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Petra Hammesfahr

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Beschreibung

Sieben Jahre sind vergangen, seit Henning Schramm, der Mann, den Patrizia einst über alles liebte, zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Für die Presse war er ein Verbrecher, für Patrizia der Inbegriff der großen Liebe. Inzwischen hat Patrizia ein zweites Leben angefangen, Seite an Seite mit Ed, ihrem einstigen Therapeuten und heutigen Ehemann. Doch als Henning unerwartet wieder vor ihr steht, bröckelt die sorgsam errichtete Fassade des neuen Glücks. »Es tut mir leid, Ed«, hinterlässt sie ihrem Mann als Nachricht und folgt ihrem Gefühl und Henning. Während Ed verzweifelt versucht, Patrizia zu finden, enthüllt sich Schritt für Schritt eine Wahrheit, die Patrizia zwingt, sich ihrer Vergangenheit und den Konsequenzen einer willenlosen Liebe zu stellen. »Hörig« beweist, warum Petra Hammesfahr als begnadete Autorin der Psycho-Spannung gefeiert wird. Als Hörbuch ist der Thriller bei Saga Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Sieben Jahre sind vergangen, seit Henning Schramm, der Mann, den Patrizia einst über alles liebte, zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Für die Presse war er ein Verbrecher, für Patrizia der Inbegriff der großen Liebe. Inzwischen hat Patrizia ein zweites Leben angefangen, Seite an Seite mit Ed, ihrem einstigen Therapeuten und heutigen Ehemann. Doch als Henning unerwartet wieder vor ihr steht, bröckelt die sorgsam errichtete Fassade des neuen Glücks. »Es tut mir leid, Ed«, hinterlässt sie ihrem Mann als Nachricht und folgt ihrem Gefühl und Henning. Während Ed verzweifelt versucht, Patrizia zu finden, enthüllt sich Schritt für Schritt eine Wahrheit, die Patrizia zwingt, sich ihrer Vergangenheit und den Konsequenzen einer willenlosen Liebe zu stellen.

»Hörig« erscheint außerdem als Hörbuch bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Petra Hammesfahr schrieb mit 17 ihren ersten Roman. Mit ihrem Buch »Der stille Herr Genardy« schaffte sie den Durchbruch. Mit »Die Sünderin« kam der große Erfolg und die Platzierung in der SPIEGEL-Bestenliste. Seitdem schreibt sie einen Bestseller nach dem anderen und wurde mit vier Literaturpreisen ausgezeichnet. Die Autorin lebt in der Nähe von Köln.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre psychologischen Spannungsromane »Hörig«, »Der Fall Leni Bauer« und »Der Liebhaber«, als Hörbuchausgaben bei SAGA Egmont erhältlich, sowie »Mit den Augen eines Kindes« und »Die Verlierer«, die als Print- und Hörbuchausgaben bei SAGA Egmont erhältlich sind.

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eBook-Neuausgabe Februar 2025

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Petra Hammesfahr und Rowohlt Verlag GmbH

Copyright © der eBook-Ausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motivs von © Firn / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-758-4

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Petra Hammesfahr

Hörig

Psycho-Spannung

dotbooks.

Kapitel 1

Als die schwarzen Schuhe und darüber die schwarzen Hosenbeine in ihr Blickfeld gerieten, zuckte Patrizia Bracht zusammen und richtete sich langsam auf. Sehr langsam, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Er kam um die gemauerte Seitenwand des Vordachs herum lässig die drei Stufen herauf, lehnte sich mit einer Schulter gegen die Mauer, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute auf sie hinunter. Selbst als sie ihm dann aufrecht gegenüberstand, war sie noch gut einen Kopf kleiner als er, war nicht mehr gewachsen in den vergangenen Jahren.

Halb elf, das war die Zeit für den Postboten. Einmal kurz klingeln war das Zeichen für einen großen, sperrigen Umschlag oder ein Päckchen. Für etwas, das nicht durch den Schlitz im Briefkasten passte. Der Postbote war immer in Eile und wartete nicht ab, bis jemand an die Tür kam. Er legte einfach auf den Fußabtreter, was sich nicht durchschieben ließ, drückte kurz auf den Klingelknopf und war schon wieder weg.

Einen Hektiker hatte Edmund den Postboten einmal genannt. Eddi! Sie nannte ihren Mann nie bei seinem vollen Namen, sie dachte nicht einmal an ihn als Edmund. Für sie war er Eddi.

Früher war er Ed gewesen, in besonderen Situationen war er das immer noch. Ed war Psychologe. Psychotherapeut, um genau zu sein. Er verstand alles und konnte alles erklären. Was Menschen dachten, fühlten und taten, warum sie so und nicht anders empfanden, agierten und reagierten. Ed konnte sogar erklären, warum ein Mann, den er nie zu Gesicht bekam, immer in Eile war und alles, was nicht durch den Schlitz im Briefkasten passte, einfach auf den Fußabtreter legte.

Egal! Damit jedenfalls hatte sie gerechnet, mit einem Päckchen oder einem sperrigen Umschlag. Sie hatte zu Beginn der Woche in einigen Internet-Shops gestöbert, ein Paar Schuhe und ein Buch bestellt. Deshalb hatte sie die Tür geöffnet und sich sofort gebückt. Reine Gewohnheit. Sie hatte ja auch durch den Glaseinsatz in der Haustür niemanden draußen gesehen.

Er musste geklingelt haben und die drei Stufen sofort wieder hinuntergestiegen sein, um hinter der Seitenwand abzuwarten, wer an die Tür kam. Ed hätte vermutlich auch das erklären können, hatte es in einem anderen Zusammenhang wahrscheinlich schon getan. Aber was Ed schon einmal getan oder nicht getan hatte, war nicht mehr wichtig in diesem Moment, in dem sie um sieben Jahre zurückgeschleudert wurde.

Sein Hemd war ebenso schwarz wie die Lederschuhe, die Hose und die Jacke, die er sich lässig über eine Schulter gehängt hatte und mit untergehaktem Finger am Kragen festhielt. Es war drückend und schwül. Die erste Septemberwoche. Den ganzen August über hatte halb Europa unter einer Hitzewelle gestöhnt. Temperaturen, wie man sie sonst nur im Süden kannte, und kein Tropfen Regen. Heute war der Himmel bewölkt, für den Nachmittag waren Schauer angekündigt. Aber es war immer noch so warm, dass man wahrhaftig keine Jacke brauchte.

Bei ihm war das anders, er trug diese Jacke als Erkennungszeichen oder Statussymbol. Garantiert hatte sie doppelt so viel gekostet wie der Anzug, den Eddi zur Hochzeit getragen hatte, und der war alles andere als billig gewesen.

Sie starrte ihn an, spürte ihren Herzschlag in der Kehle pochen und registrierte im ersten Augenblick nur, dass sich nichts an ihm verändert hatte. Absolut nichts! Die Kleidung, die Schuhe, seine Frisur, alles war noch wie damals. Da hatte er die Haare auch etwas länger als andere und mit Seitenscheitel getragen, sodass ihm jedes Mal eine Strähne in die Stirn fiel, wenn er den Kopf ein wenig neigte oder senkte. Nicht einmal älter schien er geworden, er war von Kopf bis Fuß noch genau so, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte.

Vor sieben Jahren.

In einem Gerichtssaal.

Wo sie nach der Urteilsverkündung zu ihm gehetzt war und sich an ihn geklammert hatte in dem irrsinnigen Glauben, ihn auf diese Weise halten zu können. In der Hoffnung, ihre Umarmung würde aller Welt begreiflich machen, dass man ihn nicht einsperren, dass man sie beide nicht trennen durfte, weil sie ohne ihn unmöglich weiterleben konnte.

