Finsterloch - Brigitte Karcher - E-Book

Finsterloch E-Book

Brigitte Karcher

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Beschreibung

Drei Geschichten von Wagnis, unerfüllten Träumen und der Suche nach Veränderung. Sali ist zehn Jahre alt. In seiner Klasse ist er der Kleinste. Seine Mitschüler nennen ihn Stops. Er will das Finsterloch bezwingen, möchte beweisen wie kühn er ist. Acht Abiturienten tun es. Sie sind sich sicher, wenn sie das Licht am Ende der Höhle sehen, beginnt ein neues Leben, dann schaffen sie das auch. Einer von ihnen verschwindet spurlos. Marie, frisch verwitwet, träumte ein Leben lang von ihrem Jugendfreund Hans. Ich hätte den Plassa Hans heiraten sollen statt deines Vaters, gesteht sie ihrer Tochter nach der Beerdigung ihres Mannes. Die Tochter ist schockiert, doch sie macht sich auf die Suche nach dem Jugendfreund. Maja sucht ebenfalls. Sie sucht nach einem Weg aus ihrer Lebenskrise, wartet auf ein Zeichen. Sie braucht eine Auszeit. Helmut ihr Mann versteht das nicht. Er sagt: "Eine Auszeit, was ist das? Geht man einmal raus, kommt man nicht wieder rein. Auszeit ist der Anfang vom Ende."

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INHALT

Finsterloch

Plassa Hans

Fundsache

FINSTERLOCH

Robin hatte die Idee. Morgens um vier Uhr hatte er sie, als Steffen auf seiner Trompete Taps spielte, als wir uns dabei weinend und betrunken in den Armen lagen, als wir begriffen, dass in dieser Nacht eine sehr gute Zeit für uns zu Ende ging. Eltern, Geschwister und Lehrer hatten das Fest verlassen. Steffen spielte Taps, den Zapfenstreich. Wir waren todtraurig. Plötzlich machte sie uns Angst, diese Zukunft. Vor dem Abitur hatten wir von ihr geträumt, leuchtend war sie uns erschienen.

Wir setzten uns in einem Kreis auf den Boden der großen Aula, die Mädchen in ihren langen Abendkleidern, wir in unseren längst abgetakelten Anzügen. Unsere Sakkos hatten wir in eine Ecke des Saales geworfen, unsere Hemden hingen zerknittert über den Hosen, unsere Abi-Krawatten hatten wir uns um den Kopf gebunden. Wir tranken Bier, und einige von uns weinten immer noch.

Wir sangen:

»Day is done, gone the sun,

from the lake, from the hills, from the sky,

all is well, safely rest.

God is nigh.«

Und dann spielte Steffen unausweichlich Il Silenzio, unsere drei Mann Band begleitete ihn. Sie gaben ihr Bestes. Nik stürzte nach draußen und erbrach sich ins Kräuterbeet der Klasse sieben A.

Als unser Weltschmerz immer größer wurde, sagte Robin:

»Ich denke, wir sollten noch einmal durchs Finsterloch kriechen, auf allen Vieren. Wenn wir dann das Licht am Ende der Höhle sehen, beginnt ein neues Leben, dann schaffen wir das auch.«

Beim Frühstück klagte Sali über Bauchschmerzen. Die hatte er selten, doch seit er das Gymnasium besuchte, kam es öfter vor. Er trank Kakao. Nach wenigen Schlucken wurde er bleich. Er sagte:

»Mama, ich glaub, ich muss brechen.«

Er rannte in die Toilette und übergab sich über der Kloschüssel. Pia ging ihm nach.

