Als Gott schlief - Ein Fall für Jutta Stern und Tom Neumann 1 - Jennifer B. Wind - E-Book
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Als Gott schlief - Ein Fall für Jutta Stern und Tom Neumann 1 E-Book

Jennifer B. Wind

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Beschreibung

Ein Schrei, der nie verhallen kann: Der abgründige Thriller »Als Gott schlief« von Bestsellerautorin Jennifer B. Wind jetzt als eBook bei dotbooks. Denn manche Schuld wird nie vergeben … Eine Serie brutaler Morde schockiert die Öffentlichkeit in Österreich und Deutschland: Die Opfer werden auf grausame Weise zu Tode gefoltert – und es handelt sich bei ihnen um Geistliche und Würdenträger der katholischen Kirche! Aber was hat es mit den geheimnisvollen Hinweisen auf sich, die an den Tatorten gefunden werden? Die Kriminalbeamtin Jutta Stern und ihr Partner Tom Neumann stehen vor einem Rätsel. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie immer wieder auf eine Mauer aus Angst, Lügen und Schweigen – und entdecken eine Spur, die weit in die Vergangenheit zurückreicht … »Ein Thriller, dessen schonungslose Darstellung vergangenen Unrechts schockt und unheimlich fesselnd ist.« Media-Mania.de Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Bestseller »Als Gott schlief« von Jennifer B. Wind stellt ein ebenso schockierendes wie hochaktuelles Thema in den Mittelpunkt – Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche. Ein Thriller, der unter die Haut geht. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 418

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Über dieses Buch:

Denn manche Schuld wird nie vergeben … Eine Serie brutaler Morde schockiert die Öffentlichkeit in Österreich und Deutschland: Die Opfer werden auf grausame Weise zu Tode gefoltert – und es handelt sich bei ihnen um Geistliche und Würdenträger der katholischen Kirche! Aber was hat es mit den geheimnisvollen Hinweisen auf sich, die an den Tatorten gefunden werden? Die Kriminalbeamtin Jutta Stern und ihr Partner Tom Neumann stehen vor einem Rätsel. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie immer wieder auf eine Mauer aus Angst, Lügen und Schweigen – und entdecken eine Spur, die weit in die Vergangenheit zurückreicht …

»Ein Thriller, dessen schonungslose Darstellung vergangenen Unrechts schockt und unheimlich fesselnd ist.« Media-Mania.de

Über die Autorin:

Jennifer B. Wind, geboren in Leoben, lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern südlich von Wien. Die ehemalige Flugbegleiterin mit Gesangs-, Klavier- und Schauspielausbildung schreibt heute unter anderem sehr erfolgreich Thriller, Romane und Drehbücher, für die sie mehrfach ausgezeichnet und von Kritik und Leserschaft gleichermaßen gefeiert wird. Jennifer B. Wind ist als Jurymitglied für verschiedene Literaturpreise aktiv und sorgt mit ihrer One-Woman-Krimi-Show für vollbesetzte Säle. In ihrer Freizeit engagiert sie sich aktiv im Tier- und Umweltschutz, in diversen Kulturvereinen und in der Gewaltprävention gegen Kinder und Frauen.

Mehr Informationen über die Autorin finden sich auf ihrer Website www.jennifer-b-wind.com sowie bei Facebook (www.facebook.com/jennifer.wind) und Instagram (www.instagram.com/jenniferb.wind).

Bei dotbooks veröffentlichte Jennifer B. Wind bereits die Fortsetzung von »Als Gott schlief«: »Wenn der Teufel erwacht«. Weitere Titel sind in Vorbereitung.

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Originalausgabe Februar 2014, August 2021

Copyright © der Originalausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Nagib, rarrarorro, chizhe

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95520-494-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Jennifer B. Wind

Als Gott schlief

Thriller

dotbooks.

Leid brachte die stärksten Seelen hervor.

Die allerstärksten Persönlichkeiten sind mit Narben übersät.

Khalil Gibran

Für Günter,

meinen Ehemann, Freund, Geliebten, Diskussionspartner, Seelentröster, Motivator, sachkundigen Berater, Tauchbuddy, Erstleser und perfekten Vater unserer wundervollen Töchter!

TEIL 1Angst und Tod

Schrecklicher als der Tod ist die Angst davor,grausamer als jede Krankheit die Ausgrenzung.

JUTTA

Kapitel 1

Wien, Sonntag, 17. April 2011, 5:56 Uhr

Rot auf Weiß.

Zarte Tropfen auf Linoleum. Rot auf Weiß. Klebrige Fußabdrücke auf dem Bodenbelag. Eisengeruch erfüllt den Raum, der sich um sie zu drehen beginnt. Herbert Molaryk kommt mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Von der Spitze seines Zeigefingers löst sich ein Tropfen und fällt auf ihren Schuh.

Rot auf Grün.

Der Tropfen rinnt über das Leder und sammelt sich an der Kante des Zehenlochs, bis er überläuft. Die warme Flüssigkeit rinnt auf ihren Zeh und wird auf dem lackierten Zehennagel unsichtbar.

Rot auf Rot.

Jutta sieht auf. Ihr Magen krampft sich zusammen, als ihr bewusst wird, dass Molaryks Hemd blutdurchtränkt ist. Wie ein nasser Sack klebt es an ihm.

Rot auf Blau …

… wird zu Lila. Aus glasigen Augen schaut Molaryk sie an.

»Simon, er …«

Schwindel erfasst sie. Ein Pfeifton erklingt in ihrem Ohr. Sie versucht zu begreifen, was hier vor sich geht. Wessen Blut ist es, mit dem Herbert da besudelt ist?

»Was ist mit Simon?«

Aus Molaryks Kehle dringt nur ein heiseres Krächzen. Dann knicken seine Knie ein. Auf allen vieren hockt er auf dem Parkett und würgt. Jutta kniet sich vor ihn und schüttelt ihn an den Schultern.

»Was ist mit Simon?«

Ein lautes Klatschen folgt. Hat sie ihm wirklich ins Gesicht geschlagen? Warum sagt er auch nichts, sondern hockt nur am Boden und kotzt ihr Büro voll?

»Herbert! Sprich verdammt noch mal mit mir.«

Vertraute Hände legen sich auf ihre Schultern, ziehen sie von Molaryk weg, umarmen sie und flüstern ihr ins Ohr: »Du musst jetzt stark sein, Mädchen.« Es ist Georg Kunzes Stimme. »Simon wurde niedergestochen.«

Das Bild verschwamm vor Juttas Augen bis auf einen roten Fleck im Zentrum. Ein blutiger Schuhabdruck.

Im Dunkeln tastete sie nach ihrem Mann, bekam aber nur das kalte Laken zu fassen. Mit einem lauten Schluchzen vergrub sie ihr tränennasses Gesicht darin. Sein Geruch war längst verflogen.

Vier Monate. Konnte es wirklich sein, dass sie Simon schon vor vier Monaten begraben hatte? Der Schmerz war noch so stark, als wäre es gestern passiert. Mit dem Ärmel des Sweatshirts wischte sie sich übers Gesicht und bekam gleich darauf ein schlechtes Gewissen. Es war Simons Lieblingsshirt, das sie zum Schlafen trug. Bestimmt waren jetzt Mascara-Schlieren auf dem gelben Stoff, zusätzlich zu den Ketchup-Flecken der letzten Monate. Trotzdem würde sie es niemals waschen.

Sie blinzelte. Laut Leuchtanzeige des Weckers war es sechs Uhr früh. Die Schlafmittel schienen jeden Tag weniger zu wirken. Sie war jetzt seit halb fünf wach und suhlte sich in den schönen Erinnerungen vor Simons Tod – und den traurigen danach.

Benommen stand sie auf. Mist! Was klebte da an ihrer Fußsohle? Angeekelt schüttelte sie die Pizzaecke ab, die vom Abendessen übrig geblieben war, geriet aus dem Gleichgewicht und stolperte über den Berg aus Schmutzwäsche.

Sie wankte ins Bad. Unaufhörlich strömten weitere Bilder durch ihren Kopf: Simon blutüberströmt auf dem Ambulanzbett, Simon bei der Hochzeit, strahlend und glücklich, Simon an Schläuchen auf dem Bett der Intensivstation, Simon an ihrem letzten gemeinsamen Tag beim Essen, Simon im offenen Sarg.

Jutta drehte den Wasserhahn auf, beugte sich über das Becken und hielt den Kopf unter das kalte Nass.

