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Von wegen beschauliches Landleben: Ein spannender Krimi mitten im Murtal Die Polizistin Franzi Fürst hat die Nase gründlich voll von Wien – ein Ortswechsel muss her! Frisch geschieden zieht die alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kindern zurück auf den Hof ihres Vaters in der Steiermark. Doch die vermeintliche Rückkehr zur Ruhe entpuppt sich schnell als Irrtum: Franzis ehemalige Lehrerin liegt nach einem Sturz am Günster Wasserfall im Koma, und auch in ihrem verträumten Heimatdorf Schöder geht es nicht mit rechten Dingen zu. - Packender Auftakt der Krimireihe um die heimgekehrte Chefinspektorin Franzi Fürst - Trügerische Idylle: Regionalkrimi mit vielen spannenden Verwicklungen - Tolle Urlaubslektüre, vielleicht sogar für den nächsten Ausflug in die Steiermark? - Mysteriöse Zusammenhänge: Findet Franzi die Lösung in der dunklen Vergangenheit ihrer Familie? - Geschenk für Krimifans zum Miträtseln: Ein Österreich-Krimi voller Lokalkolorit Schauplatz Murtal: Kann die neue Chefinspektorin den Fall lösen? So hatte sich die ehemalige Beamtin des LKA Wien ihren Wechsel nach Murau nicht vorgestellt: Statt eines ruhigen Alltags überschlagen sich bald die Ereignisse. Zudem muss sich Franzi mit ihrer Jugendliebe Max auseinandersetzen, der ihr die plötzliche Abreise nach Wien wohl immer noch nicht verziehen hat. Die Krimi-Autorin Jennifer B. Wind stammt selbst aus der Steiermark. "Wasserfallsturz" ist der erste Fall in ihrer Österreich-Krimireihe rund um die Polizistin Franzi Fürst und verspricht spannende Unterhaltung für Fans von Heimatkrimis!
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Seitenzahl: 399
Jennifer B. Wind
Ein Murtal-Krimi
Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder vom Autor ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
1. Auflage 2023
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Landkarte Innenklappe: Nina Andritzky
ISBN: 978-3-7104-0337-8
eISBN: 978-3-7104-5077-8
Dieses Buch widme ich meiner Taufpatin Hildegard Schnedl, die sich schon so auf dieses Buch gefreut und leider den Kampf gegen ihre Krankheit verloren hat.
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
Nachwort der Autorin
Danksagung
Das Zischen des Atemgeräts singt mich täglich in den Schlaf. Der säuerliche Schweißgeruch der Krankenschwester, die meine Bettwäsche wechselt und mich wäscht, dringt schwach durch meine Nase. Das Wasser wärmt mich, und der kratzige Fetzen hinterlässt Spuren auf meiner Haut. Die Süße der Flüssigkeit, die mir jeden Tag durch einen Schlauch verabreicht wird, der durch meine Nase in den Rachen führt, schmecke ich deutlich. Die Infusionsnadel pikt unangenehm in meinem Arm. Meine Haare wurden wochenlang nicht gewaschen. Der Juckreiz auf meinem Kopf bringt mich bald um den Verstand.
Habe ich überhaupt noch einen? Die Ärzte sind sich nicht sicher. Deshalb wagt niemand, die Geräte abzustellen. Gefangen in einer nutzlosen Hülle, betrachte ich mit sabberndem Mund die Zimmerdecke. Hellblau gestrichen gaukelt sie mir den Himmel vor, den ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen habe.
Während ich hier liege, überlege ich, wie all dies geschehen konnte. Sonstige Aufgaben habe ich nicht. Vor wenigen Tagen bin ich aus dem Koma erwacht, aber nicht richtig aufgewacht, sondern liege im Wachkoma-Zustand mit Locked-in-Syndrom, sagen jedenfalls die Ärzte. Sie flüstern, wenn sie über meine Situation reden, als wüssten sie, dass ich sie hören kann.
Versuche, mich bemerkbar zu machen, habe ich längst aufgegeben. Früher wurden Menschen mit einem Glöckchen begraben. Das hätte ich jetzt gerne hier. Einmal bimmeln für Ja, zweimal bimmeln für Nein.
Ich starre in das Blau. Tagein, tagaus. Künstlich. Nicht das Blau, das ich sehen möchte. Ich vermisse den Himmel, genauso wie ich den Anblick auf den Bach vermisse, an dessen Ufer mein Haus steht. Das stetige Plätschern hat mich auch an Stresstagen beruhigt. Ich vermisse es, meinen Kindern übers Haar zu streichen oder meine Nase spielerisch in die Zehen meiner Enkel zu vergraben. Ich vermisse meinen Mann, die Liebe meines Lebens, und die Nachmittage im kleinen Dorf-Café im Turm. Oder die Wanderungen. Nein! Nicht die Waldspaziergänge, nicht mehr, denn dort hat vermutlich alles begonnen.
»Schuld und Schulden weisen ein entscheidendes verbindendes Merkmal auf. Beide sorgen dafür, dass das Leben des Belasteten an einen in der Vergangenheit geknüpften Knoten gebunden bleibt.«
Peter Sloterdijk, 1947
August, B 11 Richtung Schöder
Hätte jemand vor Jahren zu Franziska gesagt, dass sie eines Tages diese Landstraße entlangfahren würde, um wieder zu Hause zu wohnen, geschieden und mit zwei Kindern auf der Rückbank, hätte sie wohl lauthals gelacht.
Gerade aber blieb ihr das Lachen im Hals stecken. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Alles in ihr schrie, dass diese Idee, wieder nach Schöder zu ziehen, nicht gut durchdacht war. Gleichzeitig zog es sie förmlich nach Hause.
Als ob das Universum sich auch nicht sicher wäre, peitschte seit einer Viertelstunde der Regen über das Land. Es war eines dieser Sommergewitter, die man nur in den Alpenregionen erlebte. Aus heiterem Himmel verdunkelte sich das Blau binnen Minuten.
Als die ersten Blitze durch die Wolkendecke brachen, begann Jonas zu weinen, denn er hatte panische Angst vor Gewittern. Franziska hatte ihn beruhigt.
»Ein Auto ist ein faradayscher Käfig. Dir kann hier drin nichts passieren.«
Dass es trotzdem für eine optimale Sicherheit ratsam war, das Fahrzeug abzustellen und die Hände an den Körper zu legen, verschwieg sie. Schließlich war der Reiterhof nicht mehr weit entfernt, und sie hatte heute noch einiges zu erledigen, da sie bereits am nächsten Tag ihren neuen Job als Chefinspektorin an der Dienststelle in Murau antreten würde.
Franziska umklammerte das Lenkrad ihres Mini Coopers, der in Wien das perfekte Auto gewesen war, hier am Land aber völlig deplatziert schien. Zudem hatte das alte Radio kurz vor Graz seinen Geist aufgegeben. Weil Jonas vor zwei Stunden gekotzt hatte, als sie die kurvigen Straßen im Semmeringgebiet entlanggefahren waren, roch es auch noch süßsäuerlich. Nur ab und an während der Fahrt hatte Güllegeruch den Gestank im Fond überlagert, was auch nicht viel besser war.
Die Scheibenwischer quietschten über die Windschutzscheibe, übertönten aber nicht das Kreischen von Jonas, der auf einmal aufschrie: »Mama, pass auf! Da liegt etwas auf der Straße!«
Auch das noch. Die Heimkehr wurde ihr nicht leicht gemacht. Franziska blinzelte, da lag wirklich etwas. Rasch trat sie auf die Bremse, der Wagen rutschte ein bisschen, doch Franziska konnte gegenlenken. Kurz vor dem Objekt kam der Mini zum Stillstand. Franziska atmete erleichtert aus. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie während des gesamten Manövers die Luft angehalten hatte.