»Sali, was ist los, hast du dir den Magen verdorben? Gestern Abend hast du viel zu viele Pommes in dich reingestopft.«

Pia zog Sali an sich und wischte mit einem nassen Waschlappen über seinen Mund. Sali drückte seinen Kopf an ihre Hüfte und schlang seine Arme um Pia. Sie standen eine Zeit lang so zusammen. Dann sagte Pia:

»Spül deinen Mund aus Sali, dann geht's dir besser.«

»Und«, fragte Pia, als Sali mit lauwarmem Wasser gurgelte, »geht es besser, was meinst du, oder möchtest du lieber zu Hause bleiben, vielleicht wirst du krank. Wir sollten Fieber messen.«

Sali vermutete krank zu sein und wollte sehr gerne Fieber messen. Er legte sich bereitwillig auf das Küchensofa. Pia schob das Fieberthermometer in sein Ohr und Sali horchte, als flüstere das Thermometer ihm etwas zu. Pia sah auf ihre Armbanduhr, dann nahm sie das Thermometer aus Salis Ohr.

»Kein Fieber«, sagte sie und küsste die Nasenspitze ihres Sohnes. Sie überlegte.

»Du solltest heute trotzdem zu Hause bleiben, die Bauchschmerzen gefallen mir gar nicht, das Brechen auch nicht, wer weiß was du ausbrütest.«

Sali setzte sich auf. Ihm war etwas eingefallen.

»Wir schreiben heute einen Aufsatz, Mama. Wenn ich nicht mitschreibe, muss ich ihn irgendwann nachmittags nachschreiben, das will ich nicht. Ich bring es lieber hinter mich.«

Essen wollte Sali nichts. Pia legte Zwieback in seine Pausenbox, schnitt einen Apfel in dünne Schnitze.

»Du solltest Tee in der Pause trinken statt Milch«, sagte sie. »Gibt es denn Tee an der Theke?«

»Ja, gibt es, Pfefferminztee oder sowas.«

»Dann trink heute bitte Tee, versprichst du mir das?«

»Ja, mach ich.«

Sali zog seine Schuhe an, seine Windjacke. Pia hielt die Schultasche bereit, schob die Träger über seine Schulter und begleitete Sali zur Tür. Er erschien Pia in diesem Augenblick sehr tapfer. An der Tür blieb Sali stehen.

»Mama«, sagte er, »warst du schon einmal im Finsterloch?«

»Ja, früher schon. Es ist lange her. Jeder, der hier daheim ist, kennt das Finsterloch. Warum fragst du?«

Sali sagte: »Nächste Woche, du weißt doch, unser Schulausflug, der geht ins Finsterloch. Herr Schalbier wollte wissen, wer die Höhle bereits kennt. Ich war der Einzige, der sie nicht kennt.«

Pia hätte ihren Sohn jetzt am liebsten zurückgehalten, hätte ihn gerne wieder ins Bett gepackt, zugedeckt, gestreichelt und in den Schlaf gesungen. Wie früher. Sie stellte sich vor, bei ihm zu sitzen, über seinen Schlaf zu wachen und nicht nur darüber. Sie würde ihn gerne beschützen, von morgens bis abends wollte sie ihn beschützen, vor dem Spott seiner Mitschüler, vor Misserfolg, Angst, Unfällen, Krankheit, vor dem Leben. Sie wollte ihn vor dem Leben, das auf ihn zukommen würde, beschützen, denn Sali, ihr Junge, war klein und schmächtig, in der Klasse war er der Kleinste, und alle nannten ihn Stops. Pia war auch nicht groß. Manchmal machte sie sich Vorwürfe, Sali keine guten Gene vererbt zu haben. Sie beschuldigte Salis Vater, auch in dieser Angelegenheit versagt zu haben, denn Salis Vater war ein großer Mann und hatte seine Gene selbstsüchtig für sich behalten statt sie mit seinem Sohn zu teilen. Das war bewiesen. Das hatte der Kinderarzt bestätigt.

