Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der bodenlose Abgrund des Hasses: Der fesselnde Thriller »Wo das Böse regiert« von Jennifer B. Wind jetzt als eBook bei dotbooks. Sie möchten selbstbestimmt und frei leben – und zahlen einen hohen Preis ... Im Wiener Stadtpark wird die Leiche einer jungen Frau gefunden: Würgemale am Hals, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit mit Säure verätzt. Wer war sie und warum musste sie sterben? Auf ihrer unermüdlichen Suche nach Spuren befragen die Kriminalbeamten Jutta Stern und Tom Neumann einen Zeugen nach dem anderen, aber niemand scheint etwas über die geheimnisvolle Tote zu wissen. Doch dann wird eine weitere Leiche in Wien entdeckt, deren Gesicht bereits in ihrer Jugend verätzt worden sein muss. Alles deutet darauf hin, dass der Täter es auf Frauen abgesehen hat, die schon einmal durch die Hölle der Gewalt gehen mussten ... und nicht nur der von Männern. Hat er möglicherweise bereits sein nächstes Opfer im Visier? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Wo das Böse regiert« von Jennifer B. Wind ist der dritte Teil ihrer Reihe um die Wiener Kriminalbeamten Jutta Stern und Tom Neumann, der Fans von Veit Etzold und Andreas Gruber fesseln wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über dieses Buch:
Sie möchten selbstbestimmt und frei leben – und zahlen einen hohen Preis ... Im Wiener Stadtpark wird die Leiche einer jungen Frau gefunden: Würgemale am Hals, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit mit Säure verätzt. Wer war sie und warum musste sie sterben? Auf ihrer unermüdlichen Suche nach Spuren befragen die Kriminalbeamten Jutta Stern und Tom Neumann einen Zeugen nach dem anderen, aber niemand scheint etwas über die geheimnisvolle Tote zu wissen. Doch dann wird eine weitere Leiche in Wien entdeckt, deren Gesicht bereits in ihrer Jugend verätzt worden sein muss. Alles deutet darauf hin, dass der Täter es auf Frauen abgesehen hat, die schon einmal durch die Hölle der Gewalt gehen mussten ... und nicht nur der von Männern. Hat er möglicherweise bereits sein nächstes Opfer im Visier?
Über die Autorin:
Jennifer B. Wind, geboren in Leoben, lebt mit ihrer Familie südlich von Wien. Die ehemalige Flugbegleiterin mit Gesangs-, Klavier- und Schauspielausbildung schreibt heute unter anderem sehr erfolgreich Thriller, Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde und von Kritik und Leserschaft gleichermaßen gefeiert wird. Jennifer B. Wind ist als Jurymitglied für verschiedene Literaturpreise aktiv und sorgt mit ihrer One-Woman-Krimi-Show für vollbesetzte Säle. In ihrer Freizeit engagiert sie sich aktiv im Tier- und Umweltschutz, in diversen Kulturvereinen und in der Gewaltprävention gegen Kinder und Frauen.
Jennifer B. Wind veröffentlichte bei dotbooks die Thriller »Als Gott schlief«, »Wenn der Teufel erwacht« und »Wo das Böse regiert« in ihrer Reihe um Jutta Stern und Tom Neumann – weitere Bände sind in Vorbereitung. Außerdem erscheint bei dotbooks ihr Kurzkrimi-Band »Tödlicher Schmerz«.
Die Website der Autorin: www.jennifer-b-wind.com
Die Autorin im Internet: www.facebook.com/jennifer.wind, www.instagram.com/jenniferb.wind
***
Originalausgabe Februar 2023
Copyright © der Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Jamen Percy, Runrun2, Love the wind, KaReb
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-466-1
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Wo das Böse regiert«an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Jennifer B. Wind
Wo das Böse regiert
Thriller
dotbooks.
Für Beate Kuckertz, ohne die es dieses Buch nicht gäbe.
Ein Dorf in der Steiermark, Mai 1979
Das Warten wurde unerträglich, die Schreie seiner Frau in der Kammer nebenan waren eine Nervenprobe. Je länger es dauerte, umso mehr schwollen sie an. Sie gewannen nicht nur an Lautstärke, sondern auch an Höhe. Wie ein Schwein beim Schlachten. Bloß dass diese Marter schon seit neun Stunden anhielt. Ein Schwein hatte er in der Regel in wenigen Minuten getötet.
Wankend schenkte Klaus sich noch einen Klaren ein. Der Schnaps war sein Retter. Ohne ihn wäre er längst davongelaufen. Aber nebenan litt seine Frau Martha. Schon zum siebten Mal. Dabei wusste er jetzt schon nicht, wie er das nötige Geld auftreiben sollte, um die anstehenden Rechnungen zu bezahlen. Kurz ertappte er sich dabei, den Tod herbeizuwünschen. Nicht für Martha, aber für diese siebte Plage. Dabei hatte er gedacht, Martha wäre schon zu alt und ausgemergelt, um noch einmal ein Kind zu empfangen. Anscheinend hatte er sich geirrt. Das war das letzte Mal, dass er in ihr Bett gekrochen war. Ganz bestimmt. Er würde es in Zukunft genauso machen wie der Hans Hilmer. Nach der Arbeit in die nächstgelegene Stadt oder auf einen der Campingplätze fahren und eine der billigen Huren besteigen. Nur um den Saft loszuwerden, damit ihm nicht die Eier abfaulten. Aber Martha würde er nicht mehr anfassen. Das Risiko war zu groß. Dabei konnte er sich nur an ein einziges Mal erinnern, vor Monaten, dass es überhaupt so weit gekommen war. Doch Martha verwertete jeden Tropfen Samen und lag nun schon wieder in den Wehen. Ein schöner Scheiß. Was hatte er nur angerichtet? Ein greller Schrei klang durch die Tür, lauter und furchtbarer als die Schreie zuvor. Sekunden später flog die Tür auf, und Josefa, die Hebamme, kam auf ihn zu. »Irgendwas stimmt nicht. Das Kind steckt fest, die Martha ist am Ende ihrer Kräfte. Wir brauchen den Doktor. Ich glaub, wir müssen schneiden. Deine Frau fiebert schon. Wenn wir nichts tun, dann sterben beide, fürchte ich. Das Kind und die Martha.«
Um das Balg war es ihm nicht schade. Aber Martha brauchte er. Ohne sie war das Leben auf dem Hof nicht zu schaffen. Rasch schlüpfte er in die Stiefel und lief ohne ein Wort hinaus. Von ferne hörte er das Jaulen seiner Frau. Ihm grauste. Nein, er würde sie nie wieder anrühren, das war sicher. Oder erst wieder, wenn sie keine Einlagen mehr kaufte. Dann konnte er sicher sein, dass sie nicht mehr schwanger werden konnte.
Doktor Neuner empfing ihn in Unterhose und Hemd. Die Abdrücke auf seiner linken Wange waren ein weiteres Zeichen dafür, dass der Arzt schon geschlafen hatte. Seine Augen waren glasig. Jeder im Dorf wusste, dass Neuner nur nach mindestens einer Flasche Wein einschlafen konnte. Mist. Und jetzt sollte er seine Martha aufschneiden? Aber es half nichts. Es dauerte endlos, bis der Doktor angekleidet war und in seine Schuhe fand. Halte durch, Martha. Halte durch!
Schon von Weitem hörten sie die Schreie. Als sie am Haus ankamen, sah er die Nachbarinnen im Vorgarten stehen. Mit ernsten Gesichtern beteten die Frauen.
»Was gibt es hier zu beten?«, schrie er sie an.
»Wir haben schlechte Omen gesehen«, sagte die Traudl vom Haus gegenüber.
»Wer?«, fragte er.
»Die Zigeunerin hat die Karten für euch gelegt, der Tod wird in dein Haus einziehen und wird viel Unglück über euch bringen.«
Ruppig schlug er der Bäuerin auf die gefalteten Hände. »Schleich dich heim. Ich geb nichts auf diese Zigeunerweisheiten.«
Wenn es das Balg träfe, hätte er aber nichts dagegen. Schnell scheuchte er den sündigen Gedanken fort. Doktor Neuner war schon vorausgewankt. Er sah, wie er sich den Kopf beim Türrahmen anstieß. Mist. Der Doktor war so hinüber, dass er nicht einmal gerade in ein Haus gehen konnte. Aber es war der einzige Arzt im Umkreis. Das nächste Spital mit Kreißsaal war in Leoben. Seine Martha hatte aber keine Zeit mehr. Unter dem Gemurmel der Nachbarsfrauen lief er ins Haus. Josefa kam mit blutverschmierten Armen auf ihn zu, er lief ins Schlafzimmer. Martha lag in einer Blutlache. Ihre Beine waren verschmiert, zitterten, das Blut tropfte auf den Holzboden, wo sich eine weitere Lache bildete. Kalkweiß ihr Gesicht. Ihr blondes Haar klebte in Strähnen um den Kopf. Ihre Augen suchten die seinen. Der Anflug eines Lächelns, als sie ihn sah. Und ihm war wieder klar, warum er sie liebte. Warum er sie immer lieben würde und stets wieder wählen würde. Tränen bahnten sich ihren Weg über ihre Wangen. Rasch lief er zu ihr, ergriff ihre Hand. Weich und heiß lag sie in seiner.
