Kritzelwerk - Brigitte Karcher - E-Book

Kritzelwerk E-Book

Brigitte Karcher

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Beschreibung

Die Galeristin Feli Ganter entdeckt in einem Antiquariat eine Kiste mit Zeichnungen. Ein ziemliches Kritzelwerk sei das, sagt der Antiquar, und er sei froh, es endlich los zu werden. Feli greift zu, denn sie sieht es auf den ersten Blick: in der Kiste lagert ein Werk von außerordentlicher Bedeutung. Sie macht die Entdeckung ihres Lebens. Doch es gibt ein Problem. Bei den Arbeiten handelt es sich um ein Werk ohne Namen, der Antiquar kennt den Erschaffer der Zeichnungen nicht. Mit Unterstützung ihres Mitarbeiters Paul begibt sich Feli auf eine schwierige Suche. Was sie findet, verschlägt ihr den Atem.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1

Ich sah sie ein einziges Mal, danach nie wieder. Sie wandte mir den Rücken zu, ihr Gesicht sah ich nicht.

Sie stand in einem Garten am Ende unserer Straße, in die wir vor sechs Wochen gezogen waren. Ich ging einkaufen, zum ersten Mal auf diesem Weg, der mir als eine Abkürzung zum nächstliegenden Supermarkt von meiner Nachbarin empfohlen worden war. Ich kam an einem großen Grundstück vorbei, das offensichtlich vor längerer Zeit einen gewaltigen Kahlschlag erlitten hatte. Sämtlichen Bäumen fehlte die Krone. Ihre bemoosten Stämme ragten aus dem, von Brennnesselnestern, Löwenzahnfeldern und hohen Goldrutenstängeln vereinnahmten Grund. Ungezügelt wuchernder Knöterich warf ein Netz über Zaun und weite Teile eines älteren Hauses. Dieses, spitzgiebelig und nicht sehr groß, ertrug ergeben den Zugriff des grünen Schlingers, der sich mit langläufigen Adern das Gebäude regelrecht einverleibte. Ich fantasierte, es könne demnächst, wenn es sich nicht wehre, in seiner gewalttätigen Umarmung ersticken.

Mitten in dieser Wildnis stand eine Frau. Obwohl von mir abgewandt, erkannte ich, dass sie schrieb. Sie war sehr groß. Breitbeinig stehend und vornübergebeugt, hielt sie ihr Gleichgewicht. Das war nötig, da ihr Oberkörper im Takt des Schreibens in alle Richtungen wippte. Manchmal blickte sie auf das Haus, als erhielte sie von ihm entscheidende Ideen. Was schrieb sie nur? Das Haus sah in seinem bieder-bescheidenen Siedlungsstil der Nachkriegsjahre nicht danach aus, als hätte es viel zu erzählen, obwohl der äußere Anschein kein ausreichender Grund war dies auszuschließen. Eher verwies der Garten in seinem verwahrlosten Zustand auf ungewöhnliche Ereignisse. Die brutal abgeschlagenen Baumstämme in Mannshöhe sahen aus wie geköpfte Zeugen, die nicht fallen wollten, um stumm an eines jener Familiendramen zu erinnern, von denen man ungläubig in den Zeitungen las und das Geschehene nicht glauben konnte. War die Frau womöglich selbst Teil eines solchen Dramas gewesen und versuchte, es jetzt nach vielen Jahren in Worte zu fassen?

Ich staunte über ihre Kleidung. Ein sackartig geschnittener, rot-grau karierter Rock bedeckte in solider Länge ihre Knie. Stockmagere Beine steckten in knöchelhohen Lederstiefeln. Eine völlig aus der Mode gekommene taillenkurze, senffarbene Wolljacke im Glockenstil der Fünfzigerjahre, betonte die breiten Hüften der Frau. Sie bildeten einen auffallenden Kontrast zu ihren schmalen, abfallenden Schultern. Ein topfartiger brauner Filzhut ließ ihren zierlichen Kopf kleiner wirken als er war. Unter der hochgewölbten Hutkrempe schlängelte sich ein dünner, nachlässig geflochtener Zopf über ihren Nacken und den Rücken. Dort lag er schlaff wie ein ausgefranztes altes Seil. Ich stand am Zaun und rührte mich nicht. Eine solche Gestalt hatte ich noch nie gesehen. Wie alt mochte sie sein? Ihr Haar war grau wie verwittertes Holz, ihre Kleidung aus der Zeit gefallen, vielleicht auf einer Theaterbühne noch zu sehen, doch nicht auf unseren Straßen. Wer war sie?

Ich hustete, hoffte, die Frau drehe sich nach mir um. Sie stand nur etwa acht Meter von mir entfernt. Ich sagte »hallo«, doch sie hörte mich nicht, oder wollte mich nicht hören. Ungerührt schrieb sie weiter, dabei beugte sie sich immer weiter vor, ich befürchtete, sie kippe demnächst vornüber ins Gras. Plötzlich, als habe sie von hinten einen Stoß erhalten, lief sie in dieser gebeugten Haltung mit langen Schritten auf das Haus zu, öffnete die Tür und verschwand. Ich starrte ihr hinterher, dann auf die Fenster, als müsse sich hinter ihnen irgendetwas ereignen. Ich wartete darauf, dass sie noch einmal käme, oder aus einem der Fenster schaue. Doch da rührte sich gar nichts. Vorhänge, die sich bewegt hätten, waren von der Straße aus nicht zu erkennen. Niemand war hinter den Scheiben zu sehen. Schließlich ging ich weiter. Ich konnte ja nicht ewig und ohne Grund an diesem ausgeleierten Maschenzaun stehen, der das Grundstück nur unzureichend befriedete. Jedes Kind hätte durch klaffende Löcher kriechen, Erwachsene über das an mehreren Stellen durchhängende Drahtgeflecht steigen können.

