Als Luca verschwand - Petra Hammesfahr - E-Book
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Als Luca verschwand E-Book

Petra Hammesfahr

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Beschreibung

Die junge Mel ist im Drogeriemarkt mit der Auswahl eines Lippenstiftes beschäftigt, als ihr kleiner Sohn Luca verschwindet. Hat ihn die merkwürdige Frau vor dem Schaufenster, die Lucas Bruder einen Lolli schenkte, aus dem Kinderwagen genommen? Warum ließ Mel ihr Baby an einem eisigen Januartag im Wagen draußen vor dem Laden stehen? Oder hatte sie Luca gar nicht dabei? Ein heikler Fall für Kommissar Klinkhammer, denn er kennt die Familie gut und weiß, dass es in Mels Ehe nicht zum Besten steht. Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen Lucas Verschwinden und den Problemen der Eltern? Eine Familientragödie nimmt ihren Lauf. Und mit jeder Stunde, die vergeht, wird es unwahrscheinlicher, dass Luca überlebt.

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Seitenzahl: 673

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Der Roman

Anni Erzig steht vor den Trümmern ihres zuvor glücklichen Lebens, als erst ihr Mann und ein Jahr später ihr kleiner Sohn sterben. Seitdem glaubt sie an überirdische Mächte und verhält sich seltsam. Aber wäre sie in der Lage, einen Säugling zu entführen?

Anni ist die erste Verdächtige, als Klinkhammer und Kollegin Rita Voss den Fall Luca übernehmen. Doch der Kommissar nimmt sich auch die Familie des Kindes vor. Und diese Familie kennt er gut. Gabi, die Großmutter, hat ihren Enkel noch nie gesehen. Könnte sie der verhassten Schwiegertochter einen Denkzettel verpasst haben? Und welche Rolle spielt der Kindsvater Martin in dem Drama? Steckt er mit dem vermeintlichen Entführer unter einer Decke, um sich an dem Lösegeld zu bereichern? Kommissar Klinkhammer weiß, was Menschen einander antun können und dass Kinder immer Opfer sind …

Die Autorin

Petra Hammesfahr wurde mit ihrem Bestseller Der stille Herr Genardy bekannt. Seitdem erobern ihre Spannungsromane die Bestsellerlisten, werden mit Preisen ausgezeichnet und erfolgreich verfilmt, wie aktuell Die Sünderin. Der Roman wurde unter dem Titel The Sinner mit Jessica Biel in der Hauptrolle als erfolgreiche US-amerikanische Fernsehserie produziert und für den »Golden Globe« nominiert.

PETRA

HAMMESFAHR

Als Luca

verschwand

ROMAN

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Copyright © 2018 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München. Redaktion: Cathérine Fischer Covergestaltung: t. mutzenbach design, München Covermotive: © Katya Evdokimova/Arcangel; KristinaSh, andrey_l, lichtmaster, Brigitte Bolduc/Shutterstock Satz: Leingärtner, Nabburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-22234-5V002 V001
www.diana-verlag.de

Mit besonderem Dank an meine Tochter Michaela,

die diesem Roman mit ihren Anregungen

zu einer wichtigen Figur verhalf.

TEIL 1

Die Frau im Poncho

Zeugen

Der Vormittag war hektisch, weil sie nur zu dritt waren. Seit Wochenbeginn fehlte eine Kollegin − krankheitsbedingt, und das nicht zum ersten Mal, doch die Zentrale sah nicht ein, für Ersatz zu sorgen. Für den Nachmittag erwartete Jutta Meuser den gewohnt stressigen Freitagsbetrieb. Jetzt über Mittag war es noch ruhig, aber Zeit zum Verschnaufen blieb trotzdem nicht.

Helene Matthies ging um halb zwei in die Pause. Zu dem Zeitpunkt hielten sich nur drei Kunden im Laden auf. Weiter hinten konnten sich zwei Stammkundinnen, beide weit über siebzig, wieder mal nicht entscheiden, ob sie rote oder weiße Grablichter nehmen sollten. Und am Foto-Sofort-Drucker ließ sich ein scheinbar begriffsstutziger Mann in den Dreißigern, den Jutta bisher noch nie hier gesehen hatte, von Ilonka Koskolviak erklären, wie Bilder von einem USB-Stick auf den Automaten geladen werden konnten.

Entweder versuchte der Typ zu flirten, oder er nahm Ilonka wegen ihres Akzents nicht für voll und machte sich lustig über sie. Jutta tippte auf Letzteres. Kurz zuvor hatte er sich nämlich schon ausführlich von Ilonka beraten lassen, welches Deo am besten zu ihm passte. Den Vorschlag hatte er auch gekauft und brav an der Kasse bezahlt. Dann war er noch mal umgekehrt und hatte Ilonkas Dienste erneut in Anspruch genommen.

Die Frau, die kurz nach halb zwei hereinkam, war keine Stammkundin, in den letzten Wochen hatte Jutta sie jedoch schon öfter abkassiert, bisher immer am Freitagvormittag zwischen elf und zwölf. Eine von denen, die sogar Kleckerbeträge mit Karte zahlten und vermutlich selten übersehen wurden. Platinblond, flotte Kurzhaarfrisur, mindestens eins achtzig groß und so dürr, dass Jutta sich fragte, ob sie sich wohl zwei oder drei Wattebällchen zum Frühstück gönnte. Mit Orangensaft getränkt, den die superdünnen Models angeblich bevorzugten, oder lieber mit Apfelschorle, weil die weniger Kalorien hatte?

Hübsch war sie, das ließ sich nicht leugnen, und perfekt gestylt. Für Anfang Januar vielleicht zu dünn angezogen. Draußen waren es nur knapp über null Grad, aber wenn man mehr Wert aufs Äußere legte als auf die Gesundheit … Knallenge schwarze Jeans, schwarzes Raulederjäckchen, das nur bis zur Taille reichte. Flache Wildlederstiefeletten mit Strassapplikationen. Bei ihrer Größe waren höhere Absätze auch nicht zu empfehlen.

Das Gesicht so perfekt geschminkt, als wolle sie gleich zum Casting für Germany’s Next Topmodel. Doch dafür war sie wohl schon etwas zu alt. Jutta schätzte sie auf Mitte zwanzig, war selbst achtundfünfzig und mindestens sechzig Kilo schwerer. Ihren Platz an der Kasse hatte sie nur ungern verlassen. Aber wo gerade nichts los war, blieb ihr nichts anderes übrig, als in gebückter Haltung die Kästen unter den Regalen mit Schaumfestiger und Haartönung aufzufüllen und dabei weiter die Kundschaft zu beobachten, so gut es eben ging.

Bisher hatte die Blonde jedes Mal einen dreirädrigen Kinderwagen mit einem ausnehmend hübschen Baby dabeigehabt. Eins von den Kindern, bei denen man sich unwillkürlich fragte, welche Gene man haben musste, um so was Süßes auf die Welt zu bringen. Diesmal brachte sie einen etwa dreijährigen Jungen mit, vom Aussehen her der größere Bruder des Babys.

Handy am linken Ohr, den Jungen an der rechten Hand mit sich zerrend, steuerte sie den Stapel Körbe an, gab dabei ihren Standort durch, wie das heutzutage bei jungen Leuten üblich zu sein schien, und wollte wissen: »Wo bist du denn gerade?«

Jutta, die keine zwei Meter entfernt am Boden hockte, wurde keines Blickes gewürdigt. Weiterplappernd − jetzt ging es um einen Hustensaft, der supergut wirkte − nahm sie einen Korb und ließ dafür den Jungen los. Der machte sich augenblicklich in Richtung der Süßigkeiten davon. Einige lagen in Griffhöhe von Kinderhänden, aber ihn hatte Jutta gut im Blick.

»Nichts anfassen, Max«, mahnte die Blonde im Weitergehen, ohne sich nach dem Jungen umzudrehen.

Das hättest du wohl gerne, dachte Jutta und sah im nächsten Moment verblüfft, wie der kleine Mann beide Händchen auf dem Rücken verschränkte. Schien gut erzogen, das Kerlchen, hätte Jutta dem hübsch angemalten Knochen gar nicht zugetraut. Solche waren meist derart mit sich selbst beschäftigt, dass keine Zeit für andere blieb. Und Kindererziehung war kein Job, den man zwischen Kleiderschrank und Schminkspiegel erledigte. Jutta hatte zwei Söhne, mittlerweile waren sie erwachsen, aber früher ganz schön anstrengend gewesen.

Die Blonde bog in den Gang mit Babynahrung ein. Vorübergehend sah Jutta sie nicht mehr. Sie hätte sich aufrichten müssen, um in einem der an strategisch wichtigen Punkten im Laden angebrachten Spiegel verfolgen zu können, was die Dürre tat. Das war ihr zu mühsam und auch nicht nötig. Die Frau kam bereits wieder zurück in den Hauptgang, den Jutta in voller Länge einsehen konnte. Im Korb lagen zwei Gläschen fürs Baby.

Der kleine Junge stand noch schmachtend vor den Süßigkeiten. Er war entschieden wärmer bekleidet als seine Mutter: Stiefelchen, dick gefütterter Anorak, auf dem Kopf eine von diesen Plüschmützen mit Ohren. Damit sah er von hinten aus wie ein Teddy. Offenbar wurde ihm langweilig. Mit unverändert auf dem Rücken verschränkten Händen schaute er sich nach seiner Mutter um. Die hatte vor dem Ellen-Betrix-Regal haltgemacht und studierte die Lippenstiftauswahl. Das Handy hatte sie eingesteckt, den Korb vor dem Regal abgestellt.