»Mama, das bewegt sich!«, rief Jonas vom Rücksitz. Das Klackern der Schnalle seines Sitzgurts ertönte.
»Ich hab dir doch erklärt, dass du dich erst abschnallen darfst, wenn ich es dir erlaube, Jonas!«
»Aber wir stehen doch.« Er zog einen Schmollmund. Dabei sah er mit seinen acht Jahren wieder aus wie ein Baby. Die Flecken auf seinem T-Shirt rundeten dieses Bild ab. Franziska wurde warm ums Herz.
»Aber wir stehen mitten auf der Straße!«
Es klickte abermals. Im Gegensatz zu Amelia folgte Jonas noch aufs Wort. Das Pubertier neben ihm starrte stumm in ihr Smartphone, die Ohren zugestöpselt. Amelia hatte seit ihrem Aufbrechen in Wien nichts mehr gesagt. Eigentlich ignorierte sie Franziska, seitdem sie erklärt hatte, dass sie in die Steiermark umziehen würden.
Franziska parkte den Wagen am Straßenrand, schaltete die Warnblinkanlage ein, schlüpfte in die Regenjacke und zog die Kapuze über den Kopf.
»Ich will mitkommen!« Jonas zappelte und drückte die Knie in Franziskas Sitzlehne.
»Nein, ich muss erst allein nachschauen.«
Ihre Erfahrung beim LKA in Wien hatte ihr in aller Bitterkeit gezeigt, dass man stets mit dem Schlimmsten rechnen musste. Auf der Straße konnte alles Mögliche liegen. Gruselige Bilder aus ihrem früheren Berufsleben schoben sich in ihr Gehirn. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie sie damit vertreiben. Eines war auf jeden Fall die richtige Entscheidung gewesen: das LKA Wien zu verlassen. Hier, in dieser beschaulichen Gegend der Steiermark, erhoffte sie sich Erholung, nicht nur von ihrer Scheidung samt Rosenkrieg, sondern auch von all den Morden und der extremen Gewalt, der sie in diesen Jahren begegnet war. Bei ihrem letzten Fall stand sogar ihr eigenes Leben auf der Kippe. Nächtelang hatte sie danach nicht zu schlafen vermocht und schließlich eine Auszeit genommen. Dieser unbezahlte Kurzurlaub gipfelte in ihrem Wunsch, sich aufs Land versetzen zu lassen. Ein Streben, das sie schon viele Jahre hegte, aber mit dem ihr Ex-Mann Nick nie etwas hatte anfangen können, der einfach ein Städter durch und durch war und zudem leidenschaftlicher LKAler.
Der Regen peitschte Franziska ins Gesicht, als sie sich dem Objekt auf der Straße vorsichtig näherte. Sie bückte sich hinunter.
»Ein Kätzchen«, sagte Jonas neben ihr. »Ist es tot, Mama?«
Wo war er auf einmal hergekommen? Franziska seufzte. Schon wollte sie ihn maßregeln, doch als sie in sein Gesichtchen sah, konnte sie das nicht mehr. Voller Mitgefühl blickte er auf das Fellbündel, das auf der nassen Fahrbahn lag.
Aus ihrer Jacke zog Franziska Handschuhe hervor, die sie grundsätzlich eingesteckt hatte, und zwar in jeder nur erdenklichen Jacken- oder Hosentasche. Eine Maßnahme, die sie sich über die Jahre beim LKA angeeignet hatte. Während sie die Handschuhe überstreifte, schickte sie Jonas zum Wagen, um eine Decke zu holen.
Zwei Minuten später kam er freudestrahlend wieder und zeigte auf den Himmel.
»Mama, schau, es regnet nicht mehr.«
Er reichte ihr einen Bettüberzug. Decke war wohl ein zu weit gefasster Begriff gewesen. Sei es drum. Das musste auch gehen. Vorsichtig hob sie das Kätzchen hoch und bettete es auf das Laken, das Jonas in Händen hielt.
»Mama, das Kätzchen blutet.«
Das war Franziska auch gerade aufgefallen. Doch der Stubentiger sah unverletzt aus. Woher kam dann das Blut? Sie richtete sich auf und wickelte das Tier sanft in den Baumwollstoff. Mit einem Teil seines Shirts wischte sich Jonas seine Tränen von den Wangen. Er war so sensibel.
»Was tun wir jetzt? Bringen wir das Kätzchen ins Krankenhaus?«
»Wohl eher zum Tierarzt.«
Gemeinsam gingen sie zum Wagen zurück. Jonas trottete mit gesenktem Kopf neben ihr her. Nachdem er eingestiegen war und sich angeschnallt hatte, wollte ihm Franziska das Bündel auf den Schoß legen, als sie eine Frauenstimme hinter sich hörte.
»Franzi? Bist du das?«
Rasch reichte sie Jonas das Kätzchen und drehte sich um. Vor ihr stand Heidrun Stadler, ihre alte Schulfreundin. Sie hatte sie gar nicht kommen hören. Das Haar hing ihr patschnass über die Schultern, ihre Brillengläser waren voller Regentropfen. Sie zog an den Bändern ihrer grauen Jogginghose und knotete sie zu. Anscheinend war sie unvorbereitet aus dem Haus gelaufen.
»Du bist es!« Heidrun strahlte und drückte sie kurz an sich. Der Geruch von Vanille und Zimt stieg Franziska in die Nase. »Ich hab ja g’wusst, dass du diese Woche kommst, aber nicht, dass es heut ist.«
Sie musterte Franziskas Hände, die immer noch in Handschuhen steckten.
»Sag, hast du schon einen neuen Fall, kaum dass du da bist?«
Franziska folgte ihrem Blick. »Nein, wir haben eine Katze von der Straße aufgelesen.«
»Mei, habt’s ihr Oreo gefunden? Ich habe sie schon überall gesucht. Gott sei Dank!«
»Oreo, wie der Keks?«
Heidrun lachte. »Ja, mei, du weißt doch, wie gern ich die ess.«
»Aber nur die Füllung.« Lachend zeigte Franziska auf die Rückbank. »Jonas hat sie am Schoß. Sie blutet aber.«
»Ja klar, sie hat ja grad Kitten bekommen.«
Jonas hörte das. »Katzenbabys!«, kreischte er. Neben ihm rollte Amelia genervt mit den Augen und zog ihren Kapuzenpulli tiefer ins Gesicht.
»Mama, darf ich die Katzenbabys sehen?«
Heidrun lächelte ihn an. »Dafür sind sie noch viel zu klein. Aber in ein paar Tagen vielleicht.« Sie streckte ihre Hände aus. »Sie brauchen dringend ihre Mama.«
»Aber der geht’s nicht gut.« Betrübt schaute Jonas auf das Tier.
»Mach dir keine Sorgen. Heidi ist Ärztin und kann Oreo sicher gut versorgen«, sagte Franziska und zwinkerte Heidrun zu. Diese blinzelte zurück. Es war nicht komplett geschwindelt. Heidrun Stadler war tatsächlich Ärztin, aber keine Veterinärmedizinerin.
Jonas nahm seine Hände weg, damit Heidrun ihm das Kätzchen abnehmen konnte.