Wann würde der Schmerz endlich aufhören? Nur zwei Jahre hatte ihr Glück gedauert. Zwei Wochen vor dem Unglück hatte sie die Pille abgesetzt, weil sie endlich bereit waren, eine Familie zu gründen. Traurig sah sie auf ihren flachen Bauch herab. Wenn sie wenigstens schwanger wäre, dann wäre ein Teil von ihm noch bei ihr. Sie vermisste ihn unendlich.

Das Klingeln des Mobiltelefons unterbrach ihre Gedanken, aber sie ließ die Mailbox anspringen. Die Kleidung klebte auf ihrer Haut. Müde schälte sie sich aus Shirt, Slip und Achselhemd. Gerade als sie in die Dusche steigen wollte, klingelte es erneut. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und hob ab.

»Jutta St-Stern.« Es fiel ihr schwer, ihren Nachnamen auszusprechen, seinen Namen.

»Morgen, mein Sternchen.«

Jutta setzte sich auf den Bettrand. Georg Kunze, ihr Vorgesetzter und Partner beim LKA, war am Apparat. »Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.«

»Ich war schon wach.«

»Schlechte Träume?«

»Komm zur Sache, bitte«, sagte sie und fügte hinzu: »Ich bin nackt.«

»Für Telefonsex haben wir jetzt leider keine Zeit, Jutta, ich brauch dich hier – und zwar pronto.«

»Was ist passiert?« Fahrig kramte sie in der Schublade ihrer Nachtkommode nach Kugelschreiber und Notizblock.

»Sieh es dir selbst an. Kretschmer hat dir die Leitung des Falls übertragen, er konnte dich nur nicht erreichen. Er meinte, es wäre Zeit dafür. Es hat Weihbischof Heuss erwischt. Ich geb dir die Adresse durch, und dann schwingst du deinen hübschen Hintern hierher!«

»Ein Bischof? Du meine Güte!« Jutta notierte sich schnell die Adresse.

»Ja, das kannst du wohl sagen. Und spar dir das Frühstück, wäre schade drum!«

Ein Klicken in der Leitung signalisierte, dass Georg aufgelegt hatte.

Mit einem Seufzen erhob sie sich. Nach einer Katzenwäsche mit dem Waschlappen schlüpfte sie in Bluse und Jeans, die zuoberst auf dem Wäscheberg lagen. Der Bund der Hose schlackerte um ihre Taille. Die letzten Wochen hatte sie fast völlig auf warme Mahlzeiten verzichtet. Simon war der Koch in ihrer Ehe gewesen. Sie bürstete ihren kurzgeschnittenen Bob schnell durch und verteilte einen Klecks Haargel darüber; die letzten Reste aus Simons Tube. So bekam dieses Mausbraun wenigstens einen schönen Glanz, und der Geruch verlieh ihr die Illusion von Simons Nähe. Puder, Rouge und Mascara vollendeten das Fünf-Minuten-Styling. Auf Parfum verzichtete sie, stattdessen erfrischte sie sich mit einem Spritzer Deodorant.

Zehn Minuten später parkte sie ihren Toyota neben zwei Einsatzfahrzeugen der Polizei, dem Rettungswagen, einem Notarztwagen, Georgs zerbeultem Ford und drei weiteren Fahrzeugen in der Nähe des Hauses des Wiener Weihbischofs Heuss.

Trotz der frühen Morgenstunde drängelten Schaulustige um die rot-weißen Absperrbänder – teilweise nur mit Morgenröcken oder einer hastig über den Schlafanzug geworfenen Jacke bekleidet.

Sie verstand nicht, was diese Menschen dazu bewog, ihre Betten zu verlassen. War es Neugier, Entsetzen, Angst, Sensationsgier oder schlichtweg Langeweile? Sie vermutete eine Kombination von allem.

Die Tatortgruppe hatte bereits mit ihrer Arbeit begonnen. Zwei Männer in weißen Overalls streiften mit ernsten Gesichtern, den Blick auf die Wiese gerichtet, im Vorgarten herum. Zwei Streifenpolizisten standen bei den Absperrbändern.

Die Kokarde an ihre Brust gedrückt, lief Jutta durch die Absperrung die Treppe zum Eingang des Hauses hoch. Die Tür stand offen. Auf den ersten Blick waren keinerlei Anzeichen eines gewaltsamen Aufbruchs zu erkennen.

An der Tür begrüßte sie bereits Inspektor Herbert Molaryk von der Streife. Herbert hatte oft mit Simon zusammengearbeitet, bis zu jenem verhängnisvollen Tag. Jutta schluckte und betrachtete sein Hemd. Rot auf Blau. Sie konnte ihm immer noch nicht in die Augen sehen. Rot auf Blau. Ein Blinzeln verscheuchte die Vergangenheit, und mit einem Blick auf den Boden nickte sie zur Begrüßung und trat ein.

Der Vorraum war schmal, lang und lichtdurchflutet. Ein Perserläufer lag auf dem Marmorboden. Die Wiener Bischöfe der letzten Jahrzehnte lächelten freundlich aus ihren Bilderrahmen herab. Auf einer Kommode stand, neben einem Kreuz aus Stein, eine schlicht gerahmte Fotografie Papst Benedikts. Rosenkränze in leuchtenden Farben und aus verschiedensten Materialien lagen in einer Glasschale. Im Flur roch es säuerlich, schimmelig und modrig, was von der Messingobstschüssel ausging, die in einer Ecke auf einem Biedermeierbeistelltisch stand. Ein Schwarm Obstmücken kreiste um verdorbene Weintrauben und Äpfel. Durch eine offene Tür konnte sie in eine Wohnküche sehen, an deren Tisch eine Frau saß, in einer Kittelschürze, wie sie Juttas Großmutter immer getragen hatte. Das Gesicht in ihre wulstigen Finger vergraben, schluchzte sie. Ein Sanitäter sprach beruhigend auf sie ein.

»Das ist Frau Baumann«, sagte Georg, als er neben Jutta auftauchte. »Sie war die Haushälterin des Bischofs und hat ihn heute Morgen gefunden, als sie ihn zur Messvorbereitung wecken wollte.«

»Hast du schon mit ihr gesprochen?«

»Nur kurz, sie ist noch ganz durcheinander. Wir können später mit ihr reden.«

»Gut, dann möchte ich mir jetzt gern das Opfer ansehen.«

Georg nickte. »Na, dann komm mal mit.«

Jutta folgte ihm durch einen Wohnsalon in ein anderes Vorzimmer. Die Nussholztüren an beiden Seiten des Flurs waren mit Intarsienschnitzereien versehen.

»Weihbischof Heuss’ Schlafzimmer ist der zweite Raum auf der linken Seite«, sagte Georg und bedeutete ihr vorauszugehen.

Noch bevor sie das Schlafzimmer betrat, schlug ihr ekelerregender Gestank entgegen, eine bedrückende Geruchsmischung aus Leichenaroma, Schweiß, Urin und Fäkalien. Schwach mischte sich der Geruch nach faulen Eiern darunter. Ein leises Summen war ebenfalls zu vernehmen.

Rasch hielt sie ihre Hand über Nase und Mund, um den Brechreiz zu unterdrücken. Daran mussten die Tabletten schuld sein; offenbar hatten sie ihren Magen angegriffen. Es wurde wirklich Zeit, damit aufzuhören. Wortlos reichte Georg ihr die Dose mit der Mentholpaste, die sie dankbar annahm, um sofort damit ihre Nase einzucremen.

»Heuss muss schon mindestens einen Tag hier liegen. Die Haushälterin war über das Wochenende bei Angehörigen in Tirol«, sagte er. »Grausamer Anblick, oder?«

Jutta versuchte, flacher zu atmen, und trat an das Bett heran.

Der voluminöse Geistliche lag auf dem Bauch, die Gliedmaßen weit von sich gestreckt und unbekleidet. Ein riesiges Muttermal im Lendenbereich und borstige Haare auf seinen Schulterblättern waren nicht die einzigen Auffälligkeiten. Seine Haut glänzte weiß, war mit zahlreichen blutverkrusteten Striemen überzogen und wies Abdrücke auf. Flecken an Fersen, Fußsohlen und Knöcheln, die sich farblich von den Totenflecken unterschieden, ließen Jutta vermuten, dass der Weihbischof Betäubungsmittel eingenommen hatte; ob freiwillig oder eingeflößt, das würden Toxikologie und Pathologie sicher herausfinden.

