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Jost Hermand

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Beschreibung

Über 3 Millionen deutsche Kinder zwischen 7 und 16 Jahren sind in der Zeit von 1940 bis 1945 im Zuge der »Erweiterten Kinderlandverschickung« aus den bombenbedrohten Großstädten aufs Land verschickt worden. Ziel war es, die Jugendlichen schon frühzeitig dem NS-Staat gefügig zu machen. Jost Hermand berichtet aus eigener Erfahrung über die brutale Realität des Lagerlebens, das bei vielen Betroffenen bis heute traumatische Folgen zeitigt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Jost Hermand

Als Pimpf in Polen

Erweiterte Kinderlandverschickung 1940–1945

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Zeit des Nationalsozialismus [...]Dem Andenken meiner Mutter [...]VorwortNach den ersten BombenangriffenEin Gnadenakt des FührersErneute Evakuierung fast aller GroßstadtkinderPrämilitärisches TrainingEpidemien und erste ProtesteDie letzte DurchhaltestationVersuche der NeueingliederungNachwortAbbildungsnachweise

Die Zeit des Nationalsozialismus

Eine Buchreihe

Herausgegeben von Walter H. Pehle

Dem Andenken meiner Mutter Annelies Hermand (1907–1959)

Vorwort

Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung eines Traumas

Man sollte meinen, daß die Erforschung des nationalsozialistischen Erziehungswesens, die seit über drei Jahrzehnten im Gange ist, inzwischen selbst die dunkelsten Ecken dieses für das Verständnis des deutschen Faschismus so zentralen Phänomens ausgeleuchtet hat. Dem ist jedoch keineswegs so. Es gibt zwar gute Dokumentensammlungen und Darstellungen des NS-Erziehungswesens im allgemeinen wie auch der Adolf-Hitler-Schulen, Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und Ordensburgen, auf denen die junge Elite des neuen Reichs herangebildet werden sollte[1], im besonderen aber kaum Vergleichbares zum faschistischen Alltag und Lehrbetrieb der unzähligen Volks-, Mittel- und Oberschulen des Dritten Reichs.[2] Über die in ihnen herrschenden Indoktrinierungsvorgänge, Leistungshierarchien, Ängste oder auch idealistischen Hochgefühle wissen wir daher wenig. Ja, eine Erziehungsform hat bisher nur eine recht marginale Beachtung gefunden: nämlich die von den Nationalsozialisten praktizierte »Kinderlandverschickung«, von der bereits zwischen 1933 und 1940 Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende[3], und später, zwischen 1940 und 1945, im Zuge der »Erweiterten Kinderlandverschickung«, über 2,8 Millionen Jungen und Mädchen betroffen waren.[4] Besonders die »Erweiterte Kinderlandverschickung«, damals »KLV« oder spöttisch »Kinderlandverschleppung« genannt, ist zwar vielen, die an ihr teilnehmen mußten, also den Jahrgängen zwischen 1927 und 1934 aus den bombengefährdeten Großstädten, noch als Relikt aus ihrer Jugendzeit vertraut, sie sprechen jedoch nur ungern und am liebsten bloß mit anderen KLV-Teilnehmern darüber. Und so ist den nach 1934 in Deutschland Geborenen die KLV-Erfahrung – wegen des Schweigens der Älteren[5] – entweder unbekannt geblieben oder wird von ihnen als etwas Nebensächliches, weil selten Erwähntes oder nie Dargestelltes empfunden.

Aufgrund dieser weitgehenden Verdrängung stehen wir vor der seltsamen Tatsache, daß eine der größten Bevölkerungsbewegungen des 20. Jahrhunderts, und zwar der Abtransport von über zwei Millionen Kindern und Jugendlichen, die ab Oktober 1940 – oft über Nacht – ihre Eltern und Heimatorte verlassen mußten, um in weit entfernte ländliche Gebiete, zum Teil bis nach Dänemark, Lettland, Kroatien, Ungarn, Bulgarien, in die Slowakei und das frühere Polen »verschleppt« zu werden, lediglich im Bewußtsein oder Unterbewußtsein der davon Betroffenen nachhaltige Spuren hinterlassen hat. In der publizistischen Öffentlichkeit ist dagegen diese Aktion auf eine geradezu auffällige Weise tabuiert worden. Nicht einmal in der west- oder ostdeutschen Belletristik findet sich etwas über die KLV-Lager, obwohl die Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit unter dem Faschismus[6] seit Werken wie der Blechtrommel (1959) sowie Katz und Maus (1961) von Günter Grass und dann nochmals nach Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976) in beiden deutschen Literaturen zu den zentralen Motivumkreisen gehörte.[7] Auch die Historiker, Soziologen, Pädagogen und Literaturwissenschaftler, die in den letzten zwanzig Jahren fast keiner sozialgeschichtlichen Fragestellung ausgewichen sind, haben die »Erweiterte Kinderlandverschickung« bisher meist unberücksichtigt gelassen.