»Danke, dass ihr Oreo gerettet habt.«
Jonas nickte. »Sonst hätten die Babys jetzt vielleicht keine Mama mehr.«
»Ja, ohne Jonas hätte ich sie vielleicht gar nicht gesehen«, erwiderte Franziska.
»Toll, Jonas. Da kannst du dir bei mir einen Lutscher holen als Dankeschön. Oder hast du lieber einen kleinen Dinosaurier?«
»Dino, Dino, Dino«, sang Jonas.
Schmunzelnd schloss Franziska die Autotür. Jonas konnte alle Dinosaurierarten und deren Eigenschaften auswendig aufzählen. Wie viele Jungs in seinem Alter.
»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte sie Heidrun und öffnete die Beifahrertür.
»Zu Fuß gehen ist g’sund«, winkte ihre Freundin ab. »Ich bin ganz nass, da ruinier ich dir doch die Sitze.«
Franziska deutete auf die rosa Sneakers an Heidruns Füßen, die ganz offensichtlich nicht wasserfest waren. »Geh komm, jetzt steig schon ein.«
Die Ärztin zögerte kurz und setzte sich schließlich auf den Beifahrersitz. Bevor Franziska den Wagen wieder startete, vernahm sie noch ein Schnauben von der Rückbank. Amelia würde ihr noch einige Sorgen bereiten. Kurz nach der Scheidung hatte sie Franziska wissen lassen, dass sie vorhatte, zu Nick zu ziehen. Bloß wusste der noch nichts von ihren Plänen.
Franziska lenkte den Mini die Straße hinauf zum Reiterhof Fürst, den man schon von Weitem erkennen konnte, zumindest die Pferdeweide. Die Arztpraxis war nicht weit entfernt.
»Schön, dass du wieder da bist, Franzi«, sagte Heidrun und streichelte Oreo, die sichtlich erschöpft auf ihrem Schoß schlief.
»Ich freu mich auch.«
»Sei mir nicht bös, aber das hört sich nicht so an.«
»Na ja«, Franziska seufzte und blickte auf ihren Ringfinger, wo sich eine dünne helle Linie von der ansonsten gebräunten Haut abhob. Bis vor Kurzem hatte sie noch ihren Ehering getragen. »Mein Lebensplan hat anders ausgesehen.«
»Das Leben hält sich nicht an Pläne. Weißt du doch.«
Die Straße ging in einen Schotterweg über.
»Kommst auf einen Kaffee mit rein?«, fragte Heidrun, als der Wagen vor der Praxis hielt.
»Ich möchte heute noch nach Murau, mich vorstellen. Morgen fang ich ja schon an, und der alte Chefinspektor ist nur noch heute da, da wollt ich mich schon mal anmelden und meine Ausstattung in den Spind räumen.«
Heidrun sah auf die Uhr und hob die Augenbrauen.
»Heut noch?« Kopfschüttelnd schälte sie sich aus dem Beifahrersitz und hinterließ dabei eine Wasserlache.
Franziska stieg ebenfalls aus, um ihrer Freundin zu helfen, damit sie die Tür zur Praxis aufsperren konnte. Als Heidrun ihr Oreo wieder abnahm, hielt sie kurz inne. »Es ist auf jeden Fall gut, dass du da bist. Die Leitnerin liegt seit Monaten im Koma, und niemand kümmert’s.«
»Die Marion liegt im Koma? Warum das denn?«
»Der Max und dein Vorgänger Günter behaupten, es war vermutlich ein Unfall, die Susi sagt das auch, aber ich bin mir da nicht so sicher. Am Anfang haben sie noch ermittelt, haben auch mit mir geredet. Aber ich hab ewig nichts mehr gehört.«
»Wieso? Die werden schon wissen, was sie tun.«
»Vielleicht, aber ich kenn die Leitnerin besser als der Max. Und auf jeden Fall besser als die Susi.«
Franziska wusste nicht einmal, welche Susi gerade gemeint war, fragte aber nicht nach. Das hatte Zeit.
»Wo war denn der Unfall?«
»Beim Günster Wasserfall soll sie gestürzt sein.«
Der Günster Wasserfall war mit 65 Metern Fallhöhe der höchste Wasserfall der Steiermark. Es ging sehr steil hinauf, teilweise mittels Holztreppen, die grundsätzlich sehr rutschig waren.
»Da würd sie doch nie raufgehen.«
»Ich sag’s ja. Da stimmt was nicht.«
»Gibt’s Zeugen?«
»Na, eben nicht.«
»Und die Marion kann im Koma auch nicht reden«, sinnierte Franziska laut vor sich hin.
»Ja, Franzi, siehst du, es ist genau richtig, dass du jetzt da bist. Du kümmerst dich doch drum?«
»Da muss ich zuerst die Akte genau anschauen.«
»Die ist sicher schon geschlossen worden.«
»Das weißt du genau?«
Heidrun zuckte die Achseln. »Jedenfalls haben sie schon wochenlang nichts mehr wegen der Leitnerin getan oder g’sagt.«
»Wann geht’s weiter?«, rief Jonas aus dem Auto.
»Du, lass uns beizeiten mal drüber reden, ich meld mich.«
»Aber wirklich. Nicht so wie sonst.«
Dieser Seitenhieb musste ja kommen. Ja, sie war eine lausige Freundin gewesen und hatte sich so gut wie nie gemeldet.
»Na, ganz sicher. Und jetzt bring die Katzenmama zu ihren Babys, die haben sicher schon einen großen Hunger.«
»Danke noch mal.«
»Und wo ist jetzt mein Lolli?«, maulte Jonas, als sie weiterfuhren.
»Den kannst du dir morgen von der Heidi holen.«
Nachdenklich fuhr Franziska den restlichen Kilometer zum Hof. Marion Leitner war ihre und Heidruns Klassenlehrerin gewesen und mit einer starken Höhenangst gesegnet, worüber sie in der Schule öfter gelacht hatten. Wandertage waren stets auf so ebenen Wegen wie möglich abgehalten worden. Klettern mochte sie nicht. In der Kirche konnte sie nicht einmal in den Chorbereich hinaufgehen. Das war ihr schon zu hoch. Niemals wäre Marion Leitner deshalb den steilen Weg beim Wasserfall hinaufgegangen, zumindest nicht freiwillig, da musste Franziska ihrer Freundin absolut recht geben. Aber warum hatte Marion Leitner sich dann dort oben aufgehalten?
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie fast am Hof vorbeifuhr. Die Gaststätte neben dem Hauptgebäude war um diese Zeit mäßig besucht, nur zwei Autos standen davor.
Deren Besitzer waren ihr bekannt: Stammgäste, die fast ihre halbe Lebenszeit im Gasthof verbrachten, dort Karten spielten und ihre Münzen beim Sparverein einzahlten. Eine Tradition, die heutzutage am Aussterben war. Sparen lohnte sich nicht mehr bei diesen mickrigen Zinsen. Wer Geld hatte, investierte heutzutage in Immobilien, Firmen, Rohstoffe, Fonds oder Bitcoins. Nick hatte ganz altmodisch nur seine Bausparverträge alle Jahre aktualisiert. Franziska hingegen hatte sich ETF-Fonds zugelegt, was ihre Rente ordentlich aufstocken würde, wenn alles gut ging. Wer wusste schon, ob es noch staatliche Renten gab, wenn sie in das entsprechende Alter kam. Vorsorgen war Franziska wichtig, eigenes Geld verdienen, um unabhängig zu sein, auch. Sie wollte schließlich nicht so enden wie ihre Mutter, die zeit ihres Lebens nie eigenes Geld besaß und um jede Kleinigkeit bei ihrem Vater betteln musste.
