Als sie über die Kuppe fuhren - Brigitte Karcher - E-Book

Als sie über die Kuppe fuhren E-Book

Brigitte Karcher

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Beschreibung

"Zufälle gibt es nicht", sagt Nika, die eigentlich Monika heißt, mit ihrem Namen jedoch nie im Einklang war. Sechs Frauen geraten in verwirrende Lebenssituationen, Lisbet vorsätzlich, Dora unerwartet und vier Freundinnen vermutlich zufällig, oder vielleicht doch vorherbestimmt? Lisbet will ihrer Mutter einen Gefallen tun, dabei geht sie ein hohes Risiko ein. Dora steckt in einer Krise fest und möchte ihr bisheriges Leben ändern, und die Freundinnen, die sich aus einem Malkurs kennen, wollen zusammen einen Kreativurlaub genießen. Doch dann läuft nichts so wie es geplant war. Irritierende Ereignisse zwingen die Frauen zu einem unaufschiebbaren Blick auf sich selbst, und auf vieles andere auch. Lisbet gewinnt eine Erkenntnis. Dora trifft endlich eine eigenständige Entscheidung. Mathilde, Nika, Sonja und Marie erfahren, dass nicht immer alles so ist wie es scheint. Die drei Erzählungen tragen die Titel: "Barrierefrei", "Keltenstein", und "Lisbet tut es". Sie handeln von der Begegnung mit dem Unerwünschten, dem Verbotenen, dem Rätselhaften - Raum für die komische Seite des Geschehens ist auch gegeben.

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Inhalt

Barrierefrei

Keltenstein

Lisbet tut es

BARRIEREFREI

Das Hotelzimmer war, gemessen an seinem stolzen Preis, enttäuschend klein. Doras großer, silbern glänzender Schalenkoffer, hatte auf der Gepäckablage dieses Schrank-Bett-Tisch-und-zwei-Stühle-Arrangements nur einen knapp bemessenen Platz gefunden. Er war neu. Sie hatte ihn für diese Reise angeschafft, wie vieles andere, das in ihm lag, sorgfältig gefaltet und mit Gurt fixiert. Hauchzarte Unterwäsche von edelster Qualität, eine sündteure weiße Leinenhose, die ihre schlanke Figur betonte, ein geblümter, bei jedem Luftzug flatternd und knapp über ihren Knien endender Sommerrock, der ihre formvollendeten Beine zeigte. Etwas langes, tiefblau Fließendes war auch dabei. Man konnte nicht wissen, was die Abende brächten, einen Opernbesuch vielleicht, er liebe Opern, speziell Verdi, stand in einem seiner Briefe. Drei Nachthemden, Gespinste aus Spitze und Seide, von dezenter Transparenz, passten so gar nicht zu dieser, auf das Nötigste beschränkten Zimmereinrichtung. Baumwolle hätte es hier auch getan, schoss es Dora durch den Kopf. Verschiedene Oberteile, tief ausgeschnitten, davon zwei mit Rückendekolleté, hatte sie in einem Schwabinger Modegeschäft entdeckt und als unverzichtbar erkannt. Die sehr junge Verkäuferin hatte sie zu ihrer guten Figur beglückwünscht und versichert, nur wenige Frauen in ihrem Alter könnten so tiefe Brust- und Rückenausschnitte tragen. Dora war in diesem Jahr neunundvierzig Jahre alt geworden und fühlte sich wie dreißig. Trotz der Anspielung auf ihr Alter ließ sie sich die Teile einpacken. Die Verkäuferin habe ja recht, sagte sie sich, sie war natürlich keine dreißig mehr, aber doch unangenehm überrascht, dass andere es sahen. Trotzdem, sie würde diese Blusen tragen können, sie wusste es selbst, denn ihre Haut war makellos.

Sie schaute in den Schrank, zählte die Bügel an der Kleiderstange und prüfte den Geruch in den Wäschefächern. Es roch nach Lavendel. Sie entdeckte ein frisches Duftsäckchen in einem der Fächer, ein weiteres zwischen den Kleiderbügeln hängend. Sehr schön, dachte sie und begann sich einzurichten.