Ich ging zum nahen Supermarkt und auf dem Rückweg noch einmal an dem Garten vorbei. In einem kleinen Giebelfenster brannte jetzt Licht. An der Gartentür entdeckte ich ein fleckiges Messingschild mit aufgesetzter Schrift. Ich bückte mich und las den Namen »Untermatter«. Ich sprach ihn laut aus. Um ihn mir einzuprägen wiederholte ich ihn mehrmals. Meine Stimme war gleichzeitig Ruf und Echo. Ich überlegte. Untermatter klang nach Südtirol, nach Bergwiese, nach Einöde. Untere Matte, obere Matte, obere Matte Sommeralpe, untere Matte Winterquartier. Ich zog keine weitere Schlussfolgerung für die Herkunft des Namens, die Bilder kamen jedoch auf mich zu und bewegten meine Fantasie. Ich sprach den Namen auf dem Heimweg vor mich hin wie einen Reim und veränderte ihn im Takt meiner Schritte. Untermatter, Obermatter, Über- Vorder- Hintermatter, nein, ich würde ihn nicht vergessen, er gefiel mir.

Beim Abendessen erzählte ich Mark von meiner heutigen Entdeckung. Auch er sprach den Namen laut aus, schüttelte den Kopf, nein, er habe ihn noch nie gehört in unserer Gegend, was nichts besage.

Wir aßen schnell zubereitete Penne Arrabiata und tranken Rotwein. Das Untermatter-Grundstück hatte Mark noch nicht gesichtet, würde es aber in den nächsten Tagen einmal in Augenschein nehmen, versprach er und wechselte das Thema.

Die geplante Ausstellung machte ihm Sorgen. Die Zusagen zur Vernissage waren bisher sehr spärlich eingetroffen. Die Band, die den musikalischen Rahmen gestalten sollte, hatte heute kurzfristig abgesagt. Er bereute fast, einen noch völlig unbekannten Künstler eingeladen zu haben, ihn fördern zu wollen. »Es ist und bleibt ein Risiko, sich auf Neuland zu begeben. Auf der anderen Seite lebt der Markt ebenso von Entdeckungen wie von Bekanntem mit Wertgarantie. Unsere treuen Sammler werden erst einmal enttäuscht sein. Jetzt kommt es darauf an, wie sehr sie meiner Urteilskraft vertrauen und mir folgen werden.« Mark besah seine Fingernägel, aber sie interessierten ihn nicht wirklich. Die Fingernagelschau war für mich neu, ich deutete sie als ein Zeichen innerer Unruhe.

Wir besaßen eine florierende Kunstgalerie in der City. Galerie Ganter war eine der ersten Adressen im Kunstbetrieb der Stadt und weit über deren Grenzen hinaus. Wir pflegten Kontakte zu Kunden in aller Welt. Unsere Vertragskünstler gehörten zu den wichtigsten Vertretern der Zeit. Mark hatte eine Nase für Strömungen im Kunstbetrieb, und er steuerte sie erfolgreich. Er sah meist vor anderen Galeristen den Stern des Einmaligen über einem Künstler stehen, erkannte dessen Bedeutung. Er war Entdecker, Bewahrer und Gewinner gleichermaßen, seine Entscheidungen zählten. Seit unsere Galerie selbst mit Sternen dekoriert war, bestimmte er weitgehend, was in der Kunstwelt Bestand haben würde. Er »machte« den Künstler und sein Werk, wie mancher Verlag seinen Autor. Zweifel hatten ihn bisher selten geplagt, umso mehr wunderte ich mich über seine plötzlich aufkommende Verunsicherung. Was für einen Grund gab es dafür? Ich sollte ihn bald erfahren im zufälligen Blick von der Länge eines Wimpernschlags.

Sooft ich konnte, ging ich zu Untermatters Garten. Wenn keine anderen Fußgänger unterwegs waren, blieb ich stehen, sah zum Giebelfenster hoch und winkte. Doch die Frau, die vor meinen Augen in dem Haus verschwunden war, sah ich nie wieder. Manchmal brannte Licht im Giebelfenster, am hellen Tag. Im Unterstock blieb es dunkel. Vielleicht bewohnte die Frau nur dieses eine Zimmer unter dem Dach? Ich erkundigte mich bei meiner Nachbarin, deren Grundstück an das unsere grenzte, nach der Bewohnerin des verwahrlosten Gartens. Die Nachbarin, eine ältere Frau, war hier im Vorort geboren und kannte sich aus. Sie musste nicht überlegen, lachte, sagte, sie wisse, wen ich meine. Das sei die Viola, eine ganz besondere Nummer, und es grenze an ein Wunder, dass ich sie gesehen hätte, das gelänge nicht jedem hier.

»Viola«, sagte ich, »Viola Untermatter, ein schöner Name. Was ist mit der Frau, lebt sie allein in diesem Haus?«

Meine Nachbarin hatte so einiges gehört.

»Sie lebt hier allein, aber erst seit vier Jahren. Sie soll ihr ganzes Leben in einem Kinderheim verbracht haben, zuerst als Zögling, später als Angestellte. Anscheinend war sie auf dem Arbeitsmarkt schwer zu vermitteln gewesen.«

»Sie lebte in einem Heim?« Ich erschrak, weil ich mir ein solches Leben nicht vorstellen konnte. »Warum war sie nicht vermittelbar, ist sie behindert?«

»Direkt krank ist sie nicht, wohl eher etwas gestört. Sie hatte eine schwere Kindheit. Mit neun oder zehn Jahren wurde sie ihren Eltern weggenommen. Es sollen Misshandlungen in der Familie stattgefunden haben. Der Vater saß mehrere Jahre ein. Sie kam in eine Pflegefamilie, doch die Pflegeeltern gaben sie, soviel man weiß, dem Jugendamt zurück, warum auch immer. In welchem Heim sie schließlich lebte, weiß niemand hier. Sie schien verschollen bis zum Tod ihrer Eltern. Die starben vor vier Jahren. Die alten Untermatters hatten den Verzehr von selbst gesammelten Pilzen nicht überlebt. Man fand sie erst nach einigen Tagen tot in ihren Betten. Na ja, das war schrecklich. Die Polizei untersuchte den Todesfall, ebenso das ganze Haus. Es kursierten die wildesten Gerüchte im Ort.

