Seebeben - Brigitte Karcher - E-Book

Seebeben E-Book

Brigitte Karcher

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Beschreibung

Ein Sommer am See. Ein Stipendium beschert einer Gruppe Kunststudenten einen Aufenthalt im Haus am See, mit Blick auf den See, über den See, in die Weite, in die Berge. Doch sie sehen noch Anderes. Ein Geheimnis um die Frau des Arztes beschäftigt nicht nur die Dorfbewohner. Auch die Studenten sind vom Schicksal der Frau betroffen und irritiert. Sie versuchen, sich von der Unruhe der Dörfler nicht anstecken zu lassen. Doch der Sommer ist lang, und das Geheimnis ist groß.

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SEEBEBEN

Wir waren über die Mauer geklettert, durch kniehohes Gras geschlichen, hatten uns unter den tiefhängenden Ästen der Obstbäume geduckt und pflückten schließlich prallreife Kirschen von den Zweigen eines üppig tragenden Kirschbaums. Wir schmückten uns mit Zwillingskirschen, hängten sie über unsere Ohren. Selma wedelte mit einem Bund saftiger Kugeln vor meinem Gesicht herum, sagte »Mund auf, Augen zu«, und ich tat es, hatte plötzlich mehrere Kirschen auf einmal zwischen den Zähnen und musste lachen. Dabei verschluckte ich einen Stein, und Selma schrie: »Keine Sorge, den siehst du wieder, über kurz oder lang.«

Wir sprangen hoch und schnappten mit offenem Mund nach den Früchten im Baum. Kirschen fielen ins Gras. Wir spuckten die Steine im hohen Bogen aus. Selma traf mich, ich verfehlte sie, Nina traf Veronique, und Veronique traf einen Mann, der plötzlich dicht vor uns stand. Wir hatten ihn nicht bemerkt. Wie aus dem Boden geschossen stand er da. Wir erschraken, erstarrten. Er sagte nichts. Tiefernst und mit bohrendem Blick sah er uns an. Er war nicht sehr groß, nicht jung, nicht alt. Dunkle Haarwellen fielen, durch Mittelscheitel geteilt, in seltsamer Länge bis knapp unter seine Ohren. Der Stein hatte ihn an der Stirn getroffen. Er befühlte die Stelle, besah sich seine Fingerkuppen.

Selma fasste sich als erste, sagte: »Wir wollten nur ein bisschen...«, und der Mann sagte:

»Nehmt euch so viele Kirschen, wie ihr wollt, ich schaff es sowieso nicht sie zu ernten.«

Veronique entschuldigte sich für den Stein. »Es tut mir leid«, sagte sie und wollte wissen, ob alles okay mit ihm sei. Da verlor er ein Sekundenlächeln. »Ach Gott, Mädchen«, sagte er.

Ich wusste plötzlich, wer er war.

Er praktizierte in direkter Nachbarschaft zu unserem Studienhaus. Seine Praxis lag im Erdgeschoß der Jugendstilvilla, die seit den ersten Stunden unseres Hierseins meine Fantasie bewegte. Hinter den hohen Buntglasfenstern der Arztpraxis brannte durchgängig Licht und bis spät in die Nacht. Im Oberstock war es dunkel tagsüber, auch am Abend und danach und immer. Wendelin, unser Kursleiter, sagte, dass die kranke Frau des Arztes dort lebe und an einer Lichtallergie leide. Sie verlasse nie die Wohnung, trage auch dort eine dunkle Brille, seit langem schon. Er sagte, sie sei eine Schönheit, viel jünger als ihr Mann und habe früher gemodelt, aber gesehen habe er sie noch nie. Er bat uns, auf lautstarke Feste und Exzesse in und in unmittelbarer Nähe unseres Hauses zu verzichten, der kranken Nachbarin wegen. Wir hielten uns daran, tranken Wein am Strand, die Füße im Wasser oder zwischen Kieseln vergraben. Unsere Stimmen, unser Gelächter verhallten über den stetig an und ablaufenden flachen Wellen.

Ein Durchgangsweg trennte die beiden Grundstücke. Er führte zum See, wir gingen ihn täglich. Ich schaute zu den verdunkelten Fenstern der alten Villa hoch, blieb manchmal stehen. Ich bildete mir ein, ein Vorhang bewege sich, und jemand stünde dahinter. Nina drehte sich um, sie rief:

»Mach schon, da ist niemand, los komm«.