»Versprich mir, das Kind zu beschützen.«
Er nickte. Eines hatte er gelernt, wenn Frauen in den Wehen lagen, musste man ihnen zustimmen. Egal, was sie verlangten.
»Gib ihm niemals die Schuld, hörst du?«
Wovon sprach sie? Schuld woran?
»Lass ihn nicht dafür leiden. Das Kind kann nichts dafür.«
Etwas drückte Klaus die Kehle zu. Von innen. Er war nie ein Mann großer Worte gewesen, aber zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, dass nichts, was er sagen oder tun konnte, diese Situation erträglicher machen würde. Die Intuition einer Frau sollte stark sein. Doch Martha irrte sich bestimmt. Sie würde nicht sterben und ihn allein lassen, auf keinen Fall. Er knetete ihre Hand und hoffte, sie würde verstehen, was er ihr damit sagen wollte. Martha lächelte. »Liebe ihn so wie die anderen Kinder.«
Klaus nickte. Wenn der Doktor sich weiter so viel Zeit ließ, dann gäbe es nichts zu lieben. Er fand seine Sprache wieder.
»Doktor! Nun machen Sie schon. Retten Sie meine Frau!«
»Nein!«, schrie Martha. »Retten Sie das Kind, das Kind.«
Das war doch dasselbe. Oder nicht? Wenn das Kind endlich draußen war, würde es seiner Martha wieder gut gehen. Ganz bestimmt. Und woher wusste sie überhaupt, dass es ein Sohn war? Aus Wahrscheinlichkeitsgründen? Sie hatten bereits fünf Mädchen und nur einen Jungen. Nahm Martha an, dass dieses Kind einfach ein Junge sein musste?
Der Arzt wankte auf das Bett zu und hantierte mit dem Druckknopf seiner Tasche. Er schaffte es erst beim zweiten Anlauf, sie zu öffnen.
Klaus bekreuzigte sich. »Gott steh uns bei.«
Josefa tat es ihm gleich. In ihren Augen konnte er sehen, dass sie sich genauso sorgte wie er.
Doktor Neuner zog das Skalpell hervor und wollte loslegen.
Die Hebamme ging mit einer Schüssel dazwischen.
»Bitte, waschen Sie sich. Und den Bauch von der Martha müssen S’ auch desinfizieren. Ich hab schon alles zurechtgelegt.«
Mein Gott, wenn die alte Josefa schon dafür sorgen musste, dass er sich wenigstens sauber machte, sollte sie dann nicht auch lieber das Skalpell führen? Vermutlich würde das sogar Klaus besser schaffen. Er hatte unzählige Rinder, Schafe und Wildtiere geschlachtet und ausgenommen und jede Menge Kälber aus den Kühen gezogen. Der Arzt verzog seine Lippen, wusch sich und wischte mit dem Desinfektionsmittel über Marthas Bauch, dann nahm er das Skalpell in die Hand. Lieber Gott, lass alles gut gehen, bitte. Klaus war nicht sonderlich fromm, und er ging auch nur alle heiligen Zeiten in die Kirche, aber Gott würde ihn doch hören. Oder? Er hoffte es jedenfalls. Das Skalpell in Neuners Hand zitterte. Er blinzelte. Schweißtropfen klebten auf seiner Stirn, sein Kopf bewegte sich vor und zurück, als versuchte er, die Stelle zu fokussieren.
Josefa nahm die Flasche mit Äther, benetzte ein Tuch damit und legte es an Marthas Nase. Marthas Lider flatterten kurz, bevor sie die Augen schloss, sie atmete schwach.
»Legen Sie endlich los!«, schrie die Hebamme.
Der Arzt seufzte und setzte das Skalpell an. Überraschenderweise gelang ihm ein zügiger Schnitt. Vermutlich durch die langjährige Erfahrung.
Klaus wandte den Blick ab. Er wollte das nicht sehen. Stattdessen rückte er näher zu Martha, strich ihr über die Wange.
»Gleich hast du es geschafft. Halte durch!«
Im nächsten Augenblick schallte das Weinen eines Säuglings durch den Raum. Doch er blieb ganz bei Martha. Die Hebamme wickelte das Kind sofort in Tücher und trug es ins Bad.
Klaus atmete auf. Bis er einen Blick auf Marthas Bauch wagte. Der Arzt hatte noch nicht damit begonnen, ihn zuzunähen. Vielmehr schwankte er vor und zurück und schaffte es nicht, den Faden einzufädeln.
Klaus riss sich von Martha los und wusch sich die Hände. Dann entriss er dem verdutzten Arzt Nadel und Faden und reichte ihm das Nähset wieder. Der Arzt bedankte sich leise und vernähte die Wunde. Klaus stand auf und wollte nach dem Kind sehen, aber er schaffte es nicht, Martha allein zu lassen, und lief auf halbem Wege wieder zurück zu ihrem Bett. Doch was Klaus sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Zwischen den Nähten sickerte weiterhin Blut, und es dauerte viel zu lange. Immer noch war ein Teil des Bauchs offen. Marthas Haut verlor die Farbe. Bleich, fast wächsern sah ihr Gesicht aus. Klaus hielt seinen Handrücken an ihre Nase. Der Lufthauch war schwach. Ein seltsamer Geruch stieg vom Bett auf.
Josefa kam aus dem Bad und legte ein Bündel in die Wiege. Erschrocken sah sie auf die Misere.
»Um Himmels willen! Jesus, Maria!« Sie lief auf den Arzt zu und rüttelte ihn an den Schultern.
»Worauf warten Sie denn? Das muss schneller gehen!«
Aber der Arzt nähte seelenruhig weiter.
»Sie müssen unbedingt eine Drainage legen.«
»Ach ja? Woher haben Sie denn dieses Wissen. Womit denn?«
Die Hebamme wühlte in einer Kiste.
»Hier, mit dem Schlauch für die Babynase könnten Sie es versuchen!« Sie seufzte. »Hauptsache, das Blut staut sich dann nicht im Bauch.«
Der Arzt wurde von einem Lachkrampf geschüttelt. Klaus wusste nicht, was er tun sollte.
Verdammt!
Josefa gab dem Arzt eine Ohrfeige. Der kroch zur Tür und blieb nach einer Weile schnarchend liegen. Die Hebamme wischte das Blut von Marthas Bauch, wieder und wieder, und schaffte es, den Schlauch anzubringen, denn die Naht war nicht sehr straff.
Marthas Finger bewegten sich, die Narkose ließ nach, und sie erwachte. Ihre Stirn war kühl. Gott sei Dank! Kein erneuter Fieberschub. Dem Baby ging es gut, das bestätigte die Hebamme immer und immer wieder, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Doch Klaus wollte das nicht hören. Wenn es dem Baby gut ging, warum weinte Josefa?
Zwischen zwei Schluchzern bat ihn die Hebamme, ihr zu helfen, Marthas Bett frisch zu überziehen. Klaus warf das von Blut durchtränkte Laken in den Mülleimer. Josefa stopfte drei Einlagen übereinander auf Martha, auf die sie zuvor Lavendelöl getropft hatte.
»Es ist zu viel Blut. Ich muss die Einlagen zu oft wechseln. Es hört nicht auf.« Panisch blickte sie sich um.
»Wo zum Teufel ist eigentlich die Plazenta?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Klaus sie an.
»Die Plazenta, wo ist sie?«
Panisch wühlte sie in den blutigen Laken im Mülleimer, durchsuchte die Kammer, sah unter das Bett, in die Waschschüssel. Nichts.
»O mein Gott!«
Sie lief zum Arzt und rüttelte ihn an den Schultern, drehte ihn um und durchsuchte ihn, dann schlug sie ihm erneut ins Gesicht.
»Wachen Sie auf, die Plazenta ist noch drin!«
Doch der Arzt rührte sich nicht.
»Wir müssen sie ins Krankenhaus nach Leoben bringen. So schnell wie möglich«, sagte Josefa. »Ich bleib bei den Kindern und hol mir Hilfe von den Nachbarinnen. Die Armen haben noch kein Abendessen gehabt. Und jemand muss ja auf das Baby schauen.«
»Ich hab doch nur den alten Traktor und kein Auto!« Klaus kratzte sich am Kopf.
»Dann ruf den Krankenwagen!«
Klaus lief zum Telefon. Es war nur ein Viertelanschluss und besetzt. Mist. Der Wirt! Der hatte einen ganzen Anschluss. Rasch lief er über den Dorfplatz. Angesichts seines blutverschmierten Hemds reagierte der Wirt sofort und hielt ihm den Hörer hin.
Die Ambulanz brauchte ewig, doch die Sanitäter schüttelten gleich den Kopf, als sie auf die Laken sahen, die wieder blutig waren. Und auf Martha, die bleich und kraftlos dalag.
»Helles Blut«, murmelte einer von ihnen. Klaus hatte keine Ahnung, was er damit sagen wollte.