Von seinem Standort aus konnte der Kleine seine Mutter nicht sehen. Doch statt sich auf die Suche nach ihr zu machen, lief er zum Eingang und − da die Tür automatisch aufglitt − zwei Schritte ins Freie. Jutta wollte die Frau schon aufmerksam machen, weil sie befürchtete, das Kerlchen könne entwischen. Aber er lugte nur um die Ecke zur Sparkassenfiliale nebenan, kam zurück in den Laden und hatte anschließend seinen Spaß daran, dass die Tür auf- und zuging, wenn er zwei Schritte vor oder zurück machte. Sollte er sich amüsieren, so kam wenigstens etwas frische, kalte Luft herein. Leider verlor er nach zweimal hin und her die Lust an dem Spiel und blieb draußen stehen. Schade.

Seit Wochen war es viel zu warm im Laden, Jutta hatte es der Zentrale schon mehrfach gemeldet, bisher ohne Ergebnis. Die stickige Luft machte sie kurzatmig. Die gebückte Haltung verursachte ihr schmerzende Kniegelenke. Sie sehnte sich nach ihrem Platz an der Kasse. Aber noch machte niemand Anstalten, sich diesem Bereich zu nähern.

Die alten Frauen mit den Grablichtern hatten sich wie üblich für weiße entschieden und palaverten jetzt vor den Haushaltsreinigern. Wie jedes Mal diskutierten sie über diverse Werbespots und griffen irgendwann zu Bewährtem.

Der Mann am Foto-Sofort-Drucker erhielt wohl einen Anruf, jedenfalls zog er ein Handy aus einer Jackentasche, warf einen Blick aufs Display, verabschiedete sich mit Handschlag von Ilonka und verließ den Laden ohne Fotos oder sonst etwas, was ihn gezwungen hätte, noch einmal die Kasse anzusteuern. Im Hinausgehen hörte Jutta ihn sagen: »Alles klar, bin schon fast bei dir.«

Draußen rannte er beinahe den Jungen über den Haufen. Mit einem Griff an die Jacke des Kleinen verhinderte er, dass das Kerlchen stürzte. Anschließend fuchtelte er mit beiden Armen herum und machte: »Buh«, als wolle er den Jungen noch zusätzlich erschrecken.

Zwei Teenies kamen dazu. Der Blödmann steckte sein Handy ein und sagte irgendwas von einer Freundin. Jutta verstand nur das eine Wort. Die beiden Mädchen fanden den kompletten Satz anscheinend wahnsinnig komisch und gackerten los wie alberne Hühner.

Der Mann wandte sich nach links wie die meisten, die motorisiert waren. Zwar gab es Parktaschen an den Straßenrändern, aber eine Lücke zu finden konnte dauern. Und ein paar Meter weiter, neben der Sparkassenfiliale, führte ein Durchgang zum großen, zentral gelegenen Schlossparkplatz. Die Mädchen drehten sich noch mal kichernd nach dem Blödmann um, ehe sie hereinkamen und sich geradewegs zu dem Hungerhaken in den Kosmetikbereich gesellten, wo sie weiter herumalberten. Doch nun passten mit Ilonka zwei Leute auf.

Obwohl alle Waren gegen Diebstahl gesichert waren, hatte man in letzter Zeit nicht Augen genug. Es wurde viel geklaut. Dreimal die Woche mindestens schlug die Warensicherungsanlage an. Einige blieben stehen und redeten sich mit einem Versehen heraus. Anderen hauten ab, und wenn man nicht schnell genug hinterherkonnte …

Die Blonde hantierte inzwischen vor dem Manhattan-Regal mit Lippenstiften, als könne sie sich nicht für eine Farbe entscheiden. Ob sie drei oder vier verschiedene in der Hand hielt, konnte Jutta nicht erkennen und blieb in erhöhter Alarmbereitschaft. Auf ihre Menschenkenntnis bildete sie sich eine Menge ein, hatte schon mehr als einer Person an der Nasenspitze, dem Gesichtsausdruck, der Körperhaltung oder dem Gefummel mit Kleinteilen angesehen, dass man sie im Auge behalten musste.

Der kleine Junge stand immer noch draußen. Als Jutta genauer hinschaute, hatte sie den Eindruck, dass jemand mit ihm sprach. Er hielt das Köpfchen so, als schaue er zu einer größeren Person auf. Zu sehen war aus Juttas Position niemand, und plötzlich hatte sie ein komisches Gefühl.

Im September sollte es in Blerichen eine Beinahe-Entführung gegeben haben. Ein Mädchen war von einer Frau aus einem Auto heraus angesprochen und gebeten worden, einzusteigen und den Weg zu zeigen. Das Mädchen war so schlau gewesen wegzulaufen. Wenn sich nun jemand so ein Kerlchen schnappte … Der Kleine begriff doch gar nicht, wie ihm geschah.

»Hallo!«, rief Jutta nach hinten in den Laden und stemmte sich ächzend in die Höhe. »Der kleine Junge ist rausgelaufen.«

Ihm hinterherzurennen, wenn er aus ihrem Blickfeld verschwinden sollte, dazu fehlte ihr die Kondition. Sie schob den aufgefüllten Kasten mit einem Fuß unter das Regal, sammelte die leeren Kartons auf, brachte sie zu den Sammelbehältern für Papier und Batterien vor der Glasfront und spähte nach draußen.

Die Blonde kam eilig in den Eingangsbereich, was die Tür erneut in Bewegung setzte, und rief ihrerseits: »Max, was machst du da? Komm sofort her!«

Der Junge kam auf der Stelle wieder herein − mit einem Lolly in der Backe. Draußen geriet eine ältere Frau in Juttas Blickfeld, die sich zuvor offenbar mit dem Kerlchen unterhalten hatte.

Jutta kannte die Frau vom Sehen, wusste allerdings nicht, wie sie hieß. Manchmal kam sie rein für ein Stück Seife oder einen Tee. Immer war sie freundlich, beinahe devot. Früher war sie nur ein- oder zweimal pro Woche aufgetaucht. Seit letztem Sommer geisterte sie beinahe täglich in der Stadt herum und konnte an keinem Kleinkind vorbeigehen, ohne es anzuquatschen und ihm einen Lolly zu schenken. Jutta hatte es schon mehr als ein Mal beobachtet.

Im Sommer hatte die Frau wadenlange, sackartige Kleider getragen, manchmal eine Strickjacke drüber. Die Sachen mochten ihr früher mal gepasst haben, nun schlotterten sie um den dürren Körper herum wie ein altes Jackett um eine Vogelscheuche. Seit dem Herbst trug sie statt der Strickjacke einen zeltartigen, verschlissenen schwarzen Poncho mit Kapuze, in dem sie von hinten aussah wie Batman.

Ein auffälliges Kleidungsstück. Die gesamte Rückenpartie war bestickt, die Stickerei auch noch mehrfach mit verschiedenfarbigen Garnen ausgebessert. Ursprünglich mochte es mal ein weißer Adler mit ausgebreiteten Schwingen gewesen sein. Mittlerweile sah der Vogel aus wie ein halb gerupfter Geier auf der Flucht, weshalb Jutta die Frau still für sich Geierwally nannte.

Die Schultern hielt sie nach vorne gezogen, den Kopf gebeugt, als fürchte sie, die Kapuze könne runterrutschen. Wie immer hatte sie eine altmodische Einkaufstasche dabei, obwohl man das in den meisten Läden nicht gerne sah. Aber bei dieser Frau wäre Jutta nie auf die Idee gekommen, eine Taschenkontrolle vornehmen zu wollen. Geierwally roch förmlich nach Ehrlichkeit.

Irgendwer hatte sie mal als bedauernswertes Geschöpf bezeichnet und behauptet, sie habe wahnsinnig viel Pech gehabt im Leben, sei nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber völlig harmlos, und mit Kindern könne sie wirklich gut. Jutta erinnerte sich nicht, wer das gesagt hatte, vermutlich jemand, der Geierwally näher kannte. Nachgefragt hatte sie nicht. Pech hatte sie selbst schon genug gehabt, da musste sie sich nicht auch noch mit dem Elend anderer Leute beschäftigen.

Geierwally schaute dem kleinen Max hinterher. Als sie Jutta bemerkte, lächelte sie scheu. Jutta lächelte freundlich zurück. Ein paar Sekunden lang standen sie sich Auge in Auge gegenüber, nur durch die Glasscheibe getrennt. Dann ging Jutta zu ihrer Kasse hinüber, sah aber noch, dass die Frau im Poncho sich nach links zum Durchgang wandte wie der Typ, der sich über Ilonka lustig gemacht und den kleinen Max beinahe umgerannt hatte.

Max wurde währenddessen von seiner Mutter bei einem Arm gepackt und geschüttelt. Sie hatte ihm den Lolly aus dem Mund gezogen und fuchtelte damit vor seinem Gesicht herum. »Was hatte ich dir gesagt?«, legte sie los. »Nichts anfassen! Wo hast du das her?« Ihre Augen huschten hinüber zu den Süßigkeiten, wohl um festzustellen, ob er den Lolly dort weggenommen hatte.

»Von ein liebe Oma«, antwortete der Kleine eingeschüchtert.