Aber die Welt hatte auf große Gefühle gepfiffen, keine Augen für den Schmerz und die Verzweiflung einer Liebenden gehabt. Zwei Polizisten hatten ihn unbarmherzig von ihr fortgerissen und auf die Tür im Hintergrund zugeschoben, durch die sie ihn vor Beginn der Verhandlung hereingebracht hatten. Und sie hatte sich gewünscht zu sterben, auf der Stelle tot umzufallen, zumindest in Ohnmacht, weil die Polizisten ihn dann vielleicht noch einmal zu ihr gelassen hätten, und sei es nur für ein paar Minuten.

Natürlich war sie nicht gestorben, hatte nicht mal das Bewusstsein verloren. Und er hatte sich bei der Tür noch einmal zu ihr umgedreht und quer durch den Saal gerufen: »Ich bin bald wieder bei dir, Püppi. Sei tapfer, du schaffst das, ich verlass mich darauf. Lern schön, damit dir die Zeit nicht lang wird. Eines Tages zahlt sich das aus, wenn man einen Beruf richtig gut gelernt hat. Du wirst sehen.«

Dabei hatte er sie angeschaut mit diesem Blick, der sie immer zu einem Klecks Vanilleeis in der Sonne machte. Eine Kusshand hatte er ihr zugeworfen, daran erinnerte sie sich noch genau. Eine Kusshand und ein wehmütig sehnsüchtiges Lächeln.

Im August vor sieben Jahren.

Ehe ein Gerichtsdiener die Tür hinter ihm und den beiden Polizisten schloss.

Und jetzt stand er hier vor der Tür.

Er grinste. Es war tatsächlich ein Grinsen, kein wehmütiges oder sehnsüchtiges Lächeln wie damals, nicht einmal ein spöttisches oder amüsiertes, weil sie die Haustür geöffnet und sich reflexartig zum Fußabtreter gebückt hatte, als wolle sie sich verneigen. Aber vielleicht überspielte er mit dem Grinsen nur seine Unsicherheit, weil er nicht wusste, wie sie auf sein Erscheinen reagieren würde.

Sein Gesicht schien ihr beim längeren Hinsehen doch etwas schmaler geworden zu sein, aber rund war es auch damals nicht gewesen. Ein längliches, immer leicht melancholisch wirkendes Gesicht mit einer geraden Nase, grauen Augen und einem normal geschnittenen Mund. Genau genommen ein Dutzendgesicht, aber durchaus attraktiv. Und vielleicht lag es nur an dem schwarzen Hemd, dass er ihr ziemlich blass vorkam. Aber blasser als damals war er wohl tatsächlich, weil er die letzten sieben Jahre in einer Gefängniszelle verbracht hatte.

»Ich bin bald wieder bei dir, Püppi!«

Bald? Von wegen! Sieben Jahre! Damals hatte das für sie nach Ewigkeit geklungen.

In den ersten Monaten nach der Urteilsverkündung hatte sie gedacht, es gäbe nur eine Möglichkeit, bald wieder bei ihm zu sein: Sterben. Weil der Tod alles wieder verband und auf ewig miteinander verschweißte, was zusammengehörte und auseinandergerissen worden war. Das zumindest hatte er einmal behauptet. Und zweimal hatte sie versucht, ihrem ohne ihn scheinbar so sinnlosen Leben ein Ende zu setzen. Es war lange her. Von der Todessehnsucht hatte Ed sie geheilt.

»Hallo, Püppi«, sagte er. Sein Grinsen ging in ein schelmisches und erleichtert wirkendes Lächeln über. »Ich hatte schon Angst, dass mir ’ne Putzfrau aufmacht, als ich die Bude hier sah. Was hätte ich der sagen sollen, hm?«

Er machte eine Bewegung mit der linken Hand, die alles einschloss, Freude und Enttäuschung, Sorgen und bange Fragen. Dann sprach er weiter. »Warst nicht leicht zu finden. Neuer Name, neue Adresse, damit hatte ich nicht gerechnet. Bist verheiratet, was? Na ja, sieben Jahre sind ’ne verdammt lange Zeit für so ein junges Ding, wie du damals warst. – Bist du allein?«

Sie wollte nicken, aber sie konnte sich nicht bewegen, nicht mal mit einem Finger zucken. Wie paralysiert stand sie da und wunderte sich, dass sie überhaupt noch aufrecht stand. Ihre Kniegelenke schienen sich in schwammartige Gebilde verwandelt zu haben, die jede Sekunde unter dem Gewicht des Körpers nachgeben konnten.

Sie betrachtete ihn wie das Kaninchen die Schlange oder Julia ihren Romeo - mit dem unvermittelt aufkommenden Herzflattern und einem Wärmegefühl im Magen. Und es gab keinen Unterschied zwischen dem Kaninchen und Julia. Beide fühlten sie in solch einem Moment etwas Schweres, Süßes, Bitteres, etwas, das niemand genau definieren konnte, von dem trotzdem jeder wusste, dass es endgültig war.

Er schien von dem Aufruhr in ihrem Innern nichts zu bemerken, schaute mit unverhohlener Neugier über ihre Schulter direkt in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand.

Es war ein kostbarer, alter Spiegel. Eddi hatte ihn vor einem Jahr in einem Antiquitätengeschäft gesehen und sich – wie er sagte –

augenblicklich in ihn verliebt. Also hatte Eddi den Spiegel auch augenblicklich gekauft, zusammen mit dem kleinen Wandbord, das dazugehörte und auf dem die Basisstation des Telefons mitsamt dem Mobilteil stand.

Es waren bloß zehn Schritte bis dahin. Es hätten ebenso gut tausend sein können. Sie konnte keinen einzigen tun, konnte nur den Mann anstarren, von dem Ed gesagt hatte, er sei ein Psychopath, so gefährlich wie ein Löffel voll Nitroglyzerin in zittrigen Händen.

»Willste mich nicht reinlassen?«, fragte er.

Wieder wollte sie nicken und schaffte es nicht.

Da schob er sie langsam von der Tür zurück. Er musste sie nicht einmal anfassen, dirigierte sie mit den Augen soweit rückwärts in die Diele hinein, dass er ihr folgen und die Tür hinter sich schließen konnte. Es funktionierte also immer noch.

Sein Grinsen wirkte sehr zufrieden, als er den Blick von ihrem Gesicht löste. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Haustür und ließ die Augen umherwandern. Zwei Zimmertüren und die Küchentür standen offen. Er konnte in die einzelnen Räume sehen. Das Wohnzimmer mit dem offenen Kamin und wie das Esszimmer in mediterranem Stil, die Küche rustikal und mit allen technischen Finessen ausgestattet. Das gesamte Haus war gediegen und nicht eben billig eingerichtet.

Eddi legte großen Wert auf eine gepflegte, häusliche Atmosphäre. Er legte vor allem Wert auf die äußerliche Ordnung, das wusste sie seit langem. Jedes Ding an seinem Platz und nirgendwo ein Fleck oder ein Stäubchen. In dieser Hinsicht war Eddi beinahe pedantisch. Wahrscheinlich musste er das sein in seinem Beruf, wo er sich täglich mit zerbrochenen Seelen, dem Dreck und den Flecken im Leben anderer Leute befasste.

Doch daran dachte sie nicht in diesem Augenblick. Sie dachte eigentlich gar nicht, sah nur die locker von seiner Schulter baumelnde Jacke, das schwarze Hemd, das schmale, blasse Gesicht mit dem dunklen Bartschatten.