Es gibt allerdings einige kürzere Aufsätze und zwei Bücher zu diesem Thema, die wenigstens genannt werden sollten. Drei dieser Schriften interpretieren die KLV-Erfahrung aus der Sicht ehemaliger Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen, die in führenden Positionen an der Ingangsetzung und Durchführung dieses gigantischen Unternehmens beteiligt waren. Bei ihnen steht eine eindeutige Rechtfertigungsstrategie im Vordergrund, mit der sie ihrer Verstrickung ins Faschistische nachträglich den Anstrich des Wohlgemeinten, wenn nicht gar Retterhaften oder Heroischen zu geben versuchen. Wohl am dreistesten gebärdet sich dabei Otto Würschinger, der »Kampfkommandant der HJ-Reichsführung beim Endkampf um Berlin«, wie er sich seinen Lesern und Leserinnen voller Stolz vorstellt. Er bezeichnet in seinem 1979 erschienenen Aufsatz zur »Erweiterten Kinderlandverschickung« die »außerschulische Betreuung«, also die Rolle der Hitler-Jugend in den KLV-Lagern, wegen ihrer angeblich hohen Ideale und allseits praktizierten Kameradschaftlichkeit als »einen unveräußerlichen Bestand der deutschen Nationalgeschichte«, an dem es nichts zu rütteln gebe.[8] Würschinger behauptet sogar, daß die »Kriegsgeneration« und die »Hitler-Jugend-Generation«, welche in der »völkischen Glaubensgemeinschaft des Dritten Reichs« groß geworden seien, aufgrund ihrer stolzen und selbstbewußten Haltung, die sie den von unverbrüchlicher Liebe zu Deutschland beseelten »Führern und Führerinnen der HJ« verdankten, nach Kriegsende keineswegs »kapituliert« hätten.[9] »Im Gegenteil«, lesen wir bei ihm, »der Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder und die Weltgeltung der Bundesrepublik Deutschland sind ihr Werk.«[10]

Nicht minder enthusiastisch bekannte sich 1983 Jutta Rüdiger, die einstige »Reichsreferentin für den Bund Deutscher Mädel beim Reichsführer«, wie wir aus ihrem Buch Die Hitler-Jugend und ihr Selbstverständnis im Spiegel ihrer Aufgabengebiete erfahren[11], zur Idee der nationalsozialistischen Kinderlandverschickung. Wie Würschinger bescheinigt auch Jutta Rüdiger der KLV einen idealistischen Höhenflug und selbstlosen Gemeinschaftsgeist, der alle an ihr Beteiligten unwiderstehlich mitgerissen habe. Diese Parteiaktion sei eine »einmalige Leistung«, ja das »größte Sozialwerk für die Jugend in unserer Geschichte« gewesen, heißt es bei ihr ohne jeden Abstrich. In den Lagern der KLV habe es weder »schwere Arbeiten und körperliche Züchtigung« noch »Herabwürdigung in den Augen anderer Jugendlicher, Verletzung des Ehrgefühls, Strafexerzieren und Nahrungsentziehung« gegeben. Zu ihren Hauptcharakteristika hätten von Anfang bis Ende eine »saubere Haltung, eine anständige Gesinnung und eine nationale Einsatzbereitschaft« gehört – alles Tugenden, die in dieser Form heute kaum noch vorstellbar seien.[12]

Sowohl der Aufsatz von Otto Würschinger als auch der von Jutta Rüdiger stützen sich in ihren Statistiken, historischen Querverweisen und anderen empirischen Details weitgehend auf das damals noch existierende Archiv der »Arbeitsgemeinschaft KLV«. Ein Teil der dort zusammengetragenen Archivalien wurde 1981 von Gerhard Dabel, dem 1. Vorsitzenden dieses Archivs, in dem Buch KLV. Die Erweiterte Kinderlandverschickung. KLV-Lager 1940–1945 beim Schillinger Verlag in Freiburg publiziert. Diesem Werk liegt die gleiche faschisierende Beschönigung, wenn nicht Glorifizierung der KLV-Erfahrung zugrunde, die sich in den zuvor erwähnten Aufsätzen findet. Sein Herausgeber ist der ehemalige HJ-Führer, NS-Jugendschriftsteller und letzte Leiter der »Dienststelle Kinderlandverschickung in der Reichsjugendführung« Gerhard Dabel, der in der ersten Hälfte der vierziger Jahre eine Reihe eindeutig nazistischer Romane für junge Leser veröffentlicht hat.[13] Für seine frühere Affinität zum NS-Regime spricht außerdem, daß Dabel voller Stolz herausstreicht, Ernst Dombrowski[14], einer der führenden NS-Graphiker, habe ihm für seinen KLV-Band einige Holzschnitte zur Verfügung gestellt, die sich qualitativ lediglich mit Werken Albrecht Dürers und Ludwig Richters vergleichen ließen.[15] Dabels Buch steht fast ausschließlich im Zeichen des Freudigen, Zustimmenden, Strahlenden und versucht den Eindruck zu erwecken, daß es den Verantwortlichen innerhalb der NSDAP und vor allem Hitler selbst bei der Einrichtung der KLV-Lager nur darauf angekommen sei, die »unschuldige« deutsche Jugend aus »humanitären Gründen« vor den »üblen« Bombenangriffen der Briten und später der US-Amerikaner zu bewahren und ihr ein Leben in ländlicher Geborgenheit zu ermöglichen.[16] In dieser Dokumentensammlung erscheint demzufolge die KLV fast wie eine auf die Jugend ausgeweitete »Kraft durch Freude«-Aktion, die für viele der verschickten Kinder – trotz der Trennung von den Eltern – sicher zu den »schönsten« oder zumindest »wichtigsten« Erlebnissen ihres Lebens gehört habe.[17]