Daraufhin wurde die Blonde regelrecht hysterisch: »Welche Oma denn? Oma Esther ist verreist. Und Oma Gabi ist eine Hexe. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass wir sie nicht mehr mögen und nichts mit ihr zu tun haben …«

Familie, dachte Jutta und ließ sich schnaufend auf dem Stuhl in der Kassenbox nieder, kann schlimmer sein als die Pest. »Das war keine von seinen Großmüttern«, unterbrach sie die Tirade. »Das war eine ältere Frau, die wir hier öfter sehen. Sie ist ein bisschen wirr im Kopf, aber vollkommen harmlos. Die tut keiner Menschenseele was, schenkt kleinen Kindern nur Traubenzuckerlollys.«

»Er soll von Fremden nichts annehmen«, rechtfertigte die Blonde ihr Gezeter, gab Max den Lolly zurück, schob ihn vor die Bilderbücher, trug ihm auf, lieb zu sein, und versprach: »Gleich kaufe ich dir ein Buch. Süßes hast du jetzt genug.«

Damit ging sie wieder zur Kosmetik, blieb diesmal aber schon beim ersten Regal mit Nagellacken und Entferner stehen. Nun alberten nämlich die beiden Teenies mit den Lippenstiften herum, malten sich gegenseitig die Münder an, wischten die Schmiere wieder ab und probierten eine andere Farbe. Jutta schüttelte es beim Zusehen, Blondie vermutlich auch. So was testete man doch auf dem Handrücken. Wer wusste denn, wer sich damit vorher schon alles angemalt hatte?

Max schaute sich eine knappe Minute lang die Bilderbücher an, ohne eins anzufassen. Dann zog es ihn erneut zum Eingang. Tür auf. Tür zu. Tür auf, zwei Schrittchen ins Freie, Blick zur Sparkasse. Wahrscheinlich hielt er Ausschau nach der lieben Oma mit den Lollys. Jutta konnte ihn nicht im Auge behalten, die beiden Alten mit den Grablichtern schoben ihren Wagen neben das Laufband, begannen mit vereinten Kräften auszuräumen und zu sortieren, wer was bezahlen musste.

Während Jutta die erste Portion am Scanner vorbeiführte, erregte draußen etwas die Aufmerksamkeit des Jungen. »Mama, guck!«, rief er und kam hereingewetzt, als hätte ihn etwas oder jemand erschreckt.

»Zum Donnerwetter, Max!« Die Blonde kam wieder nach vorne gehetzt. »Du sollst doch nicht …« Sie erreichte den Kleinen, packte ihn mit einem Arm um die Taille, hob ihn hoch und nahm ihn mit nach hinten, wo sie sich am Essence-Regal noch minutenlang mit Lippenstiften beschäftigte, ohne einen in den Korb zu legen.

Jutta blieb an der Kasse sitzen. Die Teenies waren zu den Düften weitergezogen, außer Sichtweite von Ilonka. Geheuer waren ihr die beiden auch nicht.

Ein paar Minuten später kam ein älteres Ehepaar herein, ebenfalls Stammkunden wie die Frauen mit den Grablichtern. Kunze hieß das Paar, kam gerne mittags, weil dann oft Zeit für ein Schwätzchen war.

Als die Blonde sich schließlich mit den beiden Gläschen und einem Pixi-Buch zur Kasse bequemte, war Jutta überzeugt, dass sie einen Lippenstift eingesteckt hatte. Eine Tasche hatte sie nicht dabei, ließ sich eine Tüte geben. Aber am Jäckchen und der Jeans gab es Taschen, darin hatte sie auch ihr Handy verstaut. Ein Schlüsselband war am Gürtel der Jeans befestigt.

Jutta kassierte ab und schaute ihr nach, weil sie erwartete, dass der Alarm ausgelöst wurde, als die Frau sich mit der Tüte in der einen und Max an der anderen Hand der Warensicherungsanlage näherte. Die Tür glitt auf, sie passierte die Anlage, nichts geschah. Die Frau wandte sich nach links und schrie im nächsten Moment: »Luca! Hilfe! Luca!«

Mit Max im Schlepptau kam sie zurück in den Laden gehetzt und fauchte Jutta an: »Jemand hat mein Baby genommen! Glotzen Sie nicht so, rufen Sie sofort die Polizei. Mein Baby ist weg!«

Noch Stunden später wusste Jutta Meuser genau, welcher Gedanke ihr in dem Augenblick durch den Kopf gezuckt war. Blöde Kuh, hast doch selber ein Handy.

Polizisten

Der erste Streifenwagen kam aus Bergheim und traf zehn Minuten später ein. Die Besatzung bestand aus Polizeimeister Nemritz und einem Polizeianwärter. Ein gemischtes Doppel wäre vielleicht sinnvoller und hilfreicher gewesen, aber auf dem Land konnte man es sich nicht aussuchen.

Mit der platinblonden jungen Frau, die Jutta Meuser verdächtigt hatte, einen Lippenstift stehlen zu wollen, war nicht zu reden. Sie war völlig aufgelöst, gab zwar ein paar Auskünfte – Name, Adresse, Alter und Geschlecht des verschwundenen Kindes  –, ansonsten schüttelte sie den Kopf, weinte sich die Augen rot und erging sich in Selbstvorwürfen. Den kleinen Max zu befragen erwies sich als ebenso sinnloses Unterfangen. Der Junge fühlte sich sichtlich unwohl. Mit Blick auf seine Mutter stellte er wiederholt fest: »Mama weint.« Gezielte Fragen zum Verbleib seines Bruders beantwortete er mit: »Buder weg.«

So kamen die ersten Informationen von Jutta Meuser und dem Ehepaar Kunze, das vor dem Betreten des Ladens einen leeren Kinderwagen in der Fahrradständernische der Sparkassenfiliale unmittelbar neben dem Eingang zum Drogeriemarkt gesehen hatte. Kunzes hatten ausreichend Zeit, um zu warten und zu plaudern. Wenn nicht mit Jutta Meuser, dann eben mit der Polizei. Das war sogar spannender.

Die beiden Teenies hatten sich vor dem Eintreffen des Streifenwagens mit Verweis auf eine Nachhilfestunde aus dem Staub gemacht. Jutta Meuser hatte vorsorglich ihre Namen und Anschriften notiert. Ihre diesbezüglichen Fragen waren prompt beantwortet worden – ob richtig oder falsch, musste die Polizei erst noch herausfinden.

Natürlich hatte Jutta die Mädchen auch nach dem Baby gefragt. Schließlich waren beide gekommen, ehe die Frau im Poncho − nahe dem Eingang und damit sehr nahe am Kinderwagen − dem kleinen Max den Lutscher geschenkt hatte. Somit hätten die Mädchen das Baby im Wagen sehen müssen. Wenn es dringesessen hätte, was Jutta nicht glaubte. Sonst war die Blonde jedes Mal mit dem Kinderwagen reingekommen. Warum heute nicht?

Juttas Frage nach dem Baby hatten die Teenies mit dem vermutlich altersbedingt bescheuerten Hinweis abgeschmettert: »Weitere Auskünfte nur in Gegenwart unserer Anwälte.« Dann waren sie zur Tür hinausgewirbelt. Jutta hatte ihnen nur noch einen Fluch hinterherschicken können.

Nach einem seiner Meinung nach aufschlussreichen Gespräch mit der Kassiererin, bei dem Jutta Meuser sich den Kopf zerbrach und partout nicht darauf kam, von wem sie gehört hatte, die Frau mit den Lollys sei harmlos und könne gut mit Kindern, informierte Polizeimeister Nemritz die Leitstelle. Aus Bergheim wurden umgehend weitere Streifenwagen nach Bedburg geschickt und der Kriminaldauerdienst in Hürth verständigt.

Gerd Krieger, der die Meldung dort entgegennahm, wollte seinerseits sofort den Leiter des KK11 in Kenntnis setzen. Aber Arno Klinkhammer war nicht erreichbar. In seinem Büro hielt Klinkhammer sich überhaupt nur selten auf, was im Zeitalter der Diensthandys bisher noch nie ein Problem dargestellt hatte, obwohl Klinkhammers Diensthandy ungenutzt in seinem Schreibtisch lag, weil er auch im Dienst sein privates Smartphone nutzte. Das war technisch auf dem neusten Stand. Nur war das Smartphone jetzt ausgeschaltet, weil er nicht gestört werden wollte.

Klinkhammer war am Vormittag zu einer Einsatzbesprechung nach Frechen aufgebrochen, an der verschiedene Dienststellen teilnahmen, darunter Autobahnpolizei, Einbruchsdezernat und Kollegen aus den Niederlanden. Für das bevorstehende Wochenende war eine grenzübergreifende Aktion gegen Einbrecherbanden geplant, die seit geraumer Zeit aus den Niederlanden einfielen wie Heuschreckenschwärme. Klinkhammers Anwesenheit dabei wäre nicht unbedingt notwendig gewesen. Aber er galt bei vielen Kollegen als Koryphäe, vor allem, wenn es um Serien ging.

An seinem Schreibtisch hatte Rita Voss sich niedergelassen, um ungestört einen KTU-Bericht zu studieren. Die Kriminaloberkommissarin war Anfang vierzig und Mutter einer Tochter, mit der sie sich nach ihrer Scheidung wieder im Elternhaus einquartiert hatte. Wegen ihrer zierlichen Statur − sie war nur eins zweiundsechzig groß und wog knapp sechzig Kilo − wurde Rita Voss meist unterschätzt, bis man sie näher kennenlernte. Viele ihrer männlichen Kollegen hielten sie für eine Kratzbürste und behandelten sie entsprechend. Und ihr war noch nie der Gedanke gekommen, dass sich die stetigen Differenzen in der Tatsache begründen könnten, dass sie in jedem Mann beruflich einen Rivalen witterte und im privaten Bereich einen Feind, der nichts weiter im Sinn hatte, als sie unterzubuttern.

Klinkhammer war für sie die große Ausnahme. Als ihr unmittelbarer Vorgesetzter war er über den Verdacht erhaben, ihr bei der nächsten Beförderung vorgezogen zu werden. Als Mann fand sie ihn langweilig. Seit einer Ewigkeit glücklich verheiratet, hatte er vermutlich noch gar nicht bemerkt, dass sie eine Frau war.