Später öffnete sie das hohe zweiflügelige Fenster. Sie blickte auf gelbe Sonnenschirme, dazwischen, teils von diesen verdeckt, standen Tische und Stühle einer Cafeteria, die zum Haus gehörte. Die schmale Straße weitete sich vor ihrem Hotel zu einem kleinen Platz, in dessen Mitte ein Brunnen unverzagt einen kraftlosen Wasserstrahl in die Höhe pumpte. Auf seinen Stufen saßen Jugendliche, rauchten, lachten, schrien durcheinander, doch dieses Geschrei hatte im Wohlklang der italienischen Sprache noch immer etwas bezaubernd bühnenhaftes, als probe ein Theaterensemble nach Regieanweisung die Szene lebhafte Unterhaltung vor plätscherndem Brunnen. Die Darbietung ging weiter. Ein Junge tanzte zu den Klängen einer Mundharmonika, seine Freunde feuerten ihn klatschend an. Einige Mädchen blieben stehen, wippten mit dem Oberkörper und zeichneten mit ihren nackten Armen Bogen, Striche und Wellen in die Luft. Dora schaute eine Zeitlang zu. Die Vorführung unter ihrem Fenster half ihr, sich in dem engen Zimmer plötzlich wohl zu fühlen. Sie setzte sich auf einen der beiden Stühle und griff nach ihrem Smartphone. Sie wählte Anne.

»Na endlich«, sagte diese. »Bist du gut gelandet, alles okay bei dir, hast du ihn schon getroffen?«

»Nein, noch nicht, und ich bin ganz froh darüber. So habe ich noch ein bisschen Ruhe und Zeit, mich innerlich und äußerlich darauf vorzubereiten. Das ist mir lieber, als übernächtigt und zerknittert aus dem Zug zu steigen und bereits erwartet zu werden«, log sie, denn sie war alles andere als froh.

»Was ist los«, fragte Anne, »er wollte dich doch am Bahnhof abholen. Habt ihr euch verfehlt?«

»Nein, das nicht. Doch Emilio rief mich an und sagte, er habe erst am Abend Zeit. Ein Termin sei ihm dazwischen geraten. Wir treffen uns später zum Abendessen.«

Doras Stimme verriet eine vage Enttäuschung.

Sie war noch nie in Rom gewesen. Sie kannte Paris, Wien, London und andere europäische Metropolen aus der Perspektive einer Durchreisenden, die einige Tage für Modeaufnahmen ein Hotelzimmer bewohnte und keine Zeit für Stadtbesichtigungen fand, nur den Weg zum jeweiligen Fotoatelier. Doch nicht einmal einen solchen kannte sie in Rom, denn die Stadt war außerhalb ihres beruflichen Radius gelegen, den ihre Agentur für sie gezogen hatte. Ihr Reisedasein lag außerdem längst hinter ihr. Die damit verbundene Fähigkeit, sich überall und sofort problemlos zurecht zu finden, war zwar nicht verloren gegangen, doch mühseliger abzurufen. Sie hatte deshalb auf angenehmen Geleitschutz gehofft bei ihrer Ankunft in Rom und hätte sich gerne der Führung eines Mannes anvertraut, der ihr Unbequemlichkeiten ersparen würde, vom ersten Schritt an, den sie auf dem Bahnsteig der Station Termini tat, bis zu weiteren in seiner großartigen Stadt, wie er sie pries, und allen anderen, die sie mit ihm in einer hoffentlich gemeinsamen Zukunft tun würde. Ihre Enttäuschung war demnach grundlegend und schob ihre Lebenstraumkarte vom greifbar nahen Glück unter eine etwas mindere so-sicher-ist-das-noch-nicht-Karte.

Anne, die Freundin, schwieg. Sie überlegte, fand es absolut unverständlich, dass der Mann es nicht geschafft hatte, diesen wichtigen Augenblick terminfrei zu halten, wenn die Frau, die er seit sechs Monaten mit Liebesbriefen bombardierte, endlich seiner dringenden Einladung gefolgt war. Sie wollte es nicht glauben, behielt aber ihren Ärger für sich.

»Wie bist du ins Hotel gekommen«, fragte sie stattdessen.