»Ohne Notarzt können wir nichts machen, wir können nur zurück nach Leoben ins Spital fahren«, sagte der andere Sanitäter. »Aber ich weiß nicht, ob sie durchkommt, bis wir dort sind.«
Der Wirt fuhr mit Klaus hinter dem Krankenwagen her. Josefa und Traudl, die Nachbarin, blieben bei den Kindern, bis er zurück war. Das hatten sie versprochen.
Fünf Stunden später hielt er die sterbende Martha in seinen Armen. Als sie ihren letzten Atemzug tat, legte sie ihre Hand an seine Wange und lächelte. Sie flüsterte so leise, dass er sein Ohr an ihre Lippen halten musste, als sie ihm sagte, wie er das Baby nennen sollte. Anschließend seufzte sie kurz auf und hauchte: »Wir sehen uns wieder.«
Dann schloss sie für immer die Augen. Schluchzend saß er noch lange mit ihr in seinen Armen da, bis das Krankenhauspersonal ihn langsam von ihr löste.
Mit dem Bus fuhr er nach Hause. Als er morgens wieder im Dorf ankam, schaffte er es nicht, in sein Haus zu gehen. Stundenlang lief er durch den Wald, trampelte auf Ameisenhaufen herum, riss einer Kröte die Gliedmaßen ab und brach mehrere Äste mit bloßen Händen von den Bäumen, bis seine Handflächen bluteten. Doch das alles linderte seinen Schmerz nicht. Irgendwann fand er sich schluchzend in einem Laubhaufen wieder, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie sollte er nur weiterleben? Ohne Martha. Er konnte nicht gleichzeitig auf dem Hof arbeiten und sich um die sechs Kinder kümmern. Nein, sieben. Verdammt, wieso hatte das Balg überlebt? Wieso war es nicht umgekehrt gekommen? Die Zahl sieben war seine Unglückszahl. Er hätte es wissen müssen. Er würde alles dafür tun, dass dieser Doktor Neuner seine Zulassung verlor. Ein Scharlatan. Ein Trinker.
Er spuckte Erde aus, schälte sich langsam aus dem Laub, zupfte die Blätter aus den Haaren. Reiß dich zusammen. Die Hebamme konnte nicht ewig bleiben. Bestimmt warteten noch andere Frauen auf sie. Und Traudl hatte selbst fünf Kinder und einen Hof zu bestellen. Doch seine Beine waren schwer. Zögernd setzte er einen Fuß vor den anderen, als könnte er das Unvermeidliche hinauszögern.
Zu Hause angekommen, öffnete er langsam die Tür. Traudl lag auf dem Diwan. Josefa war noch wach; dunkle Schatten unter ihren Augen zeigten, dass sie noch nicht geschlafen hatte. Sie saß neben der Wiege und sang. Dabei liefen ihr die Tränen unablässig über die Wangen. In ihrer Hand hielt sie eine Babyflasche. Sie war voll.
»Er will nicht trinken. Vermutlich begreift er, dass etwas passiert ist und seine Mutter nicht mehr hier ist. Aber sie kommt doch wieder, oder? Tut sie doch?«
Klaus schüttelte den Kopf und hob resigniert die Arme.
Daraufhin vergrub Josefa ihr Gesicht in den wulstigen Händen.
»Die arme Martha. Der arme Junge. Er braucht sie jetzt«, stieß sie zwischen den Fingern hervor. »Er braucht jetzt zumindest seinen Vater. Nehmen Sie ihn.« Sie deutete in die Wiege.
Zaghaft ging er auf das Bettchen zu. Lieber wollte er wieder in den Wald zurücklaufen. Schließlich holte er tief Luft und blickte hinein. Erschrocken zuckte er zurück und rieb sich die Augen. Denn er sah keinen süßen Säugling. Keine süßen Ärmchen mit Grübchen an den Ellenbogen, die er streicheln wollte. Keine zarten Fingerchen, die seinen Daumen umschließen und festhalten sollten. Kein zartes rosa Gesichtchen mit blauen Augen und Stupsnäschen, das er behüten wollte. Kein zahnloses Mündchen, das er küssen wollte. Es waren nicht Marthas Augen, die ihn ansahen, und noch weniger seine. Was er sah, ekelte ihn an. Bitterer Mageninhalt drückte durch seine Speiseröhre Richtung Gaumen. Er wollte das Kind nicht berühren, nicht streicheln, nicht ansehen, nicht mit ihm reden, es nicht in den Schlaf singen. Alles, woran er denken konnte, war, seine Hände um den dünnen Hals zu legen und zuzudrücken, oder das Kissen auf das Gesicht zu legen und sich draufzusetzen. Die Wiege in den Fluss zu rollen. Aber ganz bestimmt wollte er das Kind nicht in seinem Haus haben! Alles, was Klaus sah, war ein Monster. Panisch drehte er sich um, lief aus dem Haus und übergab sich unter der Tanne. Dieses Monster hatte seine Martha getötet. Und dafür würde es ein Leben lang büßen.
Drum tanz mit der Einsamkeit,
Kind aus der Dunkelheit,
Dein Weg ist einsam,
Lerne dabei, gerne allein zu sein.
aus »Dein Weg ist einsam« von Andrew Lloyd Webber und Charles Hart
DIE GESICHTSLOSEN UND DIE VERSTECKTEN
Jeder Mensch trägt einen Zauber im Gesicht: Irgendeinem gefällt er.
Friedrich Hebbel
Wien, LKA, Berggasse, Oktober
Jutta spielte mit den Schnittenbröseln auf dem Schreibtisch. Unwillkürlich musste sie lächeln, als sie daran dachte, wie akribisch Tom früher ihre Essensrückstände weggefegt hatte. Sie seufzte laut und sah sich um. Mayer starrte auf seinen Bildschirm, sein Arbeitseifer war ungebrochen. Dort, wo sonst Andreas Haricht, kurz Habicht genannt, saß, hockte ein ehemaliger Postler und gähnte. Schon vier Wochen war er jetzt hier und schaffte es gerade einmal, den Computer zu starten und durch die Dateien zu klicken. Aber sobald er Formulare ausfüllen musste, begann er zu jammern und sehnte sich lautstark wieder danach, Briefe abzustempeln. Der würde es nicht mehr lange hier packen.
Die Stimmung im Raum war anders als früher. Etwas fehlte, genauer gesagt, jemand. Und mit jedem Tag und jedem weiteren Monat wurde ihr klarer, wie sehr. Tom hatte sich nach dem Flüchtlingsfall wirklich versetzen lassen. Er war noch in Wien, aber sie hatte ihn seit Wochen nicht mehr gesehen, und zuletzt auch nur flüchtig, bevor er wieder aus dem Kaffeehaus hinausgelaufen war, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. Bei ihrem letzten gemeinsamen Fall war er entführt worden, als sie der Mafia auf der Spur waren und der Bulgare den Befehl gegeben hatte, ihn zu töten. Davor hatte Tom schon einen Drohbrief erhalten. Im letzten Moment konnten sie ihn vor dem Tod bewahren. Aber das reichte nicht aus. Jutta hatte ihn verletzt, und diese Wunden gingen tiefer als die äußerlichen Blessuren. Jetzt saß sie hier und fühlte sich, als hätte man ihr einen Arm abgesägt. Anfangs hatte sie ihn täglich mehrmals angerufen, um ihn zu überreden, zurückzukommen, irgendwann hatte er nicht mehr abgehoben, und später war die Nummer tot. Auf der Dienststelle hatte sie es versucht, aber dort ließ er sich verleugnen, wenn sie anrief. Vermutlich hatte er was mit ihrer Nachbarin Sarah am Laufen, denn sie hatte ihn gehört. Aber natürlich hatte sie nicht dort geklingelt. Wie hätte das denn ausgesehen? Gott sei Dank hatte Georg Kunze, der Chefinspektor der Abteilung Leib und Leben, nach wie vor Kontakt zu ihm und ging regelmäßig mit ihm essen. Doch allzu viel erzählte er ihr nicht, versicherte ihr aber jedes Mal, dass es Tom gut ging.
Wie auf Kommando wehte der Chefinspektor im Trenchcoat zur Tür herein, zwei Kaffeebecher in den Händen haltend. Einen stellte er vor Jutta ab, in den zweiten blies er hinein. Es waren keine Plastikbecher aus dem Automaten, sondern wiederverwendbare Coffee-to-go-Becher aus Porzellan, mit denen Georg vor Monaten die ganze Abteilung eingedeckt hatte, nicht ohne ihnen dabei die Vorteile gegenüber den Plastikbechern zu erklären. Klar, dass es sich beim Kaffee um guten alten umweltschonenden Filterkaffee handelte. Aber er schmeckte vorzüglich. Sie musste Georg recht geben, das war viel besser als das Gesöff aus dem Automaten.