Nick kam mit ihrem Streben nach finanzieller Unabhängigkeit nicht gut klar. Dieses Thema war einer ihrer ständigen Streitpunkte gewesen.
Während Franziska das Gepäck aus dem Kofferraum hievte, lief Jonas kichernd an ihr vorbei.
»Da ist auch eine Katze, Mama.«
»Ja, am Hof sind immer Katzen.«
»Haben die auch Babys?«
»Möglicherweise …«
»Schauen wir nach?«, unterbrach der Kleine sie.
»Jetzt werden wir erst mal alles aus dem Auto holen und hineintragen. Dann muss ich nach Murau.«
Wieder zog Jonas einen Schmollmund, holte aber brav eine seiner Taschen aus dem Kofferraum und stapfte auf die Eingangstür zu. Seine Schuhe knirschten auf dem Kies. Säuerlicher Geruch waberte hinter ihm her. Amelia saß immer noch im Auto, die Augen geschlossen, die Earpods im Ohr.
Franziska klopfte an die Scheibe und öffnete die Autotür.
»Wir sind da!«
Amelia schreckte hoch, murmelte irgendetwas, schälte sich aus dem Sitz und schlurfte Jonas nach.
»Junge Dame«, rief Franziska ihr nach. »Du kannst dein Gepäck auch selbst mitnehmen.«
Amelia schleppte sich zurück, nahm einen Teil ihrer Habseligkeiten und stolperte damit davon. Franziska drückte ihren Rücken durch und seufzte. Nachdem der Platz im Mini begrenzt war, hatte sie das meiste einen Tag vor der Fahrt mit der Post geschickt. Die Pakete würden hoffentlich bald ankommen.
Mit zwei Umhängetaschen und jeweils einem Koffer links und rechts ging sie auf das Haus zu, das sie seit zwei Jahren nicht mehr betreten hatte. Das letzte Mal war sie zu Mutters Beerdigung hier gewesen. Ein mulmiges Gefühl machte sich beim Betätigen der Klingel in ihrem Bauch breit. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Tür aufging.
Der Mann, der im Türrahmen stand, sah nicht nur älter aus, sondern auch wesentlich magerer als das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte. Tiefe Furchen auf der Stirn und um die Augen zeugten von seinem harten Leben. Er blickte auf die Kinder, dann wieder zu ihr. Seine Augen blieben kühl. Kein Lächeln. Hatte sie auch nicht erwartet. Zwiebelgeruch stieg ihr in die Nase.
»Hallo, Papa.« Er erwiderte nichts. Nickte nur.
»Hallo, Opa.« Jonas grinste von einem Ohr zum anderen. »Wir haben eine Katze gerettet.«
Die Gesichtszüge ihres Vaters wurden augenblicklich weicher. Er strich dem Buben über den Kopf. »Habts ihr das?«
Jonas nickte eifrig.
»Na, daun seids sicher hungrig.«
»Oh ja.« Jonas rieb sich den Bauch.
Nur kurz blieb sein Blick an Amelia hängen, dann sah er wieder auf Jonas.
»Kummts eini.«
Während Jonas das Blunzengröstl verschlang, als hätte er tagelang nichts gegessen, starrte Amelia angewidert auf den Teller.
»Und das Dirndl kann ned reden?«, fragte ihr Vater.
Amelia schob die Erdäpfel mit der Gabel hin und her, ohne aufzublicken.
»Und essen kaun sie anscheinend a ned.« Ihr Vater klang vorwurfsvoll und schaute dabei Franziska an, als hätte sie ihre Tochter schlecht erzogen.
»Gibt’s hier einen McDonald’s?«, fragte Amelia und blickte auf.
»Na, in Schöder gibt’s so was ned. Iss was G’scheits.«
»Schmeckt eh super.« Jonas hatte fast aufgegessen.
»Ich weiß nicht einmal, was das sein soll?« Amelia schob den Teller von sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ablehnung pur. Ganz bestimmt nicht nur gegenüber dem Essen.
»Das ist ein Blunzengröstl«, erklärte ihr Großvater.
»Lustiger Name. Blunzen.« Jonas kicherte. »Was ist da drin? In einem Blunzengröstl?« Er kicherte wieder.
»Kartoffel, Zwiebel und Blutwurst …«
Jonas machte große Augen. »Blut …?«
»Blutwurst!«, rief Amelia aus und schüttelte sich. »Ekelhaft!«
Jonas beäugte seinen Großvater. »Ist der Opa ein Vampir?«
Amelia lachte und stupste Jonas mit dem Ellenbogen. »Du bist so blöd.«
Franziska küsste Jonas auf die Stirn und blickte zu Amelia. Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie ihre Tochter lachen sah. Wenigstens ein kleiner Lichtblick.
»Seid brav beim Opa. Nicht streiten.«
»Und wo werden wir auspacken?«
»Der Opa zeigt euch die Zimmer und hilft euch.«
»Isst du nix, Franzi?«, brummelte ihr Vater.
»Nein, ich fahr gleich nach Murau zur Polizeiinspektion.«
Rasch schlüpfte sie wieder in die Jacke.
»Ich hab geglaubt, du hilfst mir in der Gaststätten?«
»Wieso das denn?«
»Jetzt bist du daham. Die Hanni ist tot, irgendwer muss ja ihre Arbeit übernehmen.«
»Mama ist seit zwei Jahren tot, und es hat super ohne mich funktioniert. Der Egon wohnt hier, und die Resi ist auch da.«
»Aber ich hab extra der Resi ’kündigt, weil du kommst.«
»Wieso in Gottes Namen kündigst du der Resi? War dir nicht klar, dass ich weiter bei der Polizei arbeiten werde?«
»Ka Wunder, dass du g’schieden bist. Eine Frau muss daheim sein, beim Mann und den Kindern.«
»Fein! Dann such du dir doch eine neue Frau.«
»Wenn der Michi noch da wäre, wär alles gut. Das ist deine Schuld, Franzi.«
Ihre Schuld. Da war es wieder! Die Worte ihres Vaters hallten in ihrem Kopf wider. Der Schmerz in ihrer Magengrube fühlte sich an, als hätte jemand auf sie eingeprügelt. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihren Bruder. Vor allem seine mit Sommersprossen übersäten Wangen und das breite Lachen, als er zu ihr aufblickte. Sie blinzelte. Ihr Hals fühlte sich eng an, als würde jemand eine Schlinge festziehen. Raus! Sie musste raus hier.
Sie würde seine Aussage nicht kommentieren.
»Ich bin bald wieder zurück.« Ihre Stimme klang belegt. »Pass bitte auf die Kinder auf.«
Franziska stürmte aus dem Haus. So ein alter Depp. Dieser Patriarch. Nichts hatte sich geändert. Gar nichts.
Mit dem Handrücken wischte sie sich über die feuchte Wange. Diesmal war es kein Regen. Wie in Trance stieg sie in ihren Wagen und fuhr los in Richtung Murau.
Die Beziehung zu ihrem Vater war seit jeher schlecht. Von Anfang an wollte er, dass sie einen Bauern heiratete, aber Franziska wollte kein bäuerliches Leben führen. Sie liebte es, auf dem Land zu leben, das schon. Sie mochte es, in die Berge zu gehen, zu wandern, in der Natur zu sein. Aber sie wollte auch ihr eigenes Geld verdienen und sie hatte gesehen, wie hart es ihre Mutter gehabt hatte. Schlussendlich hatte der Krebs sie dahingerafft, ohne dass sie jemals vom Hof weggekommen war, ohne sich ihre eigenen Träume verwirklicht zu haben. Ihr Vater hatte sie Jahr für Jahr vertröstet, dass sie schon ans Meer fahren würden, später. Irgendwann, wenn der Christian den Hof übernehmen würde.