Sein Kopf lag in einer bereits eingetrockneten Flüssigkeit von undefinierbarer Farbe. Braun, blau, schwarz, grün, rot. Rot auf Weiß. Jutta bekämpfte die aufsteigende Übelkeit. Die Augen des Bischofs waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Rotviolette, ringförmige Abdrücke an Hals, Handgelenken und Fesseln stammten vermutlich von einem Strick oder Kabelbindern. Zwischen seinen Beinen war eine braunrote Pfütze auf dem Laken zu erkennen. Die Innenseiten seiner Oberschenkel sowie die Hälfte seines Hinterteils waren ebenfalls von dieser getrockneten Masse überzogen. Zwischen den Pobacken entdeckte Jutta das fleischfarbene Ding, dessen Summen den Raum erfüllte.

»Ist es das, was ich denke?«, fragte sie mit einem Seitenblick zu Georg.

»Tja, seltsam, oder?«

»Wieso hat das … Ding noch niemand abgestellt?«

Georg räusperte sich. »Sicher wollte man nichts verändern, bis die Tatortgruppe alle verwertbaren Spuren gesichert und Fotos geschossen hat.«

Jutta nahm ein Paar Gummihandschuhe hervor, die sie immer vorsorglich eingesteckt hatte, zog sie über und beugte sich über die Leiche.

»Ich werde aufpassen.«

Sofort verstummte das Summen.

»Alle Achtung«, sagte Georg. »Das ging aber schnell.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Es ist nur ein simpler Schalter, on/off, man muss kein Techniker sein, um den zu finden.«

»Solltest du mal … Notstand haben, du weißt ja, wo du mich findest, ich meine, bevor du so ein Plastikding …« Als er in ihre Augen sah, brach er ab.

Früher hätte sie über diesen Witz gelacht, doch heute bekam sie nur einen schalen Geschmack im Mund, wenn sie über Sex nachdachte. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder mit einem Mann intim zu sein.

Ein Mann der Tatortgruppe, der eine Lampe und eine Spraydose trug, rempelte sie an. Der Amtsarzt begleitete ihn.

Jutta kritzelte in ihren Notizblock, Georg linste über ihre Schulter. »Wieso notierst du die Uhrzeit?«

»Wir müssen später nachsehen, um welche Batterien es sich handelt, und deren Lebensdauer überprüfen. Damit haben wir einen Anhaltspunkt für die Todeszeit.«

»Der ist seit mindestens zwölf Stunden tot«, sagte der Amtsarzt laut. »Die Totenflecken lassen sich nicht mehr wegdrücken.«

Der Arzt drückte auf dem Leichnam herum und untersuchte die Gliedmaßen und Wunden. Dabei sprach er in sein Diktiergerät: »Adipöse Leiche, weiß, männlich, circa sechzig Jahre alt, Glatze. Melanom im Lendenbereich. Die Beine sind noch starr. An Kopf, Rumpf und oberen Extremitäten hat sich die Leichenstarre bereits gelöst. Das bedeutet, der Bischof ist vor 24 bis 36 Stunden gestorben.«

Georg konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Müssen Duracell-Batterien sein.«

Jutta ignorierte seinen Kommentar und sah sich im Raum um. Auf dem Nachttisch lag eine aufgeschlagene Bibel, keine ungewöhnliche Lektüre für einen Geistlichen. Neben der Leselampe stand ein benutztes, aber leeres Trinkglas. Als sie nach unten sah, entdeckte sie ein Loch im Teppich. »Raucht der Bischof?«

Georg folgte ihrem Blick. »Das wäre aber ein großes Brandloch.«

»Vielleicht eine Zigarre oder Pfeifentabak?« Jutta kniete sich hin, um den Boden zu inspizieren. »Das Loch im Teppich ist unregelmäßig begrenzt und hat keinen braunen, sondern einen weißen Rand, der Holzboden darunter sieht gebleicht aus.« Sie hob den verbliebenen Teppichteil hoch. »Siehst du, hier ist der Boden viel dunkler.« Mit einem Spatel schabte sie die Rückstände vom Parkett. »Kristalline Form, wie Salz oder Zucker, es sieht aber ätzend aus. Gib mir mal einen Beweisbeutel und schick mir jemanden von der Tatortgruppe, bitte.«

Georg reichte ihr das Gewünschte und ging aus dem Zimmer. Jutta tränten die Augen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Lider.

»Was gibt’s denn?« Eine dunkelhäutige Schönheit in einem weißen Overall, die Jutta noch nie zuvor gesehen hatte, stand vor ihr und lächelte sie an.

»Haben Sie diese Stelle bereits fotografiert und festgehalten?« Sie zeigte auf den Boden. »Sehen Sie das Loch hier im Teppich?«

Die Dunkelhäutige beugte sich vor, das Schild auf ihrem Mantel wies sie als Tamana Breuer aus.

»Sieht nicht nach Brandloch aus. Ich werde es gleich fotografieren, die Spur sichern und auf der Liste notieren.«

Jutta reichte Tamana Breuer den Beutel mit dem Beweismaterial und kroch weiter über den Boden, während die Kollegin von der Tatortgruppe ein Stück aus dem Teppich schnitt.

Neben einem Pfosten am Fußende des Bettes lag etwas Längliches, circa vier Zentimeter lang, zwei bis vier Millimeter breit und mit einem knorpelig verdickten Ende.

»Was könnte das denn sein?«, fragte Jutta. »Sieht aus wie ein eingetrockneter Regenwurm.«

Mit einer Pinzette bewaffnet, hockte sich Tamana neben sie. »Eher wie ein Stück Schnittlauch, finde ich, trockener Schnittlauch natürlich.« Ihr entfuhr ein tiefes kehliges Lachen. Vorsichtig hob sie das Stückchen mit der Pinzette vom Teppich und tütete es ein. »Ich glaube nicht, dass das hier von Wichtigkeit ist. Wird dem armen Kerl wohl nur vom letzten Abendmahl gefallen sein.« Sie lachte wieder. Tamana war sicher neu bei der Spurensicherung. Oft versuchten Neulinge, ihre Betroffenheit über das Verbrechen mit Humor zu überspielen.

Jutta machte diesen Job lange genug, um zu wissen, wie wichtig das kleinste Detail sein konnte. Als hätte sie sich bei einem Fehler ertappt, ging sie zum Nachttisch zurück und sah in die aufgeschlagene Bibel. Anfang und Ende eines Absatzes waren mit Bleistift markiert. Ob die Bibelstelle eine Bedeutung für den Fall hatte? Jutta las.

Kapitel 2

Hanna Wagner stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete mit gezücktem Notizblock und Diktiergerät das Treiben vor dem Haus von Weihbischof Heuss. Das Kitzeln der Schmetterlinge in ihrem Bauch war eine alte Berufskrankheit.

Nach ihrer ersten Titelstory in der KleineAustria Aktuell hatte sie sich von ihren Freundinnen fotografieren lassen: nackt und mit dem Titelbild der Story auf der bloßen Brust. Ihre ganze Haut hatte gekribbelt, ein unbeschreibliches Hochgefühl hatte sie wie ein multipler Orgasmus durchzuckt – nicht, dass sie wusste, wie sich ein multipler Orgasmus anfühlte, aber es musste wohl ganz ähnlich sein. Das Exklusivinterview mit dem Mörder Hans Witzig hatte ihrer Karriere mächtig Schwung verliehen: vom kleinen Regionalblatt zur größten österreichischen Tageszeitung.

Sie hatte nun mal einen Riecher für Topstorys und war meist vor ihren Kolleginnen und Kollegen vor Ort, wie jetzt auch.

Hanna sah die übermüdeten Augen und gezeichneten Gesichter all derer, die aus dem Haus des Bischofs kamen. Das lautstarke Weinen einer Frau wurde vom Murmeln der Schaulustigen untermalt. In ihren seltsamen Uniformen aus Pyjama unter Morgenmantel sahen sie aus wie verirrte Kreaturen aus einer anderen Welt. Selbst hier konnte Hanna den penetranten Leichengeruch wahrnehmen, den der Wind herüberwehte. Angewidert zog sie den Rollkragen ihres Pullovers über die Nase.