Der Tod kam aus dem Kochtopf, betitelte die Zeitung einen langen Artikel, in dem sie nicht nur vom tragischen Ableben der alten Untermatters berichtete, sondern ihre Leser auf die Gefahren beim Sammeln verwies. Eine Auflistung aller Giftpilze mit Abbildungen und genauer Beschreibung nahm eine ganze Druckseite ein. Ich bewahre diese Seite auf, obwohl ich niemals Pilze sammle. Einige Wochen später war die Viola plötzlich im Haus. Sie war einfach da, niemand hat sie kommen sehen. Manchmal war sie im Garten, saß auf der Holzbank vor dem Haus und schrieb andauernd in ein Buch. Einige Frauen versuchten mit ihr zu reden, über den Zaun hinweg, doch sie schüttelte wie wild geworden den Kopf und rannte ins Haus. Ist ja auch kein Wunder, sagten die Leute, bei diesem Lebenslauf. Man ließ sie in Ruhe. Doch inzwischen ist sie so gut wie unsichtbar geworden, auf jeden Fall tagsüber.«

»Aber sie muss doch einkaufen gehen, sich versorgen, von was lebt sie denn?«

»Sie bestellt ihren Wochenbedarf im Supermarkt«, wusste meine Nachbarin. Sie kannte den Fahrer, der die Lebensmittelkiste anliefert. »Er stellt sie unter das Vordach der Haustür, steckt die neue Einkaufsliste ein, die er, zusammen mit dem Geld für die gelieferten Waren in einem Stoffbeutel findet, den Viola an die Türklinke hängt. Der Fahrer klingelt und geht. So sei die Abmachung, die Viola bald nach ihrem Einzug mit seinem Chef höchstpersönlich getroffen habe. Der Chef sage, die Frau Untermatter sei eine sehr freundliche, aber ruhige Dame, leider kränklich, das erkenne man deutlich, deshalb käme er ihr gerne in dieser Weise entgegen. Er habe sie nur dieses eine Mal gesehen, in den Supermarkt käme sie nie.«

Ich war sehr aufgeregt. Sollte ich zu den wenigen Menschen gehören, die den Vorzug hatten, Viola gesehen zu haben, zwar in Rückenansicht, aber immerhin?

Ich richtete das Abendbrot. Mark kam verspätet. Er hatte mit einer Musikergruppe verhandelt, bei einem Umtrunk im Himmelsstürmer, einem angesagten Weinlokal, nicht weit entfernt von unserer Galerie. Er war erleichtert über die spontane Zusage der Gruppe »Unterstand«. Sie würde den Abend mit ihrem stimmungsvollen Sound untermalen.

»Das hätten wir geschafft«, freute er sich, und dass heute endlich reichlich Zusagen zur Vernissage eingetroffen waren, erleichterte ihn ebenso. Bei einem Glas Wein, das er sich trotz der Einkehr im Himmelsstürmer noch gönnte, erzählte ich von Viola Untermatter. Mark hörte belustigt zu.

»Mein Gott, Feli«, sagte er, »solche Leute gibt es mehr, als du vermutest. Schau dich doch um im Großstadtsumpf. Unendlich viele Verrückte gibt es da, Eigenbrötler, Selbstzerstörer, Süchtige, Verzweifelte, Verweigerer oder einfach nur zu Tode Gelangweilte, die dem Leben nichts mehr abgewinnen können. Was mich aber wirklich wundert ist, dass du dich so sehr für eine Frau interessierst, die du nur einmal von hinten gesehen hast, und deren Garten anders aussieht als der unsere. Das ist für mich ein größeres Rätsel als eine Viola Untermatter hinter ihrem Giebelfenster.«

Mark leerte sein Glas und stand auf. »Ich muss schlafen gehen, morgen wird es ernst. Du fährst mit in die Galerie, oder kommst du später nach?«

»Ich fahr mit dir, wie ausgemacht. Ich möchte dabei sein, wenn Feldstein seine Bilder anliefert.«

Wir gingen zu Bett. Mark schlief sofort ein, kaum dass er lag. Der Wein zeigte Wirkung, sein Arbeitstag auch. Ich dachte noch lang an die Frau im Garten, sah, wie sie dagestanden, intensiv mit einer Schreibarbeit beschäftigt, dann fast fluchtartig ins Haus gestürzt und darin verschwunden war.

Am nächsten Tag fand ich keine Zeit für einen Gang zu Violas Garten. Ich half Mark bei der Vorbereitung für die kommende Ausstellung. Dirk Feldstein kam in Begleitung seiner Freundin. Antonia stellte sich selbst vor, bevor Dirk es tun konnte. Sie gab zuerst Mark die Hand, glücklich bewegt, einen derart anerkannten Galeristen zu treffen, wie sie ihn nannte. Mark versicherte, seine Freude sie zu sehen sei ebenso groß. Dann entdeckte sie mich, zögerte kurz, ich sagte »Ganter« und schob ihr meine Hand entgegen. Sie fasste nach ihr und schlug sich mit der anderen Hand auf den Mund. Sie sackte in den Knien etwas ein, versuchte ein Stöhnen. »Oh ja, natürlich, wie konnte ich, Felizitas Ganter, ich las in der Zeitung den Artikel über die letzte Ausstellung, mit einem Foto von Ihnen. Sie deuteten auf eines der Bilder an der Wand.«

»Sie haben die Ausstellung besucht?« Mich interessierte nicht wirklich, ob Antonia dagewesen war und welche Meinung sie dazu hatte, doch ich wollte sie prüfen. Irgendetwas störte mich an ihrem Auftreten, das ich noch nicht durchschaute.

Antonia klagte, es sei ihr nicht möglich gewesen zu kommen, leider, wirklich, und das bedauere sie sehr, denn sie liebe Vernissagen über alles. Aber sie habe eine Virusgrippe auskurieren müssen, sei anschließend völlig aus dem Tritt geraten, also psychisch, auch Dirk habe sehr darunter gelitten, »nicht wahr, Dirk«, sie drehte sich nach ihm um.