Als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte, nahm Rita Voss ab, meldete sich auch mit Namen, was Gerd Krieger aber entging, weil sie »Apparat Klinkhammer« hinterherschickte.

»Warum ist dein Handy aus, Arno?«, begann Krieger.

Er ging mit Riesenschritten auf die sechzig zu und hatte oft Anlaufschwierigkeiten. Manchmal musste man ihn anschieben wie ein altes Auto, vor allem, wenn es um eine Sache außerhalb der täglichen Routine ging. Dann entstand leicht der Eindruck, Krieger wolle sich damit nicht mehr auseinandersetzen, weil er im Laufe seiner vierzig Dienstjahre der zunehmenden Brutalität und Unmenschlichkeit müde geworden war.

Eine Antwort wartete er nicht ab, sprach gleich weiter in der ihm eigenen behäbigen Art: »Wir haben angeblich eine Kindesentführung in einem Drogeriemarkt in Bedburg. Die Kollegen aus Bergheim sind bereits mit mehreren Wagen vor Ort. In den umliegenden Läden hat offenbar keiner was mitbekommen. Aber da gibt es auch viele Wohnungen, die Befragungen dauern noch …«

Weiter ließ Rita Voss ihn nicht kommen. »Was heißt angeblich?«, bellte sie ins Telefon und wählte auf ihrem Handy bereits Klinkhammers Handynummer, obwohl Krieger gerade gesagt hatte, das sei aus.

»Das Kind ist nicht da, wo es nach den Angaben der Mutter sein sollte. Da hat es auch keiner gesehen.« Krieger bemühte sich nun um einen energischen Ton. »Ein neun Monate alter Junge soll aus dem Kinderwagen vor dem Drogeriemarkt an der Lindenstraße verschwunden sein.«

»Vor?«, fragte Rita Voss ungläubig. »Der Wagen stand mit dem Kind draußen? Gerade hast du gesagt, in einem Drogeriemarkt.«

»Nein«, korrigierte Krieger sich. »Da konnte jeder ran, der vorbeiging.«

Den Telefonhörer am linken Ohr, das Handy rechts, hatte Rita Voss plötzlich Mühe zu schlucken. Im Geist sah sie eine Fünfjährige wie eine weggeworfene Puppe auf einem Feldweg neben einem Wassergraben liegen. Der erste Fall, bei dem sie mit Klinkhammer zusammengearbeitet und festgestellt hatte, dass sie keineswegs Nerven wie Drahtseile besaß. Tote Kinder gingen an die Substanz und nisteten sich ein. Auch wenn man genau wusste, dass man einen freien Kopf brauchte, um weiter seine Arbeit tun zu können.

Nachdem fünfmal das Freizeichen ertönt war, schaltete sich Klinkhammers Mailbox ein. Scheißeinbrecher, dachte Rita Voss. Eine Nachricht hinterließ sie nicht, das hätte Krieger mitbekommen. Sie brach ihren Versuch, Klinkhammer zu informieren, einfach ab und konzentrierte sich wieder auf die Trantüte.

»Wobei eben nicht feststeht, dass tatsächlich ein Baby in dem Wagen saß«, betonte Krieger noch einmal. »Es gibt einige Zeugen, die alle nur den leeren Wagen gesehen haben. Und sonst hat die Mutter laut der Kassiererin den Kleinen immer mit reingebracht. Die Kollegen haben den Wagen sichergestellt. Es liegen zwei Traubenzuckerlollys drin und ein Schnuller. Die Fahndung läuft.«

»Fahndung? Nach einem neun Monate alten Baby, das ohne Kinderwagen unterwegs ist?« Auch wenn sie etwas wie ein Rauschen im Kopf spürte, Rita Voss blieb ihrem Image treu. Gegenüber Kollegen immer lässig bis schnoddrig, in gewissen Situationen überheblich. Und äußerlich vollkommen ruhig, obwohl sie jetzt das Gefühl hatte, dass ihre Nackenhaare in die Waagerechte gegangen waren.

Nach den Angaben der Mutter! Damit hatte Krieger doch schon ausgesprochen, was er dachte. Die Zeugen dachten vermutlich dasselbe. Rita Voss bemühte sich, nicht voreingenommen an die Sache heranzugehen. Bei der Fünfjährigen hatten zuerst auch alle die Mutter im Visier gehabt. Da war sie als Frau praktisch gegen ihren Willen in die Rolle der Opferschutzbeamtin gedrängt worden. Inzwischen hatte sie sogar eine entsprechende Ausbildung absolvieren müssen, verstand aber mehr von diffizilen Befragungen, weshalb Klinkhammer in ihr eher seine Verhörspezialistin sah.

Aber welche Mutter ließ ein neun Monate altes Baby allein draußen im Wagen, noch dazu bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt? Und welches Baby in dem Alter ließ das mit sich machen, ohne ein Protestgeheul anzustimmen? Es sei denn, es hätte fest geschlafen.

Rita Voss hatte unweigerlich ihre Tochter als Säugling vor Augen. Warm eingepackt in der Aufsatzschale des Maxi-Cosi, die gleichzeitig Kindersitz fürs Auto und Tragetasche gewesen war. Wenn sie Einkäufe in kleinen Läden gemacht hatte, durch die man keinen Kinderwagen schieben konnte, ohne etwas umzustoßen oder herunterzureißen, hatte sie ihre Tochter in der Schale oder auf dem Arm mit hineingenommen.

Niemals hätte sie ihr Kind unbeaufsichtigt vor einem Laden stehen lassen. Ihr Ex hatte mal gesagt: »Wenn es um die Kleine geht, bist du paranoid.« Dabei war sie sich nur berufsbedingt der diversen Gefahren bewusst. Es hätte doch bloß irgendein Idiot vorbeikommen, die Feststellbremse lösen und den Wagen auf die Straße rollen lassen müssen.

»Die Kassiererin hat beobachtet …«, riss Krieger sie aus ihren Gedanken und half ihr mit seinen folgenden Worten, wieder durchatmen und schlucken zu können. Es sollte sich eine ältere Frau beim Drogeriemarkt herumgetrieben haben. Etwas wirr im Kopf, aber völlig harmlos, gab Krieger wieder, was er von den Bergheimer Kollegen gehört hatte. Die Frau schenkte kleinen Kindern Traubenzuckerlollys und hatte sich auch an den dreijährigen Bruder des Babys herangemacht. Nicht auszuschließen, dass diese Frau das Baby aus dem Wagen genommen hatte, ehe die Zeugen auf der Bildfläche erschienen waren. Vielleicht hatte sie den Kleinen nur ins Warme bringen wollen, weil er allein in der Kälte stand. Von der Lolly-Frau hatte man eine gute Beschreibung, leider noch keinen Namen und keine Adresse.

Rita Voss fragte sich, wieso von Zeugen die Rede war, wenn die gar nichts bezeugen konnten, weil sie zu spät gekommen waren. Dann erteilte sie die Anweisung, den Erkennungsdienst nach Bedburg zu schicken, damit der Kinderwagen sichergestellt wurde.

»Meinst du nicht, es reicht fürs Erste, die Lollys und den Schnuller einzutüten?«, wandte Krieger ein.

»Nein«, erwiderte sie. »Der Wagen steht noch da, folglich wurde das Kind herausgenommen.«

»Wenn es drinsaß«, gab Krieger zu bedenken.

»Davon gehe ich erst mal aus«, erklärte Rita Voss. »Wenn sich Hinweise ergeben, dass die Mutter etwas mit dem Verschwinden des Babys zu tun hat, lege ich eine andere Platte auf. Aber bis dahin ziehen wir unser Programm durch. Wenn die Lolly-Frau sich an dem Wagen zu schaffen gemacht hat, dürfte mehr zurückgeblieben sein als zwei Lollys und ein Schnuller. Ich bin sicher, dass der Chef das genauso sieht.«

Es war nicht das erste Mal, dass sie Klinkhammer als Chef bezeichnete. Aber sie hatte sich bisher noch nie so inbrünstig gewünscht, er wäre jetzt hier oder ginge wenigstens an sein Handy und mache sich anschließend sofort auf den Weg nach Bedburg, um die Ermittlungen zu übernehmen. Dass man sie dabeihaben wollte, war klar. Man würde ihr die Mutter aufs Auge drücken. Dann konnte man anschließend behaupten, man habe zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, die Fachfrau für Verhöre vorgeschickt und dabei den Opferschutz berücksichtigt.

»Soll ich beim Arbeiter-Samariter-Bund auch gleich einen Hund anfordern?«, wollte Krieger wissen.

»Das soll der Chef entscheiden«, sagte Rita Voss knapp.

»So viel Zeit haben wir aber nicht«, erklärte Krieger. »Wenn der Erkennungsdienst den Kinderwagen abholt und Arno später einen Mantrailer anfordern lässt, welche Spur soll der Hund dann aufnehmen? Wenn der Wagen vor Ort bleibt, sind die Chancen größer, das Baby in ein, zwei Stunden zu finden.«

Die Trantüte hatte verflucht noch mal recht und verhinderte mit seinem Einwand, dass sie eine falsche Entscheidung durchsetzte. Ein kleines Dankeschön wäre wohl angebracht gewesen. Rita Voss sagte nur: »Okay, den Wagen können wir später noch holen lassen, wenn sich das als notwendig erweisen sollte.«

Dass Gerd Krieger murmelte: »Braves Mädchen«, hörte sie nicht mehr, weil er bereits aufgelegt hatte.