»Ich nahm ein Taxi, das war nicht das Problem.«

»Sondern?«

»Ich glaub, der Fahrer kutschierte mich kreuz und quer durch die ganze Stadt, als er merkte, dass ich hier fremd bin. Ich befürchtete, nie in meinem Hotel anzukommen, sondern Gott weiß wo, und teuer war es dann auch.«

»Gut, also jetzt bist du aber dort. Wo werdet ihr euch treffen?«

Anne lenkte Doras Gedanken auf praktische Überlegungen.

»Ich soll gegen acht Uhr zu einem Restaurant Isola Verde kommen, nur eine Straße von hier entfernt.«

»Wie, er holt dich nicht im Hotel ab?«

Anne glaubte nicht richtig gehört zu haben.

»Nein«, sagte Dora, die plötzlich gegen Tränen kämpfte, »er bat mich dorthin zu kommen, was soll ich machen?«

»Ganz ehrlich«, legte Anne jetzt los, »das gefällt mir gar nicht. Was fällt dem Kerl eigentlich ein! Womöglich verspätet er sich wegen dieses unaufschiebbaren Termins und lässt dich auch noch ewig warten. So geht's doch nicht.«

Sie dachte kurz nach, hörte Dora weinen.

»Pass auf«, sagte sie, »du gehst dahin, schaust dir den Burschen an, und zwar genau. Wenn er das ist, was ich gerade denke, dann hau ab, lass die Finger von ihm.«

Dora nickte, dachte nicht daran, dass Anne sie gar nicht sehen konnte.

»Was ist, hat es dir die Sprache verschlagen, sag doch was.«

Anne reagierte ziemlich ruppig auf Doras Hilflosigkeit.

»Aber ich kenne Emilio«, sagte Dora, »man kann doch nicht derart wunderbare Briefe schreiben und gleichzeitig ein Betrüger sein.«

Ihre Stimme klang, als käme sie aus Untiefen.

»Doch, das geht. Du hast keine Ahnung, was alles geht. Außerdem kennst du ihn nicht, nur seine Briefe. Aber gut, denken wir vorerst noch positiv und geben ihm eine Chance. Eine zweite ist nicht drin. Schau genau hin und gib mir morgen Bescheid. Du kannst mich auch noch heute Nacht anrufen, wenn du willst. Du weißt ja, ich bin immer für dich da.«

Sie legte auf.

Dora setzte sich aufs Bett. Die Nachtfahrt von München nach Rom hatte sie, trotz der Ruhe im Schlafwagen, angestrengt. Erst gegen Morgen war sie in einen leichten Schlaf geraten, aus dem Emilios Anruf sie geweckt hatte. Die unerwartete Mühe mit der anschließenden Taxisuche, vor allem der enttäuschende Auftakt zu ihrem Liebesabenteuer, machten sie schläfrig. Sie streifte sich die Schuhe ab und ließ sich fallen, blieb liegen, ohne sich auszukleiden. Ihre Augen hingen im Vergissmeinnichtblau des Himmels, der den Fensterrahmen wie eine aufgespannte Leinwand füllte. Je länger Doras Blick in diesem Blaubild versank, desto dunkler wurde dessen Farbe. Wie aus weiter Ferne hörte sie unter den Sonnenschirmen der Cafeteria das Lachen der Gäste, das in der Hitze des Nachmittags auf seinem Weg zu ihrem offenen Fenster dahinschmolz wie Gelati in der Sonne. Sie schlief ein.

Als sie erwachte, fühlte sie sich benommen wie nach einer durchfeierten Nacht. Ihre Zunge klebte am Gaumen. Womöglich habe ich geschnarcht, fürchtete sie, bin vom eigenen Schnarchen aufgewacht. Das wäre fatal. Lass es bitte nicht soweit kommen, bat sie sich selbst oder irgendein dafür verantwortliches Wesen. Sie war nassgeschwitzt, ihre Bluse klebte an der Haut, einige Haare in ihrer Stirn. Sie setzte sich auf und griff nach dem Smartphone. Gute zwei Stunden habe sie geschlafen, meldete dieses, dazu keine weiteren Nachrichten.