»Na, Mädchen. Wann wirst du endlich einmal etwas Richtiges essen? Du kannst doch nicht nur von Manner-Schnitten und Kaffee leben.«
»Ab und zu trink ich auch Wasser, Georg.«
»Ja, eh.« Er schüttelte den Kopf. »Mädchen, so geht das nicht weiter. Du hast schon wieder abgenommen. Ich glaube, ich muss dich mal zum Essen einladen.«
»Kochst du?« Jutta spielte mit einer störrischen Haarsträhne, die zu kurz war, um sie in den Pferdeschwanz zu kriegen. Es war tatsächlich eine doofe Idee gewesen, ihrem Longbob mit einem Pony ein bisschen Pep zu geben.
»Vielleicht, aber du kannst auch mal das syrische Essen von Nesrin probieren«, schlug Georg vor. »Schmeckt spitze.«
Die Frau, die ganz allein mit ihren Kindern über die Balkanroute geflohen war und die Georg aufgenommen hatte, wohnte seit 2015 mit ihren Kindern bei ihm, und er kümmerte sich rührend darum, dass sie endlich alle einen echten Asylstatus erhielten. Leider mahlten die bürokratischen Mühlen langsam. Aber Georg blieb hoffnungsvoll und positiv gestimmt, so wie es seine Art war.
Nesrin dankte ihm für seine Hilfe, indem sie kochte, wusch und buk, auch wenn Georg versicherte, dass er auch selbst putzen und für sich sorgen konnte. Insgeheim wusste Jutta allerdings, dass er sich dabei sehr wohlfühlte. Sie gönnte es ihm. Es war immerhin schon über acht Jahre her, dass er Witwer geworden war. Eine Frau im Haus ließ ihn aufblühen, und die Kinder hielten ihn auf Trab.
Nach Toms Weggang stand Georg nebst Mayer wieder vorwiegend als Partner an ihrer Seite. Die letzten Fälle hatten sie rasch lösen können, bis auf einen, den mittlerweile die Cybercrime-Abteilung beschäftigte. Es handelte sich dabei um eine Gang, die Romance Scamming in organisierter Art und Weise betrieb und vielen Frauen das Geld aus der Tasche gezogen hatte.
Wenn Jutta an einen Tatort kam, bei dem es um Stichwunden in den Bauchraum ging, wurde sie immer noch wütend. Sie musste dann an ihren Mann Simon denken, der während einer Drogenrazzia von einem Dealer erstochen worden war.
Seit ihrer Rückkehr aus Indien schlief sie regelmäßig mit dem Gerichtsmediziner Roland. Und das reichte ihr. Von der Liebe hatte sie genug.
»Er fehlt mir auch hier im Büro«, sagte Georg unvermittelt, tätschelte ihr väterlich die Schulter und stibitzte eine Manner-Schnitte aus der Packung, bevor er sich an seinen Schreibtisch setzte.
Jutta blickte auf den Kastanienbaum im Hof, dessen bunte Blätter durch die Luft wirbelten. Sie sollte endlich wieder einmal joggen gehen. Der Herbst war ideal dafür. Im Hintergrund hörte sie Georg jetzt aufgeregt ins Telefon sprechen. Interessiert drehte sie sich um.
»Wie lange liegt sie schon da?«, fragte er in sein Smartphone, stellte es auf Lautsprecher und legte es auf den Schreibtisch.
»Das können wir noch nicht sagen, der Arzt ist noch nicht durch den Stau gekommen, wegen der Demonstration sind ja einige Straßen abgesperrt, grad jetzt in der Rushhour blöd. Müsste aber bald kommen.«
Jutta erkannte die Stimme von Jürgen Kant, einem Kollegen.
»Kann man mit dem Auto reinfahren in den Stadtpark?«
»Nicht bis zur Leiche, die liegt mitten im Gestrüpp, da müsst ihr durch die Wiese gehen.«
»Ist die Tatortgruppe schon dort?«
»Ja, die fahren vor, sehe ich grade.«
»Geht es wirklich um Mord? Liegt da kein Junkie, der an einer Überdosis gestorben ist, oder eine Obdachlose mit einem Herzinfarkt?«
Jutta nickte zustimmend, gerade im Stadtpark kam das öfter vor.
»Georg, das ist definitiv ein Fall für euch«, kam es aus dem Smartphone.
»Wieso bist du dir da so sicher?«, hakte Jutta nun ein und setzte sich auf die Kante von Georgs Schreibtisch.
Der Kollege am anderen Ende der Leitung räusperte sich und flüsterte: »Die Frau hat kein Gesicht mehr.«
Stadtpark, Wien 1
Der Stadtpark in Wien war eine riesige Gartenanlage, die sich vom ersten bis zum dritten Bezirk erstreckte. Im Sommer war hier sehr viel los, und auch im Herbst waren dort tagsüber eine Menge Spaziergänger unterwegs, denn viele, die hier in der Innenstadt arbeiteten, genossen in ihrer Mittagspause die frische Luft. In der Dämmerung sah man nur vereinzelt Paare auf den Bänken sitzen und knutschen, und natürlich tauchten dann auch die Obdachlosen auf, die sich ein Schlafplätzchen für die Nacht zwischen den Büschen oder auf den Bänken suchten, und die Junkies.
Doch als Jutta und Georg ihren Wagen durch den Park lenkten, war nichts von Letzteren zu sehen, kein Wunder bei dem Polizeiaufgebot.
Schon von Weitem sah sie die Tatortgruppe in ihren weißen Schutzanzügen und Überschuhen über die Wiese gehen. Davor war bereits alles großzügig mit Absperrbändern versehen, hinter denen sich die üblichen Schaulustigen drängelten, die von den Kolleginnen und Kollegen der Streife in Schach gehalten wurden.
Juttas Partner, der gleichzeitig ihr Vorgesetzter war, parkte den Wagen gleich hinter den anderen Polizeiwagen. Rasch schnappten sie sich beide einen Schutzanzug aus dem Kofferraum und stülpten sich die Überschuhe über die eigenen. Die Handschuhe steckte Jutta erst mal ein. Georg tat es ihr gleich. Sie mussten eine gute Strecke über die Wiese gehen bis zu einer von Büschen eingesäumten Ecke, wo bereits jemand eifrig Fotos schoss, den Jutta gut kannte. Es war Herbert, der beste Freund von Simon, der früher wie er bei der Streife gewesen war, aber mittlerweile zum LKA gewechselt war.
Herbert nickte ihr kurz zu, und sie grüßte zurück. Dann knipste er weiter. Jutta streifte sich die Handschuhe über und blickte sich um, während Georg seinen altertümlichen Notizblock zückte.
»Noch kein Arzt da?«
»Roland kommt gleich, hatte grad ein Meeting mit seinem Verleger.«
Jutta hob verwundert die Augenbrauen.
»Müsstest du das nicht wissen?«
Natürlich, wieso war ihr das entfallen? Es ging um sein neuestes Buch über Tierfraß bei Wasserleichen und andere Grauslichkeiten. Bereits sein drittes Sachbuch. Das Interesse an der Gerichtsmedizin war bei der Leserschaft anscheinend sehr groß, denn sein Verleger wollte unbedingt Nachschub. Doch Roland hatte ihm gleich erklärt, dass er seinen Beruf dafür sicher nicht aufgeben würde und er mit einem Buch alle achtzehn Monate zufrieden sein müsste. Die letzte Lesereise hatte er außerdem abgebrochen. Ihm war es zu viel Menschenkontakt gewesen.
»Wer hat denn die Leiche gefunden?«, fragte sie.
Herbert zeigte auf ein altes Ehepaar, das auf einer der Parkbänke saß.
»Die waren grad eine Verdauungsrunde drehen.«
»Hier hinten bei den Büschen?«
Herbert zuckte mit den Schultern. »Das werden sie uns dann schon sagen, beziehungsweise euch. Ich mach die Fotos noch fertig, dann bin ich hier weg, ich fahr morgen nach Kroatien.«
»Wie lange?«
»Zwei Wochen mit der Vesna zu ihren Verwandten.«
Jutta nickte. Herberts Frau war Kroatin. Das hieß, Jutta und Georg würden den Fall fertig bearbeiten und heute noch viel Schreibarbeit zu erledigen haben.
»Habt ihr irgendwelche Hinweise auf ihre Identität gefunden?«
»Fehlanzeige. Keine Ausweise, keine Papiere, kein Auto- oder Wohnungsschlüssel, kein Handy, nichts, womit wir nachforschen könnten, und na ja, eine unserer üblichen Fahndungen können wir auch schlecht rausbringen.«
»Wieso nicht?«
Er knabberte an seiner Unterlippe, ehe er antwortete. »Wirst schon sehen.«
Hinter ihnen raschelte es.
»Na?«, fragte eine männliche Stimme, die Jutta zu gut kannte. »Einmal kommt man zu spät, und schon bist du am Fremdflirten.«
»Servus, Roland, ich hab doch nicht mit Jutta …«
»Für dich immer noch Herr Doktor Kleist«, fuhr er Herbert an.