Doch nicht nur das hatte Salis Vater seinem Sohn vorenthalten. Seine Liebe hatte er einer anderen Frau geschenkt, als Sali ein Jahr alt war. Da hatte er seinen Sohn verlassen, auf sein Besuchsrecht verzichtet, sehr gerne sogar. Er hatte ganz einfach nichts mehr von ihm wissen wollen, hatte ihn aus seinem Leben verbannt und seine Mutter dazu. Er bezahlte für sein Kind, pünktlich, aber anonym. Pia hatte es Sali genau so erklärt, wie es war. Vielleicht war das falsch, vielleicht blieb Sali deshalb so klein, wer weiß. Oder es lag an Romeo und Julia auf dem Dorfe. Gottfried Keller, der Dichter, ein Mann von kleinem Wuchs, hielt Pias Gemüt auf längere Zeit mit fast magischer Energie während ihrer Schwangerschaft besetzt. Ihrem Kind den Namen Sali gegeben zu haben, erschien ihr aus jetziger Sicht bescheuert. Heute würde sie einen kernigen Männernamen wählen wie Mark, Falk, Erik oder Leo, und sich nicht von Gottfried Kellers Dorf-Romeo Sali verzaubern lassen. Jener Sali war mit seinem Vrenchen im Fluss ertrunken. Aus Liebe, in beiderseitigem Einvernehmen. Eine aufwühlende Geschichte, die sie für ihre Examensarbeit gewählt hatte. Zwei Tage vor Salis Geburt hatte sie ihre Arbeit eingereicht und beschlossen, wenn sie dafür eine Eins bekäme, einem Jungen den Namen Sali zu geben, ein Mädchen sollte ein Vrenchen sein.

Sali sagte: »Bis dann« und stapfte mit hängendem Kopf die Treppe runter. Pia brach das Herz wie jeden Morgen, wenn sie ihrem Jungen hinterher sah. Wenn sie ihn loslassen musste, ihm nicht dabei helfen konnte das zu tun, was er tun musste, was von ihm erwartet wurde. Ihr Vater sagte:

»Du musst ihm helfen, ein Mann zu werden. So wie du ihn bemutterst, wird das nicht klappen, Pia.«

Sie trank noch eine Tasse Kaffee und rief ihren Vater an.

»Hör mal, Papa, der Schalbier will mit der ganzen Klasse durchs Finsterloch kriechen. Der hat sie doch nicht alle. Sali war noch nie im Finsterloch. Wie soll das gehen?«

Pias Vater war ein pensionierter Gymnasiallehrer und ehemaliger Kollege von Heinz Schalbier, Salis Klassenlehrer. Er beruhigte seine Tochter.

»Was ist so aufregend daran. Sei doch froh, wenn Sali Gelegenheit bekommt, seinen Mut zu beweisen. Ich kann jedenfalls nicht mehr mit ihm in die Höhle, und der Schalbier weiß, was er tut. Vertrau einfach mal den Leuten, die deinen Sohn unterrichten. Ein kleines Abenteuer gehört nun mal zur Entwicklung Heranwachsender.«

»Aber Sali ist noch so klein. Er ist der Kleinste von allen, er ist ja noch gar kein Heranwachsender, er ist ein Kind. Sie hänseln ihn, bei seinen Mitschülern ist er der Stops.«

Und dann weinte sie.

»Piamädchen«, sagte der Vater, »wenn er durch die Höhle kommt, wird er wachsen.«

Später rief sie Alex an. Alex hatte mit Pia zusammen Germanistik studiert, zur selben Zeit das Examen gemacht. Alex arbeitete als Korrektor für einen Verlag, schrieb Artikel für das Regionalblatt und hielt Literaturkurse an der Volkshochschule. Pia unterrichtete Deutsch an der Fachakademie für Erzieher*innen. Drei Tage in der Woche erarbeitete sie mit zukünftigen Kindergärtner*innen Gedichte, Märchen und Kinderbücher. An diesen Tagen betreute ihr Vater seinen Enkel. Er half ihm bei den Hausaufgaben, sie bastelten zusammen, spielten Mühle, gingen im Sommer manchmal Eis essen.