Sein Blick glitt immer noch zwischen den offenen Türen hin und her, streifte den Treppenaufgang zum Obergeschoss. Was er sah, schien ihm zu gefallen. Oder auch nicht! Er zog die Augenbrauen hoch und die Stirn in Falten, wiegte den Kopf und verzog die Lippen. Ob anerkennend, geringschätzig oder verletzt bis ins Mark, wagte sie nicht zu beurteilen.

»Wirklich nicht übel, die Bude«, murmelte er und zeigte dabei einmal rund durch die Diele. Dann schaute er wieder sie an.

»Sieht aus, als hättest du das große Los gezogen, Püppi. Tja, ein gutes Angebot schlägt man nicht aus, was? Oder ist dir einfach die Zeit zu lang geworden? Wann hattest du denn keine Lust mehr, noch länger auf mich zu warten?«

Da sie ihm nicht antwortete, auch sonst in keiner Weise auf seine Fragen reagierte, zuckte er mit den Achseln. Es wirkte resignierend. Damals war er nicht der Typ gewesen, der vor irgendetwas resigniert oder gar kapituliert hätte. Das hatte sie gewusst - früher. Jetzt wusste sie gar nichts, konnte immer noch nicht denken, nicht einmal, dass die Jahre hinter Gittern ihn verändert haben könnten.

»Na ja.« Auch in seiner Stimme schwang ein Hauch von Resignation mit. Er seufzte und lächelte sie so wehmütig an wie damals. »War 'ne verdammt lange Zeit. Hätt’ ich selbst nicht gedacht, dass sieben Jahre so lang sein können. Manchmal bin ich fast verrückt geworden. Ich hab dich so vermisst, Püppi.«

Sie fühlte ihr Herz unverändert flattern und gleichzeitig den stählernen Ring um die Brust, der es zusammenpresste, spürte die Wärme in der Magengrube wie Übelkeit und die weichen, schwammartigen Gebilde, die vor wenigen Minuten noch stabile Kniegelenke gewesen waren. Ihr Blut rauschte in den Ohren. Von dem, was er gesagt hatte, hatte sie kaum ein Wort verstanden.

»Hallo, Henning«, stammelte sie endlich und machte den ersten unsicheren Schritt auf ihn zu.

In den beiden Jahren, in denen Eddi für sie noch ausschließlich Ed gewesen war, vielmehr Doktor Bracht, der Therapeut, der ihr zurück ins Leben half, hatte er ihr wiederholt erklärt, warum sie sich ausgerechnet in einen Mann wie Henning Schramm verliebt hatte.

Dabei hatte er mehrfach betont, es sei nicht seine Aufgabe, einen Menschen für sein Tun und Lassen zu verurteilen, dass ihn deshalb auch nicht vordergründig interessiere, was ein Mensch getan hatte. Für ihn zählten vielmehr die Gründe. Weil man eine Wiederholung vermeiden oder ihr zumindest vorbeugen, weil man erst helfen konnte, wenn man das Warum kannte. Das war in ihrem Fall für ihn offensichtlich gewesen.

Begonnen bei ihrer maßlosen Enttäuschung an all den Sonntagen, wenn sie daheimsitzen musste. Bestraft für etwas, das nicht sie verbrochen hatte, sondern ihre Schwester. Wobei es nicht mal ein Verbrechen gewesen war, nur ein Baby, das Dorothea von einem Mann bekommen hatte, mit dem man viel Spaß haben konnte, den man aber besser nicht heiraten sollte.

Dorothea hatte dem prüden Elternhaus schon vor der Schwangerschaft den Rücken gekehrt und war völlig frei in ihren Entscheidungen. Kurz vor der Geburt ihrer Tochter zog sie aus ihrem kleinen Appartement in eine Wohngemeinschaft. Dort lebten schon drei junge Mütter, die sich wechselseitig um die Kinder kümmerten, damit alle arbeiten oder studieren konnten.

»Das geht reihum«, sagte Dorothea einmal. »Wer frei hat, ist eben dran mit Kinderhüten, einkaufen oder Wäsche waschen.«

Für ihre Schwester war es die optimale Lösung. Für sie dagegen wurde alles noch schlimmer. Es hatte auch vorher nicht allzu viel Zärtlichkeit im Elternhaus gegeben. Nun gab es gar keine mehr, nur noch Verbote, Misstrauen und Vorwürfe.

Wie oft hatte sie gefragt: »Darf ich am Sonntagnachmittag nach Köln fahren, Papa? Ein paar Mädchen aus meiner Klasse wollen ins Kino. Ich würde gerne mitgehen.«

Jedes Mal sagte er: »Mal sehen.«

»Bitte, Papa. Es läuft ein toller Film.«

»Mal sehen.«

Die ganze Woche wurde sie hingehalten. Und sonntags sagte er dann: »Wenn du mich gerade so drängst, muss ich annehmen, dass du nicht mit ein paar Mädchen ins Kino willst, sondern mit einem jungen Mann. Mit wem denn? Mit einem von diesen Burschen, mit denen man viel Spaß haben kann? Meinst du nicht, dafür wäre es bei dir noch ein bisschen zu früh?«

Natürlich war es das. Als Dorothea ihre Tochter bekam, war Patrizia gerade erst fünfzehn geworden. Aber auch mit sechzehn und siebzehn wurde ihr noch alles verboten. Von den Mädchen in ihrer Berufsschulklasse hatten viele schon den zweiten oder dritten Freund. Sie hatte nur Schwärmereien und ihre Phantasie. Alles durfte nur in Gedanken geschehen. Und diese Gedanken lösten einen gehörigen Kitzel aus.

Vielleicht kam Henning Schramm nur im richtigen Augenblick, in einem der wenigen Momente gestohlener Freiheit, die Dorothea ihr hin und wieder ermöglichte, seit sie siebzehn war. Babysitten am Samstagabend hieß es offiziell, weil die jungen Mütter in der Wohngemeinschaft angeblich hin und wieder zusammen auf eine Bowlingbahn gingen. In Wirklichkeit zog es sie in Discotheken. Natürlich nicht alle auf einmal, mindestens eine blieb daheim bei den Kindern. An deren Stelle durfte manchmal sie mit. Und keine der Frauen kümmerte sich um sie oder um das, was sie tat.

Sie tat auch nichts, stand nur am Rand der Tanzfläche, weil sie sich nicht in die zappelige, schwitzende Menge hineinwagte. Ihr reichte es, von blauviolett oder rötlich wabernden, fluoreszierenden Schwaden umhüllt und von hämmernden Bässen zugedröhnt zu werden. Sie liebte diesen Krach, weil er daheim verboten war wie alles andere. Dabei machte er den Kopf frei, machte zittrig, beschwipst und benommen, sodass sie schwankte, ohne einen Tropfen Alkohol getrunken zu haben.

An so einem Abend tauchte Henning Schramm wie ein Geist aus dem Nebel hinter ihr auf. Zuerst roch sie ihn nur. Die großen Lautsprecher wirkten wie Schleifsteine, machten alle Sinne scharf - fast alle, den sechsten wohl kaum, aber die anderen fünf.

Es war der herbe Geruch seines Rasierwassers vermischt mit Zigarettenrauch, der sie veranlasste, sich umzudrehen. Und da stand er: von Kopf bis Fuß so schwarz wie die Nacht, über Gesicht und Hände huschten geisterhaft irisierend die blauvioletten und roten Lichter, die auch den Nebel auf der Tanzfläche färbten.

Er sah aus wie der leibhaftige schwarze Mann, vor dem es sie als kleines Kind so herrlich gegraust hatte, wenn ihre Mutter erzählte, wie er nachts durch die Straßen schlich und all die kleinen Mädchen mitnahm, die nicht in ihren Betten lagen.