Jutta drehte sich zu Roland um. »Ich flirte doch nicht mit Herbert!«
Roland grinste breit und zuckte mit den Achseln. »Konnte ich von hinten nicht genau sehen.«
»Als ob du überhaupt wüsstest, wie das geht.«
»Na, wie hab ich dich wohl rumgekriegt?«
Jutta winkte ab. »Was macht dich so sicher, dass es nicht genau umgekehrt war?«
Roland lachte und ließ seine Gummihandschuhe schnalzen.
Sein Selbstbewusstsein war ungebrochen. Und er sah wieder richtig gut aus, musste sie zugeben.
»Na, dann schauen wir uns mal die Leich’ an, Sommersprosse.«
Den Spitznamen hatte ihr Tom einmal gegeben. Sie hasste es, wenn jemand anderer sie so nannte. Roland wusste das genau. Doch sie verkniff sich ihren Ärger und winkte Georg heran.
Roland hockte neben der toten Frau und begann mit den Untersuchungen. Er legte ein Diktiergerät neben sich, startete es und nannte Tag und Uhrzeit. Während der Untersuchung redete er vor sich hin: »Leiche, weiblich, asiatischer, möglicherweise indischer Herkunft, zwischen 25 und 35 Jahre alt, schlank, lange dunkle Haare …«
Er pausierte, als er das Gesicht sah, das, wie Jutta schon wusste, nicht mehr wirklich vorhanden war. Aber es war etwas anderes, es nur zu wissen und es dann auch mit eigenen Augen zu sehen.
»… Gesicht verätzt, möglicherweise mit Säure, ein Auge fehlt, die Nase liegt frei.«
Man konnte nur noch erahnen, wie die Frau einmal ausgesehen haben mochte. Statt einer Nase prangte ein dreieckiges Loch mitten im Gesicht.
Jutta schüttelte es unwillkürlich. Sie musste an die Frauen in der Lepra-Kolonie denken, die sie vor einiger Zeit besucht hatte, als sie auf der Suche nach ihrem Vater gewesen war. Ihr Vater war ein Priester, der sich um Lepra-Kranke kümmerte.
»Hat jemand von euch etwas gefunden, das wie eine Nase aussieht?«, fragte er in die Runde, während er den laubbedeckten Boden taxierte. Herbert schritt zur Tatortgruppe hinüber, und Jutta konnte hören, wie er diese nach einer Nase befragte. Dachte Roland, dass die Nase hier im Park entsorgt worden war?
Roland begann indessen, die Kleidung von der Leiche zu entfernen. Jutta fand diesen Part jedes Mal sehr entwürdigend für die Toten, und sie hoffte, sie würde nie in der Öffentlichkeit sterben, sondern allein zu Hause, am besten im Schlaf.
»Die Leichenstarre ist stark ausgeprägt, und die Totenflecken lassen sich noch wegdrücken.«
Jutta wusste, was das bedeutete. Die Frau war noch nicht lange tot.
»Todeszeitpunkt vor circa acht bis zwölf Stunden.«
»Also gestern Nacht?«, sagte Jutta.
»Oder heute zeitig in der Früh, wie man es nimmt«, antwortete Roland, ohne aufzusehen.
Wieso war sie dann erst jetzt gefunden worden und nicht tagsüber?
»Aber sie wurde verlagert.«
»Hier? Oder wie meinst du?«
»Nach den Flecken zu urteilen, lag sie vorher auf dem Bauch, jetzt liegt sie aber auf dem Rücken.«
Interessant, das bedeutete, sie könnte woanders gestorben sein und nur hier im Park abgelagert worden sein, vielleicht erst vor Kurzem. Dann war der Täter möglicherweise noch in der Nähe. Vielleicht sah er ihnen sogar zu. Vorsichtig schaute Jutta sich um. Er könnte überall sein. Hinter den Büschen auf der anderen Seite auf einem Baum oder hinter einer Tür bei den öffentlichen Toiletten. Vielleicht hatte er sich auch unter die Schaulustigen gemischt. So etwas kam öfter vor, als man dachte. Viele Täter liebten diese Aufmerksamkeit und blieben gern in der Nähe des Tatorts, es gab ihnen eine Art Kick.
Roland stand auf und klopfte sich die Blätter von der Hose.
»Genau guck ich sie mir natürlich später noch an, aber eines finde ich jetzt schon seltsam.«
Jutta sah ihn an. »Sie ist nicht hier gestorben, oder?«
»Das kann ich noch nicht sagen, es ist möglich, aber auch viele andere Sachen passen nicht so gut zusammen. Die Säurewunden sind definitiv nicht frisch, sondern schon älter, auch die meisten Narben.«
»Woran könnte sie sonst gestorben sein?«, hakte Georg nach.
Roland hockte sich wieder hin. »Kommt mal runter zu mir.«
Jutta hockte sich neben ihn. So nah, konnte sie sein teures Rasierwasser riechen, vermischt mit dem Kokosduft seiner Haarpomade, mit der sich schon in den Fünfzigerjahren die Rocker die Haare nach hinten gegelt hatten und an die sie sich schon sehr gewöhnt hatte. Zu sehr gewöhnt. Tief sog sie den Geruch ein. Sofort ploppten Bilder in ihrem Kopf auf. Haut an Haut. Verschwitzte Laken …
»Jutta?« Roland schnippte mit den Fingern vor ihren Augen und riss sie aus ihren Gedanken. »Schaust du bitte auch hin?«
Er drehte mit einer behandschuhten Hand den Kopf der Toten zur Seite und fuhr mit dem Zeigefinger der anderen behandschuhten Hand über den Hals.
»Seht ihr – hier?«
»Würgemale?«, sagte Jutta.
Roland nickte. »Genau. Meiner Meinung wurde sie auf jeden Fall gewürgt, ob sie auch erwürgt wurde, kann ich bei der Obduktion dann feststellen. Bestimmte Merkmale, auf die ich normalerweise schau, kann ich hier nicht erkennen, weil einiges von ihr ja fehlt. Aber in dem einen Auge konnte ich Petechien finden.«
»Woher kommen die Verätzungen eigentlich?«
»Vielleicht vom selben Täter«, warf Georg ein, und Roland nickte. »Möglicherweise.«
»Denkt ihr …« Jutta brach ab, als grausame Bilder auf sie einströmten.
Georg seufzte. »Möglicherweise wurde sie monatelang oder noch länger gefangen gehalten und gefoltert, bevor sie ermordet wurde.«
Roland nickte und stand wieder auf. »Vielleicht ist sie auch an den Folgen des Folterns gestorben. Jedenfalls hat sie am ganzen Körper verschiedene Narben, ich muss mir die alle erst genau ansehen und natürlich auch schauen, ob es toxikologische Einwirkungen gibt.« Eine gegelte Haarsträhne löste sich und fiel über sein rechtes Auge. »Wie die Narben und Verätzungen entstanden sind, werde ich untersuchen.« Er streifte die Gummihandschuhe ab und warf sie in einen Sack, der neben der Leiche lag. »Aber wer ihr das alles hier angetan hat, müsst ihr herausfinden.« Er band den Sack zu und steckte ihn ein. Sehr ordentlich. Jutta musste schmunzeln.
»Ich nehm an, heute seh ich dich nicht mehr«, sagte er zu ihr und blinzelte unter der Haarsträhne hervor.
Sie hob die Schultern. »Das war ohnehin klar, wenn ich heute Nachtdienst habe.«
»Wir sollten dann das Ehepaar befragen, bevor es ganz finster wird«, unterbrach Georg.
»Sicher.«
Sie wollte ihm schon folgen, als sie jemand am Jackenärmel zog.
»Ist noch was?«, fragte sie Roland genervt, der sie am Ärmel festhielt.
»Bis morgen«, flüsterte er grinsend. »Wir müssen unbedingt etwas besprechen.« Dann zog er seinen Kamm aus der Jackentasche und brachte seine Frisur in Ordnung, während er über die Wiese davonstapfte, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Stadtpark, Wien 1
Georg hatte sich bereits zu dem Ehepaar auf die Bank gesetzt und war gerade dabei, die Personalien aufzunehmen, als Jutta dazustieß. Sie bevorzugte es, stehen zu bleiben, und wartete, bis Georg mit den bürokratischen Dingen fertig war. Es stellte sich heraus, dass die beiden Pensionisten miteinander verheiratet waren und gar nicht in der Nähe des Parks wohnten, sondern im zweiten Wiener Gemeindebezirk in der Nähe des Praters. Sie hießen Alois und Elisabeth Zauner und waren beide über siebzig Jahre alt.
»Gehen Sie öfter um diese Zeit spazieren?«, fragte Jutta.
Die Alten nickten, sahen dabei aber auf den Kies.
»Sie wohnen doch ein ganzes Stück entfernt vom Park. Wie sind Sie hergekommen?«
»Mit der U-Bahn«, antwortete Alois Zauner rasch.
»Warum fährt man für einen Verdauungsspaziergang extra mit der U-Bahn bis hierher?«, sprach Georg aus, was Jutta auch gerade fragen wollte.
»Warum denn nicht?«, sagte die Frau. »Die Touristen spazieren doch auch hier herum.«
»Gleich vor Ihrem Haus ist die Prater-Hauptallee«, sagte Georg. »Da kann man doch prima spazieren gehen.«
»Darf man sich das jetzt nicht mehr aussuchen?« Elisabeth Zauner schüttelte den Kopf und drückte ihre Handtasche enger an sich.