Doch den ältesten Sohn zog es in die Schweiz. Dort wurde er Schauspieler. Bis heute erfolglos. Sogar in L.A. hatte er es versucht, sich extra einen neuen Namen zugelegt. »Chris Duke«, sehr einfallsreich. Vielleicht traute er sich deshalb nicht zurück nach Hause. In seinem letzten Brief an Franzi erzählte er ihr, dass er nun in einem Running-Sushi-Lokal die Teller abwusch.
Der Egon, nur drei Jahre jünger als Christian, ist nie von daheim weggegangen. Er war einfach zu bequem. Die Schule hatte er nicht zu Ende gemacht und auch keine Frau gefunden, die es dauerhaft mit ihm aushielt. Warum Vater dem Egon nicht den Hof überschrieben hatte, war Franziska ein Rätsel. Er war der Einzige, der immer da war und sogar gerne als Bauer arbeitete.
Und an den Michi, das Nesthäkchen, wollte sie jetzt nicht denken. Das war zu schmerzhaft. Denn ganz tief drinnen gab sie sich selbst die Schuld an seinem Verschwinden.
Vor dem imposanten Haus der Polizeiinspektion Murau, in dem auch das Bezirkspolizeikommando untergebracht war, gab es jede Menge Parkplätze. Drei Streifenwagen standen vor der Tür. Einer davon ein hoher Van. Ein Motorrad stand ebenfalls dabei. Franziska blickte auf die Uhr. Sie war gerade noch rechtzeitig vor dem nächsten Dienstwechsel gekommen. Rasch nahm sie die Taschen mit ihrer Uniform und den Ausrüstungsgegenständen, die sie gestern aus Judenburg abgeholt hatte. Als sie eintrat, bimmelte es. Es dauerte nicht lange, und ein älterer Mann kam heraus.
Das musste ihr Vorgänger Chefinspektor Günter Kranzl sein. Er sah genauso aus wie auf dem Foto, das sie in der Polizeizeitung gesehen hatte.
»Sind Sie die Frau Fürst aus Wean?«
»Franziska Fürst aus Wien. Ja, genau.«
»Na, da haben Sie es grad noch geschafft. Ich bin schon am Sprung.« Er lächelte und hielt ihr den Ellenbogen hin, sie konterte mit ihrem eigenen Ellenbogen. »Aber für Sie bleib i noch ein bisserl. Ned wahr?«
»Das wäre fein.«
Zwei Polizisten liefen aus dem Gebäude, nickten nur kurz und fuhren mit einem der Streifenwagen davon.
Günter Kranzl klatschte in die Hände. »Kumman S’ rein, ich nehm Ihnen a Tasch’n ab.« Sogleich nahm er eine ihrer Taschen an sich und ging durch die Doppeltürschleuse, die in fast jedem Wachzimmer Standard war, um sich während des Parteienverkehrs zu schützen. Hier konnte man zur Not auch jemanden zwischen beide Türen einsperren.
Drinnen war es gemütlich eingerichtet. An den Wänden hingen Bilder. Landschaftsgemälde. Hinter dem Tresen saß ein Polizist, der sich ihr als Gernot Mader vorstellte. Auf einem der Drehstühle saß ein anderer Uniformierter, der ihr den Rücken zuwandte, an einem der vier Schreibtische. Neben ihm stand eine Frau, ebenfalls in Uniform, und blickte interessiert zu Franziska.
»Do samma. Den Gernot haben Sie eben kennengelernt, der ist unser Wachhabender heute. Der Hans und der Kurt sind grad weggefahren mit dem Funkwagen. In einer Stunde ist Dienstwechsel, da lernen S’ dann den Rest kennen. Die Susi gehört nach Schöder zur Polizeiinspektion und ist grad auf Besuch hier, die werden S’ dort öfter sehen«, erklärte ihr Günter Kranzl.
Die Blondine reichte Franziska die Hand.
»Mit dem Max werden S’ hier am meisten zu tun haben. Er ist unser Bergfex.« Der Mann am Stuhl bewegte sich nicht. »Jetzt drah di schon her, Max.«
Ganz langsam drehte sich der Stuhl.
»Max Jäger?« Daran hatte sie nicht gedacht, als der Name Max gefallen war. Aus guten Gründen.
»Wie er leibt und lebt«, antwortete der Chefinspektor anstelle seines Kollegen.
»Wolltest du nicht nach Kanada oder Alaska auswandern?«, fragte Franziska.
Max Jäger zuckte die Achseln. »Da war ich jung.«
Franziska konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie Max von Kanada, Alaska und den schottischen Highlands geschwärmt hatte. Aber nicht nur. Damals hatte er durch die ganze Welt schippern wollen und auf den Himalaja wollte er auch klettern. Seine große Liebe waren die Berge gewesen.
»Und Nepal? Und der Himalaja?«
»Dem geht’s gut ohne mich.«
»Na ja, ich hab gehört, dass der Mount Everest jedes Jahr höher wird. Dann wird’s schwieriger mit der Besteigung.« Sie zwinkerte.
»Des kaunnst deiner Großmutta dazähln.«
Der ruppige Tonfall von Max gefiel Franziska nicht. Zudem sah er ihr nicht in die Augen, sondern starrte gelangweilt auf seine Schuhspitzen. Der Max, den sie kannte, war anders gewesen. Aber nach all den Jahren kannte man sich vielleicht nicht mehr richtig. Auch Franziska hatte sich verändert. Sie war nun geschieden und Mutter von zwei Kindern. Das änderte alles. Aber im Gegensatz zu Max, der ständig vom Reisen und Auswandern geredet hatte, hatte sie nie von der Steiermark weggewollt. Ihr war es passiert. Die Liebe war ihr passiert.
»Der Max ist a bisserl knatschig.«
»Ja, der hat nämlich fix mit dem Chefinspektor-Posten gerechnet.« Susi zwinkerte ihr zu.
»Und dann kummst du daher, ewig ned gesehen, und nimmst ma’n einfach weg.« Max Jäger zog einen Flunsch wie ein Kleinkind.
»Davon hab ich doch nichts gewusst. Mir wurde gesagt, der Posten ist frei.«
Der Alte tätschelte Franziskas Hand.
»Ist doch alles gut. Der Max wird sich schon an Sie gewöhnen. Ihr Stellvertreter ist er ohnehin, so wie bei mir.« Er wandte sich an Max. »Und du bist eh lieber auf die Berg als vor dem Computer.«
»Bist du Alpinpolizist geworden?«, fragte Franziska neugierig.
Max nickte.
»Na, dann sind wir wohl quitt.« Jetzt klang sie zickig. Alpinpolizistin zu werden, war seit ihrem zehnten Lebensjahr ein Traum gewesen. Und war es immer noch.
Günter Kranzl führte sie durch die Räumlichkeiten, zeigte ihr, wo die Akten waren und auch ihren Schreibtisch. Darauf standen ein paar Büroutensilien und eine Kiste, in die der ehemalige Chefinspektor noch eine Tasse mit dem Aufdruck »Ich bin hier der Chef« beförderte. Ganz zum Schluss legte er eine gerahmte Fotografie darauf.
»Ist das Ihre Familie?« Sie zeigte auf das Bild.