Langsam ging ich weiter, ging hinter Nina her, die auf mich gewartet hatte.

»Weißt du, was ich glaube«, sagte Nina, »ich glaube, dass es diese Frau überhaupt nicht gibt. Niemand sah sie bis jetzt. Wendelin kommt schon seit einigen Jahren ins Studienhaus und kennt sie nicht. Vielleicht hat ihr Mann es aus irgendeinem Grund nötig, diese Geschichte über seine Frau zu verbreiten. Wer weiß, wo sie abgeblieben ist, was dort drüben irgendwann passiert ist. Vielleicht ein Mord?«

»Quatsch«, sagte ich. »Auf dem Land kann keiner einen anderen umbringen, ohne dass es ruchbar wird. Hier weiß jeder von jedem was er denkt, wie er lebt, was er treibt. Da bleibt nichts unbemerkt, und der Arzt sei sehr beliebt bei seinen Patienten, auch bei kranken Pferden und Kühen, hat Wendelin gesagt.«

Wir standen in seinem Garten, unerlaubterweise. Wir hatten nicht gewusst, dass dieses Obstbaumparadies dem Arzt gehörte. Direkt der alten Villa gegenüber liegend, musste er, um es zu besuchen, nur die Dorfstraße überqueren. Wahrscheinlich hatte er uns von einem Fenster aus beobachtet, hatte vielleicht sogar unser Lachen gehört, unser Geschrei. Für Einbrecher waren wir unprofessionell lärmend gewesen, das hatte ihn wohl auf den Plan gerufen.

Wir zeigten Reue, entschuldigten uns, beschuldigten die Kirschen, die zu verführerisch über der Mauer hingen. Wir sagten, wir hätten einfach nicht widerstehen können.

»Ihr seid vom Studienhaus.«

Das war keine Frage, es war eine Feststellung. Er dachte nach.

»Nun, ich kann euch zwar verstehen, aber da kommt jetzt doch so einiges zusammen wie Hausfriedensbruch, Mundraub, zertrampeln des hochgewachsenen Grasbestandes, der regelmäßig von einem Bauern für seine Kühe abgemäht wird. Ich überlege also, was mit euch geschehen soll und denke, Strafe muss sein.«

Er hieß Riemer. Er war der Riemer, Dr. Ludwig Riemer.

Wendelin hatte gestern Oskars entzündete Wunde am Schienbein gesehen. »Das sieht nicht gut aus Oskar, da muss ein Arzt ran«, hatte Wendelin gesagt, »geh rüber zum Riemer, der macht das, und sag, du bist einer vom Studienhaus.«

Riemer hatte sich entschieden. Er verurteilte uns zu einem sozialen Einsatz in seiner Praxis. Er sagte:

»Ich erwarte Sie morgen Abend pünktlich um 20:30 Uhr an meiner Praxistür. Ich bitte Sie, nicht zu läuten, ich hole Sie ab, haben Sie das verstanden?«

»Ja natürlich, ja klar, machen wir, ist doch selbstverständlich, keine Frage.«

Wir redeten quer, waren froh über den günstigen Verlauf der Sache und zu allem bereit. Wir würden putzen, bügeln, was immer anstand. Wir würden vollen Einsatz zeigen.

Er sagte »gut« und ließ uns stehen.

Wir versuchten einen geordneten Rückzug durch das Gartentor. Doch er hatte uns eingeschlossen, und wir verließen den Tatort so, wie wir gekommen waren, über die Mauer.

An diesem Abend trafen sich alle Stipendiaten am Strand. Malte und Lise feierten Geburtstag. Sie hatten Wein besorgt. Wendelin spendierte zwei Kasten Bier. Lise und Selma hatten Schinken, Käse - und Salamibaguettes vorbereitet und in einen Waschkorb geschichtet. Als hätten sie seit Tagen gefastet, stürzten sich alle auf die Brote. Ein Plastikeimer, gefüllt mit fetten Chips und geröstetem, salzigem Kleinzeug, machte die Runde. Malte goss Wein in Wassergläser. Auf Gläser hatte er bestanden, aus Flaschen zu trinken, die die Runde machen, fand er eklig. Wendelin bot sein Bier in der Flasche an, jedem seine eigene, war ja klar, war so üblich. Dann gingen die ersten Joints von Hand zu Hand. Der Grillplatz am Wasser lag außerhalb des Dorfes, weit genug entfernt von Studienhaus und Jugendstilvilla, von Riemer und seiner unsichtbaren Frau. Die Kunsthochschule besaß hier einen eigenen Steg und drei Ruderboote, seit langem schon.