»Und was tut der schwarze Mann mit den kleinen Mädchen?« Auf diese Frage hatte sie von ihrer Mutter nie eine Antwort bekommen. Dorothea hatte einmal gesagt: »Er vernascht sie.«

Danach hatte sie sich eine Zeitlang einen Menschenfresser vorgestellt, für den kleine Mädchen wie Süßigkeiten waren. Und wenn ihre Mutter das Licht ausmachte und die Tür hinter sich zuzog, wenn es stockdunkel wurde im Zimmer und der einzig sichere Platz auf der Welt unter der Bettdecke war, dann hatte sie den schwarzen Mann um das Haus herumschleichen hören.

Manchmal war er in den Baum gestiegen, der so nahe bei ihrem Fenster stand, dass er Jahre später gefällt werden musste. Von diesem Baum aus hatte der schwarze Mann die ganze Nacht hindurch in ihr Zimmer geschaut und darauf gewartet, dass sie aus dem Bett stieg, damit er sie schnappen konnte. Von ihm selbst war nie etwas zu sehen. Sie hörte nur das Rascheln der Blätter, wenn er sich bewegte.

Mit siebzehn wusste sie selbstverständlich, was der schwarze Mann tatsächlich mit den kleinen Mädchen machte, wenn er sie vernaschte. Und sie stellte sich vor, er sei nur ihretwegen gekommen. Dass er sie nun lange genug durchs Fenster beobachtet hatte und sie unbedingt haben wollte – am besten noch heute Abend. Sie wusste ja nicht, wann sie das nächste Mal mit in die Disco genommen wurde.

Während sie sich in erotischen Illusionen verlor, wurde Henning von einem schmächtigen, jungen Mann angesprochen, der aussah, als sei er krank. Ihr wurde gar nicht richtig bewusst, dass sie angestrengt lauschte, um etwas vom Gespräch der beiden aufzuschnappen. Einfach war das nicht beim Wummern der Bässe, sie musste einen Großteil der Worte von Hennings Lippen ablesen. Dass sie dabei die Augen nicht von seinem Gesicht abwenden konnte, fiel ihr gar nicht auf.

Als sie begriff, worüber die beiden verhandelten, erschrak sie zwar, spürte aber gleichzeitig eine morbide Neugier und Faszination. Es ging um Stoff, um erstklassigen Stoff und den Preis, den Henning dafür haben wollte.

Ein Dealer! Vor denen warnte Dorothea sie jedes Mal, wenn sie ihr einen Samstagabend in Freiheit verschaffte. »Lass dich bloß nicht von irgendwem überreden, eine Pille zu schlucken oder etwas anderes zu probieren. Wenn du high bist, Patty, war das dein vorerst letzter Discoabend. Und pass auf dein Getränk auf, lass es nicht unbeobachtet herumstehen.«

Deshalb kaufte sie sich nur etwas zu trinken, wenn sie richtig durstig war, trank das Glas hastig leer und gab es zurück.

Noch während ihr die Warnungen ihrer Schwester durchs Hirn schwirrten, streifte Henning sie mit einem Blick, in dem so viel Sicherheit lag, so viel Überlegenheit und ein winziges Lächeln. Er war nicht aufgebracht, als er bemerkte, wie aufmerksam sie seine Unterhaltung verfolgte, im Gegenteil, es schien ihn zu amüsieren.

Dann verschwand er zusammen mit dem Schmächtigen in Richtung der Toiletten. Sie schaute ihnen nach, bis beide im Gewühl untertauchten, und wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte.

Es dauerte nicht einmal zehn Minuten, dann war Henning wieder neben ihr. Allein diesmal. Er sprach sie sofort an, lächelte dabei, ganz sanft, beinahe zärtlich, als wolle er verhindern, dass sie Angst bekam. »Das ist aber gar nicht gesund, wenn man so neugierig ist. Stell dir nur mal vor, es hätte mir nicht gefallen, dass du aufpasst wie ein Schießhund. Was meinst du, was da so alles passieren könnte?«

Sein Blick verursachte Schauer auf ihrer Haut, fast ein Frieren, aber es war nicht unangenehm. Sie zuckte mit den Achseln gegen das Herzklopfen an und schluckte tapfer den dicken Brocken hinunter, der ihre Kehle blockierte, von dem sie nicht wusste, ob er aus Furcht oder aus Verlangen bestand.

Und dabei empfand sie es zum ersten Mal, dieses Zittern im Innern. Dieses sonderbare Gefühl, das sie ganz schwer machte und lahm, so als ob sie nicht mehr lange auf ihren eigenen Beinen stehen könnte. Alles in ihr drängte danach, sich fallen zu lassen - mitten in seine Arme.

Er rief einer jungen Frau hinter dem Bartresen zu: »Reich mal was rüber, Gerda!« Dann fragte er sie: »Du trinkst doch ein Glas mit mir, oder? Vielleicht hast du ja eben nicht alles verstanden. Ich meine, wenn du noch Fragen hast, frag nur. Wenn nicht, können wir uns auch über irgendwas anderes unterhalten.«

Als sie zögernd nickte, fragte er: »Was trinkste denn?«

Eigentlich nur Limonade oder Saft, aber das wäre in diesem Augenblick so gewesen, als hätte sie sich mit eigener Hand den Stempel »minderjährig« auf die Stirn gedrückt.

Als sie erneut mit den Achseln zuckte, lachte er und rief zu der Frau hinüber: »Eine Strawberry Margarita und ein Bier, aber übertreib‘s nicht mit dem Tequila.« Und etwas leiser, fast wie zu sich selbst: »Wir wollen doch keine Kinder besoffen machen. Wir wollen nur, dass sie zufrieden und glücklich sind. Und wir mögen es gar nicht, wenn sie einen falschen Eindruck von uns bekommen und am Ende noch denken, wir wären richtig böse Jungs.«

Warum er plötzlich im Plural sprach, begriff sie nicht, aber das war ihr auch egal. Sie warf den Kopf in den Nacken. Das taube Gefühl in den Gliedern verschwand allmählich wieder.

»Denke ich gar nicht«, erklärte sie. »Mir ist das egal, womit du dein Geld verdienst, ehrlich. Niemand wird gezwungen, sich Koks oder Ecstasy zu kaufen. Das kann jeder frei entscheiden. Wer meint, er braucht unbedingt so ’n Zeug, ist doch selber schuld. Ich brauche das nicht. Ich kann auch ohne Stoff träumen.«

Er grinste spöttisch, mit dieser Stärke und der Überlegenheit im Blick, die ihr sofort aufgefallen waren. Dann nahm er die beiden Gläser von der Bar und reichte ihr die Margarita. »Wie schön für dich«, sagte er. »Das können nicht viele.«

Später an dem Abend, als es längst unwichtig geworden war, dass sie ihn bei seinen Geschäften belauscht hatte, fragte er sie nach ihren Träumen, und sie erzählte ihm davon.

Es waren Träume aus Stein: grün und rot und blau, weiß mit leicht gelblichem Schimmer oder klar und funkelnd wie ein Wassertropfen in der Sonne. Träume, in denen sich das Licht brach. Und wenn man sie in die Hand nahm, was sie an ihrem Ausbildungsplatz häufig tun musste, hielt man eine versunkene Welt. Verschwundene Wälder, von Jahrmillionen zusammengepresst.

Das faszinierte sie, nur das, nicht der Preis, den man für einen Smaragd oder Rubin bezahlen musste, der groß genug war, dass man ihn auch richtig in der Hand fühlte. Doch das mochte sie nicht zugeben, nicht vor ihm, deshalb sprach sie auch von den Preisen. Vielleicht wollte sie ihm nur imponieren.

