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Nur ihren Mörder zu finden, ist nicht genug
Die Restaurantbesitzerin Marisa Behrend gab zurück, was sie bekam: Liebe, Zuwendung, Treue, Freundschaft. Jeder wusste das, alle bewunderten sie. Und dennoch musste sie jemand so gehasst haben, dass er sie nackt, ans Bett gefesselt, umbrachte. Ein Gast? Der Liebhaber? Ihr Arzt? Als Kriminalhauptkommissar Rolf Wegener die Ermittlungen aufnimmt, ahnt er nicht, in welchen Abgrund er hineingezogen wird. Zu spät erkennt er die Gefahr für sich selbst ...
Petra Hammesfahr macht aus den dunklen Seiten des Lebens Hochspannung.…
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Seitenzahl: 492
Das Buch
Als Rolf Wegener in einer Kleinstadt bei Köln die Ermittlungen im Fall Marisa Behrend aufnimmt, hat er das Kapitel Frauen abgeschlossen. Seine Ehe mit Ellen ist zerrüttet, die Beziehung zu seiner Mutter ist auch nach deren Tod von Schuldgefühlen geprägt. Mit 42 Jahren will der Kriminalhauptkommissar sich nur noch auf seinen Job konzentrieren und nicht mehr über sein Leben nachdenken. Doch das Schicksal von Marisa, die offensichtlich voller Geheimnisse steckte, lässt ihn nicht mehr los. Hätte er den Mord verhindern können, wenn er in jener Samstagnacht vor Pfingsten nicht an dem Restaurant im Wald vorbeigefahren wäre? Und hätte Marisa ihn dann glücklich machen können? Immer mehr wird Wegeners objektiver Blick getrübt, bis er nur noch einen Ausweg sieht …
Die Frau, die Männer mochte ist der erste Roman von Petra Hammesfahr und erscheint nun erstmalig nach 25 Jahren in neuer Auflage und um 100 Seiten erweitert.
Die Autorin
Petra Hammesfahr wusste schon früh, dass Schreiben ihr Leben bestimmen würde. Mit siebzehn verfasste sie ihre ersten Geschichten, aber erst fünfundzwanzig Jahre später kam mit Der stille Herr Genardy der große Erfolg. Seitdem erobern ihre Spannungsromane die Bestsellerlisten, werden mit Preisen ausgezeichnet und erfolgreich verfilmt, wie Die Lüge mit Natalia Wörner in der Hauptrolle. Die Autorin lebt in der Nähe von Köln, wo fast alle ihre Bücher spielen, so auch An einem Tag im November, ihr neuestes Buch.
PETRA HAMMESFAHR
Die Frau,
die Männer mochte
ROMAN
Überarbeitete Taschenbuchneuausgabe 10/2015
Copyright © 2015 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Der Roman erschien zuvor 1991 unter demselben Titel
beim Verlag Bastei Lübbe, Köln.
Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv |© Hayden Verry/Arcangel Images;
shutterstock/Paul Aniszewski
Satz | Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-16162-0
www.diana-verlag.de
1. Teil
Swetlana
Swetlana starb auf eine so grausame Weise wie vor ihr noch kein Mensch im Kreis Heimberg. Die junge Polin gehörte zu einer Gruppe von Erntehelfern, die jedes Frühjahr beim selben Landwirt antraten, um Spargel zu stechen und Erdbeeren zu pflücken. Swetlana arbeitete schon in der dritten Saison auf dem Gehöft nahe der kleinen Ortschaft Niederfelden. Der Landwirt war sehr zufrieden mit ihr, bezeichnete sie als fleißig und zuverlässig.
Am 21. Mai, das war der Dienstag nach Pfingsten, verließ Swetlana nach dem gemeinsamen Abendessen gegen zwanzig Uhr dreißig die Unterkunft, um in Niederfelden etwas zu erledigen; mit diesem Ausdruck erklärte sie einem Landsmann ihr Weggehen. Einkäufe oder ein Arztbesuch waren aufgrund der späten Stunde auszuschließen. Aber mehr konnte man in Niederfelden gar nicht erledigen.
Von dem Gehöft bis zum Ortsrand war es ein Fußmarsch von gut drei Kilometern. Das erste Viertel führte über einen asphaltierten Wirtschaftsweg, auf dem abends kein Verkehr herrschte, es sei denn, jemand fuhr vom Hof zur Landstraße, die wochentags um diese Zeit auch nicht mehr stark befahren war.
Zurück kam Swetlana nicht.
Nachdem man den folgenden Mittwoch und Donnerstag auf ein Zeichen von der jungen Erntehelferin gewartet hatte, meldete der Landwirt ihr Verschwinden am Freitag, den 24. Mai der Polizei in der nahe gelegenen Kreisstadt Heimberg. Es wurde eine Vermisstenanzeige aufgenommen; für weitere polizeiliche Maßnahmen gab es keine gesetzliche Handhabe. Swetlana war eine erwachsene Frau von vierundzwanzig Jahren. Es passte zwar nicht zu einer fleißigen und zuverlässigen Person, einfach zu verschwinden und sämtliche Habseligkeiten in der Unterkunft zurückzulassen. Aber ihren Pass schien sie immerhin mitgenommen zu haben, ebenso ihr Handy und die Geldbörse. In solch einem Fall wartete man üblicherweise einige Tage ab, ob die Vermisste wieder in ihrem Quartier auftauchte oder anderswo, zum Beispiel in ihrem Heimatort.
Am 27. Mai wurde Interpol informiert. Und tags darauf, am Dienstag, genau eine Woche nach Swetlanas Verschwinden, trainierte auf einem der Wirtschaftswege rund um Niederfelden ein Radsportler. Bei einem rasanten Überholmanöver drängte ein motorisierter Rüpel den Mann aus der Spur, sodass er bei seinem abrupten Ausweichmanöver einen neben dem Weg verlaufenden schadhaften Maschendrahtzaun durchbrach und auf das dahinterliegende Gelände geriet.
Bis vor drei Jahren war auf diesem Stück Land eine Forellenzucht betrieben worden. Nach dem Tod des Eigentümers hatte sich keiner mehr darum gekümmert. Vonseiten der Stadtwerke waren nur Wasser und Strom abgesperrt worden. Doch niemand hatte veranlasst, die Fischteiche zu leeren oder abzudecken. Der Radsportler stürzte mitsamt seinem Hightech-Gefährt in eine mehr als trübe Brühe. Swetlanas unbekleidete, aufgedunsene und von Verwesung bereits scheckige Leiche verfehlte er nur knapp.
Laut Obduktionsbefund war die junge Polin kurz nach ihrer letzten Mahlzeit – dem gemeinsamen Abendessen in der Unterkunft – ums Leben gekommen. Ihren Verletzungen nach zu urteilen, war sie angefahren worden, ob aus Versehen oder absichtlich, ließ sich nicht feststellen. Aber ihr rechter Unterschenkel und diverse Knochen des Gesichtsschädels dürften beim Zusammenstoß mit einem Pkw und dem Aufprall auf die Motorhaube gebrochen sein.
