf den Truck.

»Ist spazieren.«

»Dann dürfte sie ja gleich zurück sein.«

»Übt für einen Marathon. Könnte spät werden.«

»Soso.« Er strich sich über die Kehle. »Ganz schön staubig hier draußen auf dem Land. Wollen Sie mir nicht etwas zum Trinken anbieten?« Er schob seinen linken Fuß in den Spalt zwischen Tür und Rahmen.

»Nein. Die Fliegen hier sind sehr saftig. Nehmen Sie sich noch einen Happen für den Heimweg mit.« Sie versetzte dem auf Hochglanz polierten Herrenschuh einen Schubs und schloss die Tür.

»Miss Coleman.«

Der lässt nicht locker. Obwohl er klein und hager war, die Brille viel zu breit für sein schmales Gesicht und der Seitenscheitel etwas zu akkurat gezogen, war er doch unnachgiebig und nicht so leicht loszukriegen, wie man es bei seinem Anblick erwarten würde.

»Was wollen Sie?«

Er stöhnte entnervt. »Was ich immer will. Sie müssen Ihre Schulden begleichen.« Er wühlte in seiner Tasche, und ein paar Papiere glitten dabei zu Boden. »Wo habe ich es denn? Ach, hier. Genau. Sie Schulden dem Krankenhaus noch ... «

»Weiß ich« unterbrach Charly ihn. »Wir schulden dem Krankenhaus noch mehrere zehntausend Dollar, und irgendwie werden es nicht weniger.«

Jedes Mal, wenn sie die Summe in den Mund nahm, wurde ihr speiübel, zumal die Schulden wuchsen. Charly verfluchte den Menschen, der sich so etwas wie Zinsen ausgedacht hatte. Deans Medikamente waren teuer, und meistens mussten sie sich entscheiden, ob sie die Raten oder seine Arznei zahlen wollten.

»Die Raten für den vorletzten und letzten Monat stehen noch aus. Kommen Sie, Miss. Ich habe Ihnen schon zweimal einen Aufschub gewährt. Mein Boss wird langsam ungemütlich. Er will Geld sehen.«

»Nächsten Monat. Versprochen.«

»Sie machen mich noch krank, aber nur noch dieses eine Mal. Nur noch dieses vermaledeite eine einzige Mal!«, schimpfte er mit erhobenem Zeigefinger, während er grußlos die Veranda verließ und gegen die Sandwolken ankämpfte, die seine Schuhe und die schwarze Anzughose verschmutzten. Sie hörten den Motor seines Wagen aufheulen und das Rotieren von Reifen auf dem sandigen Boden. Sekunden später raste er über den Feldweg davon.

»Den hast du aber gut im Griff«, scherzte ihre Mutter, die von hinten an Charly herantrat.

»Nächsten Monat müssen wir wirklich zahlen. Langsam wird er ungemütlich. Ich hätte ihm auch einfach vierhundert Dollar von dem Preisgeld geben können.«

»Untersteh dich. Er muss noch ein Weilchen warten. Vielleicht hast du nächsten Monat im Big Apple schon ein paar Jobs, und dann bekommt er sein Geld.«

»Vielleicht ... «

»Ich bin davon überzeugt.«

»Mom, ich werde noch schnell ins Drive-in fahren und kündigen. Wahrscheinlich werden sie mir den Kopf abreißen. Die alte Mitzy ist seit Wochen krank, und Heather und ich schmeißen den Laden allein. Na ja, bis morgen jedenfalls ... «

»Du machst dir zu viele Gedanken. Es ist nicht dein Laden.«

»Das nicht, aber die Arbeit dort ist eine sichere Geldquelle. Als Heather mich eingestellt hat, war das ein Geschenk des Himmels für uns. Wundert es dich da, dass ich den Job ungern aufgebe?«