Sie war am Morgen zeitgleich mit dem Rettungsdienst eingetroffen. Ihr Funkscanner hatte sich wieder einmal als kluge Investition erwiesen. Abhören des Polizeifunks war illegal, sogar strafbar, natürlich wusste sie das. Ihre ängstlichen Kollegen mochten sich daran halten, sie hatte jedoch keine derartigen Skrupel. Die Konkurrenz schlief nicht, in ihrem Beruf schon gar nicht.

Fünf Minuten später hatte sie Kunze aus seinem Auto springen sehen. Klar, der Herr Chefinspektor war immer einer der Ersten am Tatort. Ein Wichtigtuer, den sie lächerlich fand. In Los Angeles würden sich die Paparazzi um ihn scharen, so sehr ähnelte er Danny de Vito. In Uniform würde er vielleicht halbwegs passabel aussehen, aber die Kripo arbeitete nun mal in Zivilkleidung. Obwohl seine Kollegen kragengestärkte Baumwollhemden mit oder ohne Krawatte und Bügelfaltenhosen trugen, kam Kunze stets in zerknitterten T-Shirts, Flanellhemden und Jeans zu den Tatorten oder – besonders im Hochsommer – in abgewetzten Cordhosen. Er benutzte kein Parfum, sondern verwendete seit Jahren Tabac-Rasierwasser, das Hanna Übelkeit verursachte.

Und während die Tatortgruppe fleißig alle Spuren gesichert hatte, war die Bohnenstange dahergekommen. Kunze machte nichts ohne sie. Die Bohnenstange hatte ausgesehen, als hätte sie in ihren Kleidern geschlafen. Was waren die beiden nur für ein Team? Selbst mit einem Celebrity-Haarschnitt à la Katie Holmes würde Jutta Stern immer nur eine Durchschnittsfrau bleiben.

Seit einer Stunde stand Hanna geduldig unter dem Kastanienbaum und lauerte. Ihre Finger hielten die neue Tablettenpackung in der Manteltasche fest umklammert. Sie hatte vorgesorgt und beschlossen, die Schmerzen so lange wie möglich zu ignorieren.

Momentan würde sie nicht viel von der Polizei erfahren, aber vertrauliche Informationen erhielt sie gewiss nicht von der Pressestelle. Sie wartete und lächelte siegesgewiss. Das hier würde ihre Story werden.

Kapitel 3

»Jutta! Gerda Baumann ist jetzt bereit. Kommst du bitte mit?«, rief Georg vom Flur aus.

Jutta kritzelte den Bibeltext in ihren Notizblock und verließ das Schlafzimmer. Am Ende des Flurs, gegenüber der Wohnküche, warf sie einen Blick aus dem Fenster. »Da ist sie wieder, diese Hyäne!«

»Wer?«

»Die Journalistin mit dem Playmate-Busen.«

»Hanna Wagner ist da?« Georg folgte ihrem Blick und errötete. »Tatsächlich!« Er strahlte. »Eine Wahnsinnsfrau.«

Jutta zuckte mit den Achseln. »In zwanzig Jahren ist der Lack ab.«

»Nicht bei dieser Frau. Die ist mit neunzig noch zum Anbeißen. Vergleich sie nicht mit diesen hirnlosen Playboy-Bunnys. Sie erinnert mich an meine erste große Liebe.«

»Marlene Dietrich?« Jutta runzelte die Stirn.

»Nein, an Professor List, meine Mathelehrerin in der Volksschule! Jedenfalls ist die Frau toll. Hanna Wagner, meine ich.«

»Wenn du meinst.« Männer waren leicht zu beeindrucken: Seidenmähne, Schmollmund, lange Beine und große Brüste reichten aus.

Sie folgte Georg in die Wohnküche des Weihbischofs. Drinnen roch es nach angebrannter Milch und einem alten Wettex-Tuch. Auf dem weiß lasierten Holzschemel neben der Essbar saß Gerda Baumann und starrte auf die Tischplatte. Mit einer Hand zerknüllte sie ein Stofftaschentuch. Ihre Linke spielte mit einem Schlüsselbund. Nur das Brummen des Kühlschranks untermalte ihr Schluchzen.

Jutta setzte sich ihr gegenüber. »Frau Baumann?«

Die Alte knetete weiter das Taschentuch, ohne aufzublicken.

»Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?« Sanft legte Jutta ihre Hand auf Gerda Baumanns Arm, um eine Vertrauensbasis herzustellen. »Nur das Wichtigste. Den Rest machen wir dann in meinem Büro bei Ihrer Vernehmung für das schriftliche Protokoll. Ist das in Ordnung?«

War das ein Nicken? Jutta machte eine verständnisvolle Pause. Ihre Hand ließ sie auf dem Arm der Haushälterin liegen, bis die Frau ihren Kopf hob und ihr in die Augen sah. Ein Zeichen, dass sie bereit war.

»Wie lange kümmern Sie sich schon um den Haushalt des Weihbischofs?«

Die Antwort kam zögernd. »Seit … zwanzig Jahr’ … vielleicht mehr … arbeite ich für den Albin.«

»Da kennen Sie … Entschuldigung … kannten Sie sich sehr gut.« Es war keine Frage, vielmehr eine Feststellung. Jutta nahm die Hand vom Arm der Haushälterin und lehnte sich zurück.

»Natürlich! Wir hatten ein freundschaftliches Verhältnis zueinander, haben oft Karten gespielt oder zusammen ferngesehen.« Traurig blickte sie auf den Herd. »Ich hab täglich zweimal frisch für ihn gekocht.«

Vermutlich deftige Hausmannskost. Jutta dachte an den toten Fleischberg drei Türen weiter. Der Leichenabholdienst würde seine Freude haben.

»Ein guter Mann«, fuhr die Haushälterin fort. »Er hat mir sogar beim Abwasch geholfen. Seine Ohren waren immer offen für meine Probleme, deshalb hat er mir dieses Wochenende freigegeben. Wissen Sie, meiner Schwester geht’s sehr schlecht; Brustkrebs. Ihr Mann hat sie und die drei Kinder sitzenlassen. Ich hätt nicht fahren sollen, aber wer weiß denn …« Gerda Baumann schneuzte sich. Fürsorglich stellte Georg ein Glas Wasser auf den Tisch. Die Haushälterin nippte kurz daran und schüttelte den Kopf.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wer ihm etwas Böses antun wollte. Luzifer persönlich muss das getan haben, der Teufel!« Gerda Baumann schluchzte wieder.

»Wann sind Sie nach Wien zurückgekommen?«, fragte Georg und setzte sich dazu.

»Gestern, recht spät war’s. Kurz vor Mitternacht.«

»Wieso haben Sie den Bischof erst heute gefunden?«

»Ich hab mein eigenes Zimmer, beim Albin hat kein Licht mehr gebrannt, da wollt ich ihn nicht stören. Er ist immer zeitig schlafen gegangen, weil er früh aufstehen muss, der Mess’ wegen.«

Überrascht runzelte Jutta die Stirn, schließlich hatte sie schon am Eingang den penetranten Verwesungsgeruch wahrgenommen. »Kam Ihnen nichts sonderbar vor? Der Geruch?«

»Ich hab jahrelang Nasentropfen genommen, meiner Allergie wegen.« Gerda Baumann schüttelte den Kopf. »Vor fünf Jahren hat sich mein Geruchssinn verabschiedet.« Eine mögliche Erklärung, deren Wahrheitsgehalt Jutta überprüfen würde.

»War die Eingangstür bei Ihrer Rückkehr versperrt?«

Gerda Baumann zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht mehr, aber wenn, hätt ich das nicht ungewöhnlich gefunden. Albin hat oft vergessen, die Tür zu verschließen. Jessas! Warum war ich nicht da?« Beruhigend legte Jutta ihre Hand wieder auf den Arm der Frau.

»Wie viele Personen wohnen hier außer Ihnen und dem Bischof?«

»Nur Kurt, der Vikar, aber der ist gerade in Rom. Am Dienstag in einer Woche soll er zurückkommen. Jetzt wird er wohl eher wieder zu Hause sein.« Sie seufzte und rieb sich die Augen.

»Hat noch jemand einen Schlüssel?«

»Niemand, nur wir drei.« Gerda Baumann überlegte. »Aber es gibt noch einen Ersatzschlüssel, der hängt drüben vor dem Ankleidezimmer im Dom.«

Jutta und Georg wechselten einen bedeutsamen Blick.