Dirk Feldstein trug Riesenformate ins Foyer und deutete gestenreich an, er hole die Begrüßung nach, sobald alle Bilder aus dem Kleinbus in Sicherheit wären. Mark half ihm dabei. Er trug die Bilder vom Foyer in die Ausstellungsräume und stellte sie dicht aneinandergereiht vor die Wände. Zuordnung und Hängung der Werke würde später in einem weiteren Schritt passieren.

»Wer möchte Kaffee?«, fragte ich. Dirk hatte soeben das letzte Großformat herangeschafft. Mark schloss die Glastür, bestand auf einer Pause. Erst mal alles auf sich wirken lassen, sich den Motiven stellen, sich ihnen ganz langsam nähern. Kaffee wäre gut.

Wir saßen in den für respektable Galerien unentbehrlichen schwarzen Ledersesseln, keine schwerklobigen Ungetüme, sondern elegante Schwinger auf Kufen, die sich jederzeit mühelos wie Schlitten auf andere Positionen schieben ließen. Dirk sprach wenig, seine Freundin umso mehr. Aufgekratzt wollte sie wissen, ob uns Dirks Bildauswahl gefalle. Dirk schaute zur Decke, zog Luft durch seine Nase, die Äußerung seiner Freundin schien ihm peinlich zu sein. Mark sagte, wenn er die Arbeiten nicht gut fände, hätte er Dirk nicht für eine Ausstellung gewonnen. Er beobachte sein Schaffen schließlich schon seit geraumer Zeit. Seine Antwort gefiel mir. Sie entlarvte Antonias Unkenntnis darüber, was die Belange ihres Freundes betraf, warf aber auch ein Licht auf ihre Naivität, die sie mit jedem Satz, den sie sagte, verriet. Sie nickte zufrieden. Sie hatte Marks versteckte Kritik an ihrer Frage keineswegs auf sich bezogen. »Ja, wenn das so ist«, sagte sie und lachte überlaut, »dann brauch ich mir um unser Genie hier wohl keine Sorgen zu machen.«

Das wird sich erst noch zeigen, dachte ich und wagte einen Rundblick über das Bilderband vor den Wänden. Was ich sah, übertraf meine Erwartungen nicht. Irgendwie glich ein Bild dem anderen, und alle glichen vielen anderen Bildern von vielen anderen Künstlern, die ich in den letzten Jahren gesehen hatte. Nichts erregte meine Aufmerksamkeit, nichts stach hervor. Breite Farbbahnen von rechts oben nach links unten, oder von links oben nach rechts unten, zur Abwechslung auch horizontal gezogen, kreuzten sich mit schmaleren Bändern, die sich gerne auch mal schneckenförmig ineinander wickelten. Ab und zu verhedderten sich feinere Schnüre zu einem dicken Knäuel. Aus diesem sprossen an verschiedenen Stellen einige, inzwischen im Knäuelchaos zu Spinnfäden ausgedünnte Linien, und flatterten dem Bildrand entgegen, als suchten sie an diesem Halt. Die Farbstimmung war durchgehend gedämpft, alle Graustufen nutzend, ebenso Töne wie Sand, Schlamm und gebrannte Erde. Wenige hellblaue Blitzer frischten den bleiernen Farbklang etwas auf und ließen hoffen, aber auf was? Ich fragte mich, was Mark an diesem Künstler entdeckt zu haben glaubte und konnte plötzlich Antonia in gewisser Weise verstehen. Dieses unbekümmert plaudernde Mädchen empfand Ähnliches wie ich beim Anblick dieser auf vielen Quadratmetern angerichteten Urmasse.

Vielleicht möchte Feldstein an die Herkunft allen Lebens erinnern, daran, dass wir aus der gleichen Masse entstanden sind, sie immer noch in uns tragen und letztlich wieder in jene Suppe eintauchen werden, die uns hervorgebracht hatte? Sätze fielen mir ein wie, aus Staub bist du und zu Staub wirst du wieder werden, oder Worte wie am Anfang war die Erde wüst und leer. Über meinen Rücken strich eine kalte Hand, die niemand gehörte, denn alle Anwesenden hatten ihre Hände um eine Tasse gelegt. Ich trank Kaffee und sah über meinen Becher hinweg, wie Mark und Antonia Blicke wechselten. Für einen kurzen Moment sah es aus, als tauchten sie mit den Augen ineinander ein, einvernehmlich und vollkommen. Als sie voneinander ließen, spürte ich ein Geräusch wie das Reißen eines zerschlissenen Stoffes.

Doch Blicke machen kein Geräusch. Tonlos senden sie ihre Botschaften. Ich sah nach Dirk. Hatte er dieses Intermezzo bemerkt? Danach sah es nicht aus. Er blätterte im Katalog unserer letzten Ausstellung, die sehr erfolgreich für den Künstler und uns verlaufen war. »Hervorragend gestaltet, dieser Katalog, wer macht das, er gefällt mir sehr«, fragte er hochinteressiert.

»Wir beschäftigen einen jungen Grafiker. Paul ist ein begabter Gestalter und ein ebenso versierter Organisator. Er hat alles in der Hand, vom Entwurf bis zur Drucklegung, und Digi-Druck arbeitet schnell und flexibel.« Er müsse sich also keine Sorgen machen und fügte an, »darüber nicht.« Er sah mich überrascht an. »Nein, nein«, sagte er, »Sorgen mache ich mir keine, es interessiert mich einfach.«

Ich war verwirrt, redete noch so einiges daher, nur um zu reden, während ich mich fragte, was ich denn wirklich gesehen, und was es zu bedeuten habe. Marks Bemerkung, er beobachte Dirks Schaffen schon länger, ergab für mich einen neuen Sinn. Tat er dasselbe etwa nicht nur mit Dirks Arbeit, sondern auch mit dessen Freundin Antonia? Er hatte Dirk ab und zu in seinem Atelier besucht, das wusste ich. Ein neues junges Talent habe er entdeckt, unverbraucht und voller Überraschungen, kraftvoll in der Aussage, einnehmend und geheimnisvoll. So hatte er von seiner Eroberung geschwärmt und sehr bald eine Ausstellung mit diesem Künstler in Erwägung gezogen. Ob er dabei vor allem dessen Freundin imponieren wollte, war eine Frage, die ich mir seit wenigen Minuten stellte. Es erklärte, weshalb er einen völlig unbekannten Künstler und die mir unbegreifliche Auswahl seiner Exponate im Visier hatte, die mich hier umgab. Ich beobachtete Mark, der mir von einem Moment zum anderen seltsam fremd wurde. Jedes Wort, das er sagte, sprach ein anderer, jede Bewegung, die er machte, war die Geste eines Fremden. Es war nicht mehr der Mark, mit dem ich heute Morgen gefrühstückt hatte.