Er bejahte. »Die freuen sich schon, dass ich ab jetzt mehr Zeit habe, sind ja schon drei Enkerl da, die ihren Opa brauchen.« Er lächelte Franziska an.
»Über eine Sache müssen wir noch kurz reden.« Er öffnete die Tür zu einem Vernehmungsraum. »Kommen S’ rein.«
Franziska trat ein und setzte sich. Günter Kranzl räusperte sich. »Wir haben einen ganz prekären Fall, bei dem wir nicht recht weiterkommen. Selbstverständlich haben wir angefangen zu ermitteln, aber sehr diskret. Hier kennt doch jeder jeden, Sie wissen schon, was ich meine.«
Franziska nickte. Günter Kranzl wischte sich mit der Rechten über seine Glatze.
»Jedenfalls ist etwas mit Marion Leitner, der Lehrerin, passiert. Wir wissen nur noch nicht, ob da jemand verwickelt ist oder ob es ein Unfall war.«
»Die Heidi hat mir vorhin schon was erzählt.«
»Ja, die Stadlerin hat auch ständig nachgefragt, ob wir schon was wissen. Nur die Marion selbst können wir nicht fragen, und sonst haben wir einfach nichts.«
»Ist die Akte schon zu?« Heidi hatte das angedeutet.
»Natürlich nicht. Solange wir nicht ganz sicher sind, dass es ein Unfall war, können wir das nicht machen.«
Franziska beugte sich vor.
»Was glauben Sie denn?«
»Ehrlich gesagt, bin ich da überfragt. Die Leitnerin hat sich in den letzten Monaten sehr verändert.«
»Aber eine Höhenangst geht doch nicht weg.«
»Von einer Nachbarin weiß ich, dass sie zu einer Psychologin gegangen ist. Vielleicht hat sie die Höhenangst wegtherapiert.«
Das war natürlich möglich. Franziska würde der Sache auf jeden Fall noch einmal nachgehen.
»Also, bleiben Sie diskret, wir wollen das Dorf nicht aufwiegeln. Gell? Aber machen Sie weiter.«
Franziska nickte. Günter Kranzl stand auf und ging vor ihr wieder in den Parteienraum.
»Sie werden das schon gut machen. Das spür ich.« Bekräftigend nickend nahm er den Karton mit seinen Habseligkeiten unter den Arm.
»Max, zeig der Frau Fürst den Rest. Ich muss dann zum Hirsch’n, da trifft sich heut der Hutklub.«
Heute? Dann musste Franziska auch so bald als möglich heim, weil ihr Vater auch zu dem Klub gehörte. Ihre Kinder sollten am ersten Abend nicht allein zu Hause sein.
»Kann i mitfahren?«, fragte die Blondine.
»Gern, hüpf schon mal rein.«
»Weist du die Frau Fürst dann bitte zügig in die aktuellen Fälle ein«, forderte der Chefinspektor Max auf. Es war wohl sein letzter Befehl.
»Für mich ist sie die Pferdefranzi, und das wird sie auch bleiben.«
»Was ist mit deinen Manieren?« Der Chefinspektor schüttelte den Kopf und streckte Franziska den Ellenbogen entgegen. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute und viel Spaß mit dem grummelnden Bergfex dort.« Franziska bedankte sich bei Günter Kranzl. Eine Minute später war sie mit Max allein.
»Zeigst du mir jetzt bitte meinen Spind, damit ich auspacken kann? Oder bist mit dem Sessel verwachsen?«
Max Jäger machte keine Anstalten aufzustehen. »Da hinten. Nummer 4, müsst eh offen sein, der Günni hat sicher den Schlüssel stecken lassen.«
»Vielen Dank auch.«
Franziska war froh, regelmäßig im Fitnesscenter und in der Kletterhalle gewesen zu sein. Sport war ihr sehr wichtig, wenn sie auch Sportarten im Freien vorzog, was in Wien nicht ständig möglich war. Locker warf sie sich die Taschen über die Schultern und ging in den anderen Raum. Spind 4 stand tatsächlich offen, und der Schlüssel steckte, wie es Max gesagt hatte. Als Erstes legte sie die Uniformteile hinein, den Waffengürtel und einige Kleinigkeiten. Am Schluss versperrte sie die Waffe getrennt von der Munition im Safe.
Von draußen hörte sie plötzlich Trubel, eine Frau schrie herum. Franziska vernahm nur unzusammenhängende Wortfetzen.
Max lief herein. »Kannst dich derweil in die Uniform werfen, weil die Ablöse noch nicht da ist. Die kommen erst in einer Stunde.«
»Was ist passiert?«
»Irgendein Unfall. Die Frau draußen hat einen Schock, und überall an ihr klebt Blut.«
Franziska erstarrte.
»Was ist, mach schon!« Max rüttelte an ihren Schultern. Rasch war Franziska wieder im Hier und Jetzt.
Über ihre Schulter hinweg griff Max in das Spindregal, holte ein Polizeihemd heraus und warf es ihr hin. »Zieh dich schnell an, Chefin.« Er zögerte. »Ich wart draußen.« Und weg war er.
Als hätte er das alles nicht schon gesehen. Franziska seufzte und stieg aus ihrem Sommerkleid.
Als sie nach draußen kam, fiel ihr Blick zuerst auf die Frau im weißen Kleid, die herumwirbelte und fluchte. Nur auf den ersten Blick glaubte man, die roten Stellen auf dem Stoff wären Blüten. An ihren Händen eingetrocknetes Blut, ihre nackten Unterschenkel zierten Blutspuren. Gleichzeitig sah die Frau selbst unversehrt aus. Franziska konnte auf den ersten Blick keine Verletzungen feststellen. Max versuchte die Frau zu beruhigen, die in schierer Verzweiflung zu sein schien.
»Bitte steig ein, Hermi, dann fahren wir hin und schauen uns das gemeinsam an«, sagte Max schon zum dritten Mal, ohne seine Ruhe zu verlieren, und wies gleichzeitig Franzi an, auf dem Beifahrersitz des Funkwagens Platz zu nehmen.
Da sie weder die Frau kannte noch wusste, was los war, stieg sie ein und wartete, bis sie losfuhren. Währenddessen schrieb sie Amelia eine WhatsApp-Nachricht:
Fahre gleich zu einem Einsatz, bitte pass auf Jonas auf, falls der Opa zum Stammtisch vom Hutklub geht.
Zurück kam nur ein Emoji in Form eines Kackhaufens.
Franziska seufzte. Die Pubertät war ohnehin ein Kampf, wenn dann auch noch eine Scheidung und ein Umzug dazukamen, war das der Super-GAU. Sie bekam das täglich zu spüren. Das Schlimme war, dass Franziska ihre Tochter besser verstand, als ihr lieb war. Aus seinem Umfeld gerissen zu werden, weg von den Freunden, um irgendwo auf dem Land zu leben, war für einen Teenager der Albtraum schlechthin. Sogar Franziska hatte es in jungen Jahren in die Stadt gezogen, obwohl sie ihr Zuhause stets liebte, auch wenn es nach dem Verschwinden ihres Bruders nicht mehr so angenehm war.
Die Stimme von Max riss sie aus ihren Gedanken.
»Träumst du?« Er stupste sie mit dem Ellenbogen.
»Schnall dich an.«
Nur zehn Minuten später kamen sie an einen kleinen Hof mit Weide, auf der sich eine schier grausame Szenerie abspielte.
Durch die Dämmerung konnte Franziska erst nicht genau erkennen, worum es sich bei den sieben weißen Bündeln handelte, die verstreut auf der Weide lagen. Doch schon von Weitem konnte sie den Geruch des Blutes und des Todes riechen. Die Frau, die Max Hermi genannt hatte, begann hemmungslos zu schluchzen.