Pia und Alex waren befreundet, beide geschieden, das verband sie. Alex verstand sich sehr gut mit Sali. Er sagte:

»Sali ist momentan noch kleiner als seine Mitschüler, aber nicht im Kopf, Pia, nicht im Kopf.«

Ab und zu machten sie am Wochenende Ausflüge zu dritt. Das gefiel Sali, das gefiel Pia und Alex sowieso. Er hätte sich eine festere Bindung zwischen ihnen gewünscht, aber Pia fand es gut so wie es war. Sie hatten darüber gesprochen, offen und in aller Freundschaft. Also war es geblieben, was es bisher war, eine Beziehung auf Abstand, mit gegenseitiger Unterstützung und Zuwendung.

Pia sagte:

»Hallo, Alex, sag, hast du am Wochenende Zeit? Ich möchte am Sonntag mit Sali das Finsterloch bezwingen. Aber ich möchte es nicht allein tun, ich wäre beruhigt, wenn du dabei wärst. Ginge das für dich?«

»Am Wochenende, warte mal«, überlegte Alex. Pia hörte ihn in seinem Tischkalender blättern.

»Sonntag, Sonntag, Sonntag«, murmelte er. »Du, das geht. Zum Glück fällt eine Seniorenveranstaltung aus, der monatliche Tanz-Kaffee, du weißt schon. Ich hätte fürs Blättchen darüber schreiben müssen. Genau, er ist gestrichen, also wann treffen wir uns?«

Pia schlug vor, Alex am Sonntag gegen elf Uhr abzuholen.

»Wir können nach dem Durchstieg an der Hütte essen. Ich lade dich ein. Alex, ich bin so erleichtert, dass du mitkommst. Sali soll nächste Woche auf dem Schulausflug in die Höhle gehen. Er ist der Einzige in seiner Klasse, der sie noch nicht kennt. Ich will einfach nicht, dass er sich vor seinen Mitschülern blamiert, womöglich weint, du kennst ihn ja, er ist ängstlich. Sie sagen Stops zu ihm.«

Alex machte ein Geräusch als platze ein Luftballon auf seinem Tisch.

»Was machst du da«, fragte Pia, »was war das eben?«

»Was denkst du, was es war, rate mal«, sagte er. Pia sagte:

»Es hörte sich an, als platze ein Luftballon oder so.«

»Es war ein Luftballon«, sagte Alex. »Er eiert schon seit vorgestern auf meinem Schreibtisch herum. Jetzt war er fällig. Ich hatte Lust irgendwo rein zu stechen. Der Stops machte mich wütend. Pia, wir kriegen das hin am Sonntag, verlass dich darauf, wir kriegen es hin.«

Gegen Mittag stellte Pia Kartoffeln auf den Herd und ließ sie leise köcheln. Sie legte gefrorene Hackbällchen in eine Pfanne und taute sie bei schwacher Hitze auf. Sie putzte Karotten und schnitt sie in längliche Stifte. In einem Topf erhitzte sie Butter und gab die Karottenstifte dazu, etwas Salz, etwas Zucker, löschte mit Wasser ab und ließ das Gemüse schmoren. Sie erwartete ihren Vater zum Mittagessen. Heute war Opatag.

Zuerst kam Sali. Er stolperte geräuschvoll in den Flur und ließ seine schwere Schultasche von der Schulter gleiten. Er rief:

»Ist Opa schon da?«

Dann verschwand er in der Toilette. Pias Vater kam, als Sali sich die Hände wusch.

»Opa, ich bin gleich bei dir«, rief er durch die geschlossene Toilettentür. Er spülte zum zweiten Mal ab, das tat er immer, warum wusste er selbst nicht, er konnte es Pia auch nicht erklären, es musste sein. Er riss die Klotür auf und hing an seinem Opa. Er bettelte.