»Natürlich, aber wir müssen Sie das fragen«, beschwichtigte Jutta sie.
»Aber wir haben die …«, Alois Zauner stockte, »… Dame doch nicht umgebracht.«
Georgs Tonfall wurde sanfter. »Das glaube ich auch nicht. Aber es gibt einige Ungereimtheiten, beziehungsweise ist nicht alles klar ersichtlich.«
»Wie genau haben Sie die Tote denn gefunden?«, hakte Jutta sich wieder in das Gespräch ein und guckte unter und hinter die Bank. »Soweit ich sehen kann, haben Sie keinen Hund dabei.«
»Wozu brauchen wir denn einen Hund?«
»Wir haben zwei Vogerl«, erklärte Elisabeth Zauner lächelnd. »Die Mitzi und der Petzi.«
»Ja, also das ist etwas, das uns nicht ganz klar ist«, begann Georg erneut, ohne auf die Antwort mit den Vögeln einzugehen. »Hier drüben sind die Bänke, die stehen hier am Spazierweg. Und da drüben …« Mit dem Arm holte er weit aus und zeigte mehrere Meter weiter zu den Büschen, wo die Leiche noch lag. Der Leichenabholdienst stand offensichtlich im Stau, aufgrund der Demonstrationsabsperrungen wie so oft an einem Donnerstagabend. »… liegt die Leiche, aber sie war mit Laub bedeckt und lag zwischen zwei Büschen. Wie konnten Sie die Tote von hier aus entdecken?«
Georg hatte ausgesprochen, was sich Jutta schon die ganze Zeit gedacht hatte. Immerhin handelte es sich hier um zwei betagte Menschen jenseits der siebzig, die normalerweise auch nicht mehr so gut sahen. Es dämmerte, als sie die Leiche angeblich gefunden haben wollten, und diese lag mehrere Meter entfernt, abseits vom Spazierweg zwischen Laub und dichtem Buschwerk, wie Georg eben angemerkt hatte. Andererseits wollte Jutta den alten Herrschaften auch nichts unterstellen. Vielleicht gingen sie einfach gern ab und zu woanders spazieren als nur vor ihrer Haustür. Auch wenn dort eines der größten Erholungsgebiete Wiens auf sie wartete, das noch heute zu großen Teilen aus Auenlandschaften bestand, auch wenn zugunsten von Wohnbauten und Autobahnen stetig mehr der Grünfläche schwand.
Jutta beobachtete die alte Frau, die sichtlich nervös an ihrer Handtasche nestelte und dabei mit dem Kopf wackelte.
»Gut, dann beschreiben Sie uns einmal, wie genau Sie die Tote gefunden haben, und wer von Ihnen beiden.«
Jutta räusperte sich und deutete Georg an, dass man die beiden getrennt voneinander befragen sollte, wie es in so einem Fall üblich war. Georg nickte und wandte sich an Alois Zauner. »Wären Sie so freundlich und würden sich auf die andere Bank dort drüben setzen, während wir mit Ihrer Frau reden?«
»Warum fangen wir nicht mit mir an?«, antwortete der Alte. »Ich hab die Dame schließlich gefunden.«
»Natürlich, wie Sie möchten«, sagte Georg.
Wortlos trippelte Elisabeth Zauner über den Kies und setzte sich auf die andere Bank.
»Nun, dann erzählen Sie uns, wie das war«, begann Jutta.
»Die Lisi und ich sind hier spazieren gegangen, da war es aber noch nicht so finster wie jetzt. Das geht ja schnell jetzt im Herbst.« Er räusperte sich. »Jedenfalls waren wir grad mal zehn Minuten hier, da hab ich etwas durch die Büsche blitzen sehen.«
Georg runzelte die Stirn. Jutta konnte das deutlich erkennen, da die Parkbeleuchtung sein Gesicht erhellte. Sie sah zu den Büschen hinüber, wo man eben den Zippverschluss des Leichensacks verschloss. Der Leichenabholdienst war inzwischen angekommen.
»Was haben Sie blitzen gesehen?«
»Na, durch das Laub durch hat etwas geleuchtet.«
»Was war es?«, fragte Jutta interessiert. Die Leiche selbst konnte wohl kaum geleuchtet haben. Gerade schoben sie die Tote auf der Bahre im Leichensack in den Wagen. Jutta sah wieder zu Alois Zauner.
Der Alte hob die Hände und klatschte auf seinen Oberschenkel.
»Was weiß denn ich?«
»Und was passierte dann?«
»Dann hab ich zur Lisi gesagt, lass uns mal schauen, was dort ist«, ergänzte er seine Aussage.
»Und dann sind Sie zusammen hinübergegangen?«, fragte Jutta.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Meine Lisi wollte lieber hier bei der Bank bleiben, weil sie tut sich schwer auf unebenem Gelände. Darum gehen wir seit Jahren nur noch spazieren, wo ein Asphalt ist.«
Jutta nickte, das klang einleuchtend. Sie hatte vorhin gesehen, wie wackelig seine Ehefrau sogar auf dem Asphalt ging.
»Jedenfalls bin ich dann rüber«, fuhr der Alte fort. »Hätte ja sein können, dass dort Geld liegt, das blinkt, aber ich hab nichts gefunden, vielleicht war es ja eine Bierflasche, die in der Sonne geleuchtet hat.«
»Und wie haben Sie dann die Leiche gefunden?«, hakte Georg ein.
»Als ich wieder zurückgehen wollte, bin ich gestolpert. Hab zuerst gedacht, über eine Wurzel, aber dann hab ich nach unten geschaut und ein nacktes Bein gesehen.« Er strich sich mit der rechten Hand über den linken Oberarm und schüttelte sich. »Da bin ich sofort zur Lisi zurückgelaufen und hab ihr zugerufen, dass sie die Polizei anrufen soll, weil ich glaube, dass ich über eine Leiche gestolpert bin.«
Georg kratzte mit dem Bleistift über das Blatt seines Notizblocks. Jutta wunderte sich indessen über den letzten Satz des Zeugen.
»Sie haben vorher gar nicht geschaut, ob die Frau noch lebt?«
Alois Zauner schüttelte den Kopf. »Nein, die Lisi hat das auch gefragt, weil man ja hört, dass hier Obdachlose und Junkies rumliegen. Aber ich hab gesagt, auch dann ist die Polizei zuständig.« Er rieb die Handflächen aneinander und blickte in den Himmel. »Was hätte ich denn machen sollen, selbst wenn das eine Frau mit Überdosis gewesen wäre?« Fragend sah er Jutta in die Augen. »Ich kann da auf meine alten Tage auch nichts tun, und ich hab COPD, daher kann ich auch niemanden beatmen oder so. Und hinunterbücken geht schon gar nicht mehr mit meinem Ischias.« Mit einem warmen Gesichtsausdruck blickte er zu seiner Frau auf der anderen Bank. »Na, und die Lisi kann ja nicht einmal über die Wiese gehen. Bald wird sie einen Rollator brauchen.«
Jutta hatte Mitleid mit dem Pärchen, allerdings kam sie nicht umhin, sich teilweise über die Aussagen zu wundern. Irgendwie passte das alles nicht zusammen, oder es fehlte etwas. War es wirklich Zufall gewesen, dass er die Leiche entdeckt hatte? War es Schicksal gewesen, dass sie heute gerade hier spazieren gegangen waren? Und war es Fügung gewesen, dass sie hinter den Büschen Licht gesehen hatten? Und wie sah dieses Licht aus? Es musste schon etwas Besonderes haben, damit es sich vom normalen Licht aus den Wohnblöcken rundherum abhob und vom Autoscheinwerferlicht. Irgendwas stimmte hier nicht.
Auch Georg schien seine Zweifel an der Geschichte zu haben.
»Und Ihre Frau wird diese Geschichte bestätigen?«
Der Alte blinzelte. »Wie meinen Sie das?«
»Na, wird sie das Gleiche sagen?«
»Was soll sie denn sonst sagen? So war es doch.« Den letzten Satz sagte er etwas lauter, als er bisher mit ihnen gesprochen hatte. »So war es«, sagte er noch einmal mit Nachdruck und nickte dazu. Das verstärkte Juttas Eindruck, dass es sich hier möglicherweise um eine erfundene Geschichte handelte.
»Dann fragen wir nun Ihre Frau, Herr Zauner.«
Georg und Jutta standen auf und gingen in Richtung der anderen Bank. Alois Zauner folgte ihnen. Als Jutta das bemerkte, blieb sie stehen und hob die Arme.
»Was machen Sie denn?«
»Na, ich muss meiner Lisi doch beistehen, wenn Sie sie befragen …«, sagte er und setzte »… ihr schwaches Herz« hinzu.
»Das geht leider nicht«, antwortete Jutta ruhig. »Auch Ihre Frau wird von uns allein befragt. Wenn Sie bitte wieder auf der anderen Bank Platz nehmen würden?«
»Aber …«, hob Alois Zauner an.