Als man sie aus dem Teich zog, war um ihren Hals noch das Abschleppseil gezurrt, mit dem der Täter sie anschließend hinter dem fahrenden Auto hergeschleift haben musste. Dabei waren höchstwahrscheinlich ihr Genick gebrochen und ihr Kehlkopf zerquetscht worden. Zudem hatte sie fünf Stichwunden im Unterleib und sieben im Oberkörper, von denen drei zum Tod geführt hätten, wäre Swetlana nicht bereits tot gewesen, als auf sie eingestochen wurde. »Overkill« nannten Kriminologen solch ein Tatgeschehen, bei dem der Täter eine ungeheure Wut am bereits toten oder sterbenden Opfer austobte.
»Hoffen wir, dass das eine persönliche Geschichte war und der Typ nur so ausgerastet ist, weil Swetlana ihn abservieren wollte«, sagte Oberkommissar Lothar Winkelmeier zu Rolf Wegener, dem Dezernatsleiter für Schwerkriminalität und Kapitaldelikte. »Wenn der Kerl nur Stress mit Mutti, Frauchen oder der Freundin hatte und sich auf eine so abscheuliche Weise an einer unbeteiligten Frau abreagieren musste, könnten wir ein echtes Problem bekommen.«
Ellen
Für Rolf Wegener war der Dienstag nach Pfingsten, an dem Swetlana die Unterkunft verließ und kurz darauf sterben musste, ein besonderer Tag gewesen: Sein 15. Hochzeitstag und gleichzeitig der Geburtstag seiner Frau, Ellen hieß sie und wurde achtunddreißig. Vor der Trauung hatten sie schon fast drei Jahre lang zusammengelebt. So kamen sie insgesamt auf beinahe achtzehn gemeinsame Jahre.
Ellen war vier Jahre jünger als Rolf Wegener und im Alter von wenigen Wochen ihrer drogensüchtigen Mutter weggenommen worden. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, wusste nicht einmal seinen Namen. Als Baby hatte Ellen, bedingt durch die Abhängigkeit ihrer Mutter, gesundheitliche Probleme gehabt. Vermutlich hatte sich deshalb nie ein adoptionswilliges Paar für sie gefunden. Aufgewachsen war sie bei verschiedenen Pflegefamilien und in Kinderheimen. Dort hatte sie gelernt, für ihre Rechte zu kämpfen, sich nichts gefallen und von keinem die Butter vom Brot nehmen zu lassen, wie sie es ausdrückte.
Zum ersten Mal gesehen hatte Rolf Wegener sie an einem Samstagabend in einer verrufenen Spelunke, in die Ellen, wie er damals fand, überhaupt nicht hineinpasste. Sie war in der Woche zwanzig geworden, hatte den runden Geburtstag am Samstagabend feiern und etwas Außergewöhnliches erleben wollen, erzählte sie ihm später. Zu dem Erlebnis hatte er ihr verholfen.
Er nahm damals als junger Polizist im Wach- und Wechseldienst an einer Razzia teil, und Ellen konnte beziehungsweise wollte sich nicht ausweisen. Sie hatte ihren Ausweis sehr wohl dabei. Aber das erfuhr Rolf Wegener erst, als er sie gegen Morgen heimbrachte. Da war er ihr bereits mit Haut und Haaren verfallen.
Ellens Zuhause bestand zu der Zeit aus einem Zimmer in einer Wohngemeinschaft von acht jungen Leuten: drei Frauen, fünf Männer, die sich unentwegt die Köpfe über schwerwiegende Themen heiß redeten und über Gott und die Welt philosophierten. In den verlotterten Haufen passte Ellen seiner Meinung nach auch nicht hinein.
Ein ausnehmend hübscher Anblick war sie mit ihrem kastanienbraunen, schulterlangen Haar und dem dezenten Make-up, das ihr Gesicht an den richtigen Stellen betonte. Als schrill konnte man es wahrhaftig nicht bezeichnen. Schrill war damals nichts an Ellen. Es war alles perfekt und umgeben von einem betörenden Duft.
Sexuelle Erfahrungen mit Frauen hatte Rolf Wegener bis dahin noch nicht viele gesammelt. Allerdings hatte ihn Achim Schulte, der Nachbarssohn, mit dem er seit der gemeinsamen Schulzeit befreundet war, nur zwei Tage, vielmehr Nächte vor dieser Razzia für einen Abend mit auf eine verhängnisvolle Tour geschleppt.
Achim Schulte stand unmittelbar vor der Hochzeit und wollteseinen Abschied vom Junggesellendasein gebührend feiern, »noch mal richtig auf den Putz hauen«, wie er sagte. Zuerst waren sie in einer Bar gewesen, danach in einem Bordell. Für Rolf Wegener endete dieser Ausflug, der ihm von vorneherein nicht ganz geheuer gewesen war, in einer Blamage mit üblen Folgen. Er stellte sich so ungeschickt an, dass das Kondom platzte und die Frau, mit der er zusammen war, sich von einer Sekunde zur nächsten in eine Furie verwandelte. »Ich hoffe, du bist gesund!«, fauchte sie ihn an.
Selbstverständlich war er das.
Und bei der Razzia war er überzeugt, unverändert gesund zu sein, sonst hätte er sich bestimmt nicht auf Ellens Vorschlag einer Leibesvisitation eingelassen, um ihren Ausweis aufzuspüren. Erst drei Tage danach bekam er Ausfluss und verspürte ein Brennen beim Harnlassen. Er ging sofort zum Arzt, der einen Tripper diagnostizierte. Ellens Frauenarzt stellte bei ihr anschließend dieselbe Infektion fest, was Rolf Wegener entsetzlich leidtat. Natürlich wurden sie beide umgehend behandelt, und damit schien die Sache ausgestanden.
Für Rolf Wegener war Ellen die berühmt-berüchtigte Liebe auf den ersten Blick. Ihr sei es ebenso ergangen, behauptete sie in den ersten Jahren oft, deshalb habe sie das Spiel mit dem vermeintlich vergessenen Ausweis gespielt. Ellen wusste eben schon mit zwanzig Jahren ganz genau, was sie wollte und wie sie es erreichte. Was gut für ihn war, wusste sie auch, holte ihn raus aus Niederfelden, weg von seiner Mutter, unter deren Dach er noch lebte, als sie sich kennenlernten.
Ellen fand in der Kreisstadt Heimberg ein neues Domizil für sie beide: eine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss eines vierstöckigen Mietshauses am Stadtrand, ein Neubau zu der Zeit, gerade erst fertiggestellt. Alleine hätte Ellen sich die Wohnung nicht leisten können. Sie arbeitete in einem Maklerbüro und verdiente nicht schlecht. Aber sie legte großen Wert auf ihr Äußeres: schicke Klamotten, regelmäßige Friseurbesuche, Make-up, teure Cremes und dieses Wahnsinnsparfüm, das auch seinen Preis hatte.
Und er liebte sie ja hübsch und duftend. Er wollte gar nicht, dass sie auf etwas verzichten musste. Also mietete er die Wohnung und kam für die Einrichtung auf. Nur drei Monate nach besagter Razzia zogen sie ein, um festzustellen, ob sie auch im Alltag gut miteinander auskamen. Es war die pure Harmonie.
Wie hatte er Ellen geliebt, mehr als das, vergöttert und angebetet hatte er sie, sich für auserwählt gehalten und gedacht, sie sei genau die richtige Frau für ihn und die einzige, mit der er es bis ans Ende seiner Tage aushalten könne, bei der er all das fand, was er brauchte, um sich im sexten und siebten Himmel gleichzeitig zu wähnen. Er war restlos glücklich mit ihr.
Es gab nie einen Streit, nicht mal dezente Vorwürfe, wenn sein Dienstplan ihnen wieder einen Strich durchs Wochenende oder Feiertage machte. Geld war ebenso wenig ein Thema. Anfangs verdienten sie beide etwa gleich viel. Er zahlte für die Wohnung, notwendige Versicherungen und drei Jahre lang die Raten für die Möbel. Ellen bestritt den Haushalt und organisierte die gemeinsamen Freizeitaktivitäten. Am liebsten verbrachten sie beide ihre freien Stunden in trauter Zweisamkeit. Dazu gab es hin und wieder einen Kinobesuch oder ein Picknick, bei dem sie ihn mit den besten Häppchen verwöhnte. Waldspaziergänge standen bei Ellen ebenfalls hoch im Kurs, Liebe in freier Natur, damit es nur ja nicht eintönig wurde. Gegen eine Einladung aus seinem Kollegenkreis erhob sie zwar auch keine Einwände. Aber allzu häufig musste das nicht sein.
Auch sieben Jahre nach der Hochzeit hielt Rolf Wegener sich an Ellens Seite noch für so auserwählt wie am ersten Tag. In diesen Jahren war das Heimberger Polizeipräsidium mit der Hauptwache im Erdgeschoss, ein schmuckloser dreistöckiger Betonbau aus den Sechzigerjahren, für ihn ausschließlich sein Arbeitsplatz.
Er wechselte vom Wach- und Wechsel- in den Ermittlungsdienst, hatte zwar anfangs oft Bereitschaft, aber einigermaßen pünktlich Schluss. Wenn nichts dazwischenkam, war er vor Ellen zu Hause. Ihr Chef kannte keinen Feierabend und erwartete von seinen Mitarbeiterinnen dieselbe Einsatzbereitschaft, vor allem in den Abendstunden, wenn Berufstätige Wohnungen oder Häuser besichtigen wollten.
Es konnte durchaus neun Uhr werden, ehe Ellen endlich den Flur betrat und ihre Pumps von den Füßen streifte. Bis dahin hatte Rolf Wegener sich im Haushalt nützlich gemacht. Müll rausgebracht, Fußböden gewischt oder gesaugt, Fenster geputzt, Betten frisch bezogen, Wäsche gewaschen und gebügelt, was eben zu erledigen war. Nur kochen konnte er nicht. Aber wenn es bei Ellen zu spät wurde, um sich noch an den Herd zu stellen, besorgte sie das Abendessen auf dem Heimweg.
Kinder standen in diesen ersten sieben Jahren nicht zur Debatte. Die bekäme man später noch früh genug, sagte Ellen regelmäßig, wenn das Thema angeschnitten wurde, in der Regel von seiner Mutter. Die war für Ellen ohnehin ein rotes Tuch.
Ein monatlicher Pflichtbesuch in Niederfelden, im Höchstfall zwei Stunden, in denen sie sich bei Kaffee und einem Stück Torte die Fragen nach einem Enkelchen, das Jammern der miesepetrigen Alten und deren stete Vorwürfe der Vernachlässigung anhörte, reichten Ellen vollauf, wenn sie überhaupt mitfuhr. Das tat sie extrem selten, nahm lieber ein Bad in der Zeit und bereitete alles vor für den Moment, in dem Rolf wieder zur Tür hereinkam.
Im achten Ehejahr setzte Ellen dann die Pille ab. Sie hatte die Dreißig überschritten und genug von der Tretmühle. Dass sie unzufrieden mit ihrem Job war, sich ausgenutzt fühlte, hatte sie schon vorher häufig anklingen lassen. Nun sprach sie zusätzlich von ihrer biologischen Uhr, ließ sich bei der Hausverwaltung für eine größere Wohnung vormerken und studierte zudem die Angebotspalette ihres Arbeitgebers.
Drei Zimmer, Küche, Diele, Bad, Balkon oder Terrasse wollte sie mieten, sobald sich das freudige Ereignis ankündigen würde. Besser gleich vier Zimmer, damit sie nicht erneut umziehen müssten, wenn ein zweites Kind käme. Ellen fand zwei Kinder optimal, am besten schnell hintereinander, damit der Altersunterschied nicht zu groß war. Rolf Wegener dachte eher an ein eigenes Haus mit Garten in einem der umliegenden Dörfer, natürlich nicht in Niederfelden; es gab noch mehr und kinderfreundlichere Orte im Kreis Heimberg.
Dass Ellen nicht auf Anhieb schwanger wurde, wertete er nicht als Alarmzeichen. Nach all den Jahren, in denen sie ohne Unterbrechung Hormone zur Verhütung geschluckt hatte, musste ihr Körper sich wohl erst wieder an den Normalzustand gewöhnen. Ihr Gynäkologe sagte das auch.
Im zehnten Ehejahr wurde Ellen nervös. Sie schickte ihn zum Urologen, aber an ihm lag es nicht. Im elften Jahr schaute Ellen bereits jeder schwangeren Frau und jedem Kinderwagen auf der Straße mit Tränen in den Augen hinterher. Sie bekam abwechselnd Depressionen oder Wutausbrüche, wenn sich ihre Periode ankündigte, begann gegen Umweltverschmutzung, Massentierhaltung und die Pharmaindustrie zu lamentieren, irgendwer oder -was musste doch schuld daran sein, dass es partout nicht klappte.
Statt sich ebenfalls gründlich untersuchen zu lassen, wie ihr Gynäkologe es vorschlug, pilgerte Ellen von einem Heilpraktiker zum nächsten, gab ein Vermögen aus für Kräutertees, Bachblüten, Akupunktur, Antistress-CDs und dergleichen.
Sie war längst nicht mehr die Frau, in die Rolf Wegener sich bei einer Razzia in einer verrufenen Spelunke Hals über Kopf verliebt hatte. Unduldsam und ungerecht war sie geworden. Doch das war nicht von heute auf morgen geschehen. Es war kein Sturz aus dem siebten Himmel gewesen, sondern ein allmählicher Abstieg. Er hatte ausreichend Zeit bekommen, sich daran zu gewöhnen und es als Normalzustand zu betrachten. Er gewöhnte sich auch an das, was noch folgte.
Nichts konnte er Ellen mehr recht machen, im Bett schon gar nicht. Egal, was er tat oder sagte, es war alles falsch. Er nahm das hin, schraubte seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse auf ein Minimum zurück, weil er Ellen unverändert liebte und wollte, dass sie glücklich oder wenigstens zufrieden war.
Er hätte sich vierteilen lassen, wenn das die einzige Möglichkeit gewesen wäre, ihr zu einer Schwangerschaft und einem gesunden Baby zu verhelfen. Dass er mit seiner Nachgiebigkeit, seiner Geduld, seinem Verständnis oder seiner Unfähigkeit, sich gegen Ellen zu behaupten, mehr und mehr an Boden verlor, wurde ihm nicht bewusst. Als Ellen nach zwölf Ehejahren ihren Traum vom eigenen Kind endgültig begraben musste, stand er längst im Nichts. Und dort stand er noch weitere drei Jahre lang, exakt bis zu dem verfluchten Dienstag nach Pfingsten, an dem eine polnische Erntehelferin auf grausame Weise getötet wurde.
Marisa
Vom letzten Mietshaus in der Feldstraße am südlichen Stadtrand von Heimberg, in dessen Erdgeschoss Rolf Wegener seit fast achtzehn Jahren eine Zweizimmerwohnung mit Ellen teilte, bis nach Niederfelden, dem Kaff, in dem er aufgewachsen war, waren es sieben Kilometer über die Landstraße. Zu einer Seite lagen Felder, zur anderen dehnte sich über einige Hektar ein Waldstück aus, das seit Jahren als Naherholungsgebiet bezeichnet wurde.
Auf halber Strecke schlängelte sich etwa fünfhundert Meter weit ein gut ausgebauter Zufahrtsweg zwischen Bäumen und Büschen durch bis zu einer kleinen Brücke. Darunter verlief ein Bach, der die halbe Zeit kein Wasser führte. Hinter der Brücke wurde der Weg schmaler und war für den Verkehr gesperrt, was aber kaum jemanden davon abhielt, mit Mofas und Motorrädern, sogar mit Pkws in den Wald hineinzufahren.
In Wegeners Kindheit hatte es kurz vor der Brücke ein Ausflugslokal gegeben, die Waldschänke. Später, in seiner Jugend, war aus dem netten, idyllisch gelegenen Lokal für Waldspaziergänger und Sonntagsausflügler bereits die verrufene Disko geworden, in der er Ellen kennengelernt – besser gesagt, zum ersten Mal gesehen hatte. Wirklich kennengelernt hatte er sie erst am Dienstag nach Pfingsten. Aber eigentlich hätte er vom ersten Moment an in eine bestimmte Richtung denken müssen.
Die Disko hieß immer noch Waldschänke, und die einsame Lage prädestinierte sie zu einem beliebten Treffpunkt für den Abschaum der Gesellschaft. Es war ein Umschlagplatz für Drogen jeder Art, mit all den unangenehmen Begleiterscheinungen: Rauschgifthandel, Beschaffungskriminalität, Gelegenheitsprostitution. Ein paar Vergewaltigungen hatte es auch gegeben, von unzähligen Schlägereien und Messerstechereien ganz zu schweigen.
Die Razzia damals hatte dem wüsten Treiben ein Ende gesetzt und den Betreiber sowie einige seiner Stammgäste hinter Gitter gebracht. Wegen Steuerschulden fiel das Anwesen danach an die Stadt Heimberg, die nichts damit anzufangen wusste. Es meldeten sich wohl zu Anfang noch Kauf- oder Pachtinteressenten. Doch man wollte sich bei der Stadtverwaltung denselben Ärger nicht noch einmal einhandeln. Lieber ließ man das Gebäude verfallen.
Aber vor zehn Jahren war das Anwesen doch noch verkauft worden, an Marisa Behrend. Sie war noch keine dreißig, als sie nach Heimberg kam, beherrschte mehrere Sprachen, war sehr kultiviert, hatte genug Geld und, was noch wichtiger war, einen Fürsprecher im Heimberger Stadtrat, der sie mit den richtigen Leuten zusammenbrachte.
Der offiziellen Version zufolge hatte Marisa in der Hotelbranche gearbeitet. Auf zwei Jahre Ausbildung in Frankfurt war ein weiteres Jahr Ausbildung in Köln gefolgt. Danach hatte sie in Paris, Mailand, Madrid, zuletzt in Athen gearbeitet. Als sie sich danach sehnte, sesshaft zu werden, bot sich im beschaulichen Heimberg die Gelegenheit, mit dem Umbau der ehemaligen Waldschänke eine eigene Existenz aufzubauen.
In der Stadtverwaltung, beim Landratsamt und dem Landschaftsverband wurden einige Augen zugedrückt und Sondergenehmigungen erteilt. Marisa ließ das Gebäude von Grund auf sanieren. Das gesamte Innere wurde entkernt und entstand neu, außen wurde der schäbige Verputz durch rustikale Klinkersteine ersetzt und zwölf Monate später das Waldschlösschen eröffnet. Schänke konnte man es jetzt nicht mehr nennen. Jetzt war es ein exquisites Restaurant mit Bar.
Seitdem radelte Agnes Kalwin an sechs Tagen in der Woche morgens um acht Uhr von Heimberg hinaus zum Waldschlösschen, um die Räume im Erdgeschoss sauber zu machen. Das Gleiche tat sie anschließend auch in Marisas Wohnung. Nachmittags ging sie dann noch dem französischen Koch zur Hand, half ihm, die tägliche Lieferung des Delikatessenhändlers zu kontrollieren und im Kühlraum zu verstauen und den Dessertwagen vorzubereiten. Nach Hause fuhr Agnes Kalwin in der Regel erst wieder, wenn Bar und Restaurant um neunzehn Uhr abends geöffnet wurden.
Normalerweise fing sie also mit der Putzarbeit unten an, nur montags nicht. Montag war Ruhetag, da kam außer ihr niemand. Ab Mittag wurde das Restaurant gründlichst gereinigt. Beispielsweise wurde dann das komplette Silberbesteck poliert, dafür war an den anderen Tagen keine Zeit. Und diese Arbeit hatte Agnes Kalwin noch nie alleine erledigen müssen, obwohl ihr das nichts ausgemacht hätte, aber Marisa stand dabei immer an ihrer Seite.
Agnes war siebenundfünfzig Jahre alt und daran gewöhnt zu schuften. Im Waldschlösschen tat sie das gern, war rundum glücklich mit dieser Stelle und mehr noch mit ihrer Arbeitgeberin. Vom ersten Tag an hatte sie sich ausgezeichnet mit Marisa Behrend verstanden. Vorher hatte Agnes für andere Leute geputzt, da war sie noch verheiratet und für ihren Mann auch nicht mehr als eine Putzfrau gewesen, die ihren Lohn abzuliefern hatte, weil sie angeblich nicht mit Geld umgehen konnte.
Von alleine wäre sie nie auf die Idee gekommen, sich aus der Bevormundung zu befreien, auch nicht, als ihre Kinder längst auf eigenen Füßen standen. Sie hatte immer gedacht, sie käme allein nicht zurecht, sei mit jeder Art von Papierkram überfordert, ließe sich regelmäßig von Verkäufern, Vertretern und so weiter über den Tisch ziehen. Das war ihr jahrelang eingeredet worden. Marisa hatte sie vom Gegenteil überzeugt und ihr klargemacht, dass jeder Mensch die Verantwortung für das eigene Leben trug. Nur dank Marisas Unterstützung hatte Agnes es geschafft, ihren herrschsüchtigen Mann zu verlassen.
Für Marisa – selbstverständlich durfte Agnes ihre Arbeitgeberin seit Langem duzen – war sie keine »dumme Person«, bei der es sich nicht lohnte, ihr etwas zu erklären, wie ihr Mann stets behauptet hatte. Gut, sie war vielleicht ein wenig naiv und nicht sonderlich gebildet. Aber sie war eine der wenigen Personen im Kreis Heimberg, wahrscheinlich sogar die einzige, die vollständig mit Marisa Behrends bewegter Vergangenheit vertraut und sowohl in die pikanten als auch in die furchtbaren Details eingeweiht war.
Agnes wusste, dass Marisa ihr Geld zuletzt nicht in Athen, sondern in der Ägäis verdient hatte, auf Schiffen, als Hostess, wie Königin Silvia von Schweden, in ganz feiner Gesellschaft. Bis sie genug Geld beisammenhatte, um in Heimberg ein neues Leben zu beginnen.
Agnes war auch bekannt, dass Marisa nicht genau sagen konnte, von wem sie mit sechzehn schwanger geworden war. Vielleicht von irgendeinem Ekel, viel eher jedoch vom eigenen Bruder. Im Gegensatz zu den Freiern hatte der Bruder nämlich nie ein Kondom übergezogen.
Marisa war erst vierzehn gewesen, als der Widerling sie zum ersten Mal vergewaltigt hatte. Danach war das regelmäßig passiert. Und damit nicht genug. Beinahe täglich hatte ihr Bruder sie bei der Schule abgefangen und in Frankfurt auf den Babystrich geschickt. Sogar als sie hochschwanger gewesen war, hatte er sie noch an niederträchtige, perverse Kerle vermietet, denen so ein Babybauch erst den richtigen Kick gab.
Bei ihrer Mutter hatte Marisa keine Hilfe gefunden, die war machtlos gegenüber Mann und Sohn. Den Vater um Hilfe zu bitten verbot sich von selbst, der hätte wahrscheinlich mitgemacht.
Ganz auf sich allein gestellt war Marisa unmittelbar nach der Entbindung aus der Klinik verschwunden und untergetaucht. Dass sie ihr Baby zurückgelassen hatte, durfte man ihr nicht verübeln, fand Agnes. Welche Gefühle hätte sie denn haben sollen für ein Kind, das sie auf solch abscheuliche Weise empfangen hatte?
Aber ein paar Monate später hatte Marisa ihre Mutter angerufen und sich nach dem Jungen erkundigt. Als sie hörte, dass ihre Mutter das Baby aus der Klinik geholt hatte und sich um den kleinen Markus kümmerte, hatte Marisa Geld nach Hause geschickt, sooft sie etwas erübrigen konnte. Postlagernd, damit ihre Mutter es auch bekam und fürs Kind verwenden konnte, sonst hätte ihr Vater es garantiert versoffen, oder ihr Bruder hätte noch den letzten Pfennig verzockt.
»Ich wollte Markus nicht«, hatte sie Agnes Kalwin an einem Montagnachmittag beim Silberputzen erzählt. »Wenn ich nur an ihn dachte, sah ich meinen Bruder vor mir.«
So hatte Agnes sich vor zwei Jahren, als dieser junge Mann mit einem Koffer aufgetaucht war und nach Mutti gefragt hatte, denken können, wen sie vor sich hatte.
Zu dem Zeitpunkt war Markus Behrend zwanzig Jahre alt gewesen. Seine Oma war gestorben. Der Opa hatte sich schon vor Jahren totgesoffen. Markus wusste nicht, wohin; zum Onkel, der eigentlich sein Vater war – was der junge Mann allerdings nicht wusste –, wollte er nicht ziehen. Blieb nur Mutti.
Begeistert von seinem Erscheinen war Marisa verständlicherweise nicht, bot ihrem Sohn dennoch eine Ausbildung zum Koch an und stellte ein Gästebett ins Arbeitszimmer. Die Wohnung im ersten Stock, in der sie bis dahin alleine gelebt hatte, war zwar hundertvierzig Quadratmeter groß, hatte aber trotzdem nur drei Zimmer, Küche, Diele und ein Bad.
Marisa ließ umgehend das Dachgeschoss ausbauen. Nach Fertigstellung zog sie eine Etage höher und trat die über Restaurant und Bar gelegene Wohnung an ihren Sohn ab. Als erwachsener Mann, und das war er doch mit zwanzig, sollte er sein eigenes Reich haben, meinte Marisa. Sie legte ebenfalls großen Wert auf ihre Privatsphäre und eine gewisse Distanz.
Dass Marisa sich von den Umständen und den widerlichen Kerlen nicht hatte unterkriegen lassen, verdiente allen Respekt, fand Agnes Kalwin. Jede Chance, die sich ihr bot, mochte sie noch so winzig sein, hatte Marisa ergriffen und es mit eisernem Willen zu etwas gebracht.
Agnes Kalwin wäre nie der Gedanke gekommen, Marisa für ihren früheren Lebenswandel zu verurteilen – im Gegenteil.Wenn jemand eine abfällige Äußerung über diese Frau machte, vergaß Agnes Kalwin ihre Einfalt, nicht jedoch ihre Verschwiegenheit. Auf diese konnte man Hochhäuser bauen, die auch einem Erdbeben der Stärke zwölf standgehalten hätten.
Kurz vor ihrer Scheidung war sie von einer Nachbarin einmal folgendermaßen angesprochen worden: »Dein Mann hat behauptet, du putzt jetzt in dem Puff da draußen.«
Der Frau hatte sie aber ordentlich Kontra gegeben. Nur wegen der roten Leuchtschrift über dem Eingang durfte niemand eine so unverschämte Behauptung aufstellen. Das Waldschlösschen war ein Nobelrestaurant, in dem die oberen Zehntausend verkehrten, von denen es im Kreis Heimberg nur ein paar Hundert gab, aber das spielte ja keine Rolle.
Sogar der Landrat, der sympathische Doktor Reuther, von dem es hieß, er wolle demnächst als Abgeordneter in den Bundestag nach Berlin, verkehrte bei Marisa. Seit seine Frau ihn mitsamt den beiden Kindern verlassen hatte, weil die Politik ihn so in Anspruch nahm, dass kaum Zeit für die Familie blieb, kam er regelmäßig. Obwohl er inständig hoffte, dass seine Frau sich bald mit seinem beruflichen Engagement arrangierte und zurückkehrte.
Agnes Kalwin wusste, dass Marisa insgeheim vom genauen Gegenteil träumte. Nämlich, dass er blieb und dass sich etwas Ernsthaftes zwischen ihnen beiden entwickeln könnte. Aber ein ambitionierter Politiker, der sich vorgenommen hatte, den Kreis Heimberg demnächst in Berlin zu vertreten, und eine Frau, die als blutjunges Mädchen in Frankfurt auf dem Babystrich angeschafft und nach der Geburt eines ungewollten Kindes in Köln für eine sogenannte Begleitagentur gearbeitet hatte, daraus konnte wohl auf Dauer nichts werden, obwohl Agnes Kalwin ihr das von ganzem Herzen gegönnt hätte.
Sie wurde gut behandelt und gut bezahlt, bekam täglich das Gefühl vermittelt, für Marisa nicht bloß Arbeitskraft, sondern eine Vertraute zu sein, mit der man auch über private und intime Dinge sprach. Es war ja sonst niemand da, dem Marisa ihr Herz hätte ausschütten können. Und Agnes Kalwin revanchierte sich für jede Wohltat und das uneingeschränkte Vertrauen auf ihre Weise, mit kleinen Gefallen, bedingungsloser Ergebenheit und – sehr zum späteren Leidwesen der Polizei – mit gründlicher Arbeit.
Rolf
Mit fünfunddreißig bekam Ellen starke Blutungen, die mit heftigen Krämpfen einhergingen und weder auf Bachblüten noch auf sonst etwas Natürliches ansprachen. Ihr Gynäkologe diagnostizierte Zysten in der Gebärmutter. Gezwungenermaßen ließ Ellen sich ins Kreiskrankenhaus einweisen. Dort hatte man kurz vorher einen jungen Frauenarzt eingestellt, der bereits einen ausgezeichneten Ruf genoss: Doktor Terbruck.
Doktor Terbruck entfernte zuerst nur die Zysten, erklärte Ellen jedoch anschließend, ihr Uterus müsse komplett entfernt werden, weil bei einer feingeweblichen Untersuchung Krebszellen nachgewiesen worden seien. Ellen heulte sich die Augen aus, umso mehr, als sie erfuhr, dass die Zysten nicht der Grund für ihre bisher ergebnislosen Bemühungen um eine Schwangerschaft gewesen waren. Diese Wucherungen hatten sich erst in letzter Zeit entwickelt. Ellens Eileiter dagegen waren seit fünfzehn Jahren verklebt. Eine Folge des Trippers, der nach der Razzia zuerst bei Rolf Wegener, dann bei ihr diagnostiziert worden war.
Im Grunde scheiterte ihre Ehe in den zehn Minuten, in denen Doktor Terbruck Ellen die Zusammenhänge erklärte und ihr empfahl, doch mal über eine Adoption nachzudenken.
Nach ihrer Entlassung aus dem Kreiskrankenhaus verwandelte Ellen sich binnen weniger Tage von einem immer noch hübschen Anblick in einen Feuermelder. Sie hörte einfach auf, eine Frau zu sein, die ein Mann gern anschaute.
Ihr schulterlanges, braunes Haar ließ sie auf Streichholzlänge kürzen und knallrot färben. All die schicken Sachen, für die sie ein Vermögen ausgegeben hatte, blieben im Schrank hängen. Plötzlich trug sie verschlissene alte Jeans, ausgeleierte Pullover oder sackartige T-Shirts, bei denen Rolf Wegener sich fragte, wo sie diese Klamotten herhatte. So was gab es doch in keinem Geschäft zu kaufen!
Sie fuhr sogar in diesem Aufzug zur Arbeit, benutzte ihr Parfüm nicht mehr, nicht mal mehr regelmäßig ein Deo. Ihr Make-up vertrocknete in den Tuben und Tiegeln. Lippenstift, Wimperntusche und Puderdose waren ebenso tabu. Ihr nacktes Gesicht brachte die Verkniffenheit auch besser zur Geltung.
Morgens und abends schmierte sie sich statt der angenehm duftenden und nur leicht seifig schmeckenden Creme aus einer Parfümerie ein widerlich fettiges Zeug aus einem Öko-Laden ins Gesicht. Das roch ranzig wie verdorbene Butter. Wenn Rolf Wegener es bloß roch, musste er an den säuerlichen Rosenkohl denken, den seine Mutter ihm einmal serviert hatte, nachdem der Topf zwei Tage im Kühlschrank gestanden hatte und der Inhalt schon dreimal aufgewärmt worden war.
In den ersten Wochen nach der Operation meinte er noch, gerade jetzt brauche Ellen die Bestätigung, eine begehrenswerte und attraktive Frau zu sein, die geliebt wurde. Wenn er sich zwingen musste, sie in die Arme zu nehmen, kaschierte er seinen Widerwillen oft mit einem Scherz: »Morgen früh kann ich mir die Butter aufs Brot sparen. Ich hab gerade wieder genug Fett abbekommen.«
Doch Ellen verstand keinen Spaß mehr, aus seinem Mund schon gar nicht. Es wurde von Woche zu Woche schlimmer mit ihr. Sie verlor ihren Job, weil man sie mit ihrem neuen Äußeren der Kundschaft nicht mehr zumuten konnte. Kaum war sie arbeitslos geworden, räumte sie ein gemeinsames Sparbuch mit einem Guthaben von 3000 Euro vollständig ab und kaufte sich einen gebrauchten Diesel.
Dass fortan das Haushaltsgeld von seinem Konto abging, verstand sich von selbst. Von ihrem Arbeitslosengeld konnte Ellen nur den persönlichen Bedarf und die nun zusätzlich durch ihre Rußschleuder verursachten Kosten bestreiten. Nachdem sie zweimal sein Gehaltskonto kräftig überzogen hatte, sah er sich gezwungen, ihr die Kontovollmacht zu entziehen, was ein Mordsspektakel zur Folge hatte. Doch über diesen Punkt ließ er nicht mit sich reden. Sie sagte ihm ja auch nicht, wofür sie das ganze Geld ausgegeben hatte.
Ihr zuvor nicht kanalisierter Groll gegen Umweltverschmutzung, Massentierhaltung, die Pharmaindustrie und so weiter steigerte sich zu einem stetigen Lamento für Naturschutz. Plötzlich waren ihr die Lebensräume von Kröten und anderem Getier wichtiger als ein sauberer Kühlschrank. Vorübergehend wurde sie Parteimitglied bei den Grünen, jedoch nicht lange. Sie hatte völlig den Sinn für das Erträgliche verloren, äußerte derart krude und radikale Ansichten, dass ihr schon bald der Austritt nahegelegt wurde, weil jeder einigermaßen vernünftig denkende Mensch entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlug, wenn Ellen den Mund aufmachte.
Da ihr nach dem Rauswurf aus der Partei sonst niemand mehr zuhörte, hielt sie ihm Vorträge. Manchmal kam sie ihm vor wie ein Kind, das blindwütig um sich schlug und alle Welt gegen sich aufbrachte, weil es seinen Willen oder ein bestimmtes Spielzeug nicht bekommen hatte. Und wenn er so dachte, fühlte er sich auf der Stelle schäbig und schuldig bis unter die Haarwurzeln. Immerhin war er damals mit Achim Schulte im Bordell gewesen und hatte sich so ungeschickt angestellt, dass das Kondom platzte. Da konnte man vom Glück sagen, dass er sich nur mit einem Tripper infiziert hatte und nicht mit Aids, wie Ellen mehrfach verlauten ließ: »Du Mistkerl, ich könnte längst tot sein.«
Natürlich, das wusste er ebenso gut wie sie. Aber nicht nur aus dem Grund steckte er weiter ein, schluckte jede Beleidigung, jede Verweigerung, jede Zumutung.
Sich zu wehren war ihm schon in frühster Kindheit ausgetrieben worden. Wenn er einmal daran dachte, Ellen Kontra zu geben, schwebte ihm unweigerlich das wutverzerrte Gesicht seiner Mutter vor Augen, er hörte sie keifen: »Du elender Mistkerl, wie oft soll ich dir noch sagen, dass man einem kleinen Mädchen nicht wehtun darf?« Und der hölzerne Kochlöffel drosch auf ihn ein. Selbst nach fünfunddreißig Jahren spürte er ihn noch, diesen dumpfen Schmerz.
In solchen Momenten war er ein hilfloser Junge von sechs oder sieben Jahren. Wie oft hatte er beide Arme schützend über den Kopf gehoben, während seine Schwester sich daran ergötzte, wie er zu Boden ging, sich in eine Ecke duckte und wimmerte: »Ich hab ihr nichts getan, ehrlich nicht. Sie hat mir eine Seite aus dem Lesebuch gerissen und dabei geschrien.«
Seiner Schwester fielen immer neue Gemeinheiten ein, mit denen sie ihn ins Unrecht setzte und schikanierte. Mal schnitt sie ein Loch in seinen neuen Pullover, mal drückte sie eine Tube Kleber auf seiner guten Hose aus. Natürlich wurde anschließend er zur Rechenschaft gezogen.
»Kannst du nicht besser aufpassen, du Bastard? Weißt du, was die Hose gekostet hat? Glaubst du, ich schneide mir das Geld aus den Rippen?«
Den Bogen, den Opa Schulte ihm aus einem Stück Schnur und einer Weidengerte gebastelt hatte, hatte seine Schwester zerbrochen. Seinen Teddy, ein Geschenk von Oma, die leider viel zu früh gestorben war, hatte sie mit Kaffeesatz beschmiert. Und weil er sich das nicht hatte bieten lassen wollen, war er im Krankenhaus wieder aufgewacht. Als Sturz mit dem Fahrrad war das durchgegangen. Er hatte nie ein Fahrrad besessen.
Aber niemand hatte es in Zweifel gezogen, niemand hatte sich vorstellen können, dass Mamas Sonnenschein, dieses Engelchen mit dem herzförmigen Gesicht, den blauen Strahleaugen und den blonden Löckchen, das die gesamte Dorfbevölkerung in helles Entzücken versetzte, in Wahrheit ein widerliches, verschlagenes, heimtückisches Biest war.
Egal, was sie ihm antat, für ihn gab es keine Entschuldigung, nie Verständnis. Es gab nur dieses Gesetz: Ein elender Mistkerl oder Bastard, wie seine Mutter ihn auch oft nannte, durfte es einem kleinen Mädchen nicht heimzahlen. Auch dann nicht, wenn das kleine Mädchen ihn bis aufs Blut quälte, wie Ellen es nach der Entfernung ihrer Gebärmutter tat.
Fast ein volles Jahr lang machte Ellen ihm das Leben zur Hölle. Mehr als einmal musste er sich von ihr anhören, einer wie er sei auf dieser Welt so nützlich wie eine Blattlaus oder Mehltau. Tausendmal sagte er sich, Ellen brauche eben Zeit, um sich wieder zu fangen, ihre Enttäuschung zu überwinden und ihre Wut auf ihn. Das ginge nicht von heute auf morgen. Aber irgendwann würde sie sich darauf besinnen, dass sie doch zu zweit lange Zeit sehr glücklich und einander genug gewesen waren.
Als sie begann, eine Clique von jungen Leuten um sich zu scharen, die sich im Gegensatz zu den Grünen ihre menschenverachtenden Vorträge ohne Widerspruch anhörten, redete er sich ein, sie suche nur einen Ersatz für das unerfüllbare Mutterglück und werde bestimmt bald zu einer gemäßigten Einstellung finden.
Wenn er abends etwas Warmes essen wollte, musste er zusehen, wo er es herbekam. Aber das war kein Problem, nur zweihundert Meter die Feldstraße runter gab es einen Imbiss, das »Bistro«. Dort versorgte er sich regelmäßig mit fettigen Fritten und Schaschlik. Kein Wunder, dass sich bald Magenprobleme einstellten. Doch das lag wohl nicht ausschließlich an der Ernährung.
Oft genug zerbrach er sich bei seinen Mahlzeiten den Kopf, wie er Ellen helfen und seine Ehe wieder ins Lot bringen könnte. Seiner Meinung nach brauchte sie dringend eine Therapie. Aber wenn er nur eine Andeutung in die Richtung machte, kratzte sie ihm beinahe die Augen aus.
Was sie von ihm brauchte, waren keine Ratschläge, sondern Geld. Seit er ihr die Vollmacht für sein Konto entzogen hatte, lag sie ihm deswegen ständig in den Ohren. Das Haushaltsgeld, das er ihr immer noch regelmäßig gab, obwohl sie davon nur ihre Bürgerinitiative finanzierte, reichte nie. Manchmal fühlte er sich wie ein Automat, in den Ellen nur eine Karte stecken und auf die richtigen Tasten drücken musste, damit er ein paar Scheine ausspuckte.
Vielleicht hätte er ihr zu Anfang nicht so viel über seine Kindheit und Jugend erzählen dürfen. Damals hatte sie ihn systematisch aufgebaut, hatte ihm die Schuldgefühle, das permanent vorhandene schlechte Gewissen gegenüber seiner Mutter und das im Hinterkopf stets lauernde Bewusstsein seiner Minderwertigkeit ausgeredet. Genauso systematisch demolierte sie ihn nun wieder. Es kam ein Zeitpunkt, da überlegte er jeden Abend, seine Dienstwaffe diesmal nicht im Schreibtisch einzuschließen, wie er es normalerweise tat, ehe er nach Hause fuhr. Es gab doch kein Zuhause mehr.
Ellen
Vielleicht hätte Rolf Wegener seinem Leben tatsächlich ein Ende gesetzt, wäre er nicht in dieser privat für ihn so schlimmen Zeit beruflich vor eine neue Aufgabe gestellt worden. Weil ein älterer Kollege aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand trat, wurde ihm die Leitung des 11. Kommissariats übertragen, damit verbunden war die Beförderung zum Ersten Kriminalhauptkommissar.
In seinem Alter – er war gerade erst vierzig geworden – war es ein Riesensprung auf der Karriereleiter, auf den er selbstverständlich für die Kollegen einen ausgeben musste. Das tat er ein paar Tage nach der offiziellen Ernennung. Natürlich nicht in der Wohnung, auch nicht im Bistro, sondern in einem guten Lokal. Aber er fuhr vorher nach Hause, um zu duschen und sich umzuziehen.
Ellen saß mit einem halben Dutzend Freaks im Wohnzimmer. Als er die Wohnung wieder verlassen wollte, kam sie in den Flur und erkundigte sich, für wen er sich dermaßen in Schale geworfen hätte. »Hast du dir eine Freundin zugelegt?«
Bis dahin hatte er ihr nichts von der Beförderung erzählt. Die Meldung im Heimberger Anzeiger hatte sie offenbar nicht gelesen. Es war auch nur eine Randnotiz gewesen. Und wie sie da vor ihm stand; in gammeligen Jeans und dem sackartigen T-Shirt, an den Füßen ein Paar ausgelatschte und fleckige Sportschuhe, auf den Schultern diesen Feuermelder, in Gesicht und Stimme das blanke Misstrauen, da wurde ihm mit einem Schlag bewusst, dass es ihn eigentlich nur noch am Rande interessierte, ob sie sich die Haare feuerrot, grasgrün oder violett färbte. Ihm war nur noch wichtig, durch sie nicht zum Gespött seiner Kollegen zu werden. Genau das sagte er ihr dann – mit exakt diesen Worten.
Wie es schien, erreichte er damit mehr als mit seiner Gutmütigkeit, Duldsamkeit, dem Verständnis und den Schuldgefühlen. Nur ein paar Tage später kaufte Ellen sich ein paar neue Hosen und Oberteile, die nicht wie Säcke an ihr hingen. Kurz darauf bekam ihr Haar seinen natürlichen Farbton zurück, sie begann auch wieder zu arbeiten, nahm eine Halbtagsstelle in dem Öko-Laden an, in dem sie die scheußliche Nachtcreme kaufte. Auch wenn sich sonst nicht viel veränderte, glaubte er, sie hätten das Schlimmste überstanden.
Das glaubte er sogar noch, als an einem elend heißen Augusttag im vergangenen Jahr ein Schlaganfall seine Mutter mit nur dreiundsechzig Jahren dahinraffte. Er atmete innerlich auf, weil er eine große Bürde losgeworden und nicht länger gezwungen war, jeden Samstag mit einem Kasten Mineralwasser und diversen Lebensmitteln nach Niederfelden zu fahren.
Mindestens dreimal die Woche hatte seine Mutter ihn im Präsidium oder auf dem Diensthandy angerufen, weil es ihr wieder mal so entsetzlich schlecht ging, dass sie ihr letztes Stündlein nahen fühlte. Wie oft hatte er gesagt: »Ich kann jetzt nicht weg, Mutter. Wenn es so schlimm ist, kann ich dir doch auch nicht helfen. Ich schicke dir einen Krankenwagen. Oder ruf dir ein Taxi.«
»Von meiner Rente? Wie stellst du dir das vor? Ich komme ja so kaum über die Runden. Ein Taxi kann ich mir nicht leisten. Wenn mein Sonnenschein noch da wäre, müsste ich nicht um jede Gefälligkeit betteln.«
Mit ihrem Sonnenschein hatte sie ihn jedes Mal in die Knie und ins Auto gezwungen. Seine Schwester war nur fünf Jahre alt geworden, selbstverständlich durch seine Schuld.
Und lange Zeit hatte Ellen gesagt: »Herrgott, Rolf, lass dich von der Alten doch nicht immerzu terrorisieren.« Das konnte Ellen ja auch längst viel besser.
Hatte er wirklich geglaubt, sie hätten das Schlimmste überstanden, als Ellen sich ein paar tragbare Klamotten kaufte, die feuerrote Bürste auf ihrem Kopf dunkelbraun färbte und wieder zu arbeiten begann? Natürlich hatte er. Ihn traf Ellens an Unverschämtheit kaum zu überbietender Vorschlag, sich zu trennen, vollkommen unvorbereitet.
Der Tod seiner Mutter machte ihn zum Besitzer einer Immobilie im Wert von rund zweihunderttausend Euro, schätzte Ellen und argumentierte mit den Erfahrungen, die sie seinerzeit im Maklerbüro gesammelt hatte. Da weder er noch sie in Niederfelden leben wollten, plädierte sie dafür, das Haus zu verkaufen. Ihr ehemaliger Chef würde es gern in seinen Angebotskatalog aufnehmen. Den Verkaufserlös wollte Ellen komplett. Sie fand, das wäre ein fairer Preis für die von ihm verschuldete Kinderlosigkeit.
»Du verdienst genug und bist nicht auf das Geld angewiesen, Rolf. Ich kann mir davon eine Existenz aufbauen, mir eine eigene Wohnung suchen und mich selbstständig machen. Wenn du mich dann zusätzlich mit fünfhundert Euro monatlich unterstützt, komme ich bestimmt zurecht. Das halte ich für die beste Lösung. Wir beide haben doch nichts mehr gemeinsam.«
Das sah er anders. Sie hatten gemeinsam eine traumhaft schöne Zeit gehabt. Immerhin fast elf unbeschwerte Jahre, wenn man die knapp drei vor der Hochzeit mitrechnete. Wenn Ellen die Scheidung eingereicht hätte, hätte er sie kaum aufhalten können. Aber scheiden lassen wollte sie sich nicht. Aus gutem Grund.
ENDE DER LESEPROBE