Dora stand auf und schloss das Fenster. Sie zog sich aus und ging ins Bad. Ein überraschend großer, luxuriös gestalteter Raum, der den Zimmerpreis in gewisser Weise wieder rechtfertigte, versöhnte sie mit den Unbilden ihrer Ankunft in der Stadt. Sie stieg über den flachen Rand eines, mit graubraunen Steinplatten gefassten Beckens und genoss den kräftigen Regen, der aus einer Schwallbrause auf sie niederfiel. Sie blickte auf ihre Füße. Das Wasser umspülte strudelnd ihre Zehen und brachte den roten Nagellack auf Hochglanz. Sie streckte ihre Arme in den Regen, dachte an die Mädchen vor dem Brunnen und ahmte ihre Gesten nach. Sie lächelte, öffnete den Mund und leckte Wasser, das von ihren Lippen rann. Sie beugte sich nach allen Seiten und genoss die sanfte Massage des warmen Wasserfalls.

Auf einer gemauerten Steinbank lagen exakt gefaltete flauschige Handtücher, deren dunkles Blau mit den sandfarbenen Wandfliesen harmonierte. Die Farbstimmung des Bades schien Elemente der Natur zu spiegeln. Dora dachte an Steine, Strand und Meer. Sie hüllte sich in ein großes Badetuch, rubbelte mit einem kleineren die Haare feucht-trocken und schlüpfte in ihre grünen Flip-Flops. Entspannt setzte sie sich ans Fenster und befragte ihr Smartphone, das sie auf dem Laufenden hielt. Sechzehn Uhr sei es inzwischen. Mit einer Mail grüßte Emilio seine Bella Dora, seine Dolce Amica, seine Principessa Miraculosa. Dora wurde es heiß, sie öffnete das Fenster, doch statt Kühlung schlug ihr die warme Luft des Nachmittags entgegen. Sie trank aus ihrer Wasserflasche und überlegte, wie sie die Zeit bis zum Abendessen verbringen wollte. Große Lust auf einen Spaziergang durch römische Gassen hatte sie nicht. Rom interessierte sie nicht, zumindest nicht jetzt. Solange sie nicht wusste, auf was sie sich hier und heute einließ, hatte sie keine weiteren Interessen, als erst einmal das herauszufinden. Der ernüchternde Nichtempfang ihres verliebten Briefpartners und Annes Skepsis vorhin bei ihrem Gespräch zeigten erste Wirkung. Sie gab Anne recht. Was wusste sie eigentlich von Emilio wirklich? Darüber hatte sie während der letzten sechs Monate und noch nicht einmal auf der Zugfahrt ernstlich nachgedacht. Sie kannte nur seine Briefe, in denen er einen herrlichen, gemeinsamen Lebensplan mit Dora entwarf. Außerdem wolle er ihr endlich und von Angesicht zu Angesicht seine stetig wachsende Sehnsucht und Zuneigung beweisen, die er täglich intensiver verspüre. Emilio schrieb auch von seinen Gärten und dem Haus am Bolsena-See, von eigenen Pferden auf einem Gestüt und von Weinbergen im Chianti im Besitz seiner Familie.

Meine Familie ist eine sehr vermögende, fügte er in einem guten, doch etwas antiquiert klingenden Deutsch hinzu. Dass er ein Jahr in München studiert habe, erfuhr Dora bereits in seinem ersten Brief. Jura war es, und seine Arbeit als Anwalt sei auch der Grund, weshalb er die Bewirtschaftung seiner Gärten, »er meint wohl damit seine Güter«, belehrte Dora ihre Freundin, in zuverlässige Verwalterhände gelegt habe. Ihm selbst fehle leider die Zeit sich zu kümmern. Er lebe in seinem Appartement in Rom, unweit seiner Kanzlei, und leider besuche er viel zu wenig seine Mutter in der Villa am See. Nie schrieb er von einer Frau, weder von einer geschiedenen noch verstorbenen, auch Kinder erwähnte er nicht, nur so viel, dass er ihr, wenn sie sich träfen, sein ganzes Leben wie einen Blumenteppich zu Füßen legen wolle. Ein aufgeschlagenes Buch wolle er sein, in dem sie blättern könne, so oft sie es wünsche, und er wollte noch viel mehr. Auf einem seiner Pferde, einem Schimmel, reite er ihr entgegen, hebe sie auf das Pferd und galoppiere mit seiner Dora Principessa in eine goldene Zukunft. Davon jedenfalls träume er, und dies sei der schönste Traum seines Lebens.