Mit dem Wochenende vor der Tür und unzähligen Überstunden im Rücken hatten einige Kollegen schon mittags Feierabend gemacht. Anwesend waren noch Thomas Scholl und Jochen Becker. Beide erledigten Schreibkram, der die Woche über liegen geblieben war. Jochen Becker war im selben Alter wie Klinkhammer und dessen offizieller Stellvertreter, ein Mann mit Erfahrung, den so leicht nichts aus der Ruhe brachte. Er blieb meist in Hürth, um Ermittlungen zu koordinieren, weil es Klinkhammer nicht am Schreibtisch hielt, wenn es draußen etwas zu tun gab, was nicht zur täglichen Routine gehörte. Scholl war Anfang vierzig und wünschte sich manchmal, er hätte sich eine Scheibe von Beckers Gelassenheit abschneiden können.

Kurz darauf war Rita Voss mit Thomas Scholl in einem Streifenwagen auf dem Weg nach Bedburg. In der Hoffnung, dass Klinkhammer ihnen bald folgte, sprach sie ihm doch noch auf die Mailbox, was sie von Krieger gehört hatte. Scholl fuhr mit Sondersignal, sodass sie trotz des dichten Freitagnachmittagsverkehrs auf der Autobahn relativ zügig durchkamen und gegen vierzehn Uhr dreißig, eine Dreiviertelstunde nach dem Notruf, eintrafen.

Der Betrieb im Drogeriemarkt ging wie gewohnt weiter. Da das Baby nicht mit hereingebracht worden war, hatte keine Veranlassung bestanden, den Laden zu schließen. Viel Kundschaft hielt sich nicht zwischen den Regalen auf. Die meisten verteilten sich im Eingangsbereich und hielten Maulaffen feil.

Draußen sorgten zwei Streifenwagen dafür, dass Passanten auf der gegenüberliegenden Straßenseite spekulierten, ob im Drogeriemarkt oder in der Sparkasse etwas passiert war. Banküberfall, meinte einer, für Ladendiebstahl gebe es nicht so ein Tamtam. Die anderen Streifenwagen aus Bergheim waren unterwegs. Zwei fuhren durch die Stadt, um die Bevölkerung per Lautsprecher um Mithilfe zu bitten, den Sachverhalt zu erläutern und eine Telefonnummer für sachdienliche Hinweise durchzugeben. Die Frau im Poncho wurde detailliert beschrieben, als wichtige Zeugin bezeichnet und dringend gebeten, sich bei der Polizei zu melden.

Ein weiterer Wagen war zu den Adressen der Teenies und den Stammkundinnen mit den Grablichtern gefahren. Zwar hatte Jutta Meuser bloß die Namen der beiden alten Frauen angeben können, ihre Anschriften kannte sie nicht, was aber nur einen Zugriff aufs Melderegister erfordert hatte.

Als der Streifenwagen aus Hürth mit Sondersignal heranraste und kurzerhand zwischen zwei Pollern durch auf den Gehweg vor der Sparkassenfiliale fuhr, blieben auf der gegenüberliegenden Straßenseite weitere Leute stehen, die von den Lautsprecherdurchsagen noch nichts mitbekommen hatten.

Im Aussteigen bemerkte Rita Voss, dass einige ihre Handys zückten, um zu fotografieren oder zu filmen. Und gleich würden die Bilder dann bei Facebook, WhatsApp, Instagram oder sonst wo ins Netz gestellt und verbreitet. Wie sie das ankotzte.

Die Kollegen aus Bergheim waren schon sehr rührig gewesen, der Polizeianwärter und einige andere immer noch auf der Suche nach Zeugen in den umliegenden Gebäuden unterwegs. Vordringlich ging es darum, jemanden zu finden, der gesehen hatte, ob der Kinderwagen mit oder ohne Baby in der Nische abgestellt worden war.

Scholl ließ sich von Polizeimeister Nemritz auf den neusten Stand bringen, der vorerst noch der alte war. Rita Voss hörte nur kurz zu und verlangte dann: »Schicken Sie einen Ihrer Leute rüber und lassen von allen, die da mit ihren Handys zugange sind, Namen und Adressen aufschreiben.«

»Aber die Leute behindern doch keinen Rettungseinsatz«, wandte Nemritz ein.

»Vielleicht hat aber einer etwas von Bedeutung gesehen und verbreitet das lieber auf YouTube, statt es uns mitzuteilen«, hielt Rita Voss dagegen, drehte sich um und inspizierte erst mal den Kinderwagen sowie dessen Standplatz, den die Kollegen mit Absperrband gesichert hatten.

Die Nische unmittelbar neben dem Eingang zum Drogeriemarkt war ein windgeschütztes Fleckchen − das einzige weit und breit. Sichtgeschützt war es allerdings auch. Man musste schon davorstehen oder daran vorbeigehen, um zu sehen, dass der Kinderwagen leer war. Rita Voss fragte sich zum wiederholten Male, warum der Junge heute draußen gestanden hatte, wenn er bei vorherigen Einkäufen mit in den Laden genommen worden war und warum er sitzen geblieben war, ohne durch Geschrei auf sich aufmerksam zu machen, falls er wach gewesen war.

Sie näherte sich dem Durchgang zum Parkplatz − der kürzeste Weg für jeden, der schnell von der Bildfläche verschwinden wollte. Im Durchgang befand sich ein Privateingang mit vier Klingelschildern. Falls die Bewohner zu Hause waren, hatten die Kollegen sie garantiert längst befragt und festgestellt, dass hier keine harmlose ältere Frau wohnte, die einen Poncho mit zerrupftem Adler trug, Lollys an Kleinkinder verschenkte und heute vielleicht ein Baby ins Warme gebracht hatte.

Rita Voss ging weiter bis zum Schlossparkplatz, ließ den Blick über das weitläufige Gelände, die abgestellten Fahrzeuge und die Menschen wandern, die zwischen den Autos zu sehen waren. Das Polizeiaufgebot an der Lindenstraße schien hier niemanden zu kümmern. Es interessierte sich nicht mal einer für die Leute, die unmittelbar daneben Sachen ins Auto luden. Perfekt, um mit einem Baby zu verschwinden. Hier hätte sich keiner umgedreht.

Sie kehrte um und widmete sich noch mal dem Kinderwagen. Es handelte sich um einen dreirädrigen Babyjogger. Im gefütterten Fußsack lagen die beiden noch eingeschweißten Traubenzuckerlollys und der Schnuller. Ein Baby aus so einem Sack zu ziehen, noch dazu ein winterlich eingepacktes und vermutlich auch angeschnalltes Baby − das wusste Rita Voss aus eigener Erfahrung −, dauerte länger als …

»Warum hat die Lolly-Frau nicht den Wagen mitgenommen?« Sie zeigte zum Durchgang. »Damit wäre sie blitzschnell um die Ecke gewesen und hätte das Kind im Durchgang oder auf dem Parkplatz aus dem Fußsack ziehen können. War sie mit dem Auto hier?«

Polizeimeister Nemritz schüttelte den Kopf. »Laut der Kassiererin ist die Frau immer zu Fuß in der Stadt unterwegs.«

»Sie könnte das Auto parken und dann herumlaufen«, meinte Rita Voss.

Nemritz zuckte mit den Achseln, eine Zustimmung war das kaum. Es sah eher danach aus, als ginge ihm die Oberkommissarin bereits nach zwei Sätzen auf die Nerven.

»Vielleicht wohnt sie in der Nähe«, meinte Thomas Scholl. »Und wenn man sie vom Sehen kennt, weil sie viel in der Stadt herumläuft, wäre sie mit dem Kinderwagen eher aufgefallen. Mit dem Kind auf dem Arm war sie flexibler.«

Das sah Rita Voss genauso. »Und warum hat die Mutter den Wagen heute nicht mit reingenommen?«

»Frag sie«, empfahl Scholl, wie Rita Voss sich das gedacht hatte. Als wolle er sie mit ihrem Schicksal versöhnen, fügte er noch an: »Du kriegst bestimmt mehr aus ihr raus als die Kollegen. Denen hat sie nur ihre Personalien verraten und etwas vorgeheult. Sie heißt Melisande Martell und wohnt in Niederembt.«

Melisande. Den Namen hatte Rita Voss noch nie gehört. Dabei war sie in puncto Namensgebung durch ihre Tochter an einiges gewöhnt. Was manche Leute sich einfallen ließen, um ihre Kinder zum Gespött von Gleichaltrigen zu machen, als hätten sie noch nie etwas von Mobbing gehört …

»Wo finde ich Melisande Martell denn?«, fragte sie.

Sie hatte die aufgelöste Mutter in einem der Streifenwagen vermutet. Doch da saß keiner drin. Polizeimeister Nemritz deutete auf die Eingangstür des Drogeriemarkts.

Die Polizistin

Helene Matthies, die Angestellte, die zur fraglichen Zeit in der Pause gewesen war, hatte sich erbarmt. Jutta Meusers Protest zum Trotz hatte sie Melisande Martell und den kleinen Max in den Aufenthaltsraum gebracht. Man hätte die beiden ja nicht bis zum Eintreffen der Polizei draußen stehen lassen können. Der jungen Frau hatte sie ein Glas Wasser und zwei Baldrianpillen gegeben, dem Jungen erst mal die Plüschmütze und den dicken Anorak ausgezogen und ihn dann mit einem kleinen Spender Tic Tac, Geschmacksrichtung Orange, abgelenkt und beruhigt.

Max saß auf dem Boden, fummelte ein Tic Tac aus dem Spender, steckte es in den Mund, drückte das Deckelchen zu, lutschte ein Weilchen, zerbiss den Rest, äugte verstohlen zu seiner Mutter, öffnete den Spender wieder, rüttelte und pulte das nächste Bonbon heraus, steckte es in den Mund, drückte das Deckelchen nach unten, lutschte und so weiter. Als erwarte er, dass ihm beim nächsten Öffnen befohlen wurde, sofort damit aufzuhören.