Nach einer Pause stellte Jutta vorsichtig die erste pikante Frage: »Frau Baumann, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber hatte Bischof Heuss vielleicht eine Beziehung?«

Die Haushälterin sprang auf. »Hören Sie mal!« Erbost funkelte sie Jutta an. »Sie sprechen von einem Gottesmann!«

Das wusste Jutta nur zu gut, aber seit geraumer Zeit häuften sich weltweit die Berichte über Kleriker, die das zölibatäre Leben nicht glücklich machte.

»Frau Baumann, regen Sie sich nicht auf. Ich muss Sie das fragen. Wir müssen alle Eventualitäten berücksichtigen, um den Täter zu finden. Bitte setzen Sie sich wieder.«

Gerda Baumann hielt sich am Tisch fest. »Er hatte keine Beziehung!«

»Also hatte er keine … Besuche?«

»Natürlich hatte er Besuch. Priester, Seminaristen und Bischöfe, aber genauso oft Frauenbesuche, Ordensschwestern oder Religionslehrerinnen. Es arbeiten auch viele Frauen und Männer ehrenamtlich für unser Bistum. Das Haus war stets für alle offen!«

»Kam Ihnen niemand außergewöhnlich vor?«

Die Haushälterin sah ihr in die Augen. »Das sind sie alle, meine Liebe. Gott hat sie auserwählt.« Während sie weiterredete, zupfte sie am Blatt eines Gummibaums, der neben dem Tisch stand. »Einmal war ein Mönch aus Rumänien da, mit langem Bart, schwarzer Kutte und einer hohen schwarzen Kopfbedeckung. Ein orthodoxer Mönch, der wirklich noch so wie Jesus damals wohnt. Stellen Sie sich vor, ganz ohne Strom! Er wäscht sich mit kaltem Wasser aus einem Ziehbrunnen und kocht auf offenem Feuer. Orthodoxe Mönche leben nur von dem, was Gläubige ihnen schenken. Das ist nicht viel, in Rumänien sind die meisten arm.«

»Wissen Sie noch, warum dieser Mönch hier in Wien war?«

»Nein, aber Albin hat einen Buchkalender, in den er alle Termine eingetragen hat. Daneben notierte er sich immer, was besprochen wurde.«

»Könnten Sie uns diesen Kalender bitte zur Verfügung stellen?«

»Ich müsste ihn suchen.«

»Kein Problem.« Jutta rückte den Stuhl vom Tisch weg und stand auf. »Hier ist meine Karte. Bitte kommen Sie morgen um zehn Uhr in mein Büro zur Einvernahme.«

Mit zitternden Fingern nahm Gerda Baumann die Karte entgegen. »Ich hoff, Sie finden dieses Monster bald, diesen … Perversen!«

»Wir tun unser Bestes, danke für Ihre Hilfe.«

Wortlos schlurfte Gerda Baumann zum Herd und begann damit, die verbrannten Milchrückstände vom Ceranfeld zu schaben.

»Auf Wiedersehen, Frau Baumann.«

Die Antwort waren monotone Kratzgeräusche.

Im selben Moment steckte Herbert Molaryk den Kopf zur Küchentür herein. »Der Leichenabholdienst ist da. Möchten Sie dabei sein?«

Rasch folgten sie ihm ins Schlafzimmer des Bischofs. Im Raum standen vier Männer. Offensichtlich hatte man dem Leichenabholdienst ausgerichtet, dass es sich beim Opfer um ein Schwergewicht handelte, denn normalerweise kamen sie nur zu dritt. Der Amtsarzt klebte den Vibrator vorsorglich fest.

»Drehen Sie den guten Mann einmal um«, sagte er schnaufend. »Ich habe das nicht allein geschafft.«

Zwei Männer fassten den Bischof an den Beinen, einer am Arm, und der vierte versuchte, den Kopf mitzudrehen.

Der Amtsarzt gab das Kommando: »Eins, zwei, drei, jetzt!« Mit vereinten Kräften zogen sie an der Leiche.

Die Bauchdecke des Toten war dunkelrot verfärbt.

Als die Männer den Körper weiterdrehen wollten, fing die Bauchhaut an einzureißen. Durch ein Loch in Höhe des Magens sickerte Flüssigkeit. Gewebefetzen, gestocktes Blut und kleine Fleischstücke folgten.

»Legt ihn zurück auf den Bauch! Schnell!« Der Amtsarzt winkte hektisch mit den Armen. »Wir müssen ihn mitsamt dem Leintuch hochheben. So schnell wie möglich, damit der Bauch nicht noch weiter aufplatzt.«

Die Männer zogen die Ecken des Bettlakens heraus und schlugen es über dem Rücken des Bischofs zusammen. Danach hoben sie ihn in einem Ruck in den geöffneten Plastiksack, der im Zinksarg lag. Georg händigte ihnen den ausgefüllten Leichenbegleitschein aus. »Fahren Sie sofort in die Sensengasse.« Die Männer schlossen den Sarg und trugen ihn hinaus. »Ich rufe in der Gerichtsmedizin an.«

»Was meinen S’, was hier passiert ist?«, fragte der Staatsanwalt, der sich nach Luft ringend neben ihnen aufbaute.

»Ich weiß es nicht.« Georg steckte seinen rechten Daumen in die Gürtelschnalle. »Aber es ist auf jeden Fall eine Riesensauerei.«

Kapitel 4

Wien, Montag, 18. April 2011, 8:15 Uhr

Seit einer Stunde saß Hanna Wagner am Fenster in der Lobby des schäbigen Hotels Casa Heidrun, mit Blick auf das gerichtsmedizinische Institut. Langsam wurde sie ungeduldig. Kunze war doch sonst schneller als Columbo. Ein notorischer Frühaufsteher war er obendrein, aber jetzt konnte sie weit und breit nichts von ihm erkennen.

Gereizt überflog sie die aktuelle Tageszeitung. Sie ärgerte sich wieder einmal über die Redaktion. In ihrem gestrigen Artikel hatte die Redakteurin einen ganzen Absatz gestrichen, ohne Rücksprache. Wütend griff sie zu ihrem Mobiltelefon, aber auch beim fünften Versuch antwortete nur diese Bahnhofsansagerinnenstimme, sie möge nach dem Piep eine Nachricht hinterlassen.

Rasende Kopfschmerzen setzten ein. Hektisch wühlte sie in ihrer Handtasche. Wie konnte das sein? Der Blisterstreifen war schon wieder leer. Jetzt hatte sie keine Zeit mehr, in der Apotheke Nachschub zu besorgen. Gottlob, da war noch eine geöffnete Schachtel Marlboro. Die würde den Schmerz wenigstens eine Weile dämpfen und sie zumindest ablenken.

Sie fingerte eine Zigarette aus der fast leeren Packung und blickte sich suchend um. Ein Mann im Nadelstreifenanzug kam zu ihr herüber und zückte sein Feuerzeug. Fragend hob er die Augenbrauen, doch sie schüttelte den Kopf.

»Mein Mann kommt gleich vorbei.«

Enttäuscht zog er sich zurück.

Nein, den Platz neben sich hatte sie schon reserviert. An diesem Tag würde sie Kunze allein antreffen, und er würde sich von ihr umgarnen lassen.

Hannas Mundwinkel zuckten vor Freude, als sie endlich einen Trenchcoat um die Ecke wehen sah. Mit hochrotem Kopf lief der Chefinspektor die Straße entlang, wie immer nach allen Seiten Ausschau haltend. Das dürfte eine Berufskrankheit sein. Sie hatte noch nie einen Polizisten oder Ermittler kennengelernt, der nicht ständig den Blick schweifen ließ.

Wie zufällig lehnte sie sich Richtung Fenster, öffnete ihre Bluse bis zum Brustansatz und wartete, bis Kunze vorbeikam. Als sich ihre Blicke trafen, blies sie kleine Rauchkringel in die Luft. Kunze hatte eine Schwäche für rauchende Frauen, nicht umsonst war seine Frau an Lungenkrebs gestorben.

In seinem Büro hatte Hanna zudem ein gerahmtes Schwarzweißbild gesehen: Marlene Dietrich mit übereinandergeschlagenen Beinen, der Blick lasziv, eine Zigarettenspitze zwischen den leicht geöffneten, feucht glänzenden Lippen.

Und genau diesen fleischgewordenen Tagtraum bekam Kunze jetzt präsentiert. Klar sprang er darauf an! Als sie durch die Glasscheibe hindurch in seine großen Augen sah, kicherte sie. Die Maus saß in der Falle.