»Du liebe Zeit«, hatte Anne gesagt, die jeden Brief Emilios zu lesen bekam, »ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Das klingt alles so übertrieben, so märchenhaft, und ich kann mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen, dass ein Mann mit einem solchen Hintergrund es nötig hat, auf eine Partnerannonce zu antworten, und dabei so dick aufzutragen. Entschuldige, Dora, wenn ich das sage, aber dem müssten die Frauen doch in Scharen hinterherlaufen.«

»So einfach ist es aber trotzdem nicht, die Richtige zu finden. Was denkst du denn, warum ich die Idee mit der Annonce hatte. Ich hatte ja auch meine Chancen, oft mehr als mir lieb war, aber find erst mal den Menschen, der wirklich zu dir passt und dich ernst nimmt. Die meisten Männer, die sich für mich interessierten, liebten vor allem mein Äußeres und schmückten sich mit mir. Eine Zeitlang gefiel es mir, aber heute suche ich etwas anderes als Komplimente und Kurzzeitbeziehungen. Ich suche einen festen Platz in jemandes Leben. Ich möchte, dass sich jemand um mich kümmert, wenn es mir schlecht geht, dass ich einem Menschen sehr wichtig bin, nicht nur der Schönheit, sondern auch meiner Mängel wegen.«

Dora hatte noch nie so offen über ihre Wünsche gesprochen.

»Aber deine Mängel lieb ich doch ganz besonders an dir, hast du das denn nicht bemerkt? Deine Schönheit habe ich vermarktet, deine Mängel geliebt, was willst du mehr.«

»Ach Anne«, sagte Dora, »ist schon gut. Du weißt doch was ich meine, oder?«

»Lass dir endlich ein Foto schicken, das wenigstens Aufschluss über sein Äußeres gibt. Ist vielleicht doch nicht so unwichtig für eine Ästhetin, wie du eine bist«, riet Anne ihrer auf rosarot gepolten Freundin.

Natürlich besaß Emilio zu dieser Zeit schon längst ein Foto von Dora, das seine Begeisterung und seine Liebesbeteuerungen sprunghaft steigerte. Seine Traumfrau sei Dora, seine kühnsten Hoffnungen sah er erfüllt beim Anblick ihrer Erscheinung, und er könne es nicht erwarten, sie endlich zu begrüßen und in seine Arme zu schließen.

Emilio schickte auf Doras Bitte ein Foto in Postkartenformat, das einen attraktiven Fünfzigjährigen zeigte. Ein warmer Blick aus dunklen Augen, in denen von Scheinwerfern gesetzte Flämmchen glimmten, traf Dora schwer ins Herz. Eine gerade Nase über dem lächelnden, etwas schmallippigen Mund und das kräftige Kinn ließen an Marmorgemeißeltes aus der Antike denken. Millimeterkurze schwarze Haare verrieten die begabte Hand eines Meisterfrisörs. Ein Portrait, erst vor wenigen Tagen in einem Fotoatelier aufgenommen, mit einer rückseitigen Widmung für seine wunderschöne Freundin, von ihrem im siebten Himmel schwebenden Emilio.

Dora gab Anne das Portrait zur Bewertung.

»Immerhin, ein Dolce-Vita-Jäger ist das nicht. Eher sieht er wie ein Wissenschaftler oder ein Schriftsteller aus, oder, wie soll ich es sagen, wie eine intelligente Person eben. Dass er das Haar so kurz trägt, spricht für praktisches Denken und dafür, dass er besseres zu tun hat, als sich Sorgen um sein Erscheinungsbild zu machen. Allerdings passte zum Inhalt seiner Briefe eher geöltes Lockenhaar, kragenlang.« Sie grinste vielsagend.

»Er sieht eben aus wie ein Anwalt und Punkt«, schnitt Dora Annes Überlegungen ab. Sie entwand ihr das Foto und schob es in einen kleinen Standrahmen.