Aber das konnte er nicht zulassen. Er war der Meister. Er verkaufte die richtig bunten und billigen Träume, die sich jeder leisten konnte. Und er trug einen Zauberstab in der Hose, der kleine Mädchen atemlos machte, ihnen Herzklopfen und einen vibrierenden Magen bescherte. Beim Tanzen zog er sie so fest an sich, dass sie seine Erektion deutlich spürte. Es machte sie verlegen. Er lächelte, als ihm das auffiel. In seinen Augen spiegelten sich der Nebel und die Lichter. Und dahinter war noch etwas, Magie, diese Wolke aus Watte und Feuer, von der sie nachts so oft träumte, in der sie gerne einmal wirklich versunken wäre.

Er ließ den Blick nicht mehr von ihrem Gesicht, strich manchmal mit den Fingerspitzen über ihre Wangen oder zeichnete ihre Lippen nach und flüsterte ihr Dinge zu, die vorher noch niemand zu ihr gesagt hatte. Einmal nannte er sie ein vernünftiges Mädchen und sagte, wie sehr er es schätzte, wenn junge Mädchen vernünftig waren und nicht in der Gosse enden wollten, wenn sie genau wussten, was gut für sie war und was nicht.

Später nannte er sie süß und kostbar, kostbarer als alle Glitzersteine dieser Welt zusammen. Etwas, das einem Mann wie ihm nur einmal im Leben begegnete, das er deshalb von der ersten Minute an hüten und schützen musste bis in alle Ewigkeit.

Er wollte sie nach Hause fahren und war enttäuscht, als er hörte, dass sie in der WG ihrer Schwester übernachtete und mit zwei von Dorotheas Freundinnen gekommen war, die sie natürlich auch wieder mitnehmen würden. Daraufhin fragte er, wann und wo er sie wiedersehen könne.

Auf ein Wiedersehen wollte sie ihn nicht wochenlang warten lassen, weil sie befürchtete, er könne in der Zeit eine andere finden, die ihm besser gefiel. Sie wusste auch nicht, welche Disco als Nächste auf dem Plan stand. Ein Handy besaß sie nicht. Und beim nächsten Mal wäre Dorothea dabei, eine Vorstellung, die ihr nicht behagte. Deshalb sagte sie: »Wenn du Zeit und Lust hast, kannst du mich ja abends mal von der Arbeit abholen.«

»Zeit habe ich in rauen Mengen«, erwiderte er. »Über meine Lust müssen wir nicht reden, oder? Die hast du doch schon gefühlt.«

Daraufhin nannte sie ihm die Adresse von Albert Retling, bei dem sie lernte, kostbare Steine in Gold, manchmal auch in Platin zu fassen. Ein unauffälliges Einfamilienhaus, wie es in der Straße mehrere gab. Von außen sah niemand, dass es eine kaum einnehmbare Festung war.

Albert Retling war Goldschmied. Er belieferte Juweliere, erfüllte die oft ausgefallenen und immer sehr kostspieligen Wünsche gut betuchter Kunden. Ein eigenes Juweliergeschäft führte er nicht, er brauchte keine Verkaufsräume und kein Schaufenster, nichts, was Passanten hätte aufmerksam machen können.

Es gab nur die kleine Werkstatt im Keller, von außen nicht zu erreichen, von innen durch eine schwere Stahltür und eine moderne Alarmanlage gesichert, die auf ein gewaltsames Eindringen ins Haus reagierte.

Den Ausbildungsplatz hatte ihr Vater ihr beschafft, er war ein guter Bekannter der Retlings. Als ihr klar wurde, dass damit für sie nun ein Risiko verbunden war, bat sie, Henning möge doch lieber an der Bushaltestelle auf sie warten, damit niemand, der ihrem Vater bei nächster Gelegenheit davon erzählen könnte, sah, wie sie in sein Auto stieg.

»Kluges Mädchen«, lobte Henning und küsste sie zum Abschied. Nur mit den Lippen, ein traumhaft sanfter Kuss. Dann verschwand er im Nebel, ehe eine der jungen Frauen ihn zu Gesicht bekam.

Schon am Montagabend stand sein Auto nahe der Bushaltestelle in Köln-Raderthal, von der aus sie mit dem Bus nach Sülz fuhr, wo sie in die Straßenbahn umstieg, die sie zum Bahnhof nach Ehrenfeld brachte. Für das letzte Wegstück benutzte sie die S-Bahn. Es war ein umständlicher Weg zur Arbeit und zurück, doch das hatte sie bisher nicht gestört.

Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag war Henning ebenfalls da. Jeden Abend fuhr er sie heim, vorsichtshalber allerdings nicht bis zu ihrem Elternhaus. Jedes Mal fragte er, wie ihr Tag gewesen sei. Dafür interessierte sich sonst kein Mensch. Und jedes Mal bekam sie zum Abschied einen dieser traumhaft sanften Küsse – nur mit den Lippen.

Für einen Mann von fünfundzwanzig Jahren, der sie schon beim ersten Tanz seinen Zauberstab spüren ließ und anschließend von seiner Lust sprach, fand sie das arg zurückhaltend. Sie hätte zumindest den Kuss gerne mal etwas leidenschaftlicher gehabt – mit Zunge.

Wenn es noch eine Weile so weitergegangen wäre, hätte sie wohl eingesehen, dass Henning Schramm doch nicht so traumhaft war, wie sie es in der Disco empfunden hatte, hatte Ed gesagt. Dann hätte sie die Beziehung wahrscheinlich beendet, ehe daraus solch ein Desaster geworden wäre. Den entscheidenden Fehler hätte ihr Vater gemacht, auch wenn der das niemals einsehen oder zugeben würde, hatte Ed gesagt und erklärt, sie habe nur reagiert wie jedes andere Mädchen ihres Alters.

Dass es unangenehme Fragen und endlose Vorträge geben würde, sobald ihr Vater Wind von ihrer ersten, großen Liebe bekam, war ihr durchaus klar gewesen. Deshalb hatte sie in ihrem Tagebuch die erste Begegnung in die Wohngemeinschaft ihrer Schwester verlegt und Henning mit allen charakterlichen Eigenschaften ausgestattet, von denen sie annahm, dass sie Gnade in den Augen ihres Vaters fanden.

»Gestern Abend habe ich den Mann kennengelernt, von dem ich schon so lange träume«, hatte sie geschrieben. »Er kam zufällig vorbei, weil er nicht wusste, dass Dorothea und die anderen auf der Bowlingbahn waren. Wir haben uns so toll unterhalten, als würden wir uns seit einer Ewigkeit kennen. Er verstand alles und schaute mich an, als könne er ganz tief in meine Seele blicken.« Und so weiter.

Sie wusste, dass ihre Mutter regelmäßig in dem Tagebuch las. Hin und wieder wurde sie auf etwas angesprochen, was sie geschrieben hatte. Wobei ihre Mutter stets behauptete, da ginge ihr gerade etwas durch den Kopf, oder sie habe im Radio gehört, dass junge Mädchen heutzutage … und so weiter.

Sie wusste auch, dass Mutter mit Vater darüber sprach. »Wir müssen uns keine Sorgen machen, wenn sie bei Dorothea ist, Paul. Die feiern da keine wilden Partys. Patrizia passt wirklich nur auf die Kinder auf.« Das hatte sie selbst gehört.

Das Tagebuch stets bei sich zu tragen oder keine Eintragungen zu machen, hätte erst recht Misstrauen geweckt. Aber eine zufällige Begegnung in der WG … Sie hatte sich vorgestellt, darauf aufbauen zu können, wenn ihre Mutter den entsprechenden Eintrag entdeckt hatte und fragte, wie es denn letzten Samstag beim Babysitten gewesen wäre.