Die beiden Frauen saßen an einem mit Wachstuch überzogenen Tisch. Ein ungleiches Paar. Die Arbeiterklasse mit Namensschild am T-Shirt schien die auf das Wachstuch gedruckten Äpfel zu zählen. Die junge Mutter in Designerklamotten − so was erkannte Rita Voss auf den ersten Blick − knibbelte mit gesenktem Kopf an ihren Gelnägeln.

Als Rita Voss die Tür hinter sich schloss, schaute Max kurz auf und widmete sich sofort wieder seinem Tic-Tac-Spender. Über Helene Matthies’ vor Aufregung rot getupftes Gesicht huschte ein Schimmer der Erleichterung. Melisande Martell blickte ebenfalls hoch. Die vom Weinen geschwollenen Lider flatterten, die Lippen zitterten, die rot geäderten Augen richteten sich auf die Oberkommissarin, als habe die junge Frau ein Erschießungskommando erwartet.

Nachdem Rita Voss sich vorgestellt hatte, stammelte Melisande Martell: »Haben Sie die verrückte Frau gefunden? Haben Sie Luca? Haben Sie mein Baby?«

»Noch nicht«, antwortete Rita Voss und hütete sich, irgendein Versprechen abzugeben.

»Darf ich bitte meinen Mann anrufen? Bitte. Ich konnte ihn eben nicht erreichen.«

»Natürlich«, sagte Rita Voss.

Helene Matthies erhob sich und erklärte: »Sie hat die ganze Zeit mit dem Ding rumgemacht. Da habe ich gesagt, sie soll die Polizisten fragen, ob sie telefonieren darf. Mit denen da draußen wollte sie aber nicht reden.«

»Warum nicht?«, fragte Rita Voss.

Melisande Martell zerrte ihr Handy aus dem Jäckchen und blieb die Antwort schuldig. Vielleicht hatte sie nicht registriert, dass die Frage an sie gerichtet war. Helene Matthies bezog es offenbar auf ihre Auskunft und zuckte verlegen mit den Achseln. »Ich wusste ja nicht, ob das in Ordnung ist.«

»Warum sollte es nicht in Ordnung sein?«, hielt Rita Voss sich an die Verkäuferin. »Ist es in so einer Situation nicht vollkommen normal, wenn eine Mutter ihren Mann informieren will?«

Die dralle Frau hob noch einmal die Schultern, ließ sie wieder sinken. »Sie hätte ihm doch eine SMS schicken können. Das wollte sie nicht, und man weiß ja nie …«

Rita Voss glaubte zu wissen. Vorverurteilung nannte sich das. Wahrscheinlich hatte das biedere Geschöpf befürchtet, eine Kindsmörderin wolle ihren Komplizen auf dem Laufenden halten oder eine neue Absprache mit ihm treffen. Einen auf Anhieb bedauernswerten Eindruck machte Melisande Martell trotz ihres vom Weinen verquollenen Gesichts in der Tat nicht. In der spartanischen Umgebung wirkte sie zu mondän und irgendwie künstlich, sogar noch, als sie hysterisch in ihr Handy stammelte: »Warum bist du eben nicht rangegangen? Ich habe es mindestens zwanzigmal probiert. Eine alte Frau hat Luca entführt … Ich wollte nur schnell …«

»Schnell ist anders«, murmelte Helene Matthies gerade laut genug, um von Rita Voss verstanden zu werden. »Meine Kollegin sagte, die hat eine Ewigkeit mit Lippenstiften rumgefummelt. Jutta dachte schon, sie hätte einen eingesteckt.«

Am Tisch brach Melisande Martell ihr Stammeln ab, lauschte und beruhigte sich dabei ein wenig. Dann sagte sie: »Entschuldige, ich dachte …« Offenbar wurde sie unterbrochen; als sie weitersprach, klang sie merklich kleinlauter: »Ja, gut. Ich reiße mich zusammen. Versprochen.«

Ein bisschen viel verlangt in der Situation, fand Rita Voss. »Wie hat Ihr Mann es aufgenommen?«, fragte sie, als Melisande Martell das Gespräch beendete.

Die junge Frau steckte ihr Handy wieder ein, wischte mit einem Handrücken über das von Tränen gestreifte Rouge, verschmierte es dabei noch mehr und entschuldigte sich erneut: »Tut mir leid, ich habe mich in der Aufregung verwählt und meinen Bruder angerufen. Er meint, ich soll es meinem Mann besser noch nicht sagen. Martin hat um drei einen wichtigen Termin. Wenn er hört, was passiert ist, will er garantiert sofort herkommen. Aber er kann die Leute nicht einfach stehen lassen.«

Rita Voss warf einen raschen Blick auf eine große Uhr an der Wand über dem Tisch. Es war zehn vor drei. »Was macht Ihr Mann beruflich?«, fragte sie.

»Er ist Makler. Immobilien.«

»Selbstständig?«

»Nein, angestellt.«

»Dann rufen Sie doch in der Firma an, damit man ihm Bescheid sagt. Vielleicht kann man einen Ersatz für ihn schicken«, schlug Rita Voss vor.

»Ich weiß nicht.« Melisande Martell bewegte unbehaglich die Schultern, offenbar gab sie dem Rat ihres Bruders den Vorzug. »Wenn Martin sich jetzt ins Auto setzt und ihm passiert etwas, weil er Angst um Luca hat, was soll ich dann machen? Die Leute hier sagten, die alte Frau wäre harmlos und gutmütig, sie würde Luca bestimmt nichts tun.«

Jedenfalls nicht mit Absicht, dachte Rita Voss. Aber auch harmlose Frauen konnten einem Baby gefährlich werden, umso mehr, wenn sie geistig nicht ganz klar waren. Wenn so ein Kind zum Beispiel auf irgendetwas allergisch reagierte, Medikamente oder eine spezielle Nahrung brauchte. Oder wenn es weinte, womit die gutmütige Frau nicht gerechnet hatte. Wenn es sich nicht beruhigen ließ, weil es fremdelte, keinen Schnuller hatte. Es gab viele Möglichkeiten, die Rita Voss gar nicht alle bedenken mochte. Sie fragte nach Medikamenten oder spezieller Nahrung.

»So etwas braucht Luca nicht«, versicherte Melisande Martell. »Er ist gesund, bekommt nur manchmal ein bisschen Fieber und einen wunden Po, wenn ein Zähnchen durchbricht. Aber im Moment ist alles in Ordnung mit ihm.« Sie nickte, als müsse sie sich das selbst bestätigen, und wiederholte: »Alles in Ordnung.«

»Sie haben sicher Fotos von ihm auf Ihrem Handy«, meinte Rita Voss. »Wir brauchen das neueste, nach Möglichkeit Porträt. Am besten schicken Sie es mir. Dann kann ich alles Weitere veranlassen.« Sie nannte ihre Handynummer, die Melisande Martell folgsam in ihr Smartphone tippte. Anschließend öffnete sie einen Ordner mit Fotos.

»Wenn Sie mich nicht mehr brauchen …«, brachte Helene Matthies sich in Erinnerung. »Ich sollte wieder nach vorne gehen, es ist sicher viel zu tun. Zu dem Vorfall kann ich Ihnen sowieso nichts sagen. Als es passiert ist, war ich hier drin und habe Mittagspause gemacht.«

Vorfall, dachte Rita Voss unangenehm berührt. Welche Frau bezeichnete es denn als Vorfall, wenn ein Baby verschwand? Das brachte vermutlich nur eine, die keine Kinder hatte.

Helene Matthies registrierte wohl, dass sie in ein Fettnäpfchen getreten war, und bemühte sich, schneller Abstand zu gewinnen. »Ich sollte wirklich nach vorne gehen. Freitags ist immer viel los. Ich wollte die Frau hier nur nicht sich selbst überlassen.«

Das hätte Jutta Meuser auch kaum geduldet, wo sie Melisande Martell ohnehin nicht über den Weg getraut hatte. In dem Raum hingen ihre Jacken, die Taschen standen offen herum.

Rita Voss dachte sich ihren Teil und sagte: »Gehen Sie ruhig. Wir bleiben noch ein paar Minuten. Hier stören wir ja niemanden. Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie sich um Frau Martell und den Jungen gekümmert haben. Danke.«

Helene Matthies setzte sich in Bewegung, im Hinausgehen warf sie Melisande Martell noch einen Blick zu und entschuldigte sich: »Tut mir leid wegen der Anruferei. Ich wusste nicht, dass Sie telefonieren durften.«

»Nicht so schlimm«, erwiderte die junge Frau, bedankte sich für das Wasser und die Baldrianpillen. Dabei wirkte sie noch halbwegs beherrscht. Nachdem die Verkäuferin den Raum verlassen hatte, legte sie einen Arm auf den Tisch, den Kopf auf den Arm und begann wieder heftig zu weinen.

»Soll ich einen Arzt für Sie rufen, oder brauchen Sie psychologischen Beistand?«, erkundigte Rita Voss sich vorsichtshalber.