Sie liebte Emilios Portrait, vor allem seinen Blick aus diesen alles zu verstehen scheinenden Augen. Er drang tief in ihr Inneres und weichte alle noch störenden Bedenken und Zweifel, die sie anfangs gegen die Beteuerungen ihres neuen Freundes in verzagten Momenten durchaus gehegt hatte, vollkommen auf. Annes immer wiederkehrende Ermahnungen, einen kühlen Kopf zu behalten und auf dieses oder jenes besonders zu achten, ärgerten sie mit der Zeit. Sie wollte diese Ratschläge nicht mehr hören und beschloss, ihr keine weiteren Briefe zu zeigen. Stattdessen gab sie endlich Emilios Drängen nach und begann in aller Heimlichkeit die Reise zu planen.

»Ich fahre übermorgen nach Rom«, hatte sie ihr kurzfristig mitgeteilt.

»Ach du großer Gott«, sagte Anne und verdrehte verzweifelt die Augen.

Die beiden Frauen kannten sich schon lange. Vor dreißig Jahren trafen sie sich zufällig in einer Modelagentur, die neue Gesichter für einen Versandkatalog suchte. Sie bekamen beide einen Job, Anne als Assistentin der Agenturchefin, die ihr Organisationstalent bereits beim Vorstellungsgespräch erkannte, Dora wurde in die Kartei aufgenommen und von Anne bevorzugt gebucht. Doras Gesicht tauchte von da an regelmäßig im dicken Jahreskatalog eines großen Versandhauses auf. Es lächelte unter Duschhauben, freute sich über neuartige Backformen, die Dora liebevoll in den Händen hielt. Eine Ganzkörper-Dora stemmte die Hand in die Hüfte und pries einen hochwertigen Staubsauger, auf dessen weinrot glänzendem Gehäuse ihr Fuß in lockerer Haltung ruhte, wie der Fuß eines Jägers auf seinem erlegten Wild. Dora kam gut an. Ihr sympathisches Lächeln gefiel auch jenen Frauen, die weniger mit Schönheit als mit anderen Vorzügen gesegnet waren. Die Agentur war überrascht von Doras Verkaufsquote und schloss daraus, sie unterstütze insgeheim die Vorstellung vieler Kundinnen, durch den Kauf dieser Backform oder jenes Saugers die Ausstrahlung des Models gratis mit zu erwerben.

Dora war schön, doch nicht auffallend. Ihre Schönheit war mehr ein Fall für den zweiten Blick. Diese Frau erinnert mich an jemand, ich muss sie schon einmal gesehen haben, dachten viele, die ihr zum ersten Mal begegneten. Alles an ihr war wohlgeformt, von der Zehe bis zum Scheitel. Nichts störte. In Annes Augen war Dora der leibhaftige Entwurf für die endgültig perfekte Form, die jedem Menschen als Gratisgeschenk bei seinem Eintritt ins Leben zustünde, eine Aufgabe an die Natur, die dieser nicht gerade zuverlässig nachkam. Warum konnte die Natur so ungerecht produzieren, wenn es ihr nachweislich immer wieder gelang, beste Arbeit abzuliefern? War sie manchmal uninteressiert, schlampig, faul, an anderen Tagen wieder bestens motiviert?

Anne stellte sich diese Fragen, wenn sie junge Mädchen auf ihre Modeltauglichkeit prüfte und wegen einer zu großen Nase, eines zu kurzen Halses oder eines vorstehenden Kinns wegschicken musste. Hatten sie ein schönes Gesicht, waren oft die Beine nicht schlank oder lang genug. Selten stand vor ihr eine so perfekt schöne Frau, wie Dora es war. Ein zierlicher, wie mit Lineal gezogener Nasenrücken entschied sich an seiner Spitze für einen kaum erkennbaren Schwung nach oben. Ihre Lippen hielten sich an ein Mittelmaß. Sie waren weder zu schmal, noch zu voll, besaßen aber die Eigenart, in den Mundwinkeln die Nasenspitze nachzuahmen. Zwei kleine Aufwärtshäkchen täuschten ein immerwährendes Lächeln vor, auch dann, wenn es Dora eher nach Weinen zumute war. Ein schmaler Hals brachte zarten Schmuck zum Strahlen, zierliche Ohren verwandelten zierlich geschmiedetes Gold in eine begehrenswerte Ware, und ein Kornblumenkranz in ihrem honigfarbenen Haar brachte einer Fluggesellschaft einen deutlichen Anstieg von Buchungen ins Baltikum. Anne behauptete, Dora sei eine wahre Naturschönheit, passe auf einen Biolandhof mit Eierschachtel in der Hand ebenso wie in ein Strickwarengeschäft, wäre als faustisches Gretchen so gut wie als eine Heilige auf dem Schafott.