»Schau dir das an, Max. Ich halt das nicht aus! Meine armen …«
Franziskas Augen gewöhnten sich nach und nach an die Dämmerung, und sie sah das ganze Ausmaß der Tragödie, die Hermi so verzweifeln ließ. Auf der Weide lagen sieben Schafe, teilweise blutüberströmt. Gemeinsam mit Max ging sie auf den ersten Kadaver zu. Das Schaf war nicht geschoren. Blut tropfte von der Wolle. Es war augenscheinlich aus dem Hals geflossen, der ganz verdreht war.
Einen Kadaver nach dem anderen besichtigten sie, bei zwei weiteren Schafen das gleiche Bild. Verdrehter Hals, der nur noch halb lose am Körper hing.
Blutige Wolle, blutiges Gras, blutige Erde.
Die restlichen Schafe schienen zu schlafen. Wurden sie betäubt oder durch den Schreck ohnmächtig?
Ein Auto fuhr mit erhöhter Geschwindigkeit heran und bremste scharf ab. Heraus stieg ein Mann, der sofort über den Zaun hüpfte, zu einem der Kadaver lief, sich hinhockte und ihn begutachtete. Ohne Handschuhe überzustreifen, wohlgemerkt.
»Ach, der Bernhard ist schon da?« Max runzelte die Stirn. »Ich hab ihn noch gar nicht angerufen.«
An Franziska gewandt, ergänzte er: »Das ist unser neuer Tierarzt seit ein paar Monaten.«
»Was ist denn mit dem Ludwig passiert?«
»Weißt du das gar nicht? Den hat der Krebs ruckzuck geholt. So schnell haben wir gar nicht schauen können.«
»Sein Pfeiferl, oder?« Franziska erinnerte sich an Ludwig und den Kirschtabakgeruch, den er stets mit sich trug, genau wie die Pfeife im Mundwinkel. Man sah ihn sehr selten ohne. Und wie Franziska wusste, war seine Sammlung beachtlich gewesen.
»Vermutlich war der Krebs schon im ganzen Körper, als er sich an der Lippe zeigte. Da konnte niemand mehr was tun.« Max zuckte mit den Schultern. Dann lief er auf den Tierarzt zu.
Franziska folgte ihm.
»Wer hat dich denn angerufen?« Am Land war man grundsätzlich schnell per Du, weil jeder jeden kannte, deshalb wunderte sich Franziska nicht über die vertrauliche Ansprache.
Der Tierarzt richtete sich auf. Jung war er, vermutlich frisch von der Uni. Anstatt Max eine Antwort zu geben, musterte er Franziska. »Du bist die Neue, gell?«
Irgendwie erfrischend, dass er sie nicht siezte. Da fühlte sie sich gleich viel jünger. Sie nickte.
»Genau. Franziska Fürst, und du bist der Bernhard …?«
Sie streckte ihm nicht ihre Hand hin, was angesichts seiner blutverschmierten Hände wohl auch nicht erwartet wurde.
»Pichler.« Er grinste.
»Bist du vom Pichler Hof droben auf der Stolzalpe?«
»Genau.«
Franziska überlegte. Sie kannte doch alle Buben vom Pichler Hof. Mit dem ältesten war sie in die Schule gegangen. Wieso war ihr Bernhard kein Begriff?
»Bevor du deine Stirn weiter runzelst, klär ich dich auf. Ich bin in Salzburg aufgewachsen, meine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben, da war ich grad erst dreizehn, drum hat der Bruder meines Papas mich aufgenommen.«
»Da warst du längst weg aus Schöder, drum weißt du das nicht«, ergänzte Max. Sein Unterton klang vorwurfsvoll. Er hatte ihr wohl nie verziehen, nicht hiergeblieben zu sein. Franziska seufzte innerlich. Hach, wenn der Max nur wüsste, warum sie unbedingt weg hatte müssen. Irgendwann würde sie es ihm sagen. Irgendwann.
»Ja, das wird es sein. Aber ich hab viel gehört von der Pferdefranzi«, sagte Bernhard und lächelte. Na, was er da wohl gehört hatte. Ob es gut wäre, nachzuhaken? Sie ließ es einfach dabei, denn sie hatten Wichtigeres zu tun.
»Was denkst du über diese Sache hier?«, fragte sie, als hätte sie seinen letzten Satz überhört.
Bernhard strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hinterließ dabei eine Blutspur von der Wange bis zur Schläfe. Seinen Boygroup-Haarschnitt musste er wohl noch einmal überdenken.
»Tod durch Genickbruch durch einen Biss, das ist eindeutig zu sehen, aber ich kann gern einen Kadaver mitnehmen in die Ordi und genauer schauen.«
»Ein Fuchs?«
»Die Bissstelle ist zu groß dafür. Ein Adler würde das auch anders machen. Da hätten die Viecher andere Verletzungen. Ich bin mir noch nicht sicher, habe aber einen Verdacht. Vorher schau ich mir das aber wie gesagt noch ein bisschen genauer an, bevor ich für Aufruhr sorge.«
»Der Radau ist aber schon da, zumindest bei der Hermi.«
»Die Hermi zu beruhigen ist ja nicht meine Aufgabe. Ich bin auch nicht gut in so etwas.« Er fuhr sich erneut mit der Hand über das Gesicht und sah mittlerweile aus wie ein Wikinger, der in die Schlacht zog. »Mit Tieren kann ich einfach besser als mit Menschen. Das kann die Heidi besser.«
Das war eine gute Idee. Heidrun hatte so eine angenehme Art und wirkte sehr beruhigend auf Menschen. Eine Eigenschaft, die nicht jede Person hatte, die sich der Medizin verschrieb. Franziska wählte sofort ihre Nummer und schilderte ihr die Lage. Der Hof war nicht weit von Heidruns Praxis entfernt. Hermi würde bald eine Ansprechpartnerin haben, der sie ihr Herz ausschütten konnte.
»So wie ich das sehe, können wir vorerst nichts weiter tun, oder Max?«
»Wird wohl ein hungriges Raubtier gewesen sein, so etwas kommt vor.«
Da war sich Franziska nicht sicher. »Würde ein hungriges Tier sich nicht mit einem Schaf begnügen und es fressen, zumindest einen Teil davon. Und nicht gleich so viele Schafe reißen?«
»Wenn das Vieh tollwütig ist, dann kann das schon passieren, dass es in Rage wahllos beißt«, sagte Bernhard.
Daran hatte Franziska nicht gedacht.
»Ich nehm ein Schaf mit, für den Rest könnt ihr den Veterinärdienst von der TKV anrufen, damit sie einen Lkw schicken.« Er blickte in den Himmel. »Morgen soll es noch einmal warm werden, und da werden die Kadaver ziemlich schnell verwesen.«
Aufgrund der Seuchengefahr waren Tiere aller Art in Österreich entsorgungspflichtig, bei Nutztieren war die Gefahr natürlich sehr hoch, dass die verbliebenen Tiere sich infizierten, deshalb musste man hier so rasch als möglich agieren.
»Die anderen Schafe dürften bald aufwachen. Die sind nicht tot. Vielleicht haben sie was gefressen, das sie nicht fressen sollten. Aber schau mal …«
Er zeigte auf eines der Tiere, das sich gerade aufrichtete und schläfrig über die Weide sah. Die anderen folgten. Beim Aufstehen wankten sie etwas.