Kapitel 5

Wien, Montag, 18. April 2011, 8:45 Uhr

Jutta ärgerte sich, um drei Uhr nachts doch noch eine Schlaftablette genommen zu haben. Aber anders war es ihr nicht gelungen, die ständig kreisenden Gedanken abzuschalten. Dafür war sie jetzt spät dran. Bestimmt war Georg längst hier. Endlich war sie in der Sensengasse angekommen.

Sie drückte auf den verrosteten Klingelknopf, über dem ein Schild mit der Aufschrift DEPARTMENT FÜR GERICHTLICHE MEDIZIN angebracht war. Gleich darauf ertönte ein Summen, und die Tür sprang mit einem Klicken auf. Jutta stemmte sie komplett auf und trat über die Schwelle. Im Vorraum zeigte sie dem Portier ihre Dienstmarke und lief den Gang entlang. Vor der Stahltür stand Ina Lorent, die Obduktionsassistentin. Wie immer trug sie ihren Arbeitskittel offen über Jeans und T-Shirt. Sie war über eins siebzig groß, mit einem äußerst athletischen Körper gesegnet und einer wallend roten Lockenmähne. Jadegrüne Augen blitzten über ihrer sommersprossigen Nase, die ein bisschen zu groß geraten war und ihr ein apartes Aussehen verlieh.

Aber sie hatte eine Piepsstimme. »Wo ist Chefinspektor Kunze?«

»Georg ist noch nicht hier?«

Ina Lorent schüttelte den Kopf. »Doktor Kleist ist schon recht grantig.«

Wie auf Kommando sprang die Tür auf, und ein Dünner mit Dreitagebart starrte Jutta in den Ausschnitt. »Silikon oder Milch?«

»Wie bitte?« Unangenehm berührt, schloss Jutta den obersten Blusenknopf.

»Vor drei Monaten war nicht so viel Holz vor der Hütt’n.«

»Das ist nur der neue BH.« Angespannt biss sie sich auf die Unterlippe. »Roland? Hast du Bischof Heuss schon obduziert?«

»Schon? Ich bin seit fünf Uhr hier.«

»Können wir in dein Büro gehen?«

»Ungern. Ruf Georg an, damit ich nicht alles doppelt sagen muss.« Aber das erübrigte sich. Der Chefinspektor kam gerade den Gang entlang. Er wisperte Jutta ein kurzes »Sorry« zu.

Georg wusste, wie sehr sie es hasste, mit Roland allein zu sein, denn ihm ging es nicht anders. Er hatte den Mediziner noch nie leiden können. Lustlos folgten sie ihm.

In all den Jahren hatte sich Rolands Büro nicht verändert. Im Mittelpunkt stand ein Lederungetüm, braun, abgewetzt und speckig, sowie ein dazu passender Sessel plus Fußschemel. Als Couchtisch fungierte eine Reisetruhe aus dem vorigen Jahrhundert. Auf einem Holztablett standen ein Porzellankrug mit abgeschlagenem Griff und ausgewaschene Nutella-Gläser, an denen teilweise noch Etikettenrückstände klebten.

Die Fenster hatten keine Gardinen, boten aber aufgrund ihrer Patina eine Art Sichtschutz. Plakate von David-Lynch-Filmen und Poster von H. R. Giger, eines vom Maler persönlich signiert, zierten die Wände. Drei Schreibtische standen mitten im Raum, auf einem lag Rolands Laptop. Die Tischplatten der anderen beiden konnte man nicht mehr sehen, die Papiere darauf befanden sich in einer Art geordnetem Chaos. In einer Ecke des Büros stapelte sich diverser Computerschrott. Wozu bewahrte er alte Motherboards, kaputte Disketten, Monitore und allerlei Zubehör auf? Es roch wie in einem Bibliotheksarchiv: verstaubt und modrig. Zusätzlich verlieh Rolands Aftershave dem Ganzen ein holziges Aroma.

»Schau nicht so, Jutta.« Er hatte ihre Gefühle und Gedanken schon immer in ihrem Gesicht lesen können. »Hast du wirklich gedacht, ich würde mich ändern?«

»Es gab eine Zeit, da hab ich das, ja.«

Aber das war nicht mehr wichtig. Nichts war mehr wichtig.

»Alte Kerle ändern sich nicht mehr, nicht wahr, Georg?«

Abweisend hob dieser die Arme. »Können wir zur Sache kommen?«

»Georg, sei mal locker. Welche Sache? Die Tatsache, dass du es bis jetzt nicht geschafft hast, deine Partnerin ins Bett zu locken?« Er grinste breit. »Im Gegensatz zu mir.«

Mit erhobenen Fäusten trat Georg an Roland heran. Geistesgegenwärtig ergriff Jutta ihn am Arm, um ihn zurückzuhalten.

Der Pathologe lachte laut auf. »Er hasst mich immer noch dafür.« Mit zufriedenem Gesichtsausdruck nippte er an einem der Gläser. Für diesen schwachen Moment vor fünf Jahren hasste sich Jutta selbst. Sie konnte diesen One-Night-Stand nicht rückgängig machen, und zu allem Übel erinnerte sie sich an jedes Detail. Obwohl sie es sich widerstrebend eingestand, war der Sex mit ihm umwerfend und höchst befriedigend gewesen.

»Wir sind wegen des Weihbischofs hier«, lenkte sie ab. »Privatgespräche führen wir schon lange keine mehr.«

»Du vielleicht nicht, aber deine Brüste sprechen Bände.« Er fuhr mit der Zunge über seine Lippen, ohne Jutta aus den Augen zu lassen.

Sie erwiderte seinen Blick. In ihrem Schritt pochte es. Verdammt! Sie hatte definitiv zu lange keinen Sex mehr gehabt. Ihr Körper, dieser Verräter, schrie vor Verlangen.

»Was hast du rausgefunden?« Georgs Frage rettete die Situation.

Ohne ein weiteres Wort nahm Roland einen Stapel Papiere von der Truhe und setzte sich auf den Sessel. Georg tat es ihm gleich, Jutta zog es vor, stehen zu bleiben.

»Grundsätzlich wäre er ohnehin bald abgekratzt. Fettleber, Mitralklappenprolaps, Hiathus-Hernie, Niereninsuffizienz. Maximal zwei Jahre hätte er so noch durchgehalten, wenn der Hautkrebs ihn nicht vorher erledigt hätte. So ein Riesenmelanom sieht man selten. Allerdings hatte er gesunde Knochen, ich konnte keinen einzigen Bruch feststellen.« Er blätterte die Papiere durch. »Einen derartigen Fall hatte ich noch nicht auf dem Tisch liegen. So möchte ich jedenfalls nicht um die Ecke gebracht werden.«

Neugierig beugte sich Jutta vor. »Der Vibrator hat ihn doch nicht gekillt?«

»Keine Angst, du kannst dein Sexspielzeug weiter verwenden.« Sein anzügliches Grinsen störte sie gewaltig.

»Jetzt raus mit der Sprache, ich hab Hunger.« Georg nestelte an seinem Gürtel.

»Du hast immer Hunger! Gut, Kinder, beruhigt euch. Es war ein simpler Einlauf, der ihn gekillt hat.«

»Ein Einlauf? Das soll ich dir glauben?« Sie lachte.

»Ja, das ist möglich, vorausgesetzt, man verwendet weder Wasser noch Kamillentee, sondern H2SO4.«

Georg runzelte die Stirn. »Was ist das?«

Roland seufzte. »Wieso darf man ohne Matura zur Polizei? Das ist mühsam!«

Erbost sprang Georg auf. »Wieso verbietet man Arschlöchern wie dir nicht einfach das Maul!«

»Weil du dann nicht erfährst, was wichtig ist.« Nonchalant schlug Roland die Beine übereinander und fuhr sich durch sein dichtes Haar. »Also für die Chemie-Analphabeten unter uns: H2SO4 ist Schwefelsäure, extrem ätzend, sogar in verdünnter Form.«

Jetzt ergab endlich auch der Geruch nach verfaulten Eiern, den Jutta im Schlafzimmer des Bischofs wahrgenommen hatte, Sinn. Ob die Substanz, die das Loch in den Teppich gefressen hatte, dieselbe war? Somit wäre ein Teil des Puzzles gelöst.

Roland fuhr mit seiner Erklärung fort: »Der Tod erfolgt unter brennenden Schmerzen. Das kann zwei Stunden oder aber auch zwölf Stunden dauern. Je nach Verdünnungsgrad der Säure, und jede Menge andere Komponenten spielen dabei auch eine Rolle.«

Wie grausam. Jutta schauderte. Ein Tod auf Raten.