»Das ist das normale Prozedere, und wir sind ja nicht weit weg«, beschwichtigte Jutta ihn. »Ihre Frau ist die ganze Zeit in Sichtweite.«
Alois Zauner öffnete noch einmal den Mund, um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Mit gesenktem Kopf schlurfte er zur anderen Parkbank zurück.
Georg hatte mit der Befragung auf sie gewartet. Elisabeth Zauner saß mit aneinandergepressten Schenkeln auf der Bank und drückte ihre Handtasche noch fester an sich, als Jutta hinzukam. Nervös guckte sie zu ihrem Mann hinüber, der ihr ein aufmunterndes Lächeln zuwarf.
»Frau Zauner, jetzt würden wir gerne Ihre Geschichte erfahren, wie Sie die Leiche gefunden haben«, sagte Georg.
»Was hat denn der Loisl gesagt?« Ihre Stimme war kaum hörbar und zitterte ein wenig.
»Das kann er Ihnen später erzählen, wir dürfen nichts aus unseren Ermittlungen preisgeben.«
Die Tasche auf ihrem Schoß war nun komplett eingedrückt, so fest hielt sie diese.
»Also erzählen Sie uns der Reihe nach vom heutigen Abend.« Jutta schloss ihre Lederjacke, es war merklich kälter geworden in der letzten halben Stunde.
»Ich hab Grießschmarrn gekocht …«, begann Elisabeth Zauner.
»Ich meinte, ab der Stelle, wo Sie hier im Park ankamen«, unterbrach Jutta sie.
»Nach dem Essen sind wir mit der U-Bahn hierhergefahren.«
»Machen Sie das öfter?«, fragte Georg.
Elisabeth Zauner bejahte. »Wir haben seit vier Jahren kein Auto mehr, der Loisl sieht schon schlecht, und darum kann er nimmer fahren.«
Das war schon der erste Hinweis, dass die Story von vorhin unglaubwürdig war. Wenn Alois Zauner schlecht sah, wie konnte er dann etwas leuchten gesehen haben?
Aber Jutta behielt diese Erkenntnis vorerst für sich. Auch Georgs Miene war unergründlich. Das Pokerface hatte er richtig gut drauf. Doch auch bei ihm musste es geklingelt haben.
»Erzählen Sie weiter, bitte«, ermunterte Georg die Frau.
»Na ja, da sind wir dann hier im Park herumspaziert.« Sie pausierte, dachte nach. Nach einer gefühlten Ewigkeit fuhr sie fort. »Dann wollten wir nach Hause gehen, und da haben wir die … Dame gefunden.«
»Auf dem Weg nach Hause also?« Alois Zauner hatte doch behauptet, dass sie erst wenige Minuten hier waren, als er dieses ominöse Licht gesehen haben wollte. Das passte wieder nicht zusammen.
Georg räusperte sich. »Wie genau ist das vonstattengegangen?«
»Der Loisl hat sie entdeckt.«
»Ihr Mann hat die Leiche gesehen, von hier aus? Circa da, wo wir jetzt sitzen?« Jutta runzelte die Stirn.
»Nicht die ganze Leiche, nur den Schuh oder so«, sagte Elisabeth Zauner hastig.
»Sagten Sie nicht gerade, dass er schlecht sieht?«, erinnerte Georg sie. »Wie konnte er von hier aus einen Schuh im Laub sehen, vor allem, da viele Blätter gerade die gleiche Farbe haben wie die Schuhe der Toten.«
Das stimmte. Die Schuhe der Toten hatten eine dunkelrote Farbe, wie die Hälfte des Laubs hier im Park. Zudem hatte Alois Zauner nichts von Schuhen gesagt, sondern von irgendeinem Licht.
»Ja, er sieht ja nicht ganz schlecht, nur zu schlecht zum Autofahren.« Sie knetete den Schulterriemen der Handtasche mit beiden Händen. »Mit den Lichtern hat das etwas zu tun. Die blenden ihn. Er kann dann nichts sehen.«
Das würde zur Lichtsache passen. Womöglich war Alois Zauner nur extrem lichtempfindlich.
»Gut, dann lassen wir das mal so stehen.« Georg blätterte die Seite seines Notizblocks um. »Was ist dann passiert?«
»Der Alois ist hinübergegangen und hat nachgeschaut. Da hat er gesehen, dass dort eine tote Frau liegt.«
Georg hörte auf zu schreiben, blickte die Frau über den Rand des Notizblocks hinweg an und knabberte am Bleistiftende.
»Und dann hat er die Polizei angerufen«, sagte Elisabeth Zauner und atmete erleichtert aus, als hätte sie einen Marathon hinter sich.
»Er hat angerufen? Ihr Ehemann Alois Zauner?« Georg hob die rechte Augenbraue.
»Oder ich?« Elisabeth Zauners Stimmlage war nun eine Terz höher.
War das eine Frage oder eine Feststellung?
»Bitte denken Sie genau nach, damit Sie nichts durcheinanderbringen, sonst müssen wir die Befragung wiederholen.« Jutta setzte sich nun auch auf die Bank dazu und legte ihre Hand auf den Unterarm der Frau. »Wer hat die Polizei angerufen?«
Elisabeth Zauner atmete mehrmals ein und aus. »Ich glaube, er hat gesagt, ich soll anrufen«, sagte sie schließlich.
»Hat niemand von Ihnen überlegt, dass die Frau vielleicht noch lebt und Hilfe braucht?«
Stille. Ein zaghaftes Kopfschütteln.
»Sie waren also sicher, dass sie tot ist?«
Ein Seufzen. Das Leder der Handtasche quietschte unter der Reibung der Fingerkuppen der Besitzerin.
»Wieso waren Sie sicher, dass die Frau tot ist, wenn das niemand von Ihnen genau überprüft hat?«
Elisabeth Zauner zuckte mit den Achseln.
»War niemand in der Nähe, den Sie um Hilfe bitten konnten?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wissen Sie, was unterlassene Hilfeleistung ist?« Georg rieb sich mit den Fingern über die Stirn. Er wirkte müde.
»Warum sekkieren Sie mich denn so? Wir haben ja Hilfe geholt.« Die Zeugin schien noch nervöser als zu Beginn. »Wir haben sie nicht umgebracht!«
»Wir müssen alles abklären. Stellen Sie sich vor, man hätte die Frau noch retten können.« Jutta wusste, dass das nicht stimmte, aber es ging ums Prinzip, und sie spürte, dass das Ehepaar nicht die Wahrheit sagte. Jedenfalls nicht die ganze Wahrheit. Einen Mord wollte sie ihnen hingegen nicht zutrauen.
»Was, wenn sie noch leben könnte, wenn sie rechtzeitig reanimiert worden wäre?«
Ja, diese Taktik war ein bisschen fies, aber manchmal musste man nachhelfen, wenn man die Wahrheit erfahren wollte. Manchmal brauchte es nur ein klein wenig Druck und ein bisschen schlechtes Gewissen, und die Menschen packten aus. Nur wenige Befragungen waren hart und die Befragten schwer zu knacken. Die meisten Menschen knickten rasch ein. So schien es auch diesmal zu sein, denn mit einem Mal sprang Elisabeth Zauner von der Bank auf und rief zu ihrem Mann hinüber: »Ich kann das nimmer, Loisl, wir müssen es sagen!«
Jetzt begann sich das Blatt endlich zu wenden. Georg und Jutta beobachteten das Pärchen stillschweigend.
Der Mann hob die Arme. »Mei, Lisi, sei g’scheit.«
»Das versuch ich ja. Was wir da tun, ist nicht gescheit.«
»Der arme Bub, Lisi, denk an den Buben.«
»Wir haben ihm lang genug geholfen und immer wieder. Was hat’s genutzt? Nix.«
»Irgendwann schafft er es. Du musst nur dran glauben. Gib ihn nicht auf.«
Elisabeth Zauner seufzte. »Na, jetzt haben die beiden Inspektoren schon zugehört.«
So war es. Jutta war gespannt. Sie stand auf und ging zwei Schritte auf die Frau zu.
»Frau Zauner, um welchen jungen Mann geht es denn hier eigentlich?«
»Hilft ja alles nichts mehr.« Die Alte ließ ihren Kopf resigniert hängen. »Aber bitte schön, tun Sie dem Buben nichts«, flüsterte sie.
»Wir tun ihm sicher nichts. Aber es kommt drauf an, was er gemacht hat. Was dann weiter mit ihm passiert, darüber richten nicht wir, sondern andere.«
»Und was ist mit Alois und mir?«
»Wenn Sie uns jetzt die Wahrheit sagen, ist alles gut.«
Elisabeth Zauner nickte. Ihr Ehemann auf der anderen Bank versenkte sein Gesicht in den Handflächen.