Wendelin spielte auf seiner Gitarre, er spielte sehr gut. Musik aus Geräten war hier verpönt, der Studienaufenthalt diente dem einmaligen, selbsterzeugten, originalen Akt, in welcher Form auch immer. Nora und Lise tanzten, jede für sich und doch in erkennbarer Beziehung. Sie betupften sich mit den Fingerspitzen, entfernten sich voneinander, bogen ihren Oberkörper nach hinten und verschränkten ihre Hände im Nacken. Wasserfallartig hingen ihre dichten langen Haare nach unten. Dann drehten sie sich wie Kreisel, ihre Haare wirbelten auf. Sie flogen aufeinander zu, fielen sich lachend in die Arme. Sie hielten sich aneinander fest, wippten hin und her. Sie kippten zur Seite, verloren die Balance und landeten auf dem Boden. Ich glaubte, sie hätten sich verletzt, aber nein, es ging ihnen gut. Malte füllte ihre Gläser auf.

Unsere Gruppe setzte sich aus Auserwählten der einzelnen Studienbereiche zusammen. Die Professoren bestimmten, wer in ihren Augen die dreimonatige Sommerakademie im Studienhaus am See besuchen durfte. Diesmal hatte es mich getroffen. Mein Professor befand mich für würdig, seine Malklasse zu vertreten. Das war, ganz klar, als eine Auszeichnung zu verstehen, und die Erwartung war groß. Der Aufenthalt sollte künstlerisch genutzt werden, der Raubzug heute Nachmittag lag mir daher ungemütlich in der Seele, ein Besäufnis vor zwei Tagen noch latent im Magen. Ich verzichtete deshalb auf Alkohol und schwor insgeheim Besserung. So durfte es nicht weitergehen, nein, ganz und gar nicht. Es ging hier schließlich um einen kreativen Entwicklungsschub, den ich erwartete, und nicht um den ausgelassenen Lebenswandel partysüchtiger Teenager. Ich versagte mir sogar den Joint, den Moritz mir anbot, sagte:

»Heute nicht, ich hab Flaute in Kopf und Magen.«

Ich trank Wasser, versenkte eine Hand im Knabbereimer und fischte nach Chips und Salzgebäck. Eine Stunde später erbrach ich den gesamten Fettkram, wenige Schritte vom Grillplatz entfernt und unbemerkt. Erschöpft hockte ich danach auf einem Wurzelstock und sah über den See. Am weit entfernten, gegenüberliegenden Ufer schimmerten einzelne Lichter in der Dunkelheit und markierten die Trennlinie von Wasser und Land. Das Wasser gab Ruhe. Die flachen Wellen hatten sich zu einer hochglänzenden Decke vereint, die sich leicht schaukelnd wenige Zentimeter auf den Strand schob, und von unsichtbaren Kräften wieder zurückgezogen wurde. Sie hinterließ einen nassen Saum, den sie bei der nächsten Landnahme neu befeuchtete. Ich hätte diesem Schauspiel gern länger zugesehen, doch jetzt riefen sie nach mir, suchten mich. Malte und Wendelin hatten ein kleines Lagerfeuer angerichtet. Ich stand auf und setzte mich dazu.

»Alles in Ordnung mit dir«, fragte Veronique und sah mich an.

»Ja, ja, alles gut, mach dir keine Sorgen.« Ich umfasste meine Beine, legte den Kopf auf die Knie. Dann schaute ich ins Feuer. Es ging mir gut.