»Nein danke, es geht schon«, stammelte Melisande Martell und fuhr mit von Schluchzern zerhackter Stimme fort. »Es ist nur … Ich hatte … wahnsinnige Angst um Luca … Und die haben mich … behandelt … als hätte ich ihm … etwas angetan. Die Frauen … haben mich … hier hineingeschoben wie in … ein Gefängnis. Die Polizisten waren … auch so komisch … Ich bin noch nie … so mies … Entschuldigung …«

»Verstehe«, sagte Rita Voss und schlug einen eher saloppen Ton an, um der Situation ein wenig von ihrer Dramatik zu nehmen. Wenn man schnell sinnvolle Auskünfte brauchte, erreichte man mit Trostworten oft das Gegenteil, machte den Betroffenen erst richtig klar, in welcher Lage sie sich befanden oder welchen Verlust sie erlitten hatten. Deshalb wartete sie damit lieber, bis sie ein paar Antworten bekommen hatte. »In dem Laden hier hat niemand Ihr Baby gesehen. Sie hätten den Jungs da draußen sagen müssen, wo Sie vorher waren. Das sind Männer. Die hören, dass eine hübsche junge Frau sich für Lippenstifte interessierte, und denken sich ihren Teil. Haben Sie nur hier eingekauft? Oder waren Sie noch woanders?«

Es funktionierte. Melisande Martell hob zwar nicht den Kopf, doch ihre Antwort kam prompt. »Beim Bäcker. Die Tüte habe ich im Auto.«

»Welche Bäckerei?«

»An der Graf-Salm-Straße.«

»Gut«, sagte Rita Voss. »Dann machen wir jetzt Folgendes. Sie schicken mir noch ein Foto von sich und eins von Max. Suchen Sie ein hübsches aus, auf dem Sie nicht so verweint aussehen. Damit schicken wir einen der Jungs zur Bäckerei. Und danach werden die sich bei Ihnen entschuldigen, dafür sorge ich.«

»Danke«, hauchte Melisande Martell, hob den Kopf und beschäftigte sich noch einmal mit dem Fotoordner auf ihrem Handy. »Ich habe hier eins, auf dem ich zusammen mit Max zu sehen bin. Geht das auch?«

Rita Voss warf einen Blick darauf. »Das ist perfekt.«

Melisande Martell schickte auch dieses Foto ab, steckte ihr Handy wieder ein, legte den Kopf erneut in die Armbeuge und ließ ihre Angst ums Baby oder die Kränkung durch Personal und Polizei in weiteren Tränen abfließen.

Rita Voss ließ sie in Ruhe weinen und erledigte das Vordringliche. Mit dem Doppelporträt von Mutter und Sohn waren insgesamt vier Aufnahmen auf ihrem Handy eingegangen, drei von Luca. Sie wählte eine aus, auf der er mit großen, staunenden Augen etwas betrachtete, vermutlich das Smartphone seiner Mutter, und schickte beide Aufnahmen mit einer kurzen Info an Thomas Scholl und Jochen Becker, der in Hürth sämtliche Meldungen entgegennahm und in den Computer eingab.

Bis zu Klinkhammers Rückkehr aus Frechen musste Becker anhand der eingehenden Informationen entscheiden, welche Maßnahmen erforderlich waren und welche Art von Unterstützung man eventuell brauchte. Die bereits im Einsatz befindlichen Kräfte wurden vorerst vor Ort in Bedburg koordiniert, weil man davon ausging, die Frau im Poncho mithilfe der Bevölkerung schnell zu identifizieren und aufzuspüren. Und dann entweder das vermisste Baby in ihrer Obhut anzutreffen oder von ihr wie von den anderen Zeugen zu hören, der Kinderwagen sei leer gewesen.

Um schnell Gewissheit zu erhalten, übermittelte Thomas Scholl die eingegangenen Fotos an den Polizeianwärter und schickte ihn zur Bäckerei an der Graf-Salm-Straße. Der junge Mann, der bis dahin die Gaffer gegenüber befragt, Personalien aufgenommen, ein paar Leute verscheucht und andere dazu gebracht hatte, ihre Handys einzustecken, legte einen olympiareifen Sprint hin.

Zurück kam er nur sieben Minuten später mit der Auskunft, dass sich die beiden Verkäuferinnen an die junge Mutter mit Kleinkind und Babyjogger erinnerten. Ein Baby hatte keine gesehen. Melisande Martell hatte den Wagen nicht in die Bäckerei geschoben, sondern gezogen, sodass die Frauen hinter der Kuchentheke nicht hatten feststellen können, ob ein Kind drinsaß. Es sollte zu dem Zeitpunkt noch weitere Kundschaft im Laden gewesen sein. Vielleicht hatte die einen Blick in den Wagen werfen können. Leider war nur eine Kundin namentlich bekannt.

Polizeimeister Nemritz veranlasste einen Zugriff aufs Melderegister und schickte den Anwärter zur Adresse der namentlich bekannten Kundin. Blieb abzuwarten, ob die anderen sich meldeten, wenn sie die Lautsprecherdurchsagen hörten.

Währenddessen ging Rita Voss im Aufenthaltsraum vor Max in die Hocke, um nicht tatenlos herumzustehen, bis Melisande Martell sich so weit beruhigt hatte, dass man sie weiter befragen konnte. Bisher hatte der kleine Junge sich gar nicht gemuckst, nur verstohlen von einer zur anderen geäugt und Tic Tacs gelutscht, eins nach dem anderen. Er reagierte auch jetzt nicht, weder auf die fremde Frau, die sich auf seine Augenhöhe herabließ, noch auf die erneute, heftige Tränenflut seiner Mutter. Max schien voll und ganz auf den kleinen Spender konzentriert. Ungewöhnlich für ein Kind in dem Alter, fand Rita Voss. Aber einer von den nervigen Knirpsen, die ständig um Aufmerksamkeit buhlten, hätte ihr jetzt gerade noch gefehlt.

»Hallo«, sprach sie ihn an und lächelte so freundlich, wie sie nur konnte, als er das Köpfchen hob und sie abwartend musterte. »Du hast aber leckere Bonbons.«

Max erwiderte das Lächeln zurückhaltend und zeigte auf die Tür, die Helene Matthies hinter sich geschlossen hatte. »Hat Fau mich schenkt.« Mit zwei aufeinanderfolgenden Konsonanten, speziell mit dem R, hatte er noch Schwierigkeiten.

Vorsichtig, aber zutraulich, fand Rita Voss, und scheinbar gleichgültig gegenüber Mutters Tränen. Oder war seine Konzentration auf den Tic-Tac-Spender seine Art, mit der Angst umzugehen? Es musste ihn doch verunsichern, seine Mutter so aufgelöst zu sehen. »Dann warst du sicher sehr lieb«, sagte sie.

»Nein«, gestand Max. Sein Lächeln verrutschte, seine Unterlippe begann zu zittern und verriet, dass er ebenfalls den Tränen nahe war. »Mama hat mich schimpft.«

»Warum denn?«, fragte Rita Voss betont verständnislos und sah kurz zu der Frau am Tisch hinüber. Deren Schultern zuckten noch, aber Schluchzer waren keine mehr zu hören. »Du bist doch ein braver Junge.«

Max nickte zustimmend und zerbiss, was er gerade im Mund hatte. Dann fummelte er das nächste Tic Tac aus dem Spender und bot es ihr an. Rita Voss konnte sich nicht überwinden, es aus den klebrigen Fingerchen zu nehmen. »Das ist lieb«, sagte sie. »Aber das sind deine Bonbons, die darfst du alleine essen.«

»Ich hatte ihm gesagt, er soll aufpassen«, ließ sich Melisande Martell mit dumpfer Stimme aus der Armbeuge vernehmen. »Er ist ein paarmal rein- und rausgelaufen, aber er hat mir nicht gesagt, dass die verrückte Frau bei Luca war.«

»Da war ein Buhmann«, erklärte Max und nickte gewichtig.

Rita Voss hatte Polizeimeister Nemritz nicht lange genug zugehört, um von dem Mann zu erfahren, der am Foto-Sofort-Drucker mit Ilonka Koskolviak geflirtet hatte und draußen über Max gestolpert war. »Was hat der Buhmann denn gemacht?«, fragte sie.

»Buh«, sagte Max und warf seine Ärmchen in die Höhe.

»Er hat dich Bange gemacht?«

Max schüttelte den Kopf und stellte erneut fest: »Mama weint.«

»Deine Mama ist traurig, weil dein kleiner Bruder weg ist«, sagte Rita Voss und fragte anschließend an Melisande Martell gewandt, was ihr schon die ganze Zeit auf der Seele brannte: »Warum haben Sie den Wagen mit Luca draußen stehen lassen? Haben Sie das in der Bäckerei auch gemacht?«

Melisande Martell hob den Kopf. »Nur hier. Es ist so warm und stickig in dem Laden. Das ist mir in den letzten Wochen jedes Mal aufgefallen, wenn ich hier war. Ich wollte wirklich nur schnell …« Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Jäckchen oder der engen Jeans, so genau konnte Rita Voss es nicht erkennen, putzte sich die Nase und wischte sich über Wangen und Augen. Dann sprach sie weiter: »Ich wollte mich wirklich nicht lange aufhalten.«

Ihre Stimme knarzte noch ein bisschen. »Luca trägt die gleiche Jacke wie Max, unter der Kapuze hat er noch eine Mütze an. Und Handschuhe. Ich hätte ihn halb ausziehen oder aus dem Wagen nehmen müssen, damit er nicht schwitzt. Dann verkühlt er sich schnell. Aber ich wollte ihn nicht aufwecken. Er war übermüdet und gerade erst eingeschlafen. Wenn er aus dem Schlaf gerissen wird, quengelt er. Ich wollte doch nur …« Sie brach ab und erneut in Tränen aus.