»Ich bring das eine Schaf jetzt mal weg und komm dann wieder und untersuche die, die noch leben.«
Als wäre es nur eine Feder, hob Bernhard das Schaf hoch und trug es zu seinem Ford. Dort legte er es sanft auf die Ladefläche als habe er Angst, es zu verletzen. Franziska konnte die Augen von der Szenerie kaum abwenden. Ja, Bernhard war mit jeder Faser ein Tierliebhaber, das konnte sie regelrecht spüren. Die Gänsehaut auf ihren Armen kam jedenfalls nicht vom Herbstwind.
Max und Franziska folgten Bernhard zum Wagen.
Bernhard schien es nicht zu kümmern, dass er seine Kleidung komplett schmutzig machte. Auch sein Gesicht und seine Hände waren blutbefleckt. Er grinste.
»Na dann, bis zum nächsten Mal«, rief er und wollte schon einsteigen, als sie ihn am Saum seines Shirts zurückhielt.
»Warte mal!« Aus der Hosentasche fingerte Franziska ein Erfrischungstuch hervor, das sie eingesteckt trug. Auch so eine Angewohnheit, seit sie Kinder hatte. Da gab es unterwegs verdreckte Händchen zu waschen oder Spielzeug abzuwischen. Und nachdem Jonas noch nicht aus dem Gröbsten raus war, hatte sie diese Sitte beibehalten, sich jeden Tag ein bis zwei Tüchlein einzustecken.
Als sie Bernhard das Blut vom Gesicht wischte, grinste er. »Danke, Mama.«
Franziska lachte und legte ihm das Tuch in die Hand. »Jetzt wisch dir die Händ ab, bevor du dein Lenkrad einsaust.«
»Nicht zu vergessen den Schaltknüppel«, ergänzte Bernhard und zwinkerte ihr zu.
Der hatte es ja faustdick hinter den Ohren. Sie fand es aber angenehm, dass jemand so humorvoll unterwegs war, immerhin war Max relativ grantig.
Nachdem Bernhard mit dem Schaf weggefahren war, rief Max die TVZ an, die zusicherte, so bald als möglich einen Wagen vorbeizuschicken. Franziska fertigte in der Zwischenzeit Fotos von der Weide und den Kadavern an, um den möglichen Tatort zu protokollieren. Die Szenerie wirkte auf sie nicht normal. Sie zoomte auch die Wunden größer und hielt sie auf Bild fest. Schweigend knipste sie, während Max alles notierte. Dann ging Franziska eine Runde am Zaun entlang, um festzustellen, ob es Lücken gab, durch die ein Tier eindringen hätte können. Nach einer Weile stellte sie fest, dass Max von der anderen Seite dasselbe tat. Tief inhalierte Franziska die Luft. Weiter weg von den Kadavern roch es nur noch nach nassem Gras, Erde, Regen und Holz. Sie liebte den Geruch. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sehr sie das vermisst hatte. Diesen Geruch, weiche Erde unter den Schuhen. Sie legte den Kopf in den Nacken und fing mit der Zunge Regentropfen auf, die vom Himmel fielen. Mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen drehte sie sich einmal um ihre eigene Achse.
Als sie die Augen wieder öffnete, stand Max zwei Meter entfernt von ihr. Sie räusperte sich und widmete sich rasch wieder dem Zaun.
»Soweit ich gesehen habe, ist nirgendwo eine undichte Stelle.«
»Ich hab auch nichts gefunden«, antwortete Max. »Aber vielleicht gehen wir lieber tagsüber noch einmal alles ab. Die Sonne ist gleich weg.«
Franziska nickte. Als sie sich umdrehen wollte, stolperte sie und landete unsanft auf dem Boden. »Mist! Was war das denn? Eine Wurzel?«
Max hockte sich neben sie. »Kannst du aufstehen?«
Franziska rieb ihren schmerzenden Knöchel und bewegte den Fuß. Es schien alles heil zu sein. »Sicher.«
»Da hast du dich anscheinend verhakelt«, sagte Max, und Franziska folgte mit den Augen seiner ausgestreckten Hand. An einer Stelle des Zauns stand ein Stück Draht ab, und die Holzplanken waren schief. »Passt da ein Mensch durch?«
»Wenn, dann ein sehr dünner und kleiner Mensch.«
»Ein Kind?«
»Vielleicht.« Max kratzte sich am Kopf. »Auch wenn das hier weit über einen Lausbubenstreich hinausgeht.« Er wies auf die Kadaver, die man nur noch als Schatten erkennen konnte. Mittlerweile war die Sonne am Tiefststand. Franziska rappelte sich hoch und knickte gleich wieder weg. »Autsch!«
»Doch nicht alles gut, oder?«
»Nichts, was mich umhaut oder von meiner Arbeit abhalten wird.« Mit zusammengebissenen Zähnen hielt sie sich am Zaun fest. Das musste gehen. Vor Max würde sie sich keine Blöße geben, auch wenn der Knöchel pochte, was das Zeug hielt. Heidrun würde das schon richten. Sie würde später bei ihr vorbeifahren.
»Oder ein Raubtier? Wir müssen morgen schauen, ob das durchgeschnitten oder durchgekaut wurde. Ich werde den Reiner mitnehmen, der erkennt das gleich.«
»Welchen Reiner?«
»Der Reiner ist vor ein paar Jahren der Liebe wegen aus Tamsweg herzogen, er war dort Förster und hat a Jägerausbildung.«
Franziska musste schmunzeln, statt einer Tatortgruppe holte man hier erst mal die Einheimischen zum Untersuchen. Schöne Landwelt.
»In wen hat er sich denn verliebt?«
»In die Toni vom Silberkrug.« Max lachte. Der Silberkrug war ein Gasthaus in St. Peter, nicht weit von Schöder, und die Toni, Kurzform für Antonia, die Wirtin dort.
»Wo die Liebe hinfällt.«
Max nickte. »Ja, das kann man sich nicht aussuchen.« Stille legte sich über die Weide. Nach einer Weile des Schweigens räusperte Max sich.
»Dann lass uns fahren, und keine Sorge, ich schreib den Bericht, damit du heim kannst.« Er zeigte auf ihr Bein. »Den Fuß hochlagern. Damit du morgen zu deinem ersten offiziellen Dienst wieder fit bist.«
Er überlegte kurz, dann hob er sie hoch und trug sie über die Weide. Franziska hatte zu starke Schmerzen, um zu protestieren, zudem fühlte sie sich wohl in seinen Armen. So vertraut alles: seine sehnigen Arme, sein Geruch, seine Art zu atmen, wenn er sie trug. Sie konnte das nicht in Worte fassen, aber sie ertappte sich dabei, dass sie sich wünschte, die Weide wäre größer und der Weg länger gewesen, als er sie vor dem Haus auf die Bank setzte.
Aus dem Haus kam Heidrun, hinter ihr Hermi, die sichtlich beruhigter aussah. Ihre Freundin hatte diese Wirkung auf Menschen. Als sie Franziska auf der Bank sitzen und ihren Knöchel reiben sah, stürmte sie sogleich auf sie zu.
»Ist was passiert?«
»Ich bin mit dem Fuß hängen geblieben. Ich glaub, es ist nicht so schlimm.«
»Na, das werde ich beurteilen. Ich nehm dich gleich mit. Gell, Max?« Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesicht hatte diesen Ausdruck, bei dem jegliche Widerrede zwecklos war. Sie wartete die Antwort von Max gar nicht erst ab, sondern hakte sich bei Franziska unter, zog sie hoch und ging mit ihr zu ihrem Wagen.