Wir waren neun, mit Wendelin zehn. Neun Stipendiaten im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Malte, der Älteste von uns, feierte heute seinen dreißigsten Geburtstag. Er war vor fünf Jahren in der Bildhauerei aufgetaucht, hatte davor Architektur studiert. Sein Interesse an Bauwerken, Entwurfs- und Modellbau war von Semester zu Semester geschrumpft. Praktika in Architekturbüros überzeugten ihn, dass er sich auf dem falschen Dampfer eingeschifft hatte. Er sprang ab und bewarb sich an der Kunsthochschule, legte los und überraschte Professoren und Kommilitonen mit eigenwilligen Gebilden aus Stein, Ton, Holz, auch Schrott. Malte sagte:

»Eine Idee zu haben ist einfach, aber dann beginnt der Kampf. Du ringst mit Materie, die dir nichts erspart, du zwingst sie nieder, und du musst ein Sieger sein.«

Er zeigte seine Muskeln am Oberarm, schlug sie mit der Faust. Man erkannte schnell sein Talent, sein Professor förderte ihn. Der Aufenthalt im Studienhaus sollte seine Ausbildung abrunden. Danach wollte er nach Amerika gehen, in einem Künstlercamp arbeiten, eine Einladung dazu hatte er in der Tasche.

Wir schenkten Malte und Lise Cowboyhüte, und obwohl Lise keine Amerikapläne hatte, freute sie sich trotzdem. Sie setzten ihre Hüte sofort auf. Malte zog seinen verwegen in die Stirn, Lise schob ihren auf den Hinterkopf. Sie ähnelte plötzlich einem American Girl auf einem Cola Plakat der sechziger Jahre. Sie setzte ihr Glas an den Mund, hing etwas nach hinten und hob die freie Hand mit gespreizten Fingern zum Gruß. Hey!

Malte feierte nicht nur Geburtstag, er feierte auch seinen Abschied, und das tat er mit Wucht. Stampfend und breitbeinig umrundete er das Feuer, Bierflasche in der Hand. Er schwang ein unsichtbares Lasso, stellte sich quer und zog einen imaginären Colt aus der Hüfte. Er spuckte Bier in die Flammen. Dann imitierte er Johnny Cash, sang I walk the line, und Wendelin improvisierte den Background auf der Gitarre. Wir klatschten, feuerten ihn an, sangen den Refrain. I still miss someone hatte er auch noch drauf. Wir schaukelten angerührt hin und her, einige teilten sich einen Joint. Malte trank wechselweise Bier und Wein und lag irgendwann erledigt im Gras. Wir stützten ihn auf dem Heimweg. Moritz und Oskar griffen unter seine Arme, Nora ging dicht hinter ihm, legte beide Hände an seine Schulter und hielt ihn in der Vertikalen. Lise hatte sich beide Cowboyhüte aufgesetzt und ging dem Abtransport vorweg. Wir anderen folgten, trugen den Waschkorb mit leeren Gläsern, die Bierkisten, hatten Weinflaschen unter den Arm geklemmt. In Sichtweite der Riemerschen Villa flüsterten wir. Mühsam unterdrückten wir unser Gelächter. Malte wollte noch einmal singen, I walk the line, doch Oskar schlug mit einer Hand auf seinen Mund.

»Sei still, Malte, denk an den Doktor und seine Frau.«

In dem Moment wurde es in Riemers Praxis dunkel, um drei Uhr in der Nacht, und im Oberstock schloss kurz darauf jemand ein Fenster.

Mit niemand hier war ich enger befreundet. Man kannte sich ganz gut. Auf der Hochschule traf ich die anderen in der Mensa, saß mal an diesem, mal an jenem Tisch, Kaffee mit Veronique, ein Bier mit Oskar, Mittagessen mit Lise, Nina oder Selma oder mit einem Neuling. Wer allein saß, freute sich über Gesellschaft. Es gab bereichsübergreifende Veranstaltungen. Man traf sich in Vorlesungen über Kunstgeschichte, beim Aktzeichnen, auf Atelierfesten. Diskussionsbedarf bestand bei fast allen Studenten. Sie organisierten Themenabende mit unvorhersehbarem Ausgang. Getränke hatte jeder mitzubringen. Wer neu hinzukam, wurde freudig begrüßt, es herrschte eine allumarmende Atmosphäre, jeder wurde akzeptiert, Andersartigkeit regelrecht gefeiert.