»Lernst du mir heute Schach, du hast es mir versprochen, bitte, Opa, Schach, Schach, Schach.«

»Wir werden sehen«, sagte Pias Vater.

»Und, geht's dir besser, hast du Tee getrunken, keine Bauchschmerzen?«

Pia befühlte Salis Stirn. Sali griff sich an den Bauch.

»Alles gut, Mama, mir geht's gut.«

»Und der Aufsatz, wie lief es mit dem?«

Ihr Vater sagte: »Oh, ein Aufsatz, das ist ja interessant.«

Zwei Germanisten am Esstisch konnten kaum erwarten zu hören, was Sali mit dem Thema angestellt hatte.

»Ach«, sagte Sali, »das Thema war total langweilig. Es hieß ‚Ein Regentag‘. Ich wusste zuerst gar nicht was ich schreiben sollte.« Er schubste ein Hackbällchen mehrmals gegen eine Kartoffel und ließ es von der Gabel in den Teller plumpsen.

»Und dann ist dir womöglich doch noch etwas eingefallen, oder«, fragte der Opa.

»Na ja«, sagte Sali, »irgendwann schon, aber nichts Besonderes, nur so Regenkram.«

Mehr war nicht zu erfahren. Es gab noch Nachtisch. Pia hatte Bananen mit einer Gabel zerdrückt und unter steif geschlagene Sahne gerührt, ein bisschen Raspel-Schokolade darübergestreut. Ihr Vater aß das gern, ein Rezept seiner verstorbenen Frau.

»Mamas Bananensahne«, sagte er und lächelte.

Für Pia wurde es Zeit. Sie packte ihre Tasche und wechselte die Schuhe. Zur Fachakademie ging sie in höheren Absätzen. Sie achtete auf ihre Erscheinung, setzte auf einen Hauch Eleganz. Sie tat es für sich, auch ein bisschen für die Student*innen, aber vor allem für sich. Die Arbeit an der Akademie bedeutete ihr viel. Sie unterrichtete gern, schätzte aber die Zeit in den Seminaren vor allem als eine Auszeit von der häuslichen Enge, den Pflichten, dem Alleinsein. Sie hatte sich die Lippen geschminkt, Lidstriche gezogen.

»Schöne Mama«, sagte Sali, »allerschönste Mama.«

Pia küsste ihn und hinterließ eine winzige Spur Rot auf seiner Backe. Sie umarmte ihren Vater.

»Papa, Sali hat sich heute Morgen erbrochen, er hatte Bauchschmerzen, aber kein Fieber. Trotzdem, es könnte sein, dass noch ein Fieber kommt. Ich sag das nur, damit du Bescheid weißt, okay?«

»Alles gut, wir schaffen es. Und hab einen schönen Nachmittag.«

Sali machte seine Hausaufgaben sehr selbständig, selten bat er um Hilfe, doch heute trieb ihn etwas um. Er konnte sich nur schwer konzentrieren. Er bog seinen Radiergummi mehrmals in Halbmondform und ließ ihn aus den Fingern schnellen. Er spitzte gedankenverloren seinen Bleistift einen Zentimeter kürzer, spielte mit den Fingern direkt vor seinen Augen, als entdecke er soeben ihre Beweglichkeit.

»Opa«, sagte er, weißt du, wie lang das Finsterloch ist, weißt du es?«

Der Opa las Zeitung und tat, als ließe er sich ungern dabei stören. In Wahrheit musste er nachdenken. Er hatte das Gefühl, dass von seiner Antwort viel abhinge, dass sich jetzt entscheiden könnte, wie Sali sein Leben meistern würde, und dass er als Opa Verantwortung dafür trage. Er sagte: »Ich weiß es nicht mehr. Da müsste ich jetzt nachschauen, aber mein schnellster Durchgang dauerte sechsundvierzig Minuten, ich habe das gestoppt.