»Also, um wen geht es hier?«
»Um den Berti, meinen Enkelsohn.«
Im Schloss
In die Sprechblase rechts schreibt er UFF, darunter ARGH. In Großbuchstaben wie üblich. Dann blättert er die Seite um und fängt ein neues Bild an. Es wird eine schwarz-weiße Seite, keine farbige. Eines der düsteren Zwischenkapitel, die in die Vergangenheit des Helden führen. Er mag diesen Stil und seine Fans anscheinend auch. Warum soll er es also ändern? Mit dem Tuschestift schraffiert er den Hintergrund hinter dem Helden, der hier in einer Höhle gefangen gehalten wird.
Fur-Man hat ihn reich gemacht. Längst würde er gerne etwas anderes zeichnen oder schreiben, aber sein Agent verlangt, dass er die Reihe fortsetzt, solange der Absatz derart gut ist. Er gähnt, während er ein Blutrinnsal unter den Sessel von Fur-Man zeichnet. Er kann es beinahe tropfen hören. DRIP … DRIP … DRIP … schreibt er in wackeligen Lettern darunter, als sein Smartphone klingelt.
Widerwillig steckt er die Kappe auf den Stift und nimmt den Anruf an.
»Stell dir vor, was passiert ist!«, schallt die Stimme seines Agenten Ralf an sein Ohr.
»Meine Vorstellungskraft hebe ich mir für meine Geschichten auf.« Er schnippt den Stift zur Seite. »Du wirst ohnehin gleich auspacken.«
Ralf kann Neuigkeiten nie lange für sich behalten. Noch bevor irgendein Verlag einen Vertrag anbietet, erzählt er ihm von dem Lektor, der sehr interessiert sei. Und so geht es munter weiter. Bevor er einen Agenten hatte, dachte er immer, dass man sich da nur alle heiligen Zeiten sah und sprach. So wie er es in zahlreichen Schreibforen gelesen hat. Sein Agent ist anders. Sein Enthusiasmus ist aber auch ansteckend. Manchmal, nicht immer. So wie jetzt, wo er sich nichts lieber wünscht als seine Ruhe. Die Nacht ist seine Kreativzeit. Eigentlich weiß das auch Ralf. Es muss tatsächlich etwas Wichtiges sein.
»Die Filmoptionsrechte wurden angefragt, und zwar von niemand Geringerem als HTA, und Avid Benikopf soll als Executive Producer an den Start gehen, möglicherweise schreibt er sogar das Drehbuch«, ruft er begeistert.
»Haben die nicht Game of Clones gemacht?« Sein Herzschlag wird schneller. Das Atmen fällt ihm schwerer.
»Bingo!«, ruft Ralf und lacht.
Die Luft bleibt ihm weg. Er japst. Aber es ist kein schönes Gefühl. Im Gegenteil. Es fühlt sich an, als würde sein Hals in einer Schlinge stecken, die sich ganz langsam zuzieht. Das Smartphone in der Hand, springt er auf und reißt das Fenster auf, nicht ohne sofort danach die Vorhänge zuzuziehen. Tief inhaliert er die kühle Herbstluft der Nacht, die durch den Spalt hereinweht.
»Bist du noch da?«, schallt es aus dem Handy.
Die Panikattacke ebbt mit jedem Atemzug langsam wieder ab. Er fühlt seinen Puls. Immer noch neunzig Schläge die Minute.
»Hast du wieder eine Attacke?«, kommt es fragend aus dem Lautsprecher.
»Mhm«, schafft er es, zwischen den Atemzügen ins Handy zu brummen.
Ein Film diesmal also. Noch mehr Publicity, noch mehr Interviewanfragen. Noch mehr Journalisten, die herauszufinden versuchen, wo er wohnt. Beziehungsweise erst mal wissen wollen, wer er überhaupt ist. Seine Graphic Novels erscheinen unter einem geschlossenen Pseudonym, einem sehr geschlossenen. Niemals darf herauskommen, wer hinter James T. Cormorant steckt. Nur sein Agent Ralf kennt seinen echten Namen, und er hat von Anfang an akzeptiert, dass er nicht will, dass seine wahre Identität nach ans Licht kommt. Und jetzt? Er denkt an all die Hollywood-Stars, die unermüdlich versuchen, ein normales Leben zu leben und ihre Privatsphäre zu verstecken, und er denkt daran, wie oft das schiefgeht. Wie viele Pseudonyme von Schriftstellern sind aufgedeckt worden. Von Fans, von Verwandten und manchmal vom Agenten. Nun, die Verwandten und Fans werden ihm kein Problem machen. Sie wissen nicht, wer er ist. Aber manche wissen, wie er aussieht, auch das kann ihm gefährlich werden. Schon zweimal musste er abtauchen und neu anfangen. Von einer Untergrundexistenz zur nächsten. Seit zwölf Jahren lebt er als James T. Cormorant. An dieses Leben hier hat er sich schon gewöhnt. Das Muster auf dem Vorhang beginnt, sich um ihn zu drehen. Niemand darf seine Identität herausfinden. Das wäre das Ende seiner Karriere. Nein, das vielleicht nicht, aber auf jeden Fall das Ende seines versteckten Lebens.
»Hör zu! Sie wissen, dass du keine Interviews geben wirst und dass du auch nicht zur Comic Con kommen wirst«, versucht ihn sein Agent zu beruhigen. »Oder andere Fantreffen.«
Das macht ihn eher traurig. Comic Con wäre was. Er hat das Spektakel öfter im Fernsehen gesehen und auf den Extras der DVDs seiner Lieblingsserien. Comic Con, der Ort, wo er eigentlich hingehört, aber gleichzeitig der Ort, der nicht für ihn bestimmt ist.
So wie fast alles. Er ist ein Kind der Dunkelheit. Die Nacht ist sein Freund. Sein Zuhause ist wie ein gruseliges Schloss im finsteren Wald. Hier lebt er nun seit einigen Jahren, hier wird er vermutlich einsam sterben. Denn eine Belle, die das Biest erlöst, gibt es nur im Märchen. Doch das hier war die Realität. Für ihn gibt es keine Belle. Und auch kein Glück. Und schon gar keine Erlösung.
So wie bei seinem Helden in seinen berühmten Graphic Novels. Auch er muss sich allein den Dämonen stellen und sich in den Schatten verstecken, aus dem Schutz der Dunkelheit heraus agieren. Wie sehr ist er schon mit seinem Protagonisten verschmolzen? Gibt es den einen ohne den anderen überhaupt?
»Also er will uns …«, beginnt Ralf, »… natürlich meinte ich, mich treffen und einen Vertrag aushandeln.«
»Du weißt, dass ich unter keinen Umständen persönlich irgendwo hingehe.«
Die Angst bebt tief in seinem Bauch. Die Angst vor den Menschen. Vor ihren Blicken. Vor ihren falschen Zungen.
»Wie lange bin ich jetzt schon dein Agent? Zehn Jahre?«, fragt Ralf.
»Elf«, presst er hervor. Was für eine lange Zeit. Und drei Jahre länger schon schreibt er diese Graphic-Novel-Serie. »Wird es ein Kinofilm?«, bemüht er sich, die Konversation zu halten, außerdem interessiert es ihn. Wie lang würde die Publicity dauern? Bei einem Film ist der Hype in der Regel nach spätestens zwei Jahren vorbei. Das könnte gehen.
»Aber nein«, sagt Ralf freudig. Eine Welt splittert in Grau zu Schwarz.
»Eine Serie! Sie rechnen mit hohen Einschaltquoten, und sie hoffen auf mehrere Staffeln.«
Ein Albtraum. Er ist in einem Albtraum gefangen, und der könnte sechs Jahre dauern oder acht. Je nachdem, wie viele Staffeln sie drehen. Übelkeit steigt in ihm hoch.
»Gehen sie … exakt nach den Büchern vor?«
»Das werden wir alles besprechen«, wiegelt Ralf die Frage ab. »Ich vermute, dass sie den ersten Band auf jeden Fall eins zu eins machen werden, die ganze Einstiegsgeschichte ist wichtig. Aber klar ist, wenn der Deal steht und die Serie kommt, dann wirst du viele weitere Bände zeichnen dürfen.«
»Dürfen?« Seufzend legt er sich auf die Couch. Fur-Man Forever zeichnet er mit dem linken Zeigefinger in die Luft. Es würde eine Zeit kommen, in der er sein Leben und das seines Helden nicht mehr würde trennen können. Und langsam fragt er sich, ob es überhaupt je eine Trennung gab.
Lächerlich zu glauben, ein Leben ohne Fur-Man leben zu können. Lächerlich. Ralf redet und redet, und man hört ihm die Aufregung an. Für ihn wird es der Deal seines Lebens sein. Wenn er durchgeht.
Als der Schwindel etwas nachlässt, steht er auf und geht zum Fenster, um es wieder zu schließen. Sachte zieht er einen Teil des Vorhangs weg. Im Glas spiegelt sich sein Antlitz. Lange betrachtet er sich. Dann schließt er den Vorhang wieder ganz.
»Du wirst mein größter Star! Ich bin so stolz darauf, dich entdeckt zu haben.« Das ist nicht das erste Mal, dass Ralf das zu ihm sagt. Bei jedem Erfolg wiederholt er diese Sätze. »James T. Cormorant wird in die Geschichte eingehen.«