Selma, Veronique, Nina und ich teilten uns im Studienhaus ein Zimmer. Zimmer wäre zu viel gesagt, Raum passte eher. Ein großer, kahler Raum mit Bretterboden, zwischen den Dielen breite Ritzen, weiß gestrichene Wände, an diesen Haken für Kleidung rundum, ein Stuhl an jedem Bett, das wars. Auch Bett wäre zu viel gesagt. In jeder Ecke lag auf einer langen Holzpalette eine Matratze, unsere Bettwäsche hatten wir selbst mitgebracht und die wenig einladend wirkenden Kopfkissen und Decken darin versteckt. Ein Waschbecken gab es auch, mit glänzend neuem Wasserhahn. Immerhin, das gefiel uns, der alte war wohl nicht mehr funktionsfähig gewesen. Allein der Optik wegen hätte man ihn niemals ausgetauscht.

Wer ins Studienhaus zieht, ist vorgewarnt. Die Ehemaligen sagten:

»Wartet mal ab, was euch dort am See erwartet, eine Komfortzone ist es jedenfalls nicht.«

Man wusste, was auf einen zukommt. Man nahm es in Kauf, erinnerte sich an Rockkonzerte mit Übernachtung auf Isomatten oder in Sammelquartieren. Unser Raum besaß vor allen anderen einen Vorzug. Er hatte Zugang zu einer verglasten Veranda, wir sahen von ihr aus direkt auf den See. Manchmal saßen wir dort abends auf dem Boden, hatten Kerzen in wassergefüllte Teller gestellt, bewachten sie streng, denn die Veranda war ein alter Holzbau und würde im Ernstfall sofort brennen.

In den Stunden, bevor wir unseren Strafvollzug bei dem Doktor antraten, saß ich auf der Veranda und zeichnete. Ich war allein. Selma hatte sich ein Boot geschnappt und war mit Skizzenbuch und Zeichenkohle Richtung Seemitte gerudert. Veronique lag im Palettenbett und stöhnte. Sie hatte gestern Abend zu viel getrunken, zu viel geraucht. Ich ging zu ihr, stand mitfühlend an ihrer Matratze. Sie sagte, dass ihr sterbensschlecht wäre, und ich ihre Eltern benachrichtigen müsse, wenn es dann zu Ende mit ihr sei. Ich riet ihr, den Finger in den Hals zu stecken.

»Steck den Finger rein, das hilft.«

Es half nicht, Veronique hing am Waschbecken, würgte und gab auf.

»Es geht nicht, ich kann das nicht, meine Finger sind nicht lang genug, mir wird ganz schwarz vor den Augen.«

Ich führte sie zum Bett, deckte sie zu, weil sie fröstelte.

»In diesem Zustand kannst du heute Abend nicht zu Riemer«, sagte ich tröstend.

Sie starrte mich an.

»Kommt nicht in Frage, schließlich hatte ich die Idee, in den Garten zu steigen.«

Ich sagte: »Das weiß doch der Riemer nicht, ich nehme an, dem ist es vollkommen egal, wessen Idee es gewesen war, und wer da alles heute bei ihm antritt, wir machen das schon, verlass dich drauf.«

»Aber mir ist es nicht egal. Ich bin ein Teil unserer Strafbrigade. Ich bin total neugierig, will wissen, wie der Mann tickt, vielleicht beaufsichtigt er unseren Einsatz, stellt hohe Ansprüche, vielleicht erwartet er Ungebührliches, macht uns gefügig, Mediziner haben da ihre Möglichkeiten. Vielleicht erhaschen wir auch einen ungeplanten Blick auf seine Frau, ich möchte unbedingt dabei sein, oh Gott, was bin ich nur für eine blöde Kuh, mich so zuzudröhnen.«

»Na ja«, sagte ich, »ich hatte hier auch meinen Absturz. Einmal muss es sein, muss man durch, dann ist man für den Rest des Aufenthalts kuriert, besser am Anfang als in der Mitte, und am Ende schon gar nicht. Aber sag mal, was hast du denn für Fantasien bezüglich Riemer, das kann wohl nicht dein Ernst sein?«

Veronique schlug die Decke zurück. Sie schwitze, klagte sie, und dann sagte sie, der Doktor habe sie seltsam angeschaut, uns alle habe er komisch angeschaut, irgendwie lüstern, oder so, und sie täusche sich da nicht.

»Wenn ich Einbrecher auf meinem Grund und Boden erwische, schau ich sie auch seltsam an, aber doch nicht lüstern, was denkst du denn wie dem zumute war? Und außerdem verhielt er sich überanständig, erlaubte uns sogar weiter zu ernten«, sagte ich.