»Du hast es gestoppt?«

»Ja, ich bin als Junge mehrmals durchgekrochen, und Uhren gab es zu meiner Zeit auch. Später ging ich nicht mehr rein. Weißt du, am leichtesten ist es für Kinder. Wer kleiner ist, braucht sich nicht zu bücken, der kann bis auf eine sehr niedere Stelle aufrecht gehen.«

Sali überlegte: »Dann ist es gut für mich, jetzt in die Höhle zu gehen, jetzt bin ich noch nicht so groß.«

»Ganz genau, jetzt ist der beste Zeitpunkt für dich«, sagte Pias Vater.

Er faltete die Zeitung zusammen. Er sagte:

»Du stehst zuerst in einer kleinen Vorhalle. Du hast eine Taschenlampe dabei, am besten eine kräftige Stablampe, du kannst meine haben. Die Wände in der Vorhalle sind immer feucht. Am Ende der Halle siehst du eine dunkle Öffnung, dort beginnt der Tunnel. Du gehst da rein. Im Tunnel kannst du noch gehen, große Leute müssen sich bücken. Irgendwann erreichst du die sogenannte Treppe. Über Steinblöcke geht es abwärts, recht steil, dann macht der Tunnel eine Kurve, danach kommt das Nadelöhr. Also jetzt musst du kriechen. Alle kriechen, die Kleinen und die Großen, auf allen Vieren krabbelst du durch. Manche ziehen Handschuhe an. Die Taschenlampe klemmst du dir in den Hosenbund, sehen musst du hier nichts, du kannst einfach nur vorwärts krabbeln, kannst dich nicht verirren. Der Tunnel wird jetzt weiter, höher. Du kannst aufstehen, deine Taschenlampe nehmen. Ganz gemütlich geht es vorwärts. Versuch mal laut zu rufen, das klingt seltsam in der langen Röhre. Du gehst und gehst und plötzlich wird es heller. Du siehst das Licht am Ende des Tunnels, es ist fantastisch, du gehst auf das Licht zu, du bist durch.«

Salis Finger hatten aufgehört zu tanzen.

»Oh Mann, Opa, ich will da unbedingt rein, Wahnsinn. Ich gehe mit Alex am Sonntag zum Rotenstein. Mama kommt auch mit. Aber die beiden werden es schwerer haben als ich. Wissen sie das?«

»Du gehst mit Alex am Sonntag ins Finsterloch? Das wusste ich nicht, na sowas. In dem Fall bring ich dir gleich morgen die Taschenlampe mit. Dann kannst du deiner Mama den Weg ausleuchten. Der Alex hat sicher seine eigene Lampe dabei. Ja, du wirst es sehr viel leichter haben als die beiden, aber das wissen sie. Sie dürfen sich gerne mal ein bisschen anstrengen, das schadet ihnen nicht, es gehört dazu, hinterher erholt man sich bei einem Bier an der Hütte.«

»Ich esse dann ein Eis«, sagte Sali. Er beugte sich über sein Schulheft und begann zu rechnen.

Sali packte seinen kleinen Rucksack schon am Samstag. Eine Tüte Gummibärchen, ein Taschenmesser, seinen Kompass, ein Geburtstagsgeschenk von Alex und eine Rolle Drachenschnur. Mehr nahm er nicht mit. Pia würde noch gekochte Eier und Äpfel dazulegen, sie hatte angekündigt, den Rucksack zeitweise zu tragen. Aber Sali hatte das abgelehnt. Die Taschenlampe seines Opas steckte er griffbereit in eine Außentasche. Dann dachte er nach. Er fragte sich, ob es sinnvoll sei, mit einem Rucksack durch das Nadelöhr zu kriechen. Er besprach das mit Pia. Sie sah da kein Problem.

»Alex und ich kriechen auch und stoßen nicht an der Decke an. Da ist bei dir samt Rucksack noch genügend Luft nach oben.«