Ich stellte meine Tasse auf den kleinen Beistelltisch und stand auf. Ich wollte mich bewegen. Ich ging vor den Bildern auf und ab, sagte kein Wort, spürte aber Antonias Augen, die mir folgten. Ich war sehr gut gekleidet und wusste um meine Wirkung. Manchmal beugte ich mich über eines der Formate, als betrachte ich es genauer, was ich nicht tat. Sie interessierten mich nicht im Geringsten. Ich war mit anderem beschäftigt. Ich wusste, dass ich von jetzt an allein wäre, wenn das, was ich gesehen hatte, kein Trugbild gewesen war. Dabei spürte ich kein Bedauern, sondern fühlte mich allen Anwesenden im Raum überlegen, als hätte ich Macht über sie, als durchschaute ich ihre geheimsten Gedanken, ihre kindischen Vorstellungen, ihre kleinlichen Bedürfnisse. Da hoffte ein unbekannter Pinselschwinger berühmt zu werden, seine ständig kichernde Freundin glaubte, aus der Beziehung zu ihm Profit zu schlagen, und ein bekannter Galerist hatte Urteilskraft und Augenmaß verloren und riskierte eines Mädchens wegen seinen guten Ruf und womöglich nicht nur den.

Ich drehte mich um und sah in die Runde. Mark öffnete eine Sektflasche. Er hatte Gläser auf den Tisch gestellt. Tagsüber hatte er das noch nie getan, unser Angebot für Gäste und Kunden beschränkte sich auf Kaffee und Wasser. Antonia wippte überdreht mit ihrem Schwingsessel, als säße sie in einer Schaukel. Mit geübtem Griff löste sie ihre hochgesteckten Haare und schüttelte sie. In weichen Wellen fielen sie jetzt über ihre Schultern. Sie streifte ihre grasgrünen, hochhackigen Schuhe ab und spreizte die Zehen. Dirk Feldstein rieb sich die Hände. Ein eingespieltes Trio schien sich zu amüsieren.

»Feli, trinkst du ein Glas Sekt?«

»Natürlich, warum fragst du?«

Ich griff nach einem gut gefüllten Glas, blieb stehen und blickte auf sie herab. Ich fasste einen Entschluss. Ich würde meine Entdeckung für mich behalten, kein einziges Wort darüber verlieren, aber mit klinischem Interesse die Entwicklung der Dinge beobachten, die sich zwischen den Dreien bereits abzeichneten.

Dirks Hilfsangebot zur Hängung seiner Bilder lehnte ich überschnell ab, bevor Mark sich dazu äußern konnte.

»Das ist Sache des Galeristen. Wir hängen nach unserer eigenen Vorstellung, der viel Erfahrung zugrunde liegt und haben dafür Fachkräfte an der Seite.«

Mark konnte nur bestätigend nicken, weil ich die Wahrheit sagte. Wir arbeiteten bei jeder Ausstellung nach dem Prinzip, der Künstler schafft das Werk, wir besorgen seine Darbietung. Warum sollten wir dieses Mal anders verfahren?

Antonia schlüpfte wieder in ihre grünen Schuhe, stand auf und zupfte die hautenge, anscheinend kneifende Jeans zurecht. Sie spreizte ihre Finger und fuhr durch ihre üppig wallende Mähne, warf sie mit Schwung nach hinten über die Schulter. Da im Augenblick so gut wie alles Nächstliegende besprochen war, blieb den beiden nichts anderes übrig, als sich gemächlich zu verabschieden. Ich hielt sie nicht zurück. Mark gab Antonia die Hand und nagte an der Unterlippe. Er wollte sich an etwas Wichtiges erinnern, das er keinesfalls vergessen dürfe, doch nun fiele es ihm unbegreiflicherweise nicht ein. »Was war das nochmal, was war es denn, zu dumm, ich weiß, wenn ihr weg seid, kommt es mir wieder in den Sinn, aber jetzt, gut, ich ruf euch an«. Er hielt sein Smartphone in die Höhe.

»Mach das«, riet ihm Dirk und legte den Arm um Antonias einseitig entblößte Schulter, freigelegt dank eines modischen Akzents, den das asymmetrisch geschnittene T-Shirt ermöglichte.

»Man sieht sich«, versprach Antonia.

Die folgenden Tage waren arbeitsreich. Täglich fuhr ich nach dem Frühstück mit Mark in die Galerie. Das Hängeteam Franz und Christof, Freunde, kunstbegeistert und technisch versiert, besorgten das Ausrichten der großen Formate. Mark und ich entschieden, welche Bilder zueinander passten, und welches am besten in einer Einzelstellung wirke. Ermüdend oft stellte er bereits getroffene Arrangements wieder um, trat zurück, schüttelte den Kopf, mischte seine Auswahl neu. Ich sagte dazu wenig und ließ ihn entscheiden. Meiner Meinung nach war es vollkommen egal, welches Bild neben welchem hinge, weil sich alle glichen, daher problemlos zueinander passten, was ich ausgesprochen langweilig fand. Die Freunde traten von einem Bein aufs andere, tranken Kaffee und freuten sich, wenn sie endlich eine der Tafeln montieren durften. In der Mittagszeit gingen wir zu viert in eines der umliegenden Restaurants. Die Helfer waren unsere Gäste.