»Genau das meine ich, er trickste uns aus. Er wiegt uns in Sicherheit und heute Abend schlägt er zu. Die Spritzen sind schon aufgezogen, und während wir seine Buntglasscheiben polieren, schleicht er sich von hinten an und haut sie uns ins Gesäß.«

Ich musste lachen, sah, wie Veronique aus dem Bett schoss und zum Waschbecken rannte, und dann kam, was kommen musste. Ich ging auf die Veranda und ließ den Dingen ihren Lauf.

Gegen Abend kam Selma von ihrem Bootsausflug zurück. Sie hatte Kohlestifte, die nichts taugten, aus Wut in den See geworfen, aus ihren Skizzen Papierschwalben gefaltet und sie über Bord in den Wind geworfen. Fünf Wasserlandungen habe sie erlebt, sie seien länger geschwommen als geflogen.

Nina hatte im Dorf alte Schuppen, Kuhställe und Heustadel gezeichnet, dabei die Bekanntschaft eines jungen Bauern namens Rudi gemacht, dessen Stadel sie ziemlich reizvoll fand. Selma fragte:

»Nur den Stadl?«

Nina überhörte die Frage, sie sagte:

»Ihr glaubt nicht, wie interessant diese alten Schuppen sind, es sind grafische Meisterwerke für den, der es sehen kann. Vertikale Latten, grau mit schwarzen Ritzen, drüber schräg befestigte Planken, teils überkreuzt, winzige Fenster in rau gesägten Rahmen, da siehst du Linien und Muster, ein Fest der Abstraktion, unbeabsichtigt angerichtet.«

»Sehen lassen«, bat ich.

»Das geht jetzt nicht«, sagte Nina. »Ich habe die Zeichnung dem Bauern geschenkt, er hat mich für morgen zum Abendessen auf seinen Hof eingeladen.«

Ob der die Grafik seiner Scheunenwand schätzt, wagte Selma zu bezweifeln. Sie befürchtete, Nina könnte mit ihrer Zeichnung eine Perle nicht zwischen Säue, sondern in dem Fall zwischen Heuhaufen geworfen haben und las an ihrer Freigebigkeit den Grad einer beginnenden Zuneigung zum Landleben ab.

»Du wirst doch nicht im Kuhstall landen wollen, aus Liebe zu wer weiß wem oder was«, sorgte sie sich ernsthaft.

»Immerhin, Kunst fördert Kontakte, da haben wir wieder einmal den Beweis«, sagte Veronique. Ihr ging es besser. Wir saßen am langen Küchentisch und aßen gefüllte Paprika. Gesponsert von der Stipendiatenstiftung lieferte uns das Gasthaus Krone täglich ein Abendessen in Warmhaltewannen, eine Regelung, die uns begeisterte. Doch Veronique trank heute Tee und knabberte Knäckebrot ohne Butter, trocken und bröselig. Malte tauchte auf. Er hatte den Tag auf seiner Palette verbracht und Kopfwehtabletten konsumiert. Er ging gefasst und in betont aufrechter Haltung, sah aus wie leidlich reanimiert. Er hatte geduscht, roch nach Seife und strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Er sagte:

»Ah Knäckebrot, könnt ich mir eine Scheibe…?« Veronique schubste die Packung über den Tisch, Malte nahm sich drei Scheiben. »OK so?«

»Nimm, so viele du willst«, sagte Veronique, »mir genügt meine Ration, mehr ist heute nicht drin, und hol dir eine Tasse, ich habe Kamillentee gekocht. Malte nickte. »Danke, Vero.«

Zwei Überlebende, die sich unterstützten, die wussten, von was sie sprachen.

Malte setzte sich, tauchte das Knäckebrot in den Tee.

»Ich ersticke daran, wenn es nicht feucht ist«, sagte er mit Bittermiene. Er schüttelte sich.

