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Mit diesem Werk wird der Versuch unternommen, die Geschichte der Germanistik von ihren Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts darzustellen. Dabei werden nicht nur deren Methoden in ihrer chronologischen Abfolge behandelt und auf ihren politischen und sozialgeschichtlichen Hintergrund hin interpretiert, sondern auch der institutsgeschichtliche Rahmen berücksichtigt. Dieses Buch versteht sich somit als ein Leitfaden der Geschichte eines Fachs, das wegen seines zeitweiligen Anspruchs, die nationale Führungswissenschaft zu sein, zu den vielgeschmähten Disziplinen innerhalb der Geisteswissenschaften gehört und doch – wegen seiner mannigfaltigen Identitätsstiftung – eine ungebrochene Anziehungskraft ausübt.
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Seitenzahl: 403
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Jost Hermand
Geschichte der Germanistik
Ihr Verlagsname
Jost Hermand, geb. 1930 in Kassel, promovierte 1955 an der Universität Marburg und ist seit 1958 Professor of German an der University of Wisconsin-Madison (USA). Zahlreiche Gastprofessuren als Germanist, Historiker und Kunstwissenschaftler an deutschen und amerikanischen Universitäten.
Wichtige Veröffentlichungen: Epochen deutscher Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus, 5 Bde, 1959–75 (mit Richard Hamann); Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft, 1965; Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft, 1968; Von Mainz nach Weimar, 1969; Pop International, 1971; Streitobjekt Heine, 1975; Stile, Ismen, Etiketten. Zur Periodisierung der modernen Kunst, 1978; Die Kultur der Weimarer Republik, 1979 (mit Frank Trommler); Sieben Arten an Deutschland zu leiden, 1979; Orte. Irgendwo. Formen utopischen Denkens, 1981; Konkretes Hören. Zum Inhalt der Instrumentalmusik, 1981; Adolph Menzel, 1986; Die Kultur der Bundesrepublik, 2 Bde, 1986–88; Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, 1988; Arnold Zweig, 1990; Grüne Utopien in Deutschland, 1991; Mehr als ein Liberaler. Über Heinrich Heine, 1991; Als Pimpf in Polen. Die Erweiterte Kinderlandverschickung 1940–1945, 1993.
Angesichts des verbreiteten Zweifels am Sinn historischer Erkenntnisweisen wirkt es geradezu vermessen, die Geschichte jenes in mannigfache Richtungen zerspaltenen Fachs beschreiben zu wollen, für das sich die Bezeichnung ‹Germanistik› eingebürgert hat. Haben nicht alle, die seit nunmehr über 20 Jahren auf Methodenpluralismus, Posthistoire und Poststrukturalismus schwören, immer wieder darauf hingewiesen, daß jede Rekonstruktion eines geschichtlichen Nacheinanders auf leicht zu entlarvende ‹Meistererzählungen› oder ‹Mythisierungen› hinauslaufe, die der Unzahl der verschiedenen und sich häufig widersprechenden Diskurse innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit notwendig Gewalt antun? Besonders im Bereich der sich avanciert dünkenden Kultur- und Geisteswissenschaften sind demzufolge – neben den bereits bestehenden, in ein entwicklungsgeschichtliches Kontinuum eingebundenen soziopolitischen, ideologiekritischen und stilanalytischen Sehweisen – in steigendem Maße anthropologische, linguistische, systemtheoretische, semiotische, psychoanalytische, geschlechtsspezifische sowie mentalitätsbezogene Diskurse poststrukturalistischer oder postmoderner Prägung getreten, nach denen es nur noch Konstanten und Differenzen, aber keine historisch bedingten Entwicklungsstränge mehr gibt. Aufgrund dieser methodologischen Verschiebungen ist auf erkenntnistheoretischer Ebene jene ‹Neue Unübersichtlichkeit› entstanden, die selbst manche ihrer Kritiker und Kritikerinnen nachdenklich gestimmt hat.
Solche Problematisierungen von vornherein abzulehnen liegt mir fern. Sie haben gegenüber vielen bisherigen Verkürzungen auf allzu lineare Interpretationsmuster politisch-ideologischer oder ästhetischformalistischer Art den Vorzug, wesentlich differenziertere Sehweisen entwickelt zu haben, um der Fülle des historisch überlieferten Materials wissenschaftlich gerecht zu werden. Dabei sollte allerdings im Hinblick auf die Anhänger und Anhängerinnen solcher Anschauungen zwischen zwei Richtungen unterschieden werden: einerseits jenen, die hieraus – aufgrund forcierter Identitätsspekulationen – vornehmlich defätistische, wenn nicht gar pessimistische Folgerungen ziehen und an der Sinngebung von Geschichte überhaupt zu zweifeln beginnen, andererseits jenen, welche sich darum bemühen, die vom Poststrukturalismus entwickelten Sehweisen in ein neues, umfassenderes Konzept von Geschichtlichkeit einzubeziehen, um so – nach der Infragestellung älterer Historizitätsvorstellungen – wieder zu kollektiv-objektivierenden Gesichtspunkten zurückzufinden.
Für eine Geschichte der Germanistik würde ein solches Bemühen bedeuten, ihren Verlauf – im Rahmen einer mehr oder minder klar erkennbaren historischen Abfolge – nicht nur nach politischen, ideengeschichtlichen und methodologischen Gesichtspunkten oder im Hinblick auf ihre Hauptrepräsentanten und die von ihnen begründeten Schulen darzustellen, sondern hierbei auch andere Perspektiven, vor allem sozialpsychologischer, mentalitätsgeschichtlicher, institutionsbedingter und funktionsbezogener Art heranzuziehen, um so der Kritik an früheren Formen einer lediglich vorgetäuschten Totalität mit dem Konzept einer tiefer begründeten Totalität entgegentreten zu können, die auf einer wesentlich weiter gefaßten Synthese beruht. Bei einem so anspruchsvollen Versuch stellt sich freilich die Frage, wie sich ein solches Bemühen – bei der Fülle der inzwischen entwickelten neuen Sehweisen und zugleich der geradezu explosionsartigen Erweiterung unserer Materialkenntnisse auf diesem Gebiet – überhaupt realisieren läßt. Ist es nicht etwas großspurig, eine solche Leistung als einzelner erbringen zu wollen, statt sich in ein wohlausgesuchtes Wissenschaftsteam einzuordnen? Entsteht nicht dadurch erneut die Gefahr einer einlinigen Durchstrukturierung der geradezu unübersehbaren Stoffmassen im Sinne bestimmter Leitideen oder Meisterdiskurse?
Gefahren dieser Art sollen keineswegs geleugnet werden. Aber was wäre die Alternative zu einem solchen Unterfangen: etwa im Rahmen eines größeren Teams, und zwar ohne bestimmte Leitideen, an ein derartiges Projekt heranzugehen? Würde nicht ein solcher Versuch, der sich keine von allen Beteiligten anerkannten Ziele setzt und im Bereich des Abstrakt-Akademischen, Wertfreien und damit Ideenlosen zu bleiben sucht, nach wenigen Anläufen vor dem chaotischen Nebeneinander der vorgegebenen Materialmengen notwendig kapitulieren müssen? Der These, daß ein einzelner eine solche Aufgabe nicht mehr bewältigen könne, ließe sich daher mit der gleichen Berechtigung die These entgegensetzen, daß auch ein größeres Team bei einer solchen Aufgabe nicht von vornherein im Vorteil wäre. Mag auch der als Universalist auftretende einzelne nicht alle Bereiche einer derartig weitgespannten Geschichte gleichermaßen detailliert erforscht haben, er hat den in ein Gemeinschaftsprojekt Eingebundenen wenigstens den Vorteil einer größeren Koordinierungsfähigkeit voraus, während die mit der Bearbeitung eines Teilgebiets Betrauten über dem Besonderen nur allzu leicht das Allgemeine aus dem Auge verlieren. Und so läuft es letztlich auf das gleiche hinaus, sich als einzelner oder als Mitglied eines Wissenschaftsteams an eine Geschichte der Germanistik heranzuwagen. Hier wie dort müssen bei einem solchen Werk alle Partikulardiskurse zwangsläufig in einen Grunddiskurs eingebettet werden, um einem solchen Unternehmen überhaupt eine innere Kohärenz zu geben.