Paul kam. Er setzte seine Kamera auf das Stativ, fotografierte Bild um Bild. Anfangs hatte er Beleuchtungsprobleme, die kontrastarme Farbigkeit der Arbeiten sei etwas schwierig wiederzugeben, klagte er, aber es ginge schon, dauere jedoch länger, bis er zufrieden sei. Die Kamera liebe diese stumpfen Töne nicht besonders, sagte er zu Mark. Ich meinte, mir ginge es genauso wie der Kamera. Mark wollte wissen wieso. »Na, aus demselben Grund. Ich liebe die stumpfen Töne auch nicht, jedenfalls nicht in dieser Häufung. Ich fühle mich beim Anblick dieser Bilder wie unter Tage.«

»Du liebe Zeit«, ereiferte sich Mark überraschend heftig, »seit wann reduzierst du ein Werk auf seine Farbigkeit? Ich versteh dich nicht. Diese Farbatmosphäre ist absolut im Trend und sehr gefragt. Viele Künstler arbeiten mit dieser Palette.«

»Genau deshalb liebe ich sie nicht. Außerdem glaubte ich, du machst den Trend und greifst ihn nicht auf der Straße auf, wie so viele andere Galeristen. Das ist ja etwas völlig Neues, was ist los mit dir?«

Mark besah seine Fingernägel. Paul wollte vermitteln und versprach brillante Bilder. »Macht euch bitte keine Sorgen, ich setz die Sache schon in Szene.«

Ich wusste, dass ihm dies gelingt, aber mein Unmut war nicht mit guten Fotos zu vertreiben. Doch das konnte er nicht ahnen. An diesem Tag war auch Paul unser Gast, ich hatte im »Cäsarenhof« einen Tisch für Fünf bestellt.

Unsere kurze Meinungsverschiedenheit hinterließ zwischen Mark und mir ein unbehagliches Gefühl. Wir sprachen nicht mehr darüber. Über meine Kritik an den Bildern hatte ich ihm eine Botschaft gesandt. Mit meiner Äußerung, er greife einen Trend von der Straße auf wie viele andere, hatte ich nicht an die Bilder gedacht.

Pauls Katalog war wie immer ein optisches Highlight und wurde rechtzeitig einen Tag vor der Vernissage von Digi-Druck geliefert. Die Bilder hingen in unseren vier Ausstellungsräumen und wirkten durch die großzügige Anordnung gar nicht so schlecht. Mark ging voller Stolz auf und ab und begrüßte am Nachmittag Dirk und Antonia zu einer vorgezogenen Privatschau. Paul kam dazu und besah sich den fertigen Katalog. Die Freunde waren im Haus und stellten schmalhohe Partytische auf, an denen die Vernissage Besucher das Kulturereignis der Galerie Ganter mit Häppchen und Getränken feiern konnten. Doch Mark wollte jetzt schon mal feiern und öffnete wieder eine Flasche Sekt, schob eine zweite nach. Der hohe Kühlschrank in unserem Büro war bereits für den morgigen Abend prall gefüllt. Mark wirkte sehr erleichtert und sparte nicht mit Lob. Er lobte die Freunde, die bescheiden abwinkten, er pries Pauls Arbeit, der wieder einmal einen einfachen Katalog in ein begehrenswertes Sammlerstück verwandelt habe, und er dankte mir für meine Umsicht bei der Organisation. Antonia klatschte begeistert Beifall und stieß Jubelschreie aus. Sie klangen wie ho, oder hoi, gefolgt von hei hei und hätten auf eine Trabrennbahn gepasst.

Anschließend führte Mark den Künstler und seine Freundin durch die Ausstellungsräume, wobei er anfangs in ihrer Mitte ging und seine Arme besitzergreifend um ihre Hüften legte. Antonia ging nicht ohne ihr noch halb gefülltes Sektglas, das sie mit theatralischer Geste in die Höhe hielt. Paul warf mir einen Blick zu. Siehst du das, fragten seine Augen.

Ich verbot mir, mich den Dreien anzuschließen oder ihnen zu folgen, ich hätte es gerne getan. Paul setzte sich zu mir und erzählte von seinem Besuch in Dirks Atelier. Er hatte Marks Anregung aufgegriffen und für den Katalog den Künstler in seinem Atelier fotografiert. Eine, von Paul bewusst klischeehaft inszenierte, fotografisch jedoch bestechend gute Portraitserie, war dabei entstanden, die die ersten Katalogseiten beherrschte. »Ich konnte nicht anders, ich musste ihn auf diese Weise zeigen, es bot sich einfach an«, verriet er mir.

Dirk auf einem ramponierten Sofa sitzend, die Beine weit ausgestreckt, beide Hände wühlten im verstrubbelten Haar, seine Augen untersuchten die Atelierdecke.

Dirk über eine, auf dem Boden liegende Riesenleinwand gebeugt, über die er mit einem Schrubber eine schlickartige Masse schob, die eine dieser breiten Farbbänder hinterließ, in diesem Fall horizontal gezogen mit einem leichten Schwung nach links oben. Aha, dachte ich beim Anblick des Fotos, so geht das also.

Pauls Kamera hatte den Künstler bei einem mediterranen Imbiss erwischt. Melonenschnitze, Schafskäsewürfel, Tomaten und schwarze Oliven füllten eine ovale Platte bis an den Rand. Dirk riss mit den Händen einen dicken Brocken vom Stangenweißbrot und lächelte einem vor ihm stehenden vollen Weinglas zu.

Dirk schaute auch sinnend auf eines seiner fertigen Bilder, eine Hand stützte das Kinn. Seine Stirn hatte Falten geworfen. War er angetan oder eher unzufrieden? Antonia war auf den Fotos nicht zu sehen. Paul sagte, sie wohne nicht bei Dirk, sie habe eine eigene Wohnung und arbeite ab und zu als Fotomodel. Diese Information war für mich neu. Die Frau war also unabhängig, konnte tun und lassen was sie wollte, und mit wem sie es tun wollte. Bis jetzt hatte ich gehofft, Dirk und Antonia wären ernstlich liiert und lebten zusammen in einer gemeinsamen Wohnung.

»Klingt nicht gerade beruhigend«, sagte ich.

Paul klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter. »Feli, mach dir keine Sorgen. Du bist ein Diamant, die Kleine ist dagegen ein Strasssteinchen. Mark weiß das auch.«

Ich sah ihn an. »Sie ist jung, das ist nicht überbietbar.«

Der Strassstein funkelte am Abend der Vernissage in leuchtenden Farben. Antonia trug ein regenbogenfarbenes, hautenges Etuikleid mit seitlichem Oberschenkelschlitz, dazu türkisfarbene High Heels, auf deren Schuhspitzen je ein herzförmiger Strassstein glitzerte. Auch in Antonias tiefem Ausschnitt funkelte es gewaltig, ebenso an den Ohrläppchen, der linke Unterarm steckte in einer silbernen, elastischen Manschette, die mich an ein Abflussrohr erinnerte. Auch auf dieser bunte Glassteinchen, sternförmig zugeschliffen. Paul und ich wechselten Blicke. »Siehst du, was den Strassstein betrifft, hatte ich recht«, sagte er, als er mir ein Sektglas in die Hand drückte. »Trink mal was, dann geht das heute leichter.«

»Und ich hatte unrecht«, sagte ich, »sieh dir die Leute an, sie kaufen ohne genau hinzuschauen, fast alle Bilder sind bereits markiert.«

»Was hast du erwartet, wenn Galerie Ganter sagt, das ist große Kunst, dann ist es große Kunst, und alle profitieren, auch ich.« Paul lachte.

Ich sah mich um. Die Gruppe Unterstand spielte einen leichten Sound, unaufdringlich und gesprächsfreundlich, man wollte sich unterhalten und war schließlich in keinem Konzert. Die Band wusste das. Dirk stand schmerzlich lächelnd bei einer älteren Dame, die zwei Bilder gekauft hatte. Offensichtlich glaubte sie, einen besonderen Anspruch auf die Gesellschaft des Künstlers zu haben. Sie hakte sich bei ihm ein und schritt an Dirks Arm durch die gut besuchten Räume. Als die beiden an Paul und mir vorbeiwandelten, schlug sie Dirk soeben eine gemeinsame Kreuzfahrt vor, selbstverständlich auf ihre Kosten. Ob er schon einmal in der Südsee gewesen sei? Dirk konnte sich nicht daran erinnern, wolle sich das Angebot aber überlegen, hörte ich ihn sagen. Ich machte mir Sorgen, wie er diesem Arm je wieder entkommen würde.

An den Partytischen wurde es lauter. Die Stimmung stieg, und die Themen hatten alles andere als Kunst zum Inhalt. Antonia wich nicht mehr von Marks Seite. Er zog sie wie eine Trophäe von Tisch zu Tisch und stellte sie den Gästen vor. »Die Freundin des Künstlers.« Sie kam gut an, wurde lautstark begrüßt. Nach mehreren Gläsern Sekt zog sie ihre Schuhe aus. Die Gäste beklatschten die kleine Performance, die Band erhöhte zum gebotenen Anlass die Lautstärke, und Antonia drehte sich barfuß tanzend wie ein Kreisel. Manche hätten gerne mehr gesehen. Ich schob mich durch das Gedränge, sprach hier einige Sätze, begrüßte dort langjährige Kunden und noch unbekannte Besucher, nahm Glückwünsche entgegen, auch Blumen.

Gegen 23 Uhr bestellte ich die ersten Taxen und begleitete unsicher Gehende zum wartenden Auto. Küsschen hin und her. Die Hallen leerten sich. Die Band packte die Instrumente ein. In einer Ecke hatte sich an einem der Tische ein harter Partykern eingeloggt. Antonia hielt sich mit beiden Händen am Tischrand fest und erläuterte den Sinn ihrer Armmanschette. Nein, der Arm sei nicht gebrochen, keine Sorge, keine Sorge, es handele sich um ein Schmuckelement, mit dem man eine missratene Tätowierung verstecken könne. Sie lachte fast endlos und noch lauter, als einige in der Gruppe, unter ihnen auch Mark, eine Art Schlachtruf skandierten. »Ausziehen, ausziehen.« Antonia gehorchte gern, hielt die Hände in Augenhöhe und versuchte die Manschette über die Finger zu ziehen, was ihr nicht gelang. Man half ihr, selbstverständlich. Hände drei verschiedener Männer rissen an dem Silberschlauch. Einer der Tüchtigen hielt ihn nach gelungenem Befreiungsakt triumphierend nach oben. Antonia schraubte ihren nackten Arm in die Höhe und lachte sich kaputt. »Ja wo ist denn das Tattoo, wo ist es denn, wo ist es denn geblieben?« Der Arm war so weiß und unbebildert wie der andere, und Antonia konnte sich den Verbleib des Tattoo selbst nicht erklären. Die Silberröhre wanderte jetzt von Hand zu Hand, man hielt sie vor das Auge, vielleicht steckte das Tattoo ja im Inneren der Manschette, aber nein, da war es auch nicht, nein sowas, also sowas. Dirk kam. Er hatte seine Verehrerin in ein Taxi gesetzt und versprochen, über die Südseereise final nachzudenken.

»Komm Antonia, es ist genug«, sagte er. »Ein Taxi wartet, ich bring dich nach Hause.«

Antonia wehrte sich nicht, ließ sich von Dirk in die Schuhe helfen und ging wie ein kleines Mädchen an seiner Hand. Sie verabschiedete sich von Mark mit Wangenkuss, umarmte mich und Paul und blinzelte müde in die Nacht, bevor Dirk sie auf dem Rücksitz des Wagens in den Gurt schnallte.

»Wir besprechen den Abend bei Tage, ich melde mich«, rief Dirk, schlug die Wagentür zu und das Taxi fuhr los.