Bei aller Vorsicht und Weitsicht hatte sie nur eines nicht erwartet und deshalb auch nicht bedacht, dass Henning mit dem Auto sogar im abendlichen Berufsverkehr schneller war als die öffentlichen Verkehrsmittel. Hätte sie sich mal um zwanzig Minuten verspätet, wäre kaum jemand stutzig geworden. Es kam häufiger vor, dass ihr am Bahnhof in Ehrenfeld eine S-Bahn vor der Nase wegfuhr und sie auf die nächste warten musste. Aber dass sie seit Wochenbeginn regelmäßig etwas früher daheim eintraf, weckte den Argwohn ihres Vaters, der immer schon nachmittags nach Hause kam. Dann las er diesen Tagebucheintrag und zog völlig falsche Schlüsse.

Freitags bezog ihr Vater am frühen Abend Posten in der Nähe von Retlings Haus. Er sah sie zur Bushaltestelle laufen, sah sie in Hennings Auto steigen und folgte dem Wagen. Er schaute sich auch noch den Abschiedskuss in einer stillen Seitenstraße an und ließ sie beseelt das letzte Stückchen Heimweg antreten. In Empfang nahm er sie erst, als Henning längst außer Sicht war.

Dann überschüttete er sie mit Vorwürfen und verbot ihr jeden weiteren Umgang. Ein Fünfundzwanzigjähriger! Er meinte, Henning sei mit einer der jungen Mütter aus der WG liiert gewesen und hätte schon ein uneheliches Kind. Was hätte er denn sonst letzten Samstag in der Wohnung zu suchen gehabt?

Bei so einem könne man sich an zwei Fingern ausrechnen, wann er zur Sache käme, meinte ihr Vater und holte sie in den folgenden Wochen nun selbst jeden Abend bei Retlings ab. Er war überzeugt, dass Henning die Vergeblichkeit seiner Bemühungen bald einsehen und sich eine andere suchen würde.

Ein Irrtum, wie sich bald zeigte. Henning Schramm hatte Witterung aufgenommen, war wie ein Bluthund nicht mehr von ihrer Fährte gewichen und hatte sich auch von den Rambo-Methoden ihres Vaters nicht einschüchtern lassen.

So hatte Ed das einmal ausgedrückt.

Pünktlich um zehn, eine halbe Stunde, bevor seine Frau unvermittelt zurück in ihre Vergangenheit katapultiert wurde, hatte Doktor Edmund Bracht seine zweite Patientin für den Freitag ins gemütlich mit zwei Polstersesseln und Beistelltischchen eingerichtete Behandlungszimmer geführt. Eine Couch gab es bei ihm nicht, nur einen Teppich, der wie eine Barriere zwischen den beiden Sesseln lag. Ein raumhohes Bücherregal an der Stirnwand, hauptsächlich gefüllt mit Fachliteratur, verlieh dem Raum das Flair einer kleinen Bibliothek oder eines Lesezimmers, was auf viele Patienten entspannend wirkte.

Drei Termine reihten sich an diesem Vormittag aneinander. Fünfzig Minuten dauerte jede Sitzung, Begrüßung und Verabschiedung eingeschlossen. Dazwischen gönnte Edmund sich zehn Minuten Pause für einen Kaffee und ein paar Notizen. Während der Therapiestunden machte er nie welche, viele empfanden es als störend, wenn er etwas aufschrieb, während sie über ihre Nöte sprachen.

In komplizierten Fällen ließ er ein Bandgerät mitlaufen. Zu Beginn einer Behandlung tat er das grundsätzlich. Das Gerät war unauffällig im Bücherregal installiert und ließ sich von seinem Sessel aus bedienen, ohne dass Patienten etwas davon bemerkten. Aber wenn er einen Menschen und seine Probleme erst besser kennengelernt hatte, reichten ihm ein paar Stichworte nach der Sitzung völlig aus.

Die zweite Patientin an diesem Freitag hieß Anne Sobisch und frustrierte Edmund mehr, als er sich eingestehen mochte. Sie war Ende dreißig, kinderlos verheiratet und kam seit gut einem Jahr regelmäßig einmal in der Woche zu ihm.

Anne Sobisch arbeitete in der Verwaltung eines Großkonzerns und hatte sich vor drei Jahren auf ein Verhältnis mit einem ebenfalls verheirateten Kollegen eingelassen, dessen Frau zu der Zeit zum zweiten Mal schwanger gewesen war.

Diese Affäre stand in krassem Gegensatz zu Anne Sobischs moralinsaurer Erziehung und ihren Vorstellungen von Treue und Vertrauen in einer Ehe. Sie hatte ernsthafte gesundheitliche Probleme bekommen, einen hartnäckigen und sehr schmerzhaften Hautausschlag, Unterleibskrämpfe und andere Beschwerden, die ihren Hausarzt nach einer Odyssee durch verschiedene Facharztpraxen schließlich veranlasst hatten, ihr eine Psychotherapie nahezulegen.

Die physischen Symptome waren inzwischen weitgehend abgeklungen. In den letzten Stunden mit ihr hatte Edmund geglaubt, Anne Sobisch sei auf dem besten Weg, ein paar wichtige Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen und ihrem Liebhaber bei der nächsten Annäherung ein entschiedenes und endgültiges Nein entgegenzuhalten. Nun bewies sie ihm das Gegenteil.

»Ich war gestern wieder mit ihm zusammen, aber nur für zehn Minuten in der Toilette.« Eine Ortswahl, die sie als großes Risiko und gleichzeitig als große Demütigung empfunden haben musste. In die Toilette gehörten schließlich nur unaussprechliche Schweinereien.

Ihre Finger nestelten am Rocksaum. In Hosen hatte Edmund sie noch nie gesehen. Ihr Gesicht blieb dem Teppich zugewandt. Anne Sobisch wartete auf die Verurteilung, zumindest auf eine Moralpredigt, wie ihre Eltern ihr jetzt wohl eine gehalten hätten. Aber das war nicht seine Aufgabe als Therapeut. Abgesehen davon hätte er sich eher diesen Schmarotzer vorgeknöpft, für den Anne Sobisch vermutlich nichts weiter als ein verklemmter und gerade deshalb amüsanter Zeitvertreib war. Ein Weibchen ohne Rückgrat und eigenen Willen, das nie gelernt hatte, sich zu widersetzen, bei dem sich auch ein Schwächling und Versager, der daheim springen musste, wenn die Gattin pfiff, als Heros und Eroberer fühlen konnte.

Edmund hatte nichts übrig für Männer, die ihr Vergnügen und ihren Vorteil auf Kosten anderer suchten und speziell die Hilflosen und Schwachen aufs Korn nahmen, weil sie bei den anderen nichts erreichten. So einer war Anne Sobischs Liebhaber seiner Meinung nach.

Dass sie dem Kerl erneut nachgegeben hatte, beschwor in Edmund Bilder herauf, mit denen er sich nicht gerne auseinandersetzte. Unvermittelt sah er Patrizia vor sich. Die andere Patrizia, nicht die Frau, mit der er verheiratet war, sondern die Patientin, als die er sie kennengelernt hatte.

Blutjung, unerfahren und leicht manipulierbar, hilflos einer Flut von widersprüchlichen Gefühlen ausgeliefert. Von einem Mann ohne Gewissen ausgenutzt und beinahe zugrunde gerichtet. Einem Scheusal, dem es gelungen war, sie in jeder Hinsicht von sich abhängig zu machen. Süchtig nach Henning Schramm war sie gewesen, in eine Art von Hörigkeit geraten, wie Edmund zuvor noch keine gesehen und gewiss keine behandelt hatte.