Das andere Buch über die »Erweiterte Kinderlandverschickung« der Jahre zwischen 1940 und 1945 ist die ebenfalls auf der Dabelschen Dokumentensammlung beruhende, aber eher journalistisch ausgerichtete Darstellung Der Zug der Kinder. KLV. Die Evakuierung 5 Millionen deutscher Kinder im 2. Weltkrieg von Claus Larass, die 1983 im Meyster Verlag in München herauskam. Gleich zu Anfang bedankt sich ihr Autor ausdrücklich bei der Freiburger »Arbeitsgemeinschaft KLV« und ihrem Vorsitzenden Gerhard Dabel, ohne deren tatkräftige Hilfe sein Buch nie zustande gekommen wäre. Außerdem bezieht er in seine Lagerberichte kurze Aufzeichnungen ein, die Loki Schmidt, Ralf Dahrendorf und Jürgen Roland über ihre KLV-Erlebnisse – ob nun als frühere Lehrer oder frühere Schüler – niedergeschrieben haben. Im Unterschied zu Dabel weist Larass auch auf einige negative Aspekte – wie das nur langsam abklingende Heimweh, die fortwährende Angst der Schwächeren vor den Stärkeren und das verbreitete Bettnässen – des von ihm beschriebenen Lagerlebens hin. Aber trotz dieser Einschränkungen fällt seine Bilanz letzten Endes ebenso »positiv« aus.[18] Was Larass an der KLV als besonders begrüßenswert herausstreicht, sind »die Kameradschaft, das Leben auf dem Lande, die Befriedigung der Abenteuerlust und das Gefühl, wichtig genommen zu werden«.[19] In diesen Lagern, schreibt er, habe weder die von manchen NS-Theoretikern propagierte Brutalität noch jener »Oversex« im Vordergrund gestanden, der heute allerorten dominiere.[20] Es habe zwar auch »Liebeleien und Verstrickungen« gegeben, aber die »meisten Flirts« seien im Bereich »zarter Harmlosigkeit« geblieben.[21] Vor allem die Lehrer, obwohl man sie von ihren Frauen getrennt habe, hätten unter den »außerordentlichen Bedingungen« des Lagerlebens ein »ungewöhnlich hohes Verantwortungsbewußtsein« an den Tag gelegt.[22] Letztlich sei daher die Kinderlandverschickung – trotz der Trennung von den Eltern, der »unterdrückten Angstgefühle« und der nationalsozialistischen Intention, die Kinder zu »willfährigen Werkzeugen der neuen Machthaber« zu erziehen – für viele ein »schönes« Erlebnis gewesen.[23]

Es ist ein Skandal, daß Thesen dieser Art bisher nicht widersprochen wurde. Warum schweigen eigentlich die ehemaligen KLV-Teilnehmer und -Teilnehmerinnen über solche Entstellungen? Waren ihre Erfahrungen in diesen Lagern wirklich so harmlos oder gar positiv, wie uns das Würschinger, Rüdiger, Dabel und Larass weismachen wollen? Hatten nicht auch viele Kinder und Jugendliche in diesen Lagern unter Minderwertigkeitskomplexen, ständiger »Schleiferei«, übelster Brutalisierung, endlosen Geländemärschen, strapazenreichen Wehrsportübungen, plumpen Indoktrinierungsversuchen und all jenen Erscheinungen zu leiden, die man in Anlehnung an William Goldings Lord of the Flies (1954) als »Verrohung in der Horde« umschreibt? Und waren es wirklich nur die Zarteren unter ihnen, die sich innerhalb des kollektiven Drills unterdrückt oder an den Rand gedrängt fühlten? Mußte es nicht in Lagern, in denen weniger die Lehrer als die Lagermannschaftsführer, genannt Lamafüs, die Befehlsgewalt hatten, zwangsläufig zu ideologischen Überfanatisierungen und sadistischen Exzessen kommen, unter denen alle Lagerinsassen zu leiden hatten und in denen sich der terroristische Grundzug der gesamten NS-Hierarchie manifestierte?