»Hat er sehr gelitten?«

»Ist anzunehmen, Süße. An der Zunge klebten übrigens gelbe Faserbällchen, die noch untersucht werden. Die Tatortgruppe hat alles ans Labor weitergeleitet.«

»Spermaspuren?«, fragte Georg.

»Bingo! Laut Tatortgruppe war jede Menge Sperma auf dem Bettlaken. Es könnte vom Bischof selbst sein. Der DNA-Test steht noch aus. Am Körper selbst habe ich kein Sperma gefunden, und im Körper …« Er brach ab.

Jutta stand in Gedanken noch einmal im Schlafzimmer des Weihbischofs. »Da waren diese Flecken …«

»Ja, die hab ich gesehen. Die Blutröhrchen sind schon unterwegs zur Toxinbestimmung. Der Schnelltest hat nicht angeschlagen. Können nur K.-o.-Tropfen gewesen sein, alles andere ließe sich nachweisen. Ich nehme an, darum gibt’s auch keine Kampfspuren. Seine Fingernägel sind sauber. Es wurde ihm Ketamin gespritzt.«

»Damit er länger durchhält?«

»Ersteres sicher, um ihn überhaupt in Ruhe herrichten zu können. Beim Ketamin bin ich mir nicht sicher, was der Mörder damit bezweckt hat. Es verändert die Wahrnehmung, wird aber auch als Schmerzmittel eingesetzt, vorwiegend in der Veterinärmedizin.«

»Hast du Schnittlauch in seinem Magen gefunden?« Jutta dachte an den Kommentar Tamana Breuers.

»Süße, lass dir jetzt mal erklären, was bei einer Schwefelsäurevergiftung passiert. Denn das gilt als offizielle Todesursache in diesem Fall.«

Jutta konnte sich in etwa vorstellen, wie es im Bauchraum des Bischofs aussah. Einer ihrer ungeklärten Fälle war ein Säureattentat auf ein junges Mädchen namens Samina gewesen.

»Ich bin ganz Ohr.«

»Die Säure bewirkt ein sofortiges Absterben aller mit ihr in Berührung kommenden Oberflächen. Bei unserem Bischof hier handelt es sich vor allem um den Darm, aber auch der Magen war betroffen. Die Ätzung hat zu Durchbrüchen der Darmwand geführt. Im Dünndarm hat es eine enorme Blutung gegeben. Schwarze teerartige Massen finden sich im gesamten Bauchraum. Durch die Durchbrüche erfolgte eine Anätzung der angrenzenden Organe. Die Organwände erscheinen in einem schwarzen, brüchigen Schorf. Aufgrund seiner Lage sammelte sich der Matsch in Höhe des Nabels, und durch den massiven Druck ist die Bauchwand später aufgebrochen.« Erwartungsvoll sah er sie an.

»Also ganz klar Mord.«

»Nicht immer an das Schlimmste denken, Süße.« Er ließ den Papierstapel sinken. »Vielleicht wollte er mit seinem Toyboy neue Praktiken ausprobieren. Es gibt in der SM-Szene Hardcore-Typen, die sich Einläufe mit Chiliwasser machen. Hätten wir zwei beide auch mal ausprobieren sollen.«

Die Härchen auf Juttas Unterarmen richteten sich auf. Roland war ein Ekel.

»Die Haushälterin schwört, der Bischof hätte streng zölibatär gelebt.«

»Ach komm, Süße! Bist du wirklich Polizistin?«

Er hatte recht. Wer sagte, dass die Haushälterin von einem etwaigen Verhältnis des Bischofs gewusst hatte? Rolands Augen – zwei blitzende Smaragde – musterten sie amüsiert, während sie in ihnen zu versinken drohte. Er hielt ihren Blick fest. Da erklang Vivaldis Die vier Jahreszeiten aus Georgs Hosentasche. Es war die Erkennungsmusik von Oberst Viktor Kretschmer, dem Chef der Abteilung für Gewaltverbrechen. Ungeduldig schnippte Roland mit den Fingern. »Geh schon ran, Georg.« Das Klingeln verstummte, als Georg den Anruf beantwortete und in Richtung Tür schritt.

»Wir sind hier fertig. Vorerst.« Roland stand auf. Wie zufällig strich er Jutta dabei über den Arm. »Wenn die Laborergebnisse da sind, schreib ich den Bericht und ruf dich an, Süße.«

Angewidert schüttelte sie seine Hand ab. »Ich bin nicht deine Süße!«

»Wir müssen los!« Georg stand in der Tür, das Mobiltelefon ans Ohr gedrückt. »Eine weitere Leiche.«

»Was?« Sie schnappte sich ihre Tasche. »Lass uns zum Tatort fahren.«

Georg schüttelte den Kopf. »Wir müssen zuerst aufs Revier. Kretschmer hat eine Konferenz einberufen.«

Kapitel 6

Sämtliche mit dem Fall betrauten Kriminalbeamten des Landeskriminalamts für den Ermittlungsbereich 01 Leib und Leben standen dichtgedrängt im Besprechungsraum des Büros in der Berggasse. Jutta zwängte sich mit Georg durch die Reihen. Sie vernahm leises Papierrascheln und das Brummen der Computer. Es stank nach Männerschweiß, herben Parfums, Holz und Moder. Die Metallstühle waren alle besetzt. Viktor Kretschmer stand vor der Stuhlreihe mit einem Ordner in der Hand. Als er Jutta sah, klopfte er mit der zusammengerollten Akte auf das Knie eines Beamten. Dieser erhob sich sofort und verschwand im hinteren Teil des Raums. Kretschmer blinzelte Jutta zu. Sie war froh um den Sitzplatz. Ihre Beine fühlten sich taub an, und das Blut pochte ihr in den Schläfen. Kretschmer nickte Georg zu, der sich mit dem Rücken an die Wand lehnte.

»Nachdem wir nun alle hier sind, möchte ich gleich zur Sache kommen.« Kretschmer entrollte das Aktenbündel, zog etliche Seiten heraus und reichte sie weiter. Es handelte sich um Tatortfotos. Auf den ersten Blick glaubte Jutta, es wären Bilder von Weihbischof Heuss, doch der Mann auf den Fotos war rothaarig, und seine Haushälterin dürfte nicht so gut kochen wie Frau Baumann. Unter seiner Haut zeichnete sich jeder Knochen ab. Er lag auf einem Bett, die Gliedmaßen gespreizt. Jutta war sofort klar, dass es sich bei dem Gegenstand, der im Anus des Opfers steckte, um einen Vibrator handelte.

»Das Opfer ist Heinrich Winkler, Pfarrer in München, er wurde heute Morgen von seiner Haushälterin Vera Singer gefunden. Wie Sie sehen, auf dem Bauch liegend, einen Vibrator im Hintern. Mein Freund Kommissar August Luidolt hat mir vor einer halben Stunde eine eMail geschickt, weil er von unserem Fall in der Zeitung gelesen hat.«

»Dann haben wir es mit einem Serienmörder zu tun?«

»Vielleicht«, antwortete Kretschmer. »Jedenfalls wurde er genauso vorgefunden wie unser Bischof.«

Aufgeregt zückte Jutta ihren Notizblock. In ihrer Tasche fand sie keinen Kuli, aber einen Kajal. Der musste reichen.

»Säure?«, hörte Jutta einen der Beamten rufen.

»Ja, das hat auch Roland … ich meine, Doktor Kleist rausgefunden. Schwefelsäure hat die Organe verätzt, was langsam zum Tod des Bischofs führte.« Jutta stand auf und drehte sich zur versammelten Mannschaft um. »Außerdem wurde er vermutlich mit K.-o.-Tropfen betäubt, das Labor untersucht Faserbällchen aus seinem Mund.«

Viktor Kretschmer legte seine Hand auf ihre Schulter. »Fasern wurden auch an den Lippen des Pfarrers gefunden.«

»Vielleicht ist dieser Mörder nur ein Trittbrettfahrer«, warf ein junger Kriminalbeamter ein, den Jutta zum ersten Mal sah. »Der Mord an Weihbischof Heuss stand in jeder Zeitung, alle Fernsehsender haben darüber berichtet.«

»Völlig unmöglich!« Jutta schüttelte so heftig den Kopf, dass die Halswirbel knackten. »Alle Details standen nicht in der Zeitung, deshalb schließe ich die Möglichkeit eines Trittbrettfahrers aus, außerdem sind die Zeitabstände zu gering. Sollten die Betäubungsmittel und die Partikel bei unserer Leiche identisch mit dem Münchner Fall sein, haben wir es mit Sicherheit mit demselben Mörder zu tun wie unsere bayrischen Kollegen. Aufgrund des kurzen Abstands könnte es auch ein Team sein.«

Das Nicken von Oberst Kretschmer bestätigte ihre Vermutung. Die Wangen des Jungbeamten leuchteten rot. Bestimmt würde er sich so bald in kein Gespräch mehr einbringen.