»Dich kann ich überall einsetzen, es passt immer.«

Die Geschäfte liefen gut. Die Agentur profitierte bis zu dem Tag, als Dora über eine ausgeschäumte Rutsche ihr notgelandetes Flugzeug verlassen musste, das beim Anflug Feuer gefangen hatte. Danach weigerte sie sich zu fliegen und lehnte Aufträge, die das erforderten, kategorisch ab. Doras Marktwert sank zudem fast zeitgleich dramatisch, und so verstand sie den Rutsch aus dem Flugzeug auch als eine Beförderung in das berufliche Aus. Anne, die inzwischen die Agentur leitete, bot ihr eine Teilhaberschaft an. Sie arbeiteten jetzt zusammen, waren erfolgreich, doch Dora geriet in eine Lebenskrise. Die Notlandung mit dem Flieger veränderte sie.

Die beiden Frauen lebten in getrennten Wohnungen, pflegten unterschiedliche Freundeskreise, die sich auf Festen und Partys gelegentlich tangierten. Am Wochenende gingen sie manchmal zusammen wandern oder besuchten Ausstellungen, die Gegenwartskunst präsentierten. Anne besaß einige zeitgenössische Bilder, hatte ihre Sammelleidenschaft für moderne Kunst entdeckt. Auf Vernissagen wurde sie zu einer der mutigsten Käuferinnen, versicherte sich jedoch stets Doras Urteil. Die beiden hatten keine Geheimnisse voreinander, besprachen Privates so gut wie Berufliches, und es schien, als wären sie gleichermaßen mit diesem Leben zufrieden und könnten sich auch in Zukunft kein besseres vorstellen.

Trotz allem sah sich Dora zunehmend in einer lähmenden Lebenswarteschleife. Vieles, was sie tat, erschien ihr plötzlich sinnlos, vor allem das Auswahlverfahren bei der Suche nach neuen Gesichtern. Manchmal kam es ihr so vor, als handele sie mit Menschen, verkaufe Schönheit zu einem sehr hohen Preis, von dem vor allem ihre Agentur und sie selbst profitierte. Mädchen, die sich bei ihr mit einer gut gestalteten Portraitserie vorstellten, hätte sie inzwischen am liebsten vor dem Modelberuf gewarnt. Sie dachte dabei an ihr eigenes Leben, das sie in Fotoateliers, Hotelzimmern, in Flugzeugen und immer zwischen gepackten oder noch zu packenden Koffern geführt hatte. Der Wert eines solchen Lebens schien ihr mit einer hochgehandelten, dann rasch zerfallenden Aktie an der Börse vergleichbar. Nichts würde von diesem Leben bleiben außer einigen Fotografien. Models verlieren ihren Marktwert so schnell wie teure Neuwagen, die ständig durch Nachfolgemodelle ersetzt werden, dachte sie. Dora selbst konnte zwar recht lange ihren Status halten, geriet aber mit der Zeit zunehmend in die Sparte für Gesundheitsartikel und Biokost. Sie hatte auch nie einen Laufsteg erklommen und war daher etwas langlebiger vermittelbar gewesen. Jetzt kam es ihr vor, als habe sie ihr Leben leichtfertig verschenkt wie etwas, dessen Wert erst im Verlust erkennbar wird, weil sie es nicht genauer betrachtet hatte. Sie sah in hoffnungsvolle junge Gesichter, die von einer Laufstegkarriere träumten, und brachte es nicht fertig, sie zu enttäuschen.