Auf solche Fragen mit einem klaren »Ja« oder »Nein« zu antworten, ist nicht leicht. Überhaupt lassen sich auf diesem Gebiet kaum verallgemeinernde Aussagen machen. Es gab sicher auch KLV-Lager, wie sie Dabel und Larass beschreiben. Warum sollte es in der »Erweiterten Kinderlandverschickung« keine individuelle Betreuung, kein kameradschaftliches Erleben gegeben haben? Schließlich läßt sich selbst in Gefängnissen, Konzentrationslagern, Armeekasernen sowie streng reglementierten Internaten die Humanität nicht ganz unterdrücken. Doch KLV-Lager, in denen das fürsorgliche Element überwog, waren sicher nicht jene Erziehungswerkstätten, welche die auf Kampf und Sieg eingeschworenen Fanatiker innerhalb der NS-Führungsgremien im Auge hatten. Diesen Männern ging es nicht um eine Pädagogik, die – im Zeichen wahrer Menschlichkeit – auch zarteren, zurückgebliebenen oder gar behinderten Kindern die Chance der Entwicklung geboten hätte. Sie akzentuierten vornehmlich das, was die Jugend für ihre späteren Aufgaben im Dienst des Nationalsozialismus stärken sollte. In die Sprache der Hitler-Jugend übersetzt, hörte sich diese – wegen ihres allgemeinen Bekanntheitsgrads – auch mir noch im Ohr nachklingende Intention folgendermaßen an: »Der deutsche Junge muß schlank und rank sein, flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Er muß lernen, Entbehrungen auf sich zu nehmen, Tadel und Unrecht zu ertragen, zuverlässig, verschwiegen, anständig und treu sein.«[24]

Über dieses Erziehungssystem, das vor allem auf Abhärtung, Schulung und Auslese hinauslief, hat sich Adolf Hitler bereits ausführlich in Mein Kampf (1925–27) ausgelassen[25] und seine ursprünglichen Konzeptionen später bis zu den Monologen im Führerhauptquartier (1941–42) immer wieder ergänzt, spezifiziert und verschärft.[26] Es war das Ziel seiner Erziehungsvorstellungen, den bisherigen liberalen Selbstverwirklichungsdrang auf ein Minimum zu reduzieren und die Jugendlichen zu einer als »nordisch« verbrämten, aber in Wirklichkeit gesinnungslosen Gefolgschaft zusammenzuschweißen, die jedem von oben kommenden Befehl – im Sinne der Maxime »Du bist nichts – Dein Volk ist alles!« – blindlings Folge leistet. Im Hinblick auf die männliche Jugend, der Hitlers Hauptaugenmerk galt, während er von Mädchen und jungen Frauen vornehmlich die Bereitschaft zum Landdienst und zur späteren Mutterschaft erwartete[27], bedeutete also »Erziehung« für ihn weitgehend das, was viele Nationalsozialisten sehr real als »Menschenformung« bezeichneten. Demzufolge befürwortete Hitler alle Maßnahmen, die das »Erzieher-Zögling-Verhältnis durch das Führer-Gefolgschaftsprinzip« ersetzen.[28] Jungen waren für ihn in erster Linie Zuchtmaterialien für bewußt »zackige« Typen, echte »Kerls«, »ewig begeisterte Kämpfer«, »politische Soldaten« und künftige »Führer«.[29] Daher stellte Hitler die wehrsportliche Ertüchtigung weit über das Auswendiglernen »toter Fakten«. Der »völkische Staat«, betonte er schon in Mein Kampf, »hat in dieser Erkenntnis seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper«. Ein solcher Staat habe von der Voraussetzung auszugehen, heißt es weiter, daß ein »zwar wissenschaftlich wenig gebildeter, aber körperlich gesunder Mensch mit gutem, festem Charakter, erfüllt von Entschlußfreudigkeit und Willenskraft, für die Volksgemeinschaft wertvoller ist als ein geistreicher Schwächling«.[30]

Aus diesem Grunde setzte Hitler seine Hoffnung weniger auf die »Bürgersöhnchen« und »höheren Töchter«, über die er sich wegen ihrer verzärtelten »Feinsinnigkeit« häufig lustig machte, als auf die Kinder der unteren Klassen, vor allem die der Bauern, Arbeiter und kleinen Angestellten. Ihnen, die noch aus altem Schrot und Korn seien, und nicht den »Kretins« der mittleren und gehobenen Bourgeoisie wollte Hitler – nach dem erforderlichen Härtetraining – zu den führenden Positionen im Staat verhelfen. Statt »Hunderttausende« begabter deutscher Menschen im »proletarischen Sumpf verkommen« zu lassen, erklärte er[31], müsse der völkische Staat sein oberstes Anliegen darin sehen, endlich den besten, kurzum: den tatkräftigen und durchsetzungshungrigen Jungen der Unterschichten den Weg nach oben zu eröffnen. Nur so lasse sich an die Stelle des weithin degenerierten Bürgertums im Laufe der Zeit eine robustere, zum letzten entschlossene neue Oberschicht setzen, die alles Fremdrassige, das heißt alle phrasenhaften Humanitätsparolen und pazifistischen Illusionen, verächtlich von sich weise und nicht davor zurückschrecken werde, sich voller Stolz auf ihren eigenen Leistungswillen an die Spitze des deutschen Volks, ganz Europas, wenn nicht der gesamten Welt zu setzen. Im Zuge solcher Gedankengänge sagte Hitler Anfang der dreißiger Jahre zu Hermann Rauschning, der 1933 nationalsozialistischer Senatspräsident von Danzig wurde: »Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine neue Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. Ich werde sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. Ich will eine athletische Jugend. Das ist das Erste und Wichtigste. So merze ich Tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus. Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend. Am liebsten ließe ich sie nur das lernen, was sie ihrem Spieltriebe folgend sich freiwillig aneignen. Aber Beherrschung müssen sie lernen. Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen. Das ist die Stufe der heroischen Jugend. Aus ihr wächst die Stufe des Freien, des Menschen, der Maß und Mitte der Welt ist.«[32]

Dies ist allerdings nur ein Aspekt der von Hitler anvisierten Erziehung. Schließlich kann es in einem solchen System nicht bloß durch Härte und Entbehrung gestählte Führer geben, die in den Stand der »Freien« aufsteigen. Ein solches System braucht ebensosehr durch Härte und Entbehrung gestählte Untertanen, die von der NS-Propaganda zu selbstlosen »Volksgenossen« verklärt wurden. Ihren Lebensgang, der nicht in die Führerausbildung der Adolf-Hitler-Schulen, Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und Ordensburgen einmündete, skizzierte Hitler in seiner berüchtigten Reichenberger Rede vom 8. September 1938 mit ebenso unverblümter Direktheit: »Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln. Und wenn nun dieser Knabe und dieses Mädchen mit ihren zehn Jahren in unsere Organisationen hineinkommen und dort nun sooft zum erstenmal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht wieder zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort nicht ganz Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs bis sieben Monate geschliffen. Und was dann noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt die Wehrmacht zur weiteren Behandlung. Und so werden sie nicht mehr frei, ihr ganzes Leben! «[33]

Man sage nicht, daß der Nationalsozialismus aufgrund solcher Widersprüche – hie »Freie«, hie »Unfreie« – ein durch und durch dualistisches System gewesen sei. Im Gegenteil, schließlich waren auch die sogenannten Freien, die Führer, in diesem System nicht wirklich frei, sondern mußten ständig vor ihren Konkurrenten auf der Hut sein und sich immer aufs neue als die Stärkeren erweisen, um nicht von anderen, noch Stärkeren ausgeschaltet zu werden. Indem Hitler das menschliche Leben wie auch das Leben einzelner Völker und Rassen in einem sozialdarwinistischen Sinn vornehmlich als Kampf, das heißt als Sieg der Stärkeren über die Schwächeren hinstellte, zwang er alle, die ihm folgten oder sich ihm unterwarfen, dazu, das Prinzip der »biologischen Überlegenheit«[34] und damit den »aristokratischen Grundgedanken der Natur«[35] anzuerkennen. Letztlich war für ihn »Leben« etwas grundsätzlich Chaotisches, ein Kampf aller gegen alle, bei dem nur derjenige den Sieg davonträgt, der sich aufgrund seiner größeren Entschlossenheit, seines skrupellosen Durchsetzungsvermögens, ja seines von Nietzsche als »Willen zur Macht« apostrophierten Tatendrangs als geborener Führer erweist.[36]

Hitler und sein Hitler-Junge (ca. 1935)

Dieser Kampf, aus dem zwar der eine als Führer und der andere als Gefolgsmann hervorgeht, aber letztlich alle in das gleiche brutale, angsteinflößende System der Systemlosigkeit eingebunden sind, in dem es keine Rechtsstaatlichkeit gibt, sondern bloß die Regel des »Survival of the Fittest« gilt, sollte nach Hitlers Vorstellungen bereits in der Volksschule und dann verstärkt im Jungvolk und in der Hitler-Jugend beginnen. Er war daher grundsätzlich dagegen, junge Menschen allein erfahrenen, »weise« gewordenen Lehrern zu überantworten. Statt dessen sollten sie im Sinne der von ihm geprägten Formel »Jugend erzieht sich selbst« im Chaos des Rudels zu der Erkenntnis kommen, daß der Kampf aller gegen alle der Erhaltung und Stärkung des eigenen Ichs sowie des deutschen Volks diene. Und eine solche Form der Erziehung schien Hitler weniger in den herkömmlichen Schulen als in den der HJ unterstellten Lagern gewährleistet, in denen nicht die bürgerlich-humanistischen und damit »verweichlichenden« Bildungsideale, sondern die von ihm geforderte Abhärtung, das heißt die »ehernen Gesetze der Natur« im Vordergrund standen.

Sekundiert wurde Hitler bei seinen sozialdarwinistischen Erziehungsvorstellungen, denen stets das Leitbild der kriegerischen Ertüchtigung und Eroberung zugrunde lag, vor allem von Alfred Rosenberg, Bernhard Rust, Wilhelm Frick, Baldur von Schirach, Alfred Bäumler, Ernst Krieck und Hans Schemm, die nach 1933 das gesamte deutsche Schul- und Universitätswesen einer strengen Parteikontrolle zu unterwerfen suchten. Neben der Einführung spezifisch deutschkundlicher und rassenpolitischer Lehrveranstaltungen traten sie entschieden für die Ausweitung der Leibesertüchtigung ein, welche die Jugend durch die »Einübung einer wehrhaften, kämpferischen Haltung« für den »Dienst am Volke« stählen sollte.[37] So forderte Wilhelm Frick schon am 9. Mai 1933 auf einer Konferenz der Länderinnenminister, daß man bei der »neuen Erziehung« das Hauptaugenmerk auf die Herausbildung eines »stahlharten Willens«, also die »Erziehung zur Wehrhaftigkeit« richten müsse, um die jungen Menschen auf den anstehenden »Lebenskampf« vorzubereiten.[38] Auch Baldur von Schirach sah die »Revolution der Erziehung« vor allem in einer Frontstellung gegen die bisherige Überintellektualisierung der Jugend und einer ihr korrespondierenden Verstärkung des »Kampfeswillen«.[39] Ebenso scharf wandte sich Hans Schemm gegen die älteren, humanistisch geprägten Bildungsideale sowie den ihnen zugrundeliegenden »lächerlichen Pazifismus« und strich statt dessen die »Todesbereitschaft« als höchstes Ziel der neuen Erziehung heraus.[40] Er schrieb unter dem Titel Der Nationalsozialismus als Siegfriedbewegung und Kampfbejahung: »Ein Mensch, der nicht strebt, nicht kämpft, ist kein Mensch. Mensch sein, heißt Kämpfer sein. Deutscher sein, heißt hundertmal Kämpfer sein, Nationalsozialist sein, heißt, tausendmal Kämpfer sein.«[41]

Ihre schärfste Ausprägung erhielten diese Vorstellungen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Vor allem Alfred Bäumler, der einen Lehrstuhl für Politische Pädagogik innehatte, forderte in den folgenden Jahren immer nachdrücklicher eine Erziehung zum heroisch-aktiven Geist des »germanischen Kriegerstolzes« gegen einen dekadent gewordenen »Spiritualismus«.[42] Wie Rosenberg setzte er hierbei seine Hoffnung auf eine kriegerische »Tatbereitschaft«, die im Sinne »nordischen Barbarentums« aller Urbanität und Zivilisation den Kampf ansagt.[43] Um diesen Prozeß ideologisch zu fördern, bekannte sich Bäumler zu einer Stärkung des »deutschen Menschen« aus seinem »innerlichsten Wesen«, das heißt seinen Trieben und Instinkten[44], und bezeichnete die Einbeziehung in einen wehrbereiten »Männerbund« als die einzig legitime Form einer nationalsozialistischen Erziehung.[45] Noch schärfere Töne schlug Joseph Goebbels während des Zweiten Weltkriegs an. Er erklärte 1944, daß es jetzt nur noch darum gehe, alles, was an das »zivile Leben« im älteren Sinne erinnere, zu vergessen und ausschließlich an die Verstärkung des »Kämpferischen« zu denken, ohne die er sich ein »Weiterleben der deutschen Nation« nicht vorstellen könne.[46]

Solche Parolen wurden zwischen 1933 und 1945 auf allen Ebenen des NS-Erziehungswesens verkündet. Nicht nur in den Eliteschulen, also den Adolf-Hitler-Schulen, Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und Ordensburgen, auch in den Volks-, Mittel- und Oberschulen veranstaltete die NSDAP unablässig Feierstunden, deren Hauptthemen Heroismus und Todesbereitschaft waren. Dementsprechend standen schon 1936 viele Abschlußfeiern der Volksschulen, wie man den Deutschland-Berichten des gleichen Jahres entnehmen kann, unter dem Motto: »Wir sind geboren, um für Deutschland zu sterben!«[47] Sogar diese Schulen gaben sich die größte Mühe, unter ihren Schülern den Typ des »Weichlings« durch den des »Draufgängers« zu ersetzen.[48] Eine wichtige Rolle spielte bei diesem Umwandlungsprozeß – neben der immer größeren Bedeutung, welche man den Leibesübungen zumaß – schon zwischen 1933 und 1940 die Verschickung ganzer Schulklassen in ländliche Gebiete, wo es neben den aktiven Parteigenossen unter den Lehrern vor allem die HJ-Führer waren, die in den von der NSDAP bereitgestellten Lagern für die nötige Abhärtung, Schulung und Auslese der Schüler sorgten. Welcher Geist hierbei vorherrschte, geht aus dem Lied eines KLV-Transports von 1934 hervor, das mit den Zeilen schloß: »Wir sind des Führers Jugend, geeint in seinem Geist. / Wir wollen ewig kämpfen für das, was Deutschland heißt.«[49] Ein anderes dieser frühen KLV-Lieder enthielt die ebenso kampfbetonten wie herrischen Strophen: »Blonde und braune Buben / passen nicht in die Stuben. / Buben, die müssen sich schlagen, / müssen was Tollkühnes wagen. / Buben gehören ins Leben hinein ; / Buben sind stolz, ob sie groß oder klein. / Trommeln und Pfeifen und Tuben, / das ist der Sang der Buben. / Buben, die trotzten verwegen / Sturmwind, Wetter und Regen. / Buben, die sind von herrischer Art, / Sturmvogel gleich ihre fröhliche Fahrt.«[50]

Außerdem wurden alle Zehn- bis Achtzehnjährigen seit 1933 immer stärker genötigt, in die Hitler-Jugend oder den Bund deutscher Mädel einzutreten, die sich erst neben und dann über den Schulen als die führenden, vom Kampfeswillen des Nationalsozialismus geprägten Erziehungsinstitutionen zu etablieren versuchten. Ja, als am 1. Dezember 1936 mit der Einführung der »Jugenddienstpflicht«[51] die Mitgliedschaft in der HJ und im BDM obligatorisch wurde, wodurch die verschiedenen Organisationsverbände der Hitler-Jugend bereits 1938 über 8,7 Millionen Mitglieder aufwiesen, nahm der Einfluß der Partei ständig zu und führte zu einer immer stärker faschisierten, die Schule überlagernden Jugenderziehung. Es war das Ziel der NSDAP, der im Elternhaus und in der Schule – nach ihrer Meinung – viel zu »weichlich« gehandhabten Erziehung der deutschen Jugend durch die Erfassung aller Zehn-bis Vierzehnjährigen im Jungvolk und im Jungmädelbund sowie aller Vierzehn- bis Achtzehnjährigen in der Hitler-Jugend und im Bund deutscher Mädel ein parteiamtlich durchstrukturiertes Ertüchtigungssystem entgegenzusetzen, das in »hektisch angekurbelten Aktionsprogrammen, Wettbewerben und Kampfspielen«[52] der neuen Jugend das Gefühl »des Siegreichen, des Überlegenen, des Erfolgreichen« und zugleich der Mitleidslosigkeit »gegenüber Schwächeren, Minderheiten und Unterlegenen« zu vermitteln suchte.[53] Vor allem der männlichen Jugend sollte in diesen Organisationen von früh auf »Bedingungslosigkeit, Brutalität und Härte der Auffassung« antrainiert werden.[54] Demzufolge stand bereits in den ersten Jahren des Dritten Reichs, besonders in den Dienststunden des Jungvolks und der Hitler-Jugend, aber auch in den Lagern der von der Partei organisierten Kinderlandverschickung, die Tendenz zur Wehrertüchtigung im Vordergrund. Durch sie sollte die deutsche Jugend »gestählt« werden[55] und lernen, wie das »HJ-Disziplinarrecht« ausdrücklich betonte, allen »Befehlen ohne Wenn und Aber« bedingungslos zu gehorchen.[56]

Wie stark die Überlagerung der Schule durch die Hitler-Jugend im Laufe der Jahre wurde, bezeugt unter anderem die Tatsache, daß Hitler am 27. September 1940, als die britischen Bombenangriffe auf die deutschen Großstädte einsetzten[57], nicht den NS-Lehrerbund oder die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, sondern Baldur von Schirach, den früheren »Reichsjugendführer der NSDAP« und seit 1940 in Wien amtierenden Gauleiter der »Ostmark«, beauftragte, »zusammen mit allen einschlägigen Instanzen in Partei und Staat und gegebenenfalls auch der Wehrmacht, das Erforderliche zum Aufbau und zur Durchführung einer ›Erweiterten Kinderlandverschickung‹«[58], wie diese Aktion offiziell hieß[59], in die Wege zu leiten. Schirach hatte schon 1934 in seinem Buch Die Hitler-Jugend. Idee und Gestalt dem bisherigen »Kind«, vor allem dem »Muttersöhnchen« den »Krieg erklärt« und die von der HJ organisierten Kinderlandverschickungslager als die »idealste Form des Jungenlebens« hingestellt.[60] Über den tieferen Sinn der Hitler-Jugend lesen wir hier: »Die HJ ist eine Erziehungsgemeinschaft. Wer in der HJ marschiert, ist keine Nummer unter Millionen, sondern der Soldat einer Idee. Je nachdem er mehr oder weniger tief in die Idee eingedrungen ist, ist sein Wert für die Gemeinschaft zu bemessen. Ein Arbeiterjunge, dessen Herz heiß für unseren Führer schlägt, ist daher für Deutschland wesentlich wichtiger als ein hochgebildeter Ästhet, der jede Regung seines schwächlichen Gefühls mit verstandesmäßigen Überlegungen bekämpft.«[61] Folgerichtig forderte Schirach schon in diesem Buch, daß die schulische Bildung unbedingt durch die HJ-Erziehung ergänzt werden müsse. Für Lehrer, die für die außerschulischen Veranstaltungen der HJ kein Interesse aufbrächten, werde im neuen Reich bald kein Platz mehr sein. Die Jugend brauche in Zukunft keine unverbindlichen Wissensvermittler, keine »Pauker« oder »Oberstudiendirektoren«, sondern vom Geist des Nationalsozialismus durchdrungene »Führer«.[62]

Dieses Programm suchte Schirach auch innerhalb der »Erweiterten Kinderlandverschickung« durchzusetzen.[63] Zu diesem Zwecke wurde in Berlin eine »Reichsdienststelle des Beauftragten des Führers für die Erweiterte Kinderlandverschickung« geschaffen und »mit bewährten Führern und Führerinnen der Hitler-Jugend sowie mit besonderen Fachkräften besetzt«.[64] Dort wurde entschieden, die Sechs- bis Zehnjährigen in aufnahmebereiten »Familienpflegestellen« und die Zehn- bis Vierzehnjährigen in »Gemeinschaftslagern«, also Jugendherbergen, Schullandheimen, Hotelbetrieben, Gaststätten, Dorfschulen und Betriebserholungsheimen, unterzubringen.[65] Ende 1940 befanden sich bereits 300000 Großstadtkinder auf dem Lande, davon weit über die Hälfte in 1938 Lagergemeinschaften.[66] »Zu Beginn des Jahres 1941 war die Zahl der verschickten Kinder und Jugendlichen«, wie Otto Würschinger schreibt, »bereits auf 382616 angewachsen, die in 1631 Sonderzügen und 58 Schiffstransporten in ihre Aufnahmegaue gebracht wurden. Alle kamen aus den luftgefährdeten Gauen in West- und Norddeutschland, davon allein 180000 Jungen und Mädel im Alter von 10–14 aus Berlin und Hamburg. Ende 1943, im Zeitpunkt der größten Ausdehnung der Kinderlandverschickung, wurden rund eine Million Jugendlicher in KLV-Lagern betreut. Etwa 5000 Lager waren belegt, wobei die Belegzahl weit auseinanderging. Das kleinste Lager bestand aus 18 Jugendlichen, das größte aus 1200.«[67] Insgesamt, wenn man noch die in Familienpflegestellen untergebrachten Mütter mit kleinen Kindern dazurechnet, die ebenfalls von der »Dienststelle KLV« betreut wurden, werden es wohl – nach realistischen Schätzungen – rund »3 Millionen Kinder und Jugendliche« gewesen sein, die von dieser Aktion erfaßt wurden.[68]

Die Verschickung der von der KLV-Leitung betreuten Schüler und Schülerinnen erfolgte kostenlos. Das gleiche gilt für die Unterbringung und Verpflegung. Die ärztliche Versorgung wurde, laut Jutta Rüdiger, von »726 Lagerärzten, 125 Feldscheren, 390 Gesundheitsmädeln, 278 Krankenschwestern und 94 Medizinstudenten« übernommen. Für erkrankte KLV-Teilnehmer und -Teilnehmerinnen standen, nach den Statistiken des Jahres 1941, »insgesamt 5000 Betten und 500 Pflegepersonen« in über 100 Notkrankenhäusern zur Verfügung.[69] Außerdem wurden zwischen 1940 und 1945 in Bad Podiebrad etwa »1000 junge und ältere Frauen« auf einer »Wirtschaftsleiterinnenschule« für die Sach- und Küchenbetreuung der KLV-Lager ausgebildet.[70] In der gleichen Stadt befanden sich eine »KLV-Reichsschule« für Lagermannschaftsführer und zwei ähnliche Schulen für Lagermädelführerinnen, in der bis Ende 19426393 Jungen und 3767 Mädchen in vierzehntägigen Lehrgängen auf ihre zukünftigen Leitungsaufgaben vorbereitet wurden.[71]1941 wurde in Prag sogar eine »KLV-Werkschule« eingerichtet, auf der sich Lagerlehrer und -lehrerinnen sowie Lagermannschaftsführer und Lagermädelführerinnen mit den verschiedenen Formen einer vom »Geist des Nationalsozialismus beseelten Freizeitgestaltung« vertraut machen konnten.[72]

Statt die Verwaltung der unzähligen KLV-Lager allein den vom NS-Lehrerbund abgeordneten Lehrern und Lehrerinnen zu überlassen, stellte Schirach jedem Lehrer und jeder Lehrerin einen von der HJ-Führung ausgewählten Lagermannschaftsführer bzw. eine Lagermädelführerin zur Seite, die oft nur wenige Jahre älter waren als die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Die Lehrer und Lehrerinnen hatten in den meisten Fällen nur für den morgendlichen Schulunterricht zu sorgen, während den Lagermannschaftsführern und Lagermädelführerinnen, die mit der »Selbstführung der Jugend« beauftragt wurden[73], die Aufgabe zufiel, den restlichen Tages- und Nachtablauf, also die Morgenfeiern, die Sauberkeitsappelle, die Körperertüchtigung, das Singen und Marschieren, die Geländespiele sowie die politischen Instruktionen[74], in eigener Regie zu übernehmen.[75] Das führte in der Praxis häufig dazu, daß in KLV-Lagern mit jüngeren Kindern die Lehrer und Lehrerinnen – trotz der für sie ungünstigen Rahmenbedingungen – die entscheidenden Leitungsfunktionen an sich rissen. In Lagern mit Zwölf- bis Fünfzehnjährigen, in denen die Lagermannschaftsführer oder Lagermädelführerinnen bereits im Abiturientenalter waren, mußten sich dagegen die Lehrer und Lehrerinnen oft mit der ihnen zugedachten untergeordneten Rolle begnügen, vor allem, wenn es sich um ruhebedürftige, aus der Pensionszeit in den Lagerdienst abkommandierte Studienräte oder Studienrätinnen handelte.[76] Das soll nicht heißen, daß die Lager, in denen die Lehrer oder Lehrerinnen mehr zu sagen hatten als die Lagermannschaftsführer oder Lagermädelführerinnen, zwangsläufig die besseren, humaneren waren. Es gab auch unter den Lehrern und Lehrerinnen üble Nazis, die sich in einer solchen Situation als tyrannische Ungeheuer aufspielten. Und es gab sowohl vernünftige als auch niederträchtige Lagermannschaftsführer oder Lagermädelführerinnen, je nachdem, ob sie ihrer Rolle menschlich gewachsen waren oder die ihnen zugedachte Machtposition ebenfalls in einem despotischen Sinne mißbrauchten.

Aufgrund dieser unbestimmten Machtbefugnisse[77]