»Welches Bibelzitat hat man bei der Leiche gefunden?«, fragte Jutta interessiert.

Kretschmer zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich werde August anrufen. Wurde beim Bischof denn eins gefunden?«

»Nicht direkt.« Ob die aufgeschlagene Bibel wirklich von Bedeutung war? Vielleicht hatte der Bischof nur seine Messlesung vorbereitet. »Die Bibel lag auf dem Nachttisch, ein Absatz war angestrichen«, erklärte sie.

»Eine Bibel dürfte bei allen Bischöfen auf dem Nachttisch liegen. Muss nicht unbedingt eine Botschaft sein. Wäre auch irgendwie abgedroschen.« Der junge Beamte von vorhin bleckte die Zähne. Er hatte sich schnell wieder gefangen.

»Knaller, halte dich bitte zurück«, befahl Kretschmer genervt. »Es könnte durchaus wichtig sein. Wir werden der Sache jedenfalls nachgehen.« Knaller war ein absolut passender Name für diesen Knallkopf.

Kretschmer erläuterte die Eckdaten und besprach die weitere Vorgehensweise mit den Beamten. Ein zusätzliches Team wurde gebildet, das Jutta und Georg helfen sollte. Für eine SOKO schien es noch zu früh. Auch das BKA sollte vorerst nicht mit einbezogen werden. Nach einer Stunde verließen die Beamten den Raum, nachdem jeder seine Aufgabe bekommen hatte.

»Ich möchte die Haushälterin von Pfarrer Winkler persönlich befragen«, sagte Jutta, als sie an der Reihe war. »Soll ich anrufen, oder gibst du Kommissar Luidolt Bescheid?«

»Wird den August zwar nicht freuen, aber ich richte es ihm aus.« Kretschmer klopfte ihr mit der Akte auf die Schulter. »Apropos, Frau Baumann sitzt in deinem Büro zur Vernehmung, samt Kurt Säger.«

Jutta wunderte sich, dass der Vikar schon aus Rom zurück war. Mit einem Lächeln erhob sie sich und winkte Georg, der sich ebenfalls zur Tür begab.

»Nimm die Akte mit!« Knaller sprang auf, nahm Kretschmer das Bündel ab und reichte es nach hinten.

Vor Juttas Büro fragte Georg: »Warum hat Kretschmer heute nur mit dir gesprochen? Bin ich unsichtbar?«

Nachdenklich hob sie die Schultern. »Einbildung. Er hat mir zum ersten Mal die Einsatzleitung übertragen. Das bist du nicht gewohnt.«

»Ich glaub eher, ihr haltet mich alle für alt und blöd!«

»Darum arbeite ich gern mit dir zusammen, Dummkopf«, sagte Jutta lachend.

»Bleibt dir ja nichts anderes übrig. Aber eines sage ich dir: Auch wenn mich Kretschmer, Roland und wer weiß sonst noch für blöd halten, Hanna sieht das ganz anders.« Triumphierend straffte er seine Schultern.

»Hanna? Du meinst doch nicht diese Journalistenschnepfe?«

»Ich hab mit ihr gefrühstückt.«

Das durfte doch nicht wahr sein! War Georg wirklich so dumm zu glauben, diese Frau würde ihn attraktiv und intelligent finden? »Deshalb bist du zu spät gekommen?«

»Wir haben geredet, wir treffen uns vielleicht wieder.«

»Georg! Interne Informationen sind alles, was sie will. Sie nützt dich aus, schon wieder!«

Wie damals. Bei der Jagd nach einem Amokläufer hatte Georg aus Versehen Details ausgeplaudert, die man sofort danach druckfrisch in der Zeitung lesen konnte. Kretschmer hatte die undichte Stelle nie gefunden. Aus Loyalität hatte Jutta geschwiegen, aber Georg hatte ihr schwören müssen, nie wieder einen derartigen Fehler zu machen.

»Auch wenn du es nicht glaubst, es gibt Frauen, die auf Männer wie mich abfahren. Schließlich war ich verheiratet!«

»Mit einer Volksschullehrerin, die bis dahin noch Jungfrau war.« Verflucht! Jetzt hatte sie ihn verletzt.

»Ich werde mich durch die Bayernpriesterakte wühlen. Lesen habe ich ja gelernt!« Beleidigt riss er ihr den Ordner aus der Hand und fegte den Flur entlang.

»Ich führe jetzt die Einvernahme mit Frau Baumann durch!«, rief sie ihm hinterher.

»Dazu brauchst du mich ja nicht.«

Die Vernehmung Gerda Baumanns gestaltete sich schwieriger als die Befragung einen Tag zuvor. Immer wieder musste Jutta sie an Aussagen erinnern, die sie gemacht hatte, damit sie im Protokoll nicht vergessen wurden. Vikar Kurt Säger wich Gerda Baumann nicht von der Seite, da sie ihn als Vertrauensperson angegeben hatte. Da Säger zur Mordzeit in Rom gewesen war, bestand bei der Einvernahme keine Veranlassung, ihn von ihr zu trennen. Dicht stand er hinter der Haushälterin, drückte unentwegt ihren Arm oder knetete ihre Schultern. Gerda Baumann wirkte merkwürdig entrückt und verängstigt.

Wenigstens hatte sie den Buchkalender von Weihbischof Heuss mitgebracht. Jutta massierte sich die Schläfen. Die volle Wasserflasche auf ihrem Schreibtisch signalisierte ihr, dass sie ihr Zweiliterpensum heute wieder nicht erreichen würde. Als ihr Bauch anfing zu knurren, entschuldigte sie sich und verließ das Zimmer. Auf dem Gang zog sie sich ein Schinken-Tramezini aus dem halbgefüllten Automaten und eine Packung Manner Schnitten. Noch im Gehen riss sie die Verpackung auf und verschlang die Haselnusswaffeln. Sie spürte, wie ihr Blutzuckerspiegel in die Höhe schoss, und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Auf dem Weg zum Büro lief ihr Georg über den Weg. »Wir müssen den Vikar getrennt von der Baumann befragen.«

»Wieso? Sie hat ihn als Vertrauensperson angegeben.«

»Das geht nicht mehr. Er könnte der Mörder sein.«

»Er war doch in Rom.«

»Ich hab im Hotel angerufen, in dem er abgestiegen sein soll. Das Zimmer war gebucht, aber Säger checkte nie ein.«

Jetzt war Fingerspitzengefühl gefragt. Bei ihrer Rückkehr ins Büro standen sich Gerda Baumann und Kurt Säger plötzlich in einer Art Kampfposition gegenüber. Beide hatten die Hände in die Hüften gestemmt und funkelten sich wütend an.

Jutta bemühte sich, die aufgeladene Stimmung zu glätten. »Haben Sie von dem Fall in München gelesen, Frau Baumann?« Bildete sie sich das ein, oder war der Vikar bei der Frage zusammengezuckt?

Gerda Baumann schüttelte den Kopf. »Wovon sprechen Sie? Ich sehe nicht viel fern, und Zeitungen lese ich auch nicht. Meine Augen sind nicht mehr die besten. Es lässt alles nach im Alter.« Müde setzte sie sich wieder und fixierte die Tischplatte. Hatte sie nicht gestern erzählt, oft mit dem Bischof ferngesehen zu haben?

»Aber Sie wissen, worum es geht, oder?«, wandte sich Jutta an den Vikar.

Kurt Säger öffnete seinen schütteren Pferdeschwanz und band ihn neu ab. Danach setzte er sich neben Gerda Baumann und sah Jutta in die Augen, beziehungsweise auf den Punkt oberhalb des Nasenbeins.

»Sollte ich?« Seine Stimme klang gelangweilt. »Ich war in Rom, wie Sie wissen.«

Sie sagte ihm noch nicht, was sie darüber wusste, sondern blätterte in den Unterlagen. »Kann das jemand bezeugen?«