Bei einem Hang zur Esoterik hätte man die Erinnerungen, die sich da plötzlich vor sein geistiges Auge schoben, durchaus als Alarmsignal, dunkle Vorahnung oder mentalen Hilferuf werten können. Doch an solche Dinge glaubte Edmund nicht. Er war durch und durch Realist. Und Patrizia war seit Jahren geheilt. Sie war heute ein ganz anderer Mensch als der, den Henning Schramm vor knapp acht Jahren in seine Finger bekommen hatte. Patrizia war sozusagen ein neuer Mensch. Und das war ausschließlich der Verdienst ihres Therapeuten. Sein Verdienst.

Er hatte ihr in aller Deutlichkeit erklärt, was damals mit ihr geschehen war und warum es hatte geschehen können. Vielleicht hatte sie nicht alles begriffen, was er ihr begreiflich zu machen versuchte. Aber so viel immerhin hatte sie verstanden: dass sein Wort die letzte und einzige Wahrheit darstellte. Mochten hundert andere das Gegenteil behaupten – die irrten sich dann eben. Patrizia würde nie wieder in solch eine Situation geraten. Davon war Edmund an diesem Vormittag noch felsenfest überzeugt.

Sie waren seit drei Jahren verheiratet. Patrizia war fünfundzwanzig, Edmund vierundvierzig, er wirkte jedoch jünger, hatte immer auf sein Aussehen und seine Kondition geachtet und war sich einer gewissen Eitelkeit sehr wohl bewusst. Er trieb Sport, ging regelmäßig zweimal in der Woche schwimmen und spielte Squash, wann immer seine Zeit das erlaubte. Im Urlaub kamen je nach Jahreszeit tauchen, reiten, wandern und Ski fahren hinzu.

Und was die innere Ausgeglichenheit betraf: eine hübsche, junge, leidenschaftliche Frau, die ihr Verlangen ohne Hemmungen und ohne falsche Scham zeigen konnte. Die Harmonie einer guten Ehe, die Übereinstimmung in allen wichtigen Punkten. Was wollte ein Mann mehr?

Der vergangene Abend war wieder einmal perfekt gewesen. Ein köstliches Essen. Patrizia war eine ausgezeichnete Köchin und verstand sich darauf, eine romantische Atmosphäre zu schaffen. Brennende Kerzen, stimmungsvolle Musik im Hintergrund, genauso, wie er es mochte. Das Dessert vor dem Kamin im Wohnzimmer. Anschließend ein guter Film.

Obwohl Patrizia von der Handlung bei Weitem nicht so fasziniert war wie er, zeigte sie keine Anzeichen von Ungeduld oder Langeweile. Wie in Gedanken versunken saß sie mit untergezogenen Beinen neben ihm auf der Couch. Hin und wieder spielte die Andeutung eines verträumten Lächelns um ihre Lippen.

Edmund kannte diese Haltung an seiner Frau zur Genüge und wusste genau, womit sie sich insgeheim beschäftigte, was ihn seinerseits nicht kalt ließ. Als der Abspann über den Bildschirm flimmerte, rutschte sie von der Couch, kniete sich davor auf den Boden, schaute noch kurz und mit vor Erregung geweiteten Pupillen zu ihm auf. Dann legte sie ihren Kopf auf die Sitzfläche, schloss die Augen und wartete auf ihn. Lange hatte sie nicht warten müssen.

Patrizia mochte diese schnellen, heftigen Akte und benutzte sie häufig als Vorbereitung für eine ausgedehnte Nacht, wofür er gestern allerdings zu müde gewesen war. Sie versetzte sich selbst in die richtige Stimmung, indem sie zuvor ihrer Phantasie freien Lauf ließ. In solchen Momenten durfte er sie gar nicht berühren, weil jede Berührung die falsche sein konnte. Er wusste das. Und er ging selbstverständlich davon aus, dass er eine wichtige Rolle in Patrizias Phantasien spielte. Er! Und nicht etwa dieser Widerling Henning Schramm. Den hatten sie doch gemeinsam abgehakt und aus Patrizias Leben gestrichen. Nicht unbedingt nach den Regeln einer Psychotherapie, dafür umso wirkungsvoller.

Ursprünglich hatte er sie damals nicht als Patientin annehmen wollen. Und wäre er schon im Vorfeld umfassend informiert worden, hätte er es rundweg abgelehnt, sie zu behandeln, und sie nie zu Gesicht bekommen. Aber der Kollege, der ihn darum bat, ein Facharzt für Psychiatrie, sagte nur: »Ich würde es selbst übernehmen, Ed, aber zeitlich schaffe ich das nicht. Ich kenne auch den Vater recht gut. Es ist vielleicht besser, wenn jemand mit der nötigen Kompetenz unvoreingenommen an die Sache herangeht.«

Die Sache war ein auf vierzig Kilo abgemagertes, völlig apathisches achtzehnjähriges Mädchen, mehr tot als lebendig. Tochter aus gutem Hause, in geordneten Verhältnissen aufgewachsen. Die Familie lebte in Frechen-Königsdorf.

Die Mutter war Hausfrau und hatte seit der Eheschließung nichts anderes mehr getan, als sich um Heim und Herd zu kümmern, den Ehemann und zwei Töchter zu umsorgen, ein bisschen Gartenarbeit war wohl auch noch dazu gekommen.

Der Vater war in gehobener Position beim Landschaftsverband Rheinland beschäftigt und zuständig für die Unterbringung psychisch Kranker. Darin begründete sich die Bekanntschaft mit Edmunds Kollegen – und dessen Widerwillen gegen das Ansinnen einer ambulanten Behandlung. Mit mangelnder Zeit hatte das wenig zu tun. Aber das begriff Edmund erst, als er schon mittendrin steckte in der Sache, geködert mit dem läppischen Kompliment seiner Kompetenz.

Zum Vorgespräch kam Paul Großmann allein. Auch dabei erfuhr Edmund kein Wort zu viel, hörte nur, dass Patrizia körperlich und geistig in einem kritischen Zustand sei. Den Worten ihres Vaters zufolge war sie einem Ganoven verfallen, der noch niemals einer geregelten Arbeit nachgegangen war.

»Schramm verdiente seinen Lebensunterhalt hauptsächlich mit Drogenhandel«, erklärte Paul. »Daraus machte er auch keinen Hehl. Den hätten Sie vor Gericht hören müssen. Ich verstehe die Anwälte nicht, die sich für solche Scheusale einsetzen können.«

Der Prozess gegen Henning Schramm lag bereits drei Monate zurück. Ebenso lange bemühten sich Patrizias Eltern, der Selbstzerfleischung ihrer jüngsten Tochter ein Ende zu machen. Zweimal hatte sie bereits Tabletten geschluckt, zum Glück nur harmloses Zeug, mit dem sie sich Übelkeit und Kopfschmerzen eingehandelt hatte, aber nicht den ersehnten Tod.

Seitdem war sie keine Sekunde mehr ohne Aufsicht. Ins Bad ging sie nur noch in Begleitung ihrer Mutter. Nachts schlief sie zwischen ihren Eltern im Ehebett. Und beim Frühstück wechselten sie sich ab, Paul und seine Frau. »Ein Häppchen Toast, Patrizia, nur ein Häppchen, bitte, du musst doch etwas essen. Und ein Schlückchen Kakao. Jetzt mach den Mund auf, bitte.«

Wenn man ihr etwas in den Mund schob oder einen Becher an die Lippen hielt und sie inständig darum bat, aß und trank sie etwas. Aus eigenem Antrieb tat sie das nicht. Sie sprach auch nicht mehr, schien blind und taub für ihre Umgebung, hatte sich völlig in sich selbst oder sonst wohin zurückgezogen.

Paul Großmann hatte sich beurlauben lassen, weil seine Frau mit Patrizias Betreuung hoffnungslos überfordert war. Aber auch er war mittlerweile mit seiner Weisheit und seinen Nerven am Ende, wie er eingestehen musste.