Es vergingen mehrere Wochen, ehe ich wieder an Untermatters Grundstück vorbeigehen konnte. Die Nacharbeiten für die Ausstellung waren fast so umfangreich wie deren Vorbereitung gewesen. Geschäftliches wurde abgewickelt, Dirks Werke zur Abholung verpackt, einige Arbeiten mussten zugestellt werden. Daneben sorgten wir für Abwechslung an unseren Wänden, der Betrieb duldet keine Pause. Das Hängeteam schlug wieder zu. Momentan zeigen wir Ölgemälde eines heimischen verstorbenen Künstlers, eine Retrospektive mit einem bescheidenen Eröffnungsakt. Die Familie des Malers hatte dazu einen Literaten gebeten, der humorvoll das Treiben seines Künstlerfreundes beschrieb. Diese Ausstellung würde zwei Monate lang zu sehen sein und gönnte mir einige freie Stunden, die ich genoss.

Mein erster Gang führte mich zu Violas Garten. Dort hatte sich nichts verändert. Ich war sehr erleichtert und winkte Richtung Giebelfenster. Jetzt erkannte ich, wie sehr ich mich zu diesem unbekannten Wesen hingezogen fühlte, vielleicht auch zu seiner Welt, die in so krassem Gegensatz zu meiner stand. Mir kam es vor, als lebe Viola in der wirklichen Welt, der harten, der ungebürsteten, gnadenlosen aber aufrichtigen Welt, die den Menschen formt wie ein karges raues Klima, das keine Nachlässigkeit verzeiht, wenn er überleben will. In meiner Welt herrschte Egoismus. Lügen gehörten zum Alltag wie Schmieröl zur Maschine. Ich dachte an unsere Vernissagen, besonders an die mit Feldsteins Bildern, an all die Liebenswürdigkeiten, die wir unseren Kunden im Small Talk angedeihen ließen. Ich dachte an die Behauptung, Dirks Bilder seien das Geld wert, das wir verlangten, oder wären es eines Tages mit etwas Glück. Ein Kritiker hatte uns unerwartet zugesetzt. Was die Galeristen Ganter derzeit präsentierten, sei wenig überzeugend, schrieb er, schon gar nicht überraschend. Und hatte Paul nicht gesagt, wenn Ganter verkündet, es sei große Kunst, dann ist es auch große Kunst?

Woher nahmen wir unsere Sicherheit, mit der wir einem Werk den Qualitätsstempel aufdrückten? Waren wir nicht einfach nur Täuschungsagenten, die Tauben aus dem Hut flattern ließen, vor den Augen eines gläubigen Publikums? Ich dachte an Steuerhinterzieher und andere Alltagslügner, an Dopingsünder und Kunstfälscher, an die Lügen in Politik und Werbung und an das Ellbogencredo vieler Eltern, lass dir nichts gefallen, nur wer sich durchsetzt, hat eine Chance.

Ich schaute über Violas Zaun. An einigen Stellen entdeckte ich Platten von himmelblauem Ehrenpreis und Gänseblümchen. Ein Gefühl wie Sehnsucht nach dieser Frau überraschte mich. Ich wollte ihr näherkommen, vielleicht von ihr lernen. Ich sah in ihr die weise Frau aus einem meiner Kindermärchen, von der es hieß, man sei gesegnet, träfe man sie auch nur einmal im Leben.

Eine Woche später beim Abendessen sagte Mark, er brauche eine Ehepause und ziehe vorübergehend zu Antonia. Ich blieb vollkommen ruhig. Hatte ich eine solche Ankündigung nicht irgendwann erwartet? Sie wunderte mich insofern, als alle meine Beobachtungen, Antonia und Mark betreffend, ergebnislos verlaufen waren. Nie hatte es in der Zeit nach der Vernissage Anzeichen für eine Vertiefung ihrer Beziehung gegeben. Mark war ständig an meiner Seite, machte keine Alleingänge in der Stadt, saß abends mit einem Glas Rotwein auf dem Sofa und schaute sich Krimis an. Manchmal gingen wir aus, gaben für Kunden ein Abendessen. Ich hatte geglaubt, seine Begeisterung für Antonia sei mittlerweile verflogen. Sein Handy, natürlich meldete sich dieses häufig, doch nicht häufiger als sonst, oder etwa doch?

»Was passiert nach deiner Ehepause, wie lange soll sie dauern«, wollte ich wissen.

»Das weiß ich nicht«, sagte er und besah seine Fingernägel.

»Ich kann dir verraten, wie lange sie dauern wird, wenn es dich interessiert«, schlug ich hilfsbereit vor. Mark schaute mich überrascht an, als erwarte er von mir die erste Hochrechnung nach einer Wahl. Gerne wollte er meine Prognose hören.

»Es wird keine Pause geben. Wenn du gehst, dann ist es für immer, jedenfalls was mich betrifft.« Mit gutem Appetit biss ich in mein Käsebrot.

»Warum diese Radikalität«, klagte Mark, »man kann doch die Dinge etwas offener gestalten.«

»Ich nicht, nein, ich kann das nicht, und ich will es auch nicht. Zieh zu Antonia, über die Galerie reden wir später.«

Ich stand auf, bezog in dieser Nacht das Gästezimmer und fand lange keinen Schlaf. Also doch, das Strasssteinchen hatte den Diamanten verdrängt. Paul hatte sich demnach gründlich verschätzt.

Ich dachte an Dirk Feldstein. Er war von der Sache so betroffen wie ich. Was würde er dazu sagen? Dirk hatte Antonia mit anrührender Sorge in das Taxi gesetzt, ihr zuvor in die Schuhe geholfen, das angetrunkene Mädchen gestützt und seine Würde geschützt. Mark hatte im Chor der Männer mitgejohlt. Ausziehen! Natürlich hatten sie die Armmanschette dabei im Auge gehabt, aber im Kopf womöglich anderes. Anzüglich hatte sich das Geschrei auf alle Fälle angehört. Warum hatte Mark an diesem Abend das Mädchen nicht geschont? Dirk hatte es getan. Diese Tatsache hatte mir Dirk nähergebracht. Jetzt tat er mir leid.