Die Funktion dieses Großdiskurses soll im folgenden jene vielbeschworene ‹Dialektik der Moderne›, das heißt der mit dem Aufstieg des Bürgertums verbundene Prozeß der Verstädterung, Industrialisierung und Liberalisierung, übernehmen, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt und selbst von den Kritikern und Kritikerinnen aller auf eine bestimmte Ideologie festgelegten Meisterdiskurse als der entscheidende politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Großdiskurs der letzten 250 Jahre anerkannt wird, der im positiven wie negativen Sinn die Grundlage aller anderen Diskurse bildet. Dieser Prozeß hat sich nach der Meinung vieler von Anfang an auf eine höchst widerspruchsvolle Weise abgespielt, das heißt nicht nur zu Gewinnen, sondern auch zu Verlusten geführt. Und wie zu erwarten, sind auf diese Widersprüche höchst unterschiedliche Reaktionen erfolgt. All jene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die allein von der Gewinnbilanz dieser Vorgänge fasziniert waren, haben in dieser Entwicklung vornehmlich einen Prozeß der Beseitigung der erstarrten feudalistischen Ordnungen zugunsten einer begrüßenswerten Enthierarchisierung und Liberalisierung gesehen, der bis heute andauere und in seinen Modernisierungsschüben zu einer weitgehenden Verfreiheitlichung aller Menschen beigetragen habe. Eher dialektisch denkende Angehörige der gleichen Disziplinen haben jedoch an dieser Entwicklung nicht nur das Positive, sondern auch den damit verbundenen Verlust kultureller, bildungsmäßiger und gesellschaftlicher Sinnstiftungen sowie die deutliche Zunahme entfremdender, konkurrenzbetonter, zweckinstrumentaler Tendenzen herausgestellt. Schließlich sei es durch die ‹Befreiung› in die Free-Enterprise-Gesellschaft mit all ihren materialistischegoistischen Begleiterscheinungen, schrieben sie, auch zu einer hemmungslosen Bevölkerungszunahme, unablässigen Beschleunigung der wirtschaftlichen Zuwachsrate und rücksichtslosen Ausplünderung der natürlichen Grundlagen des Lebens gekommen, welche allmählich immer bedrohlichere Züge anzunehmen beginne.
Im Hinblick auf diese Widersprüche wird die ideologische Diskussion bis heute von folgenden Gegensätzen bestimmt: Auf der einen Seite stehen Lehrende dieses Fachs, die weiterhin am Prinzip der unantastbaren Freiheit des einzelnen festhalten und vor den damit verbundenen kapitalistischen sowie ökologischen Gefahren weitgehend die Augen schließen, da ihnen alle Tendenzen zu gesamtgesellschaftlicher Verantwortlichkeit und damit ins Kollektive, welche sich in den letzten hundert Jahren vor allem auf der Ebene sozialistischer und faschistischer Diskurse geäußert haben, lediglich als totalitäre Verstöße gegen das Prinzip der pluralistisch-offenen Gesellschaft erscheinen. Auf der anderen Seite stehen jene, die in der fortschreitenden Verfreiheitlichung innerhalb der marktwirtschaftlichen Systeme vor allem Tendenzen ins Egoistische, Ausbeuterische, Narzißstische wahrnehmen und energisch auf eine kollektive Gesinnungsethik dringen, um sich dem immer deutlicher werdenden Katastrophenkurs entgegenzustellen. Während sich dabei die eine Gruppe gezwungen sieht, ihre liberalen Anschauungen trotz aller konkreten Entartungen ins Privilegierte und Ausbeuterische zu verteidigen, da diese aufs engste mit ihrem persönlichen Selbstverwirklichungsdrang zusammenhängen, muß die andere Gruppe stets kollektive Konzepte jenseits des Stalinismus und Hitlerismus beschwören, um sich so von Staatsformen abzusetzen, in welchen die von ihr herbeigewünschten Tendenzen lediglich auf höchst depravierte Weise zum Durchbruch kamen.
Und so ist auch die Geschichte der Germanistik, die in den letzten 200 Jahren sowohl an den liberalen als auch den nationalen und sozialistischen Bestrebungen auf engagierte Weise teilgenommen hat, notwendig ein Feld weltanschaulicher Auseinandersetzungen, das jedem Betrachter, der politisch ernst genommen werden will, klare Stellungnahmen abverlangt. Daher soll im vorliegenden Buch stets von folgenden Fragen ausgegangen werden: in welcher Form die Germanistik in diesen Prozeß eingebunden war, was sie zu den herrschenden oder kritischen Ideologieformationen beigetragen hat, wo sie lediglich als regimeverbundenes Ausführungsorgan aufgetreten ist, wie sie auf den Deutschunterricht an den Oberschulen einzuwirken versuchte, welchen Status sie innerhalb der Universitäts- und Bildungshierarchie einnahm, wo sie Lebenshilfe spendete, mit welchen Methoden sie an die von ihr interpretierten Werke heranging, welche politische, soziale und kulturelle Rolle ihre Professoren und in jüngster Zeit auch Professorinnen gespielt haben – sowie vieles andere mehr, um nicht in Einseitigkeiten befangen zu bleiben, sondern alles mit allem, so weit wie möglich, auf gut totalisierende Weise miteinander zu verbinden.
Ein solches Unterfangen wird nicht ohne bestimmte Gewichtungen, ja selbst Bewertungen und Urteile auskommen. Allerdings soll in diesen Abschnitten, so unumgänglich sie sind, jede unnötige Häme vermieden werden. Wo sich die Lehrenden dieses Fachs zu einem egozentrischen Karrierismus oder zu inhumanen Anschauungen bekannt haben, darf das nicht verschwiegen werden. Wo sie jedoch – im Rahmen der ‹Dialektik der Moderne› – aus blindem Idealismus nationalistische Ideen unterstützt, aus innerster Überzeugung sozialistischen Parteien beigetreten oder aus liberaler Gesinnung vor den negativen Aspekten der kapitalistischen Gewinngier die Augen geschlossen haben, wäre es arrogant, sie von vornherein abzukanzeln. In solchen Fällen sollten wir uns nicht ‹besser› dünken als viele der früheren Germanisten und Germanistinnen, sondern lieber fragen, warum sie – im Rahmen der ihnen offen stehenden Möglichkeiten – so und nicht anders gedacht, ja sogar gehandelt haben. Waren es nicht manchmal gerade die Bedeutenderen, die sich ‹geirrt› haben, während sich die Mittelmäßigen aufgrund ihrer Leisetreterei nichts zuschulden kommen ließen? Und auch sonst gilt es zu differenzieren. Schließlich gibt es unter Nationalisten an die gerechten Wünsche ihres Volks Denkende sowie üble Chauvinisten, unter Sozialisten für internationale Gleichheit und Brüderlichkeit Eintretende sowie miese Opportunisten und unter Liberalen gute Aufklärer sowie rein zweckinstrumental denkende Karrieristen. Das gleiche trifft auf andere Gruppen zu. Auch unter Grünen finden sich verantwortungsbewußte Überlebensstrategen sowie lediglich um ihr eigenes Wohlbefinden Besorgte und unter Feministinnen für eine endgültige Gleichstellung der Frau Kämpfende sowie problematische Exzentrikerinnen.
Solchen Urteilen gehen jedoch viele Germanisten und Germanistinnen gern aus dem Weg. Um sich nicht ins Nationalistische, Sozialistische, Linksliberale, Grüne oder Geschlechtsspezifische zu ‹verirren›, ziehen sie sich – falls sie sich überhaupt mit Wissenschaftsgeschichte beschäftigen – meist in den Bereich eines systemtheoretischen Denkens zurück, innerhalb dessen sich die Germanistik als eine in sich geschlossene disziplinäre Kommunikationsgemeinschaft beschreiben läßt, die mit den politischen und ideologischen Großprozessen ihrer Zeit nur in Ausnahmefällen diskursformierende Verbindungen eingegangen ist. Demzufolge läßt der Forschungsstand im Hinblick auf die weltanschauliche Orientierung der Germanistik weiterhin zu wünschen übrig. Es gibt zwar zahlreiche Studien zu einzelnen Gelehrten oder Instituten sowie den verschiedenen Methodologien dieses Fachs, aber kaum größere, epochenübergreifende Untersuchungen oder gar eine auch die historischen Hintergründe mitberücksichtigende Gesamtdarstellung der Germanistik. Dieser Zustand ist oft beklagt worden, doch eine nachhaltige Abhilfe läßt nach wie vor auf sich warten.