»Das kann ich sehr gut nachvollziehen«, schlüpfte Rita Voss in mitfühlendem Ton in die Rolle der verhörenden Polizistin, die für ihre spezielle Art der Befragung im Kollegenkreis berüchtigt war. »Ich habe eine Tochter und weiß noch genau, wie grantig ein übermüdetes Baby sein kann. Es raubt einem den letzten Nerv.«

»Eigentlich nicht.« Melisande Martell beruhigte sich wieder. »Wenn Luca zu Hause quengelt, mache ich ihm Musik an. Dann ist er sofort still. Er ist ein ganz Lieber, wirklich. Aber heute wollte er einfach nicht schlafen. Am Vormittag habe ich ihn zweimal hingelegt, da hat er die ganze Zeit gebrabbelt und mit seinem Schaf gespielt. Ich dachte, er wäre im Auto eingeschlafen, als wir Max von der Kita abholten. Aber er kennt die Strecke schon und weiß genau, dass er gleich richtig bespaßt wird. Ich war so froh, als ihm endlich die Augen zufielen, nachdem ich ihn in den Wagen gesetzt hatte.«

Sie tupfte mit dem zusammengeknüllten Tuch unter den Augen herum, sprach weiter: »Ich wollte wirklich nur schnell etwas zu essen für ihn kaufen. Dann fiel mir ein, dass die eine Aktionswoche für Kosmetik haben. Ich hatte das in einem Werbeprospekt gesehen, wusste aber nicht mehr, welche Marke. Ich kann für solche Sachen nicht viel Geld ausgeben. Aber ich will auch nicht aussehen wie eine Schlampe. Mein Mann hat beruflich viel mit top gestylten Frauen zu tun. Ich möchte nicht, dass er nur wegen der Kinder gerne nach Hause kommt, verstehen Sie das?«

»Ja«, sagte Rita Voss. »Das verstehe ich sehr gut.«

»Ich habe nicht auf die Zeit geachtet und mir keine Sorgen um Luca gemacht«, fuhr Melisande Martell fort. »Er schlief doch fest, da weckt ihn so leicht nichts auf. Wer rechnet denn damit, dass eine Verrückte auftaucht und …« Der Rest ging in einem erneuten Tränenausbruch unter.

Die Engelsucherin − 1989 bis 2003

Zuerst der Mann. Drei Jahre brauchte er zum Sterben, von der vernichtenden Diagnose »akute myeloische Leukämie« bis zum letzten, kaum noch wahrnehmbaren Atemzug. Dazwischen ein paar Hoffnungsfunken, die alle viel zu schnell erloschen. Sein Leiden und seinen Tod, der letztendlich eine Erlösung für ihn war, steckte Anni Erzig noch irgendwie weg. Dabei hatte sie den Verlust ihrer Eltern, die ihr in der ersten Zeit seiner Erkrankung Halt gegeben hatten und nur ein knappes Jahr zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, noch nicht verkraftet.

In finanzielle Schwierigkeiten geriet sie nicht, obwohl sie nur eine sehr kleine Witwenrente bezog. Ihre Eltern hatten ihr ein großes Anwesen hinterlassen, das sie zu einem guten Preis verkaufen konnte. Mit dem Erlös wollte sie die Ausbildung ihres Sohnes absichern. Nur ein kleines Stückchen Land behielt sie, darauf hatte ihr Mann Gemüse angebaut, solange er gesundheitlich dazu in der Lage gewesen war.

Anni stellte keine besonderen Ansprüche ans Leben, zog mit ihrem Sohn in eine kleine Wohnung. Und wenn die Trauer sie zu überwältigen drohte, wenn ihr alles zu viel wurde und sie nicht mehr aus noch ein wusste, betete sie sich vor, dass sie stark sein musste für ihren Sohn, weil er nur noch sie hatte.

Als sein Vater erkrankte, war der Junge zwei, bei der Beerdigung gerade fünf geworden. Ein zierliches Kind war er, die Leute schätzten ihn immer um ein Jahr jünger. Aber er hatte ein kluges Köpfchen auf seinen schmalen Schultern. Wenn er zu sprechen begann, dachten viele, er ginge bereits zur Schule. Und wenn man mit ihm sprach, musste man sich gut überlegen, was man sagte und wie man es formulierte.

»Liegt Papi jetzt in dieser Kiste?«

»Ja, mein Schatz.«

»Aber du hast gesagt, er ist jetzt zusammen mit Großvater und Großmutter beim lieben Gott im Himmel.«

»Das ist er auch, mein Schatz.«

»Aber das geht doch gar nicht. Er kann doch nicht im Himmel und in der Kiste sein.«

»Weißt du noch, wie der liebe Jesus es gemacht hat?«

Darüber hatten sie im Kindergarten gesprochen, über die Auferstehung, das leere Grab, Christi Himmelfahrt. So hatte sie ihm ein Jahr zuvor das Verschwinden seiner Großeltern erklärt, zu deren Beisetzung hatte sie ihn nicht mitgenommen. Aber er merkte sich alles, jedes Wort, und fand mit seinem klugen Köpfchen sofort den Widerspruch.

»Aber wenn Papi wie Jesus in den Himmel gefahren ist, kann er doch gar nicht in der Kiste sein, Mami.«

»In der Kiste liegt nur das von Papi, was krank war, mein Schatz. Seine Seele ist jetzt beim lieben Gott.«

»Dann ist Papi nicht ganz da oben im Himmel?«

»Doch, mein Schatz, Papi ist jetzt ein Engel. Engel sind immer ganz. Man kann sie nur nicht sehen.«

»Warum nicht?«

»Weil der liebe Gott uns nicht erschrecken will, wenn er einen Engel zur Erde schickt. Manchmal tut er das, wenn wir besonderen Schutz brauchen. Deshalb haben Engel Flügel.«

Daran glaubte er noch, als er selbst erkrankte. Er war gerade erst eingeschult worden, als sich bei ihm die ersten Symptome zeigten. Drei Monate dauerte es, ehe ein Arzt das unsägliche Kürzel »AML« aussprach und Anni spürte, wie in ihrer Brust etwas zerbrach. Aber sie hielt sich aufrecht.

Elf Monate lang saß sie Stunde um Stunde neben seinem Bett in der Kinderonkologie, fuhr nur heim, um zu duschen und die Kleidung zu wechseln. Dann schaute sie weiter zu, wie er weniger und weniger wurde, während die Ärzte mit all ihren Mitteln versuchten, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Er wusste viel eher als sie, die es nicht sehen wollte, dass es zu Ende ging. Einmal sagte er: »Wenn ich ein Engel bin und Flügel habe, komme ich vom Himmel heruntergeflogen und passe auf dich auf, Mami, damit du nicht ganz alleine bist. Du darfst aber nicht erschrecken, wenn du mich siehst.«

In seinen letzten Tagen dämmerte er vor sich hin, so klein, so wund, so ausgezehrt von der Krankheit und dem Gift, das die Ärzte ihm verabreicht hatten. Sein blasses Gesicht bestand fast nur noch aus Augen, sein Stimmchen war bloß noch ein Hauch. Er hatte nur noch wenige wache Momente und plötzlich wahnsinnige Angst vor dem Tod, vielmehr vor dem, was danach aus ihm werden sollte. Wenn er die Augen aufschlug und sie neben sich sitzen sah, wisperte er regelmäßig mit diesem panischen Unterton: »Mami, ich will kein Engel sein.«

Im Bemühen, ihn zu beruhigen, erwiderte Anni jedes Mal: »Aber als Engel bist du doch bei Papi, bei Großvater und Großmutter im Himmel. Dort ist es wunderschön, mein Schatz. Und wenn der liebe Gott dir deine Flügel gibt, kommst du zu mir geflogen …«

So schwach er auch war, am letzten Abend schüttelte er sein Köpfchen, unterbrach sie damit und hauchte: »Nein, Mami. Es gibt keinen lieben Gott. Das erzählen sie nur, damit man keine Angst hat, wenn man stirbt. In Wahrheit ist der Himmel ein großes, schwarzes Loch mit Sternen drin. Es ist furchtbar kalt dort, und Steine fliegen herum, aber keine Engel. Engel können gar nicht fliegen. Ihre Flügel sind viel zu klein. Sie müssen sich an den Sternen festhalten, damit sie nicht herunterfallen.«

Wie er auf solche Gedanken gekommen war, erfuhr Anni nicht mehr. Kurz darauf starb er. Und Annis Verstand brach in tausend Stücke, ohne dass es jemand zur Kenntnis nahm.

In den folgenden Jahren trug Anni das kleine Vermögen, das ihr Sohn nicht mehr für seine Ausbildung brauchte, beinahe vollständig zu einer Frau, die sich als Medium ausgab. In ihren Annoncen hieß es, sie leiste Lebenshilfe und könne mit Verstorbenen in Kontakt treten.

Nach einem ersten Gespräch mit Anni empfahl die Betrügerin ihr jeden zweiten Donnerstag eine Sitzung. Und für jede verlangte sie einen dreistelligen Betrag. Natürlich kam nicht auf Anhieb eine Verbindung zustande. Es brauche seine Zeit, behauptete sie. Manchmal seien die Verstorbenen zu verwirrt, manchmal auch zu misstrauisch, um sich zu melden, wenn eine ihnen unbekannte Person sie rief. Um die Wartezeit zu überbrücken, fragte sie Anni geschickt nach Mann, Sohn und Eltern aus.

Anni erzählte praktisch ihr gesamtes Leben mit all seinen Schrecken, dem Leid, der Trauer und dem ganzen Elend und war auch noch dankbar, dass ihr jemand zuhörte. Als es dann endlich klappte, sog sie begierig jedes Wort auf, das die Betrügerin von sich gab. Nicht jede Séance führte zu einem Erfolg, aber wenn ein Kontakt zustande kam, übermittelte das vermeintliche Medium Botschaften, aus denen sich für Anni nach und nach ein überaus positives Bild zusammensetzte.