»Sie besteht nur noch aus Haut und Knochen«, erklärte er. »Ihre Regel hat ausgesetzt. Meine Frau traut sich kaum noch, sie anzufassen, aus Angst, ihr den Arm oder die Rippen zu brechen. Aber ich kann sie ja nicht unter die Dusche stellen.«

An diesem Punkt des Gesprächs wies Edmund zwar darauf hin, dass er der falsche Ansprechpartner sei. Wenn ihr Vater ihren Zustand nicht übertrieben darstellte, musste Patrizia Großmann umgehend in eine Klinik gebracht werden, allein schon, um ihre körperliche Verfassung zu verbessern. Vierzig Kilo!

Doch der Therapeut in ihm, der sich mehr für das Warum als für sonst etwas interessierte, fragte gleich anschließend: »Wurde sie missbraucht?«

Ein Ganove, der sein Geld nur hauptsächlich mit Drogenhandel verdiente, musste noch Nebeneinkünfte haben. Es war Edmund in Fleisch und Blut übergegangen, alles, was er hörte, auf Zwischentöne abzuklopfen und verräterische Hinweise aufzuspüren. Und wenn dieser Henning Schramm seine blutjunge Freundin mit Heroin oder sonst etwas gefügig gemacht und auf den Strich geschickt hatte: erzwungene Prostitution wäre eine plausible Erklärung für die geschilderten Symptome gewesen.

Das wies ihr Vater weit von sich. »Ich war mit ihr bei mehreren Ärzten, auch bei einem Gynäkologen. Sie ist unversehrt und nicht mit Rauschgift in Berührung gekommen. Wir dachten zuerst auch, Schramm hätte sie unter Drogen gesetzt, weil sie solch einem Subjekt unter normalen Voraussetzungen niemals auf den Leim gegangen wäre. Aufgefallen war uns allerdings nichts. Und die Tests, die in den letzten Wochen mit ihr gemacht wurden, waren alle negativ.«

»Nicht jede Droge ist endlos lange im Körper nachweisbar«, sagte Edmund. »Bei manchen Substanzen gelingt der Nachweis schon nach einigen Stunden nicht mehr.«

»Das ist mir bekannt«, erwiderte Paul. »Ich weiß auch, dass es Pillen gibt, die einen jungen Menschen innerhalb kürzester Zeit in einen Zombie verwandeln. Und ich würde nicht ausschließen, dass dieses Scheusal ihr in letzter Sekunde so etwas zugesteckt hat. Aber die neurologische Untersuchung hat nichts dergleichen ergeben. Der Neurologe meinte, ihr Zustand sei nur eine krasse Form von Liebeskummer. Was ich davon halten soll, weiß ich nicht. Wenn man noch einen Funken Anstand im Leib hat, kann man so einen Kerl doch nicht lieben.«

Eine aufschlussreiche Argumentation, fand Edmund. »Der Funken Anstand« bezog sich ja wohl auf Patrizia und bestärkte ihn in seiner ersten Vermutung Missbrauch. In manchen Familien wurde dem Opfer die Schuld gegeben.

Es reizte ihn, das ließ sich nicht leugnen, obwohl etwas in ihm gleichzeitig mit beiden Händen abwinkte. Lass die Finger davon, alter Junge. Ein Mädchen, das nicht sprach … Er war darauf angewiesen, dass seine Patienten den Mund aufmachten. Dass sie ihm ihre Nöte, Beschwerden, Probleme und Gefühle persönlich schilderten. Mit Spekulationen und nicht zwangsläufig zutreffenden Behauptungen der Familie war ihm nicht geholfen.

Und wenn er Patrizia zum Reden und zurück auf den Weg ins Leben brachte … Es war ein brisantes Unterfangen, wobei das Risiko für sie entschieden größer war als für ihn. Sie hatte bereits zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Unter Umständen, das erklärte er ihrem Vater auch, gelang es ihm, sie aus ihrer Lethargie zu reißen. Und möglicherweise versetzte er sie damit in die Lage, einen weiteren und diesmal erfolgreichen Selbstmordversuch zu unternehmen.

Die psychiatrische Abteilung einer Klinik wäre nach Lage der Dinge die entschieden bessere Lösung gewesen. Nur wollte Paul seine Jüngste auf gar keinen Fall einweisen lassen. In psychiatrischen Abteilungen kannte er sich schließlich bestens aus.

»Da hat sie keine Chance«, meinte er. »Ich weiß, wie es da zugeht. Niemand hat wirklich Zeit, auf die Patienten einzugehen. Wer noch mitarbeiten kann, wird in eine Gruppentherapie gesteckt oder mit einem Malkurs beschäftigt. Die schweren Fälle werden mit Medikamenten ruhiggestellt, die man getrost gleichsetzen kann mit dem Zeug, das Schramm verkauft hat.«

Ganz so war es nicht, was Paul wissen musste. Entweder wollte er seine Jüngste nicht mit dem Stempel »Klapsmühle« versehen, oder – diese Möglichkeit hielt Edmund für wahrscheinlicher –, der besorgte Vater befürchtete, bei einem Klinikaufenthalt kämen Dinge ans Licht, die er nicht in einer Gruppe erörtern lassen wollte.

»Schramm hat irgendetwas mit ihr gemacht«, beharrte Paul. »Bis zum Prozess war sie noch normal, schockiert natürlich, weil ihr Freund verhaftet worden war, auch verstockt, weil wir ihr prophezeit hatten, dass es mit diesem Kerl ein böses Ende nehmen wird. Siebzehnjährige schätzen es nun mal nicht, wenn ihre Eltern recht behalten, nicht wahr?«

Edmund signalisierte mit einem Nicken seine Zustimmung, er konnte sich das lebhaft vorstellen. »Haben wir dir nicht die ganze Zeit gesagt …«

»Aber man konnte mit ihr reden«, fuhr Paul fort. »Sie nahm an den Mahlzeiten teil und versuchte dabei jedes Mal, mich umzustimmen.«

»In welcher Hinsicht?«, fragte Edmund.

»Es waren drei Verhandlungstage angesetzt«, erklärte Paul daraufhin. »Sie wollte unbedingt mit, das habe ich nicht zugelassen. Ich dachte, es sei besser, wenn man sie nicht noch einmal in die Nähe dieses Kerls lässt. Vielleicht war das ein Fehler. Was da alles zur Sprache kam, unfassbar … Und glauben Sie jetzt nicht, vonseiten der Staatsanwältin! Schramm hat das Maul aufgerissen und über Patrizia hergezogen, als wäre sie der letzte Dreck. Es wäre vermutlich besser gewesen, wenn sie das von ihm selbst gehört hätte, mir hat sie es nämlich nicht geglaubt. Zur Urteilsverkündung habe ich sie dann mitgenommen. Aber da hat er den Mund leider nicht mehr aufgemacht, hat sie nur angeschaut. Erst als er abgeführt wurde, sprach er sie an. Und sie stürzte auf ihn zu, klammerte sich an ihn. Man musste sie mit Gewalt von ihm losreißen. Seitdem ist sie so. Wenn er ihr keine Pille gegeben hat, steht sie vielleicht unter Hypnose. Oder der Kerl hat sie verhext, was ich auch nicht völlig von der Hand weisen würde. In den Medien nannten sie ihn einen Rasputin. Haben Sie nichts davon gehört oder gelesen?«

Hatte Edmund nicht. Sonst hätte er gewusst, weswegen Henning Schramm verurteilt worden war. Er vermutete den Grund im erwähnten Drogenhandel und den Nebeneinkünften. Für Zuhälter waren ihre Mädchen häufig der letzte Dreck.