»Lass deine Fotos hier«, sagte sie, »wir melden uns bei Bedarf bei dir.«

In den meisten Fällen kam es zu keinem weiteren Kontakt zwischen ihr und den Mädchen. Nur wenige Gesichter waren interessant und ließen sich erfolgreich vermitteln. An ihrem letzten Geburtstag, während einer turbulenten Party, die Anne für sie ausgerichtet hatte, beschloss Dora, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben. Sie setzte eine Annonce in die Zeitung, die sie Anne erst bei ihrem Erscheinen offenbarte. Anne las und glaubte nicht, was Dora sich in wenigen Zeilen erträumte. Auf Mittelachse gesetzt, zur besseren Lesbarkeit in größerem Schriftgrad als dem üblichen, hatte Dora ihren Lebenswunsch formuliert.

Außergewöhnliche Frau

sucht außergewöhnlichen Mann.

Wenn Du glaubst, Du kannst mich überraschen,

dann lass es mich wissen.

Ich liebe das Besondere in Literatur und Musik,

auf Reisen und an Dir.

Soeben feierte ich meinen 49. Geburtstag.

Den nächsten möchte ich gerne mit dir verbringen.

Anne war schockiert. Es verletzte sie, dass Dora sie nicht in ihren Plan eingeweiht hatte. Jahrelang war sie ihre Berufs-, ja ihre Lebensplanerin gewesen. Mit einem Mal traf ihre Freundin eine selbständige Entscheidung, auch noch von derart existentieller Tragweite. Aufgeregt verfolgte sie das Angebot an Zuschriften, die zahlreich in Doras Briefkasten landeten, und die diese nun gerne wieder mit Anne besprach, auf Hilfe hoffend in der Einschätzung der verschiedensten Selbstdarstellungen. Brief um Brief legten sie beiseite. Zweimal traf sich Dora mit Kandidaten, die ihre Neugierde geweckt hatten. Beide Male kam sie vorzeitig von der Verabredung zurück, rief Anne an und sagte, ein Bierbauch ginge gar nicht, braune Socken in Sandalen und kurze Hosen auch nicht. Grundsätzlich seien die Herren aber sehr nett gewesen, Blumen habe sie auch bekommen, aber nein, überraschend war gar nichts und nichts für die Dauer eines Lebens. Allmählich blieben die Zuschriften aus und Anne hoffte, es möge alles so bleiben, wie es bisher gewesen war.

Doch das tat es nicht. Lange, nachdem das letzte Bewerberschreiben im Papierkorb gelandet war, traf ein Brief aus Rom ein. Der Schreiber, ein gewisser Emilio Cattini, könne sich zwar nach ihrer außergewöhnlich formulierten Annonce kaum vorstellen, dass er nach so langer Zeit noch eine Chance auf Anhörung haben dürfe, doch wolle er nichts unversucht lassen, sie dennoch zu erhalten. Dora gefiel es, wie der Mann aufmerksam ihren Begriff außergewöhnlich ins Spiel brachte, statt sich selbst mit diesem Attribut zu schmücken. Seine Aufmerksamkeit galt allein ihr und ihrer intelligent formulierten Anzeige. Diese habe er erst vor einigen Tagen und hoffentlich nicht zu spät in einer deutschen Zeitung bei seinem Frisör entdeckt, der, zum Glück für ihn, versäumt habe, genau diese mit einer aktuellen auszutauschen, was er sonst regelmäßig besorge. Er erkenne darin einen Wink des Schicksals und hoffe auf eine wie immer geartete Antwort, da er sich schon glücklich schätze, eine solche zu bekommen.

Dora war von diesen Zeilen berührt wie von keiner der unzähligen, die sie bislang erhalten hatte. Anne erzählte sie nichts von diesem verspäteten Brief, ein unbestimmtes Gefühl hielt sie zurück. In diesem Fall wollte sie keine Beurteilung ihrer Freundin hören, die, das hatte sie inzwischen bemerkt, dabei mehr ihre eigenen Interessen im Auge hatte als die von Dora. Stattdessen schrieb sie diesem Emilio in Rom einen ersten Brief. Weitere folgten, und irgendwann erfuhr Anne von ihrer Freundin, sie habe wohl den Mann ihres Lebens gefunden. Dora zeigte ihr endlich Emilios Briefe.