Erste Vorstöße in dieser Richtung wurden 1966 auf dem Münchner Germanistentag unternommen, wo Karl Otto Conrady, Eberhard Lämmert und Peter von Polenz zu einer Bewältigung der faschistischen Vergangenheit der Germanistik aufriefen. Darauf wurde 1972 in Marbach eine Arbeitsstelle zur Erforschung der Geschichte der Germanistik eingerichtet, die von Christoph König geleitet wird. Weitere wissenschaftstheoretische Arbeiten legten in den folgenden Jahren Ursula Burkhardt, Martin Doehlemann, Karl-Heinz Götze, Franz Greß, Johannes Janota, Jörg Jochen Müller, Bernd Peschken, Gunter Reiss, Klaus Röther und Gerhard Sauder sowie jene Germanisten und Germanistinnen vor, die sich in Freiburg, Göttingen, Hamburg, Heidelberg und Köln mit der NS-Vergangenheit der dortigen Institute beschäftigten. Mit den Anfängen der Germanistik im 18. und 19. Jahrhundert setzten sich in jüngster Zeit vor allen Jürgen Fohrmann, Peter Uwe Hohendahl, Uwe Meves, Bärbel Rompeltien und Klaus Weimar auseinander. Ebenso forschungsintensive Vorstöße auf diesem Gebiet, das noch immer eine Fülle blinder Flecken aufweist, unternahmen der DDR-Literaturwissenschaftler Rainer Rosenberg und einige seiner Schüler sowie die mit Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp arbeitende Forschungsgruppe, zu der neben den beiden Genannten unter anderen Holger Dainat und Rainer Kolk gehören.
Im Gegensatz zu der höchst detaillierten, mehrbändigen «Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft», an der die eben erwähnte Forschungsgruppe arbeitet, versteht sich vorliegendes Buch eher als eine ‹Kleine Geschichte der Germanistik›, bei welcher in ungeheuchelter Bescheidenheit der Hauptnachdruck auf dem Einführenden und Lesbaren liegen soll. Aus dieser Zielsetzung – wie auch aus verlegerisch bedingten Gründen der Umfangsbeschränkung – ergaben sich folgende Konsequenzen, die bei der Lektüre dieses Bands stets mitbedacht werden sollten: (1) eine weitgehende Konzentration auf den Bereich der mitteleuropäischen Germanistik, während die Auslandsgermanistik, deren Geschichte bisher kaum erforscht worden ist, nur im Rahmen der jüngsten Internationalisierungstendenzen mitberücksichtigt wird; (2) eine Privilegierung der Neugermanistik zugunsten der Mediävistik und Sprachwissenschaft, die nur dort stärker herangezogen werden, wo sie einen maßgeblichen Einfluß auf die Ideologie oder den institutionellen Status dieses Fachs ausgeübt haben; (3) eine Raffung bei der Darstellung des geschichtlichen Verlaufs vor 1900, welcher bereits öfters beschrieben wurde, zugunsten einer etwas ausführlicheren Behandlung des Zeitraums danach, der bisher noch keine zusammenfassende Darstellung erfahren hat; (4) eine Beschränkung auf die wichtigsten Strömungen und deren Hauptrepräsentanten, was hinsichtlich der letzten 50 Jahre sicher viele Fachkollegen und -kolleginnen verärgern wird, weil sie dadurch überhaupt nicht, nicht mit der gebührenden Ausführlichkeit oder nicht lobend genug erwähnt werden; (5) ein weitgehender Verzicht auf allzu theoriebeflissene Abstraktionen und Ausdifferenzierungen, die bei der Behandlung von Einzelaspekten nicht zu umgehen wären, jedoch bei der Darstellung größerer Zeiträume zwangsläufig von den ebenso wichtigen Gesamtverläufen ablenken würden; schließlich (6) eine Reduzierung des wissenschaftlichen Apparats, vor allem im Hinblick auf weiterführende Anmerkungen und eine höchsten Ansprüchen genügende Bibliographie.
Und noch ein Wort zum Schluß: ein Buch, das sich nicht scheut, neben dem individuellen Selbstverwirklichungsbedürfnis auch einem gesamtgesellschaftlichen Verantwortungsgefühl das Wort zu reden, wird bei einseitigen Identitätstheoretikern sicher auf Widerstand stoßen. Zum Glück gibt es jedoch im Fach Germanistik neben Vertretern und Vertreterinnen einer solchen Haltung immer noch genug andere, die sich nicht in den Bereich einer vornehmlich karrierebetonten Betriebsamkeit, narzißtischen Ichsuche oder partikularistisch orientierten reader-response-Vorstellung zurückgezogen haben, sondern trotz des merklichen Abflauens der Neuen sozialen Bewegungen dieser Disziplin nach wie vor eine dem Gesamtwohl dienende Funktion zu geben versuchen. Allen Kollegen und Freunden, die mich in solchen Anschauungen unterstützt oder mir nützliche Hinweise zur Geschichte der Germanistik gegeben haben, sei auch an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt.
Madison, im Januar 1994
Jost Hermand
Humanistisches Nationalbewußtsein – Deutschsprachige Rhetorikübungen – Der Einfluß der Aufklärung – Entwicklungsgeschichtliches Denken
Jede Geschichte hat ihre Vorgeschichte. Nachdem viele deutschbewußte Wissenschaftshistoriker die Germanistik lange Zeit aus dem national-romantischen Geist der antinapoleonischen Kriege abgeleitet haben, herrscht heutzutage eher die Tendenz, den Beginn dieser Disziplin bis ins 17. oder 16. Jahrhundert, wenn nicht gar bis ins Mittelalter zurückzuverfolgen. So gibt es Altgermanisten, die schon in den literaturhistorischen Exkursen salisch-staufischer Chroniken oder der Literaturrevue in Gottfrieds Tristan Vorformen germanistischer Bemühungen sehen. Spurensuchen dieser Art in allen Ehren! Aber den Charakter des Wissenschaftlichen, der im Rahmen einer Institutionsgeschichte – wie der Geschichte der Germanistik – im Vordergrund stehen muß, bekamen solche literaturkritischen Ansätze erst im Humanismus des frühen 16. Jahrhunderts, als sich an den inzwischen gegründeten Universitäten der historisch-philologische Eifer der dort lehrenden Professoren erstmals mit einem gegen die bevormundenden Übergriffe der römisch-katholischen Kirche gerichteten deutschen Nationalbewußtsein verband. Trotz des intensiven Studiums antiker Texte, das mit dieser Abwendung von den ‹dunklen› Seiten des Mittelalters zusammenhing, setzte so, wie die Schriften von Konrad Celtis, Sebastian Franck und Johannes Nauclerus belegen, aus patriotischen und dann auch protestantisch-konfessionellen sowie bürgerlich-sozialen Gründen ein lebhaftes Interesse an der germanisch-deutschen Frühgeschichte ein, das nicht nur der Beschäftigung mit der 1455 wiederentdeckten Germania des Tacitus, sondern auch den literarischen und volkskundlichen Aspekten der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters zugute kam. Ja, ein gewisser Vadianus soll 1512/13 an der Wiener Universität sogar schon Vorlesungen über die altdeutsche Literatur des Mittelalters gehalten haben.
Daß diese Bemühungen, trotz des starken Interesses an patriotischen und philologischen Fragen, nicht zur Errichtung germanistischer Lehrkanzeln führten, hat vielerlei Gründe. Einer der wichtigsten war sicher das mangelnde Selbstvertrauen der bürgerlichen Intelligenz, deren Hauptvertreter sich 1524/25 nur in Ausnahmefällen mit den aufständischen Massen der Bauern und kleinen Handwerker verbanden, sondern – vor allem nach dem Sieg der fürstlichen und bischöflichen Territorialherren – zusehends in philologische, von politischen und sozialen Fragestellungen säuberlich abgegrenzte akademische Sonderbereiche auswichen. Wegen der erdrückenden Übermacht des Feudalismus und der gegenreformatorischen Tendenzen wandten sich viele der humanistisch geschulten Wissenschaftler wieder von der Volkssprachlichkeit ab und beschäftigten sich als Vertreter einer elitären Nobilitas litteraria in Zukunft lieber mit als ungefährlich geltenden antiken oder neulateinischen Texten. Die daraus resultierende Enge und Irrelevanz ihres Tuns kompensierten sie meist mit einer forcierten ‹Gelahrtheit› sowie einem über ihr politisches und gesellschaftliches Außenseitertum hinwegtäuschenden Standesdünkel. Und so blieb von der patriotischen Variante des frühbürgerlichen Humanismus, als der ersten Auflehnung gegen feudalistische und klerikale Bevormundung, im Verlauf des 16. Jahrhunderts nicht viel übrig. Statt dessen setzte ein erneuter Kult des Lateinischen ein. Im Bereich des Philologischen führte das zu Rhetorikübungen nach Werken von Quintilian, Cicero, Livius und Vergil, die immer nachdrücklicher als überzeitliche Vorbilder, als exempla classica eines gebildeten Stils hingestellt wurden, während die Aspekte des Nationalen und Zeitbezogenen fast völlig in den Hintergrund traten.
Erst im 17. Jahrhundert gingen einige Rhetorikprofessoren dazu über, ihre Studenten auch anhand deutschsprachlicher Exempla zu stilistischen Exerzitien anzuhalten. Das soll nicht heißen, daß sich hierin schon eine germanistische Philologie, geschweige denn germanistische Literaturwissenschaft im späteren Sinn angekündigt hätte. Der von diesen Professoren aufgestellte deutschsprachige Musterkatalog diente lediglich dazu, auch in der eigenen, bislang oft vernachlässigten Sprache auf guten Stil, das heißt auf Eleganz und Sauberkeit zu dringen, was allmählich zur Einführung von Kursen zur ‹Deutschen Beredsamkeit› sowie dem schrittweisen Übergang von der lateinischen zur deutschen Vorlesungssprache führte. Da jedoch hinter diesen Wandlungen keine ins Gesamtgesellschaftliche tendierende Bewegung stand, trug sie weder zu einer steigenden Relevanz dieser Fachrichtung noch zu einer Standeserhöhung der sie praktizierenden Professoren bei. Neben den Theologen, Juristen und Medizinern blieben demzufolge die Vertreter der deutschsprachigen Rhetorik eher minderbeachtete Professoren, die nebenher häufig genug bezahlte Privatvorlesungen hielten, sich als Polyhistoriker auch auf anderen Gebieten betätigten und obendrein außeruniversitäre Ämter übernahmen, um so ihr dürftiges Gehalt aufzubessern.
Zu den wichtigsten Repräsentanten dieser Richtung zählten gegen Mitte des 17. Jahrhunderts, als der Wunsch immer lauter wurde, «man möge an den Universitäten doch deutsch sprechen und auch deutsche Beredsamkeit und Poeterey lehren»,[1] Augustus Buchner, Otto Prätorius, Christoph Kaldenbach, Johann Christoph Beckmann und vor allem Andreas Tscherning. Letzterer war seit 1645 Professor der Poesie in Rostock und gab 1658 ein Buch heraus, das schon im Titel die Haupttendenzen dieser neuen Richtung auf möglichst ‹elegante› Weise zusammenfassen sollte: Kurtzer Entwurf und Abrieß einer deutschen Schatzkammer, von schönen und zierlichen poetischen Redensarten, Umschreibungen, und denen Dingen, so einem Getichte sonderbaren Glantz und Anmuth geben können, der studirenden Jugend zu einer Nachfolge, aus den vortrefflichsten deutschen Poeten als Opitz und Flemmingen insbesonderheit zusammengelesen, und in Ordnung gebracht. Während im Späthumanismus allein die römischen Autoren als stilistische und poetische Vorbilder galten, wurden durch Bücher dieser Art erstmals auch einige deutsche Dichter, die sich der von Opitz eingeführten ‹neuen Manier› befleißigten, in den rhetorischen und literarischen Regelkanon eingeführt. Noch einen Schritt weiter ging Daniel Georg Morhof, der als Schüler Tschernings 1665 als Professor für Poesie und Eloquenz an die neugegründete Universität Kiel berufen wurde. Er eröffnete sein 1682 publiziertes Lehrbuch Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, deren Ursprung, Fortgang und Lehrsätzen mit einem Kapitel über die «Vortrefflichkeit der teutschen Sprache» und gab dann – unter regelpoetischen Gesichtspunkten – eine Gesamtdarstellung der Entwicklung der deutschen Literatur von der uralten Zeit der Barden über die Stauferära bis zur Erneuerung der deutschen Poesie durch Opitz. Trotz seiner unveränderten Hochschätzung der alten Römer, «von welchen doch alles herfließet»,[2] trug er damit wie kaum ein anderer zu einer steigenden Wertschätzung der deutschen Sprache und Literatur bei.
Aufgrund dieser Entwicklungen wurde es immer üblicher, sich an den Universitäten nicht nur in Vorlesungen über deutsche Beredsamkeit und Poesie, sondern auch in anderen Fächern der deutschen Sprache zu bedienen. Einer der wichtigsten Befürworter dieser Tendenz war Christian Thomasius, der zum Zwecke größerer Nützlichkeit und Publikumswirksamkeit 1687 an der Leipziger Universität selbst in juristischen Vorlesungen, die aufs engste mit dem römischen Recht verbunden waren, die Deutschsprachigkeit einführte. Ja, als 1694 die Universität Halle gegründet wurde, setzte sich dort in fast allen Vorlesungen das Deutsche als Unterrichtssprache durch. Eine ähnliche Wirkung übten die «Deutschen Gesellschaften» aus, die in diesem Zeitraum entstanden und auch im außeruniversitären Bereich der Akademien und Lesezirkel zu einer verstärkten Tendenz ins Deutschsprachliche beitrugen. Und doch, obwohl durch diese Entwicklungen die Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur allmählich angesehener wurde, kam es selbst im frühen 18. Jahrhundert nicht umgehend zu der von einigen Vertretern dieser Richtung erhofften Ausbildung einer Deutschen Philologie oder Deutschen Literaturgeschichte, die sich an den Universitäten als allgemein respektierte Fächer etabliert hätten.
Daß die Einrichtung solcher Disziplinen unterblieb, hatte selbstverständlich nicht nur inneruniversitäre Gründe, sondern hing auch mit dem konkreten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsstand des damaligen deutschen Bürgertums zusammen. Trotz der herrschenden Kleinstaaterei und der mangelhaften Ausbildung der ökonomischen Produktionsverhältnisse sympathisierte dieses Bürgertum zwar in seinen Bildungsschichten durchaus mit den aus England und Frankreich importierten Ideen der Aufklärung, blieb aber zahlenmäßig viel zu unbedeutend, um diese Ideen in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Kurz, es dachte zwar ‹groß›, mußte sich aber wegen seiner ökonomischen Schwäche – angesichts der Übermacht der feudalistischen und klerikalen Mächte – weiterhin mit einer untergeordneten Rolle begnügen. Die Wende zur Aufklärung allein bewirkte insofern wenig, da ihr kein von sozialen und wirtschaftlichen Aufsteigergefühlen beseelter Nationalstolz zugrunde lag, der zu einer revolutionären Haltung gegenüber den herrschenden Mächten geführt hätte. Im Gegenteil, je aufgeklärter die bürgerlichen Bildungsschichten dachten, desto eher begeisterten sie sich für relativ abstrakte Vorstellungen einer humanistisch orientierten Menschheitsentwicklung, die ohne jeden Praxisbezug blieben.
Im Bereich der Universitäten führte das zu einer steigenden Wertschätzung der Philosophie, die sich in den Jahrzehnten nach 1700 – unter dem Einfluß des Cartesianismus – allmählich aus ihren theologischen Fesseln befreite und im Rahmen der philosophischen Fakultät zur Wissenschaft einer vernunftgesteuerten Aufklärung schlechthin aufstieg. Indem auch einige Professoren der Poesie und Rhetorik mit dieser Entwicklung Schritt zu halten versuchten, befreiten sie sich zwar ebenfalls aus den Fesseln der ‹unaufgeklärten› Vergangenheit, was in ihrem Fall die strengen, ahistorischen Regeln der Rhetorik und Stilistik waren, wichen aber zugleich – aufgrund ihrer ins Universale ausgreifenden Spekulationen – vor einer gesellschaftsspezifischen Orientierung ihres Tuns aus und verscherzten somit die Chance, an der Herausarbeitung einer ideologisch relevanten Deutschen Philologie oder Deutschen Literaturgeschichte mitzuwirken. Und so traten zwar im Verlauf des 18. Jahrhunderts die schulmeisterlich gesinnten Rhetorikprofessoren und Präzeptoren der «Deutschen Gesellschaften» allmählich in den Hintergrund, ohne daß an ihre Stelle betont progressiv argumentierende Literaturwissenschaftler getreten wären.
Im einzelnen spielte sich das folgendermaßen ab. Bis zur Jahrhundertmitte, als an den Universitäten zwar schon die Deutschsprachigkeit und der Rationalismus dominierten, sich aber noch keine auf Emanzipation drängende Impulse bemerkbar machten, wurde das Feld des ‹Deutschen›, um es bewußt allgemein zu formulieren, weiterhin von Stilistik und Regelpoetik bestimmt. Die wenigen Professoren, die es auf diesem Gebiet gab, waren meist Extraordinarien, die neben Poesie und Rhetorik zum Teil auch Jurisprudenz, Philosophie, Geschichte, Natur- oder Völkerrecht usw. unterrichteten, ja im Laufe ihrer Karriere die Deutsche Beredsamkeit oft zugunsten besser besoldeter Fächer aufgaben. Was wir heute unter Germanistik verstehen, existierte also damals noch nicht. Was es gab, waren regelpoetische Anleitungen sowie Übungen in ‹deutscher Eloquenz›, die jedoch im Rahmen der philosophischen Fakultäten randständig blieben und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer unwichtiger wurden.
Daß die Beschäftigung mit deutscher Literatur an den Universitäten überhaupt an Bedeutung gewann, verdankte sie vor allem dem Wirken Johann Christoph Gottscheds, der an der Leipziger Universität als Privatdozent für Schöne Wissenschaften und Wolffsche Philosophie begann, nebenher die «Deutsche Gesellschaft» leitete und daselbst 1730 außerordentlicher Professor der Poesie und 1734 ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik wurde. Schon dieser Werdegang spiegelt die für die rationalistische Frühphase der Aufklärung bezeichnende Verquickung von Rhetorik, Regelpoetik und Philosophie wider. Geschult an Aristoteles und den französischen Klassizisten, versuchte Gottsched, seine Studenten einerseits mit an der Wirklichkeit orientierten Nachahmungslehren vertraut zu machen, hielt jedoch andererseits streng an einer Regelpoetik fest, die jedes rebellische Entwicklungsdenken von vornherein ausschloß und fast ausschließlich an ein zwar reformwilliges, aber letztlich den Status quo betonendes Bürgertum appellierte. Trotz seiner Betonung der ‹Vernünftigkeit› auf allen Gebieten blieb er deshalb in seinem literarischen Exempla-Kanon in vielem den an Opitz anschließenden Morhofschen Prinzipien der barocken Rhetorik und damit Gelehrsamkeit auf poetischem Gebiet verpflichtet.
Ebenso unkonkret blieben alle Bemühungen innerhalb der Poesievorlesungen dieses Zeitraums, das Wesen des Dichterischen auf sinnespsychologische Weise zu erklären oder seinen sittlich-veredelnden Charakter herauszustellen. Für die erste Richtung ist vor allem jene Ästhetik oder Theorie der schönen Künste charakteristisch, wie sie sich in den Schriften des Frankfurter Poesieprofessors Alexander Gottlieb Baumgarten und seines in Halle lehrenden Schülers Georg Friedrich Meier niedergeschlagen hat. In ihnen finden sich statt praktischer Anleitungen zu regelkonformen Dichtwerken oder einem gebildeten Stil tiefgründige Überlegungen zu einem Dichtungsvermögen, das zwar auf der ‹niederen›, aber in sich autonomen Erkenntnisweise der menschlichen Sinne beruht. Diese Spekulationen sind jedoch so allgemein gehalten, daß die Frage nach einer möglichen Gesellschaftsrelevanz überhaupt nicht auftaucht. Nicht ganz so gesellschaftsabgewandt verhielten sich die Vertreter der sittlich-veredelnden Richtung. Wohl die größte Breitenwirkung in diesem Bereich entfaltete Christian Fürchtegott Gellert, der ab 1751 an der Leipziger Universität als außerordentlicher Professor für Poesie, Rhetorik und Moral tätig war. Seine Vorlesungen zielten nicht auf die Einhaltung festgelegter Regeln hin, sondern betonten – im Gefolge sogenannter empfindsamer Strömungen – vor allem den Einfluß der schönen Wissenschaften auf Herz und Sitten. Er wollte weder junge Poeten zu mustergültigen Gedichten anleiten noch Studenten zu einem guten Stil verhelfen, sondern sie für die seelisch-sensibilisierenden Wirkungen von Literatur empfänglich machen. Wegen des großen Erfolgs, den Gellert damit hatte, wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an fast allen deutschen Universitäten Ordinariate oder Extraordinariate für die Theorie der schönen Wissenschaften bzw. Ästhetik eingerichtet, deren Inhaber sich entweder in abstrakten Gedankengängen über die Grundgesetze der Poesie ergingen oder deren versittlichende Wirkung im Sinne des Guten, Wahren und Schönen herausstrichen.
Eine wahrhaft gesellschaftsrelevante Note bekamen solche Bemühungen nur dort, wo sie das Interesse an Literatur mit einem Interesse an geschichtlichen Abfolgen und den sie regierenden Leitideen verbanden. Doch selbst auf diesem Gebiet drangen die Professoren für Poesie im Laufe des 18. Jahrhunderts nicht sofort ins konkret Politische, Soziale und Kulturelle vor, sondern blieben – aufgrund ihrer gesellschaftlichen und universitären Abseitsposition – lange Zeit im Bereich des Spekulativen oder einer wahllosen Sammeltätigkeit befangen, mit der sie ihre immense ‹Gelahrtheit› unter Beweis stellen wollten. Sogar jene Poetikprofessoren, die nicht einer antiquarischen Sammeltätigkeit frönten und wie Johann Christoph Adelung erste Geschichten der literarischen Geschmacksveredelung entwarfen, vermengten hierbei, da sie ihrer Fachrichtung noch keine soziale Zweckbestimmung geben konnten, ihren literarischen Diskurs häufig mit psychologischen, historiographischen und philosophischen Erwägungen, ja verhielten sich selbst metaphysischen und moralisierenden Fragestellungen gegenüber relativ offen.
Ein wichtiges Vorfeld dieser Tendenzen ins Literaturhistorische bildete die polyhistorische Universalwissenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts. Ihr galt die Historie noch als ein ‹Schatz des Wissens›, aus dem sie allgemeingültige Lehren und Regeln des menschlichen Verhaltens abzuleiten suchte. Die sich daraus entwickelnde ‹Litterärhistorie› war demnach keine Literaturgeschichte in historisch-genetischer Absicht, sondern bestand aus einer kompendienartigen Aufzählung aller gelehrten und poetischen Werke der Vergangenheit. Wie schon Daniel Georg Morhofs Monumentalwerk Polyhistor, Literatius, Philosophicus, et Practicus (1688ff) sollten solche Werke – jenseits aller wissenschaftstheoretischen Spekulationen und fachspezifischen Gesichtspunkte – vor allem zum Nachschlagen dienen. Diese Fachrichtung, welche eine enzyklopädische Vollständigkeit anstrebte und demzufolge ihre Fakten weniger historisch als systematisch, ja manchmal lediglich alphabetisch anordnete, erhielt sich bis weit ins 18. Jahrhundert und besaß an manchen Universitäten wegen ihrer zur Schau gestellten akribischen Belesenheit den «gleichen Status wie die Deutsche Rhetorik und die Theorie der schönen Wissenschaften».[3]
Eine allmähliche Verzeitlichung aus dem statisch Normativen ins historisch Aufeinanderfolgende, also aus dem Bereich der ahistorischen Exempla ins geschichtlich Besondere und schließlich aufgeklärt Emanzipatorische, läßt sich in dieser Richtung erst nach 1750 beobachten. Im Hinblick auf die deutsche Literatur bedeutete das, diese nicht mehr allein unter dem Aspekt der nachahmenden Verfertigung poetischer Werke, also der Perspektive der Kunst des Machens zu behandeln, sondern auch ihre historische Abfolge und eventuelle Gründe für den hierbei zu beobachtenden Wandel aufzudecken. Allerdings zog sich dieser Prozeß über mehrere Jahrzehnte hin. Selbst nach 1750 drängten sich in diesem Bereich immer wieder das Regelpoetische sowie eine immense ‹Gelahrtheit› im Sinne der älteren Polyhistorie in den Vordergrund, was zu einer gleichbleibenden Dominanz des Enzyklopädischen und Bibliographischen beitrug. Obwohl zu diesem Zeitpunkt Werke wie Otfrieds Evangelienbuch, das Rolandslied, Teile der Manessischen Liederhandschrift sowie des Nibelungenlieds bereits gedruckt vorlagen oder gerade neu entdeckt worden sind, war die Kenntnis der älteren deutschen Literatur, also der Literatur vor Opitz, weiterhin recht lückenhaft und ließ eine historisch-genetische Darstellung noch kaum zu. Doch nicht allein die mangelnde Kenntnis der älteren Literatur, auch der noch unausgeprägte Sinn für epochale Periodisierungskriterien stand der Herausbildung einer materialreichen und zugleich historisch fundierten deutschen Literaturgeschichtsschreibung weiterhin hemmend im Weg. Daher traten zwar in Büchern wie Kurze Geschichte der deutschen Dichtkunst (1767ff) von Christoph Daniel Ebeling und Versuch einer pragmatischen Literaturgeschichte (1770) von Johann Jakob Rambach bis zu Darstellungen wie Allgemeine Literärgeschichte zum Behuf akademischer Vorlesungen (1804) von Paul Jakob Bruns und Handbuch der allgemeinen Geschichte der literarischen Kultur (1804–05) von Ludwig Wachler neben die bisherigen Bio- und Bibliographien erstmals historische Zusammenfassungen, aber letztlich verlor sich der rote Faden einer genetischen Abfolge immer wieder in einem Wust von Nebensächlichkeiten. Obendrein blieb in all diesen Darstellungen das eigentliche Telos weiterhin die unter formalästhetischen Gesichtspunkten gesehene ‹gute› Literatur – und nicht der durch sie beförderte Fortschritt der bürgerlichen Klasse oder gar der gesamten Menschheit.
Einen Wandel in dieser Hinsicht bewirkten erst die Ansichten Johann Gottfried Herders, der in seinen vielfältigen Schriften des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts alle literarischen Phänomene aus ihren nationalhistorischen Voraussetzungen zu erklären versuchte und somit zu einem der wichtigsten Begründer einer an der Idee des organischen Wachstums orientierten Geschichtssicht wurde. Trotz seines philosophischen Universalismus verstärkte Herder damit alle Tendenzen, die in Richtung eines monistischen Historismus, einer Akzentuierung des Individuell-Besonderen und zugleich einer Verstärkung emanzipatorischer Tendenzen zur Beförderung der Humanität drängten. In Verbindung mit ähnlichen Absichtserklärungen der Aufklärung, die in diesem Zeitraum etwas stärker hervortraten, ermöglichte diese Sicht auch einigen Professoren der Schönen Wissenschaften, selbst die bisher vorwiegend regelpoetisch abgehandelte oder bibliographisch aneinandergereihte deutsche Literatur in geschichtlichen Zusammenhängen zu sehen und darzustellen. Allerdings erreichten dabei nur wenige, wie etwa der Göttinger Privatdozent für Ästhetik Gottfried August Bürger in seiner Schrift Über Anweisung zur deutschen Sprache und Schreibart auf Universitäten (1787), den aufklärerisch-philosophischen Höhenflug eines Herder und stießen deshalb bloß in Ausnahmefällen zu wahrhaft emanzipatorischen oder gar jakobinischen Tendenzen vor.
Die Gründe für diesen langsamen und schließlich steckenbleibenden Verlauf der deutschen Aufklärung im Bereich der universitären Literaturgeschichte sind mannigfacher Art. Auf politischer Ebene war es vor allem das Scheitern der Französischen Revolution, das auch in Deutschland zu unübersehbaren Rückschlägen führte. Demzufolge entwickelte das deutsche Bürgertum, das sowohl ökonomisch als auch numerisch innerhalb der deutschen Gesellschaftspyramide keine führende, sondern nur eine nebengeordnete Rolle spielte, auch in diesem Zeitraum keinen selbstbewußten Aufstiegswillen. Woher sollten also die Professoren der Schönen Wissenschaften, als die geistigen Exponenten dieser Schicht, inmitten des in Auflösung begriffenen «Heiligen Römischen Reichs» ihre politischen oder ideellen Zielsetzungen hernehmen? Im Gegensatz zu den französischen oder englischen Aufklärern hatten sie keinen gesellschaftlichen Rückhalt bei einem starken liberalen Bürgertum, das sie zu einer rebellischen Gesinnung beflügelt hätte. Und so blieben die Schönen Wissenschaften, die später – im Rahmen des allmählich stärker werdenden Bürgertums – zu Zentren des aufrührerischen Geistes werden sollten, weiterhin in einer marginalen Position. Ihre Vertreter fühlten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht als Volkstribunen oder Anwälte der Nation, sondern als kleine, an den Rand gedrängte Dozenten eines recht abstrakten, funktionslosen Fachs, das auf die rhetorische und regelpoetische Praxis verzichtet hatte, ohne dafür zu nationaler Bedeutsamkeit aufzusteigen. Daher blieb dieses Fach weiterhin im Grenzbereich zwischen Philosophie, Philologie, Geschichte und allgemeiner Ästhetik angesiedelt, statt – im Unterschied zu den juristischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen – eine direkte Nutzanwendung seiner Lehren ins Auge zu fassen.
Aus diesem Grund wurden selbst in diesem Zeitraum noch keine Professuren für Deutsche Literaturgeschichte eingerichtet. Es gab zwar seit den achtziger Jahren an den Universitäten Kiel, Jena, Halle, Helmstedt, Erlangen und Göttingen alle paar Jahre eine Vorlesung über Werke der neueren deutschen Literatur, meist über Klopstocks Messias oder Wielands Oberon, aber selbst diese lassen sich nur mit einiger Mühe als ‹germanistisch› bezeichnen. In vielen Fällen waren sie – im Sinne der Rhetoriktradition – weiterhin mit «Übungen im mündlichen Vortrag» verbunden, ja manche dieser Vorlesungen wurden, vor allem in Kiel und Helmstedt, noch in lateinischer Sprache angekündigt. Die Professoren, die solche Vorlesungen anboten, waren häufig Philosophen oder Historiker, aber keine Literaturwissenschaftler im engeren Sinn. Obendrein läßt sich nachweisen, daß sie die betreffenden Werke größtenteils als stilistische Exempla, das heißt als Manifestationen eines besseren Geschmacks, oder als Ausgangspunkte ästhetischer Theoriebildungen behandelten, statt in ihnen auch historische Bausteine einer auf fortschreitende Emanzipation drängenden deutschen Nationalliteratur zu sehen.
Trotz mancher aufklärerischen Tendenzen war daher bis kurz nach 1800 die Situation im Hinblick auf den universitären Unterricht deutscher Literatur weiterhin recht desolat. Von Ausnahmen wie den vielbesuchten Vorlesungen Carl Leonhard Reinholds an der Jenaer Universität einmal abgesehen, blieb die Zahl der Vorlesungen für die an Gegenwartsliteratur Interessierten wie auch das Interesse an dieser Literatur nach wie vor gering. Daß diese Fachrichtung überhaupt fortexistieren konnte, verdankte sie weniger jener kleinen Clique, die um 1800 mit den Ideen jener ‹ästhetischen Erziehung› sympathisierte, wie sie von den Dichtern des Weimarer Musenhofs propagiert wurden, sondern jenen ‹rückwärtsgewandten Propheten›, welche sich in den gleichen Jahren wegen ihrer Mittelalterbegeisterung als Romantiker bezeichneten. Aber wirklich zu sich selbst kam diese Wissenschaftsrichtung erst dann, als sich im Ankampf gegen die Besetzung Deutschlands durch Napoleon innerhalb der romantischen Schwärmereien und der späteren Freiheitskriegsstimmung ein deutsches Nationalbewußtsein entwickelte, das – unter deutlicher Ablehnung der ‹französisierenden› Aufklärung – zur Stärkung seiner weltanschaulichen Positionen fast ausschließlich die germanisch-mittelalterlichen Traditionen der deutschen Literatur und Sprache als Legitimationshilfen heranzog.
Rückwendung zur germanisch-mittelalterlichen Vorzeit – Die Rolle des Nibelungenlieds – Nationaldemokratisches Freiheitsverlangen – Der Rückschlag von 1815 – Textkritische Objektivierungstendenzen
Daß es nach 1800 im Rahmen der gebildeten Schichten Deutschlands zum sprunghaften Anwachsen eines nationalen Selbstbewußtseins kam, das auch der germanistischen Forschung und Lehre einen ungeahnten Auftrieb gab, hängt also weitgehend mit der Zerschlagung des Heiligen Römischen Reichs durch die Armeen Napoleons zusammen, die 1806 den Preußen und 1809 den Österreichern entscheidende Niederlagen beibrachten. Diese nicht mehr freiheitsstiftend, sondern nur noch imperialistisch zu interpretierenden Ereignisse, welche das deutsche Bürgertum in seinem an französischen Vorbildern orientierten Aufklärungsdenken zutiefst verstörten, hatten zwangsläufig einen raschen Umschlag des abstrakten Universalismus des späten 18. Jahrhunderts in einen konkreten Nationalismus zur Folge, der sich das künftige Heil Deutschlands lediglich von einer Beseitigung der französischen Fremdherrschaft versprach. Auf geistiger und kultureller Ebene führten die sich daraus ergebenden Reaktionen und Überreaktionen – neben einer romantischen Verklärung des mittelalterlichen Sacrum imperium – vor allem zur Rückbesinnung auf den bereits von Tacitus beschworenen Freiheitsgeist der alten Germanen, das heißt zur Hoffnung auf eine von nationaldemokratischer Solidarität geprägte deutsche Republik oder zumindest konstitutionell abgesicherte Wahlmonarchie.
Aufgrund dieser Ereignisse läßt sich nach 1800 an manchen deutschen Universitäten ein bis dahin kaum in Ansätzen vorhandenes Interesse an jenen nordisch-germanischen, mittelalterlich-volkssprachlichen sowie protestantisch-altdeutschen Überlieferungen beobachten, die sich, wie es hieß, trotz aller ausländischen Überfremdungen in juristischer, sprachlicher und kultureller Hinsicht stets untergründig erhalten hätten. Diese eindeutig nationale Geschichtsauffassung wirkte sich auf die daraus entwickelnde Deutschkunde oder Germanistik vor allem folgendermaßen aus: in einer intensiven Sammeltätigkeit aller als spezifisch ‹deutsch› geltenden Dokumente der Vergangenheit, einer wesentlich genaueren Erforschung der deutschen Sprache in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen sowie einer Literaturgeschichtsschreibung, welche nicht mehr das im christlichen oder aufklärerischen Sinn Universale, sondern das spezifisch Nationale, ja Volkhafte in den Vordergrund rückte.
Die ersten Anstöße zu dieser von außen, durch die imperialen Absichten Napoleons bewirkten Umkehrung lieferten jene Romantiker, die sich bereits in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts – aus Abscheu vor den terroristisch-jakobinischen Aspekten der Französischen Revolution, für welche sie das mechanistisch-totalitäre Gedankengut der Aufklärung verantwortlich machten – einer mythisch-nationalen Sicht der Geschichte zugewandt hatten. Es waren daher neben deutschkundlich orientierten Wissenschaftlern wie Jacob und Wilhelm Grimm auch einige romantische Schriftsteller wie Clemens Brentano, Achim von Arnim, Ludwig Tieck und Joseph Görres, die nach 1800 die Bibliotheken und Archive nach germanisch-mittelalterlichen Dokumenten einer spezifisch nationalen Literatur durchforschten. Ihr besonderes Interesse galt den altdeutschen Sagen, Märchen, Volksliedern und sogenannten Volksbüchern, die sie als Ausdruck einer anonymen Volksseele empfanden und in denen sich – ihrer Meinung nach – das Deutsche am reinsten erhalten habe. Indem sie diese Werke abschrieben und neu herausgaben, wollten sie nicht nur auf die glorreiche nationale Kulturtradition hinweisen, sondern zugleich ihren dichtenden Zeitgenossen Vorbilder einer wahren deutschen Schreibweise geben und somit ein neues Zeitalter der nach nationaler Selbstdarstellung ringenden Volksseele heraufführen.
Von ebenso großem Einfluß auf die Anfangsphase der Germanistik war August Wilhelm Schlegel, der zwischen 1801 und 1804 in Berlin Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst hielt, in denen er sich gegen die im Zeichen der Aufklärung entstandene deutsche Literatur nach 1750 wandte und statt dessen – mit deutlich verklärender Absicht – auf die deutsche Dichtung des Mittelalters zurückging. Ihren ritterlichen Charakter, wie er sich im Parzival und Nibelungenlied manifestiere, stellte Schlegel als eine gelungene Synthese aus nordischen und christlichen Elementen hin, die als Vorbild einer neureligiös-romantischen Gegenwartsliteratur dienen könne. Während solche Thesen bis zur Niederlage Preußens und der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs weitgehend im Bereich des kulturell Identitätsstiftenden blieben, nahmen sie nach 1806, vor allem in den Reden an die deutsche Nation (1807–08) Johann Gottlieb Fichtes sowie den betont patriotischen Schriften von Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn, einen eindeutig politischen Charakter an. Erst jetzt bildete sich jene Welle nationaldemokratischer Gefühle heraus, die in ihrem Haß auf Napoleon und die französische Besetzung zusehends ins Republikanische tendierte. Allerdings wurden die dabei auftauchenden freiheitsbetonten Gefühle von den Fürsten sofort höchst geschickt zu ihren Gunsten ausgenutzt, also nur solange geduldet, wie sie sich zur Vertreibung Napoleons mißbrauchen ließen – und dann wieder unterdrückt.
Zu den positiven Charakteristika dieser Bewegung zählte zweifellos jene nationaldemokratische Freiheitssehnsucht, die oft in der Vorstellung einer revolutio germanica, mit anderen Worten: einer Rückumwälzung zur ursprünglichen ‹Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit› der alten Germanen, kulminierte. Innerhalb dieser Gruppe, die lediglich eine Gleichstellung der Deutschen unter den anderen Nationen Europas anstrebte, herrschte also ein Geist, der sich politisch im guten Sinn als ‹patriotisch› bezeichnen läßt. Daneben traten jedoch schon in diesen Jahren überhebliche Nationalisten, ja Chauvinisten auf, die sich zwischen 1806 und 1812 – also der unmittelbaren Vorbereitungsphase der darauffolgenden Freiheitskriege – durch ihren Haß auf Napoleon verführen ließen, der deutschen Kultur nicht nur einen andersgearteten, sondern einen höheren Wert als den Kulturen der übrigen Völker Europas zuzusprechen.
Das Fach Germanistik, das sich im gleichen Zeitraum entwickelte, ist darum nicht nur ein Produkt der patriotischen, sondern auch der chauvinistischen Richtung. Seine ersten Vertreter stammten fast alle aus dem gehobenen Bürgertum, schlossen sich nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs in der Hoffnung auf ein neues, besseres Deutschland den an vielen Orten gegründeten «Deutschen Bünden», «Deutschen Gesellschaften» oder «Gesellschaften für deutsche Sprache und Altertumskunde» an, lernten Mittelhochdeutsch und besuchten jene außeruniversitären Vorlesungen, die August Wilhelm Schlegel, Franz Christoph Horn, Joseph Görres, Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Moritz Arndt in diesen Jahren über eine wahrhaft nationalgesinnte Dichtung hielten. Das Zentrum dieser deutschnationalen, das heißt antinapoleonischen Aktivitäten war eindeutig Preußen. Als die dortigen Reformer zur Unterstützung dieser Gesinnung 1810 die Universität Berlin gründeten, wurde darum auch ein Extraordinariat für Deutsche Sprache und Literatur eingerichtet, was unter den gegebenen Umständen eine Professur für mittelhochdeutsche Epen bedeutete.
Friedrich Heinrich von der Hagen, der diese Stelle erhielt, erfüllte die in ihn gesetzten Hoffnungen anfangs zu allseitiger Zufriedenheit. Er war ein philosophisch gebildeter Dilettant und preußisch-deutscher Patriot, der sich 1804 durch die zweiten Berliner Vorlesungen August Wilhelm Schlegels zur Neuausgabe des Nibelungenlieds anregen ließ, um so der trostlosen Gegenwart den Spiegel einer heroisch-gesinnten Vergangenheit entgegenzuhalten. Dieser «unsterbliche alte Heldengesang», schrieb er 1807 im Vorwort dieser Ausgabe, «der hier aus langer Vergangenheit lebendigt und verjüngt wieder hervorgeht: das Lied der Nibelungen, ist unbedenklich eins der größten und wunderwürdigsten Werke aller Zeiten und Völker, durchaus aus deutschem Leben und Sinne erwachsen und zu eigenthümlicher Vollendung gediehen». Genau besehen, sei dieses Werk das «vollkommenste Denkmal einer lange verdunkelten Nationalpoesie», das sicher alle Leser mit dem Mut auf die «dereinstige Wiederkehr deutscher Glorie und Weltherrlichkeit erfüllen» werde.[1] Hagen begann daher seine Berliner Lehrtätigkeit im Wintersemester 1810 auf 1811 mit einer Vorlesung über das Nibelungenlied, die er in Breslau, wohin er 1811 berufen wurde, bis 1822 Jahr für Jahr wiederholte. Auch Karl Besselstedt in Königsberg, Ludwig Christian Zimmermann in Gießen, Karl Schildener in Greifswald und Franz Joseph Mone in Heidelberg hielten im gleichen Zeitraum fast jedes Jahr eine Vorlesung über dasselbe Werk. Wohl den größten Publikumserfolg auf diesem Gebiet hatte der Berliner Geographieprofessor August Zeune, dessen Vorlesung über das Nibelungenlied im Wintersemester 1812 auf 1813 von 300 Studenten, also der Hälfte aller Berliner Studierenden, besucht wurde und der 1815, in der letzten Phase der Freiheitskriege, sogar eine «Feld- und Zeltausgabe» dieses Werks für die gegen Napoleon kämpfenden Soldaten herausgab.
Doch nicht nur das Nibelungenlied, auch eine Unzahl anderer ‹altdeutscher› Schriften verschiedenster Herkunft und Qualität wurde in den gleichen Jahren unter Titeln wie Miscellaneen zur Geschichte der deutschen Literatur (1807), Museum für altdeutsche Literatur und Kunst (1808–11), Altdeutsche Wälder (1813–16) und Diutiska. Denkmäler deutscher Sprache und Literatur (1826) von Wissenschaftlern, Schriftstellern, Privatgelehrten und sogenannten Schulmännern zum Druck gegeben. Bei den eher patriotisch eingestellten Herausgebern überwog hierbei die Tendenz, diese Texte ins Neuhochdeutsche zu übersetzen oder sie zumindest dem Neuhochdeutschen anzugleichen, um ihnen eine größere Breitenwirkung zu geben. Worum es diesen frühen Germanisten ging, war also weniger das Literarische als das Vaterländische im weitesten Sinn. Sie beschäftigten sich deshalb nicht nur mit den alten Epen, sondern auch der Geschichte der deutschen Sprache und des deutschen Rechts, wie überhaupt allem, worin sie – im Gegensatz zu den römisch oder französisch überfremdeten Dokumenten der Überlieferung – etwas spezifisch ‹Teutsches› sahen.
Wohl der überzeugendste Vertreter dieser kulturgeschichtlichen Richtung war Jacob Grimm, der oft beschworene ‹Vater der Germanistik›, der sich nicht nur für deutsche Literatur und Sprache, sondern auch deutsche Volkskunde, Mythologie, Linguistik, Rechts- und Urgeschichte interessierte – und alle diese Fächer zu einer Germanischen Altertumswissenschaft zu vereinigen suchte. Von besonderer Wichtigkeit für den Geist dieser Jahre waren die Veröffentlichungen von Jacob und Wilhelm Grimm, vor allem ihre Kinder- und Hausmärchen (1812–16) und Deutschen Sagen (1816–18) sowie ihre Editionen des Hildebrandlieds (1812), der Lieder der alten Edda (1815) und des zur Unterstützung der Kriegsfreiwilligen des Freiheitskriegs herausgegebenen Armen Heinrich von Hartmann von Aue (1815), in denen sie sich bemühten, ihren Zeitgenossen die germanisch-mittelalterliche Welt in all ihrer «Frische und Lebendigkeit» so «nah» wie nur möglich zu bringen.[2] Und zwar machten sie dabei kein Hehl, daß ihre eigentliche Liebe nicht der als fremd, selbstherrlich und individuell-frei hingestellten Kunstpoesie, sondern der von ihnen als einheimisch, ursprungsnah und konventionell-gebunden aufgefaßten Volkspoesie galt.
Was diesen patriotischen Aktivitäten, ohne die es sicher erst viel später zur Herausbildung des Fachs Germanistik gekommen wäre, zugrunde lag, war letztlich ein Nationalismus, der sich in seiner besseren, sprich: betont volkstümlichen Ausprägung sowohl gegen Napoleon als auch gegen die deutschen Fürsten wandte, also durchaus antihöfisch gesinnt war und an die Stelle der überlieferten Dynastien einen deutschen Nationalstaat setzen wollte. Das äußerte sich am deutlichsten in den Jahren 1812 bis 1815, auf dem Höhepunkt des patriotischen Enthusiasmus, als viele junge Studenten freiwillig zu den Waffen eilten und mit der Hoffnung ins Feld zogen, nach dem Sieg über Napoleon in ein freiheitliches Deutschland und nicht in eine Fülle absolutistisch regierter Einzelstaaten zurückzukehren. Mit welcher Gesinnung sich vor allem die an Germanistik Interessierten an diesem Krieg beteiligten, ohne dazu ausdrücklich von ihren Fürsten aufgefordert zu sein, zeigt sich wohl am besten in dem von Ernst Moritz Arndt 1814 verfaßten Programm einer «Deutschen Gesellschaft», dem ersten Organisationsversuch germanistisch ausgerichteter Historiker, Rechtsgeschichtler und Sprachwissenschaftler, der eindeutig progressiven, das heißt antifeudalen Zielen nacheiferte. Unter scharfer Ablehnung der dynastischen Zersplitterung wollte sich diese Gesellschaft mit nationalpädagogischer Absicht für die Einheit aller Deutschen einsetzen. Daß dabei nicht nur patriotische, sondern auch massive antifranzösische Affekte ins Spiel kamen, hing nicht nur mit dem Kampf gegen Napoleon, sondern auch mit der radikaldemokratischen Abneigung dieser Gruppen gegen die traditionelle ‹Verwelschung› der deutschen Fürsten zusammen, von denen sich einige – im sogenannten Rheinbund – sogar mit Napoleon verbündet hatten.
Im Gegensatz zu vielen Romantikern, die bei ihrer nationalen Spurensuche nur allzu leicht in der Haltung des Pietätvollen verharrten und damit den Mächten des Ancien régime geradewegs in die Hände arbeiteten, schöpften also die eher freiheitsbetonten Gruppen, die sich mit ‹teutschem› Enthusiasmus in den Dienst der ideologischen Vorbereitung wie auch militärischen Ausführung der Freiheitskriege von 1813 bis 1815 stellten, aus der Rückwendung zur germanisch-altdeutschen Vergangenheit vor allem den Impuls, ihr nationales Identitätsverlangen zum Anlaß neuer Entwürfe ins Offene oder Utopische zu nehmen. Sie hofften mit germanistischem Eifer, daß aus Träumern endlich Täter, das heißt selbstbewußte Repräsentanten der Volkssouveränität würden, statt sich weiterhin den herkömmlichen Obrigkeiten zu unterwerfen. Als geistige Führer des Mittelstandes wollten sie zum Zwecke der nationalen Einheit in Freiheit und Gleichheit eine Volksbewegung in Gang setzen, die auch die Bauern und Handwerker in sich einschließen würde. Wenn sie mit germanistischer Intention von Volk und Nation sprachen, hatten sie also nicht den Herrschaftsanspruch der bürgerlichen Klasse, sondern ein Volkskonzept im Auge, das alle Klassen unterhalb des Adels und Klerus umfaßte.
Daß es dabei in der Hitze des Gefechts und schließlich im Gefühl des errungenen Siegs über Napoleon in den Verlautbarungen eines Arndt oder Jahn sowie vielen Schriften der 1815 gegründeten Burschenschaft im Hinblick auf die nordisch-deutsche Vergangenheit auch zu fragwürdigen Mythisierungen der nationalen Traditionen kam, war kaum zu vermeiden. Man muß demzufolge die germanistischen Dokumente dieser Jahre stets mit einer doppelten Optik lesen: mit dem Blick auf ihre nationaldemokratischen Bemühungen wie auch auf ihre chauvinistischen Übersteigerungen. Viele Schriften dieses Zeitraums sind nur zu verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie verheerend sich der Schock der Besetzung Deutschlands durch Napoleon auf die gebildeten Schichten dieses Landes ausgewirkt haben muß. Sie, die den Menschheitsideen der Aufklärung und der Französischen Revolution zugejubelt hatten, erlebten in diesen Jahren, daß die hehren Ideale von ‹Liberté, Égalité, Fraternité› in Frankreich in einen üblen Chauvinismus umgeschlagen waren. Und sie mußten zugleich einsehen, daß sich die Deutschen gegen diesen Chauvinismus nur mobilisieren ließen, wenn man sie ebenfalls in einen vaterländischen Rausch versetzte, und nicht, wenn man ihnen erhabene Menschheitsvorstellungen gepredigt hätte. Daher weist auch die Germanistik dieser Jahre nicht nur radikaldemokratische, sondern auch nationalistische Tendenzen auf, die nicht frei von problematischen Zügen sind.
Als 1814/15 auf dem Wiener Kongreß von den Fürsten die Restaurierung des Ancien régime beschlossen wurde, fühlten sich viele deutsche Patrioten wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatten von einem nationalen Einheitsstaat geträumt und wurden mit der Tatsache konfrontiert, daß Deutschland in 39 souveräne Einzelstaaten, darunter vier Freie Reichsstädte, aufgespalten blieb. Manche warfen daraufhin die Flinte ins Korn und zogen sich ins Biedermeierliche zurück. Andere versuchten, wenigstens im Rahmen der Burschenschaft für eine Stärkung des Nationalbewußtseins einzutreten. Das kam vor allem bei den Feiern zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig sowie dem im Oktober 1817 von Burschenschaftern und Jahnschen Turnern veranstalteten Wartburgfest zum Ausdruck, deren Teilnehmer sich nachdrücklich zur Freiheit und Einheit des deutschen Volks bekannten. Wohl das größte Aufsehen erregte jedoch in diesem Umkreis die Ermordung des als reaktionär geltenden Dichters August von Kotzebue durch den Burschenschafter Karl Ludwig Sand im März 1819. Nach diesem Eklat erließ die Ministerkonferenz der deutschen Staaten im September des gleichen Jahrs die «Karlsbader Beschlüsse», deren Ziel es war, allen «demagogischen Umtrieben», wie es hieß, sowohl mit einer Verschärfung der Zensurbestimmungen als auch strengeren Polizeiüberwachung national gesinnter Professoren und Studenten entgegenzutreten.