»Frierst du«, fragte Selma, oder…?«

Malte war sehr bleich, plötzlich hatte er Schweiß auf der Stirn. »Eher oder«, sagte er, »aber beachtet mich einfach nicht, es wird schon wieder.«

Der Rest unserer Truppe war noch unterwegs, mit Wendelin. Der schwärmte von der Einsamkeit im Feuchtgebiet, von seltenen Pflanzen, geheimnisvollen Trockeninseln, die auf Bretterwegen zu erreichen waren. Er hatte eine Fahrt ins Ried vorgeschlagen mit seinem Kleinbus, Rückkehr ungewiss, unterwegs wollte man noch einen Biergarten anfahren. Was sich in diesem Ried an Eindrücken sammeln ließe, war mir unklar. Schilfrohr und wilde Schwertlilien standen nicht gerade auf meiner Inspirationsliste. Ich zog wenig Anregung aus der Natur, bevorzugte Orte wie Steinbrüche, Baumärkte, streng geregelte Müllabgabeplätze, auch Plattenbausiedlungen, und dort Menschen in unvorhergesehenen Situationen. Mein letztes Bild zeigt ein Mädchen mit sehr kurzen Haaren. Es sitzt am Ende einer leeren Bank und beugt sich tief über ihr Smartphone, das sie zwischen ihren gespreizten Beinen hält. Plötzlich gleitet das Smartphone aus ihren Händen. Ich zeige das Teil auf dem Bild im Fallen. Sie schaut weiter in ihre leeren Hände. Sie kann die Nachricht, die sie erhalten hatte, nicht fassen. So sieht es für den Betrachter aus, auch, als wäre ihr das ganze Leben aus den Händen gestürzt. Für dieses Bild bekam ich das Stipendium. Bis jetzt hatte ich hier am See noch keinen kreativen Schub erhalten, fand aber Ninas Beschreibung der hölzernen Stadelwand interessant. Ich verstand, was sie sagen wollte, beneidete sie fast um ihre Entdeckung.

Später machten wir uns auf den Weg zur alten Villa, standen pünktlich vor der Praxistür des Doktors. Wir hatten uns arbeitstauglich gekleidet, Jeans, T-Shirts, Sandalen. Der Abend war warm, wir wollten bei der Arbeit nicht ins Schwitzen kommen. Er ließ sich zehn Minuten Zeit, wir waren ziemlich nervös, Selma kaute an ihrem Daumennagel. Veronique glaubte, sie hätte eigentlich noch einmal zur Toilette gehen sollen.

»Ist dir wieder schlecht«, sorgte ich mich.

»Aber nein«, sagte sie, »auf eine Toilette geht man auch zum pinkeln. Man kann natürlich noch anderes dort tun, lesen, kiffen, heulen, sich umbringen, Gedichte schreiben, meditieren mangels Rückzugsmöglichkeit, wie zum Beispiel drüben in unserer Künstlerklause.«

Sie hatte noch weitere Vorschläge auf der Zunge, doch jetzt hörten wir, wie sich im Türschloss ein Schlüssel drehte, zweimal, dreimal, und Riemer stand vor uns, barfuß in weißen Espadrilles aus Leinenstoff, ein blaues Kurzarmhemd hing lässig über einer weißen Leinenhose. Seine Unterarme zeigten dichten schwarzen Haarwuchs. Sein Wellenhaar glänzte, es schien sorgfältig gewaschen und nachbehandelt zu sein. Er sagte nichts, winkte uns in den Vorraum. Er ging voran, bewegte seine rechte Hand so, als scheuche er eine widerspenstige Kuhherde Richtung Stall. Wir sagten auch kein Wort und folgten ihm durch einen breiten Flur. Wir liefen über sandfarbene Fliesen mit blauem Rautenmuster, an Türen vorbei, auf denen historisch anmutende Porzellanschilder über den Nutzungszweck der Räume informierten: Sprechzimmer, Wartezimmer, Behandlungsraum, Röntgen. An zwei Türen am Ende des Flures stand das Wort privat. Bei der letzten Privattür traten wir ein, er als letzter, dann schloss er die Tür.

Er hatte angerichtet. Auf einem mächtigen Couchtisch, ich tippte auf Mahagoniholz, standen Weingläser, kleine Teller, Papierservietten lagen daneben. Schwere dunkle Ledersessel machten einen edlen, aber düsteren Eindruck. Eine schwarze Bücherwand sorgte lediglich durch farbige Buchrücken für ein freundlicheres Ambiente. Zwei Stehlampen mit hohem Messingfuß trugen große Pilzkappen aus weinrotem Milchglas, die das Licht in einen Dauersonnenuntergang verwandelten. Er bat uns Platz zu nehmen.

Wir sahen uns an, ratlos. Wir waren auf der Hut. Riemer fragte: