Marswind - Brigitte Karcher - E-Book

Marswind E-Book

Brigitte Karcher

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Beschreibung

"Der Junge hat die falschen Interessen", sagt Gunter der Vater, Violinist im Landesorchester. "Was nützt es denn, ständig im Internet auf einen Planeten zu starren, der lebensfeindlicher nicht sein kann. Hier auf der Erde spielt die Musik." Karli ist neun Jahre alt und davon überzeugt, als erster Mensch den Mars zu betreten. Nach Pasadena hat er schon geschrieben. Die Nasaleute antworteten. Sie waren begeistert von seinem Wunsch. Seine Eltern sind genervt. Auch Henni hat Mühe, ihre Vorliebe für einen besonderen Kunden anderen begreiflich zu machen. "Verliebe dich nicht in einen Greis, die Freude ist kurz und der Kummer lang", warnt eine Freundin, die denkt, dass Henni nicht mehr alle hat. Isa gewinnt im Provence-Urlaub eine tiefgreifende Erkenntnis, und Lili will einfach nur mal wieder raus, feiern, um die Häuser ziehen, abtanzen, pennen. "Das sollte doch wohl möglich sein, oder?", fragt sie ihren kleinen Sohn. Vier Erzählungen, an deren Ende nicht alles gut ist, aber in Zukunft werden kann.

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INHALT

Marswind

Tisch für Zwei

Eine andere Zeit

Einfach mal raus

Marswind

Mein Neffe Karli ist neun Jahre alt, verstörend klug und auf dem Weg zum Mars. Nicht, dass er sich etwa auf einem Direktflug oder in einer Umlaufbahn zum roten Planeten befände. Davon kann keine Rede sein. Bislang findet dieses Unternehmen nur in seinem Kopf statt, dafür pausenlos und detailliert. Die Realität sieht anders aus und Karli weiß das.

»So weit sind wir noch nicht, die Nasa und ich. Aber«, sagt Karli, »wir arbeiten daran, und wenn es soweit ist, werde ich beim ersten bemannten Flug zum Mars in der Landekapsel sitzen. Bill Holy hat es mir versprochen.«

In fehlerfreiem Englisch hatte Karli einen Brief nach Pasadena geschickt. Über seinem Bett hängt die Antwort, hinter Glas und gerahmt, ein Versprechen vom Leiter des Kontrollzentrums.

»Dear Karli«, schreibt der Chef des Marsteams, »wir sind begeistert über dein Interesse an unserer Arbeit und laden dich nach Pasadena ein. Komm einfach vorbei und mach dir ein Bild vom Fortgang unserer Arbeit. Mit dem Start zum Mars wird es noch eine Zeit lang dauern. Noch gibt es Probleme, die wir lösen müssen, das weißt du ja. Du hast also Zeit, dich vorzubereiten. Halte dich fit, denn wenn es soweit ist, werden wir an dich denken. Die Crew grüßt herzlich. Dein Bill.«

Karlis Mutter, meine Schwester Linde, findet es nicht gut, welche Flausen die Nasaleute ihrem Sohn in den Kopf setzen.

»Ist ja gar nicht ernst gemeint«, sagt Linde, »die Amis lieben halt Kinder und machen gerne Spaß. Die denken nicht daran, dass kleine Jungen verrückte Visionen haben und darum alles glauben, was man ihnen erzählt.«

Karlis Vater, mein Schwager Gunter, sagt: »Der Junge hat die falschen Interessen. Wohin soll es führen, ständig auf einen Planeten zu starren, der lebensfeindlicher nicht sein kann. Hier auf unserer Erde spielt die Musik, nicht dort oben in Gott weiß wie vielen Kilometern Entfernung.«

»Papa«, sagt das Kind, »es sind bei günstigster Annäherung zur Erde sechsundfünfzig Millionen Kilometer.«

Linde und Gunter sind Mitglieder im Landesorchester. Linde spielt Cello, Gunter Violine. Während ihrer Konzertreisen versorge ich Karli, und das seit seinen ersten Lebenswochen. Karli ist so gesehen auch mein Kind. Von Anfang an war ich mit an Bord, was Karlis Betreuung betraf. Linde und Gunter finden das gut und entlastend und mir bedeutet es viel, dieses Kind zu erleben. Als Karli schwer erkrankte, waren seine Eltern mit ihrem Orchester in Kalifornien. Er war damals drei Jahre alt, bekam plötzlich hohes Fieber, eine feuerrote geschwollene Zunge und war nicht mehr ansprechbar. Er wimmerte wie ein junges Kätzchen auf der Suche nach Milch. Ich war entsetzt und rief den Notarzt. Dieser nahm uns beide mit. Mit Blaulicht fuhren wir zur Klinik. Dort besserte sich Karlis Zustand erstaunlich rasch. Zwei Tage hing er an einem Tropf, fiebernd, matt, schläfrig. Am dritten Tag saß er in dem großen Krankenhausbett wie auf einer freundlichen Insel und verzauberte Schwestern und Ärzte, die sich gerne trotz Zeitmangels zu ihm setzten. Seine immer leicht verschwitzten Löckchen wurden von den Pflegerinnen liebevoll gestreichelt, vorsichtig gebürstet, die nackten Füße massiert. Karli lachte, klatschte in die Hände.

Die Ärzte sprachen von einem Kawasaki-Syndrom. Eine selten auftretende Erkrankung in unserem Lebensraum, eher bekannt in Japan.

»Karlis Eltern reisen mit ihrem Orchester um die halbe Welt, vor einem Jahr waren sie in Japan«, erklärte ich eifrig, »könnte es sein…?«

Interessant, sagten die Mediziner, doch nein, eine Ansteckung sei unwahrscheinlich, man gehe von einer genetischen Veranlagung aus. Die Krankheit träfe vor allem Kinder. Früherkannt und behandelt würden sie wieder ganz gesund. Trotz der schnellen Besserung sollte vorsorglich ein Kinderkardiologe Karlis Herz untersuchen. Im schlimmsten Fall könne die Krankheit die Herzgefäße schädigen, das wolle man ausschließen.

Ich telefonierte mit Gunter und Linde. Die beiden waren schockiert. Vertraglich waren sie ans Orchester gebunden und sahen keine Möglichkeit für einen vorzeitigen Rückflug. Sie beruhigten sich, als ich sagte, Karli ginge es gut, und ich schlafe bei ihm im Krankenzimmer.

»Mona«, sagte Gunter, »wenn wir dich nicht hätten!«

»Ihr habt mich aber, und das ist gut so, auch für mich.«

Karli wurde gesund, das kleine Herz hatte offensichtlich keinen Schaden genommen. Der Kardiologe versuchte uns zu beruhigen. Doch Linde war verunsichert, überlegte halbherzig, die Orchesterarbeit aufzugeben.

Ich erschrak. »Linde«, sagte ich, »denk nach. Ständig zu Hause zu sitzen, das schaffst du nicht. Ohne das Orchester bist du kein zufriedener Mensch. Für Karli wäre eine unglückliche Mutter auch kein Segen, außerdem geht es dem Kleinen gut, das weißt du und siehst es ja.«

Ich empfände Lindes ständige Anwesenheit als eine Zumutung mit ihrem stundenlangen Cellospiel, ihren übertriebenen Ängsten und ihren Ansprüchen an mich und ihre persönlichen Bedürfnisse. Ich war froh, dass meine kleine verwöhnte Schwester in diesem Orchester aufgeräumt war, gewissermaßen betreut von einer eingespielten Gemeinschaft, in deren Gesellschaft sie niemals das Gefühl hatte, sich an einem Arbeitsplatz zu befinden.

Ich kannte meine Schwester und wusste, was ihr wirklich wichtig war. Sie ist zehn Jahre jünger als ich. Als sie zur Welt kam, stand ich vor einem zarten Winzling und wagte nicht, die blaugeäderten Händchen anzufassen. »Greif nur fest zu«, sagte meine Mutter, »deine Schwester ist vollkommen gesund. Babys mögen eine feste Hand, die gibt ihnen Sicherheit.«

Gesund war die kleine Linde, doch sie blieb ein Winzling und wirkte sehr zerbrechlich. Ihre feinen blonden Haare wehten beim geringsten Lufthauch auf wie lose Spinnfäden. Ihre helle Haut vertrug keine Sonne. Ständig trug sie einen bunten Stoffhut mit breitem Rand. Als sie zu sprechen begann, piepste sie wie ein kleiner Vogel, doch was sie sagte war deutlich und fehlerfrei formuliert. Sie sagte Mona, nicht Mama. Mona war ich.

Ich beschützte meine Schwester sobald sie auf ihren dünnen Beinen stand. An meiner Hand ging sie in den Kindergarten, zur Schule. Sie war meine Elfe, mein Märchenkind, meine Prinzessin. Ich nähte ihr ein Mondscheinkleid aus weißem Tüll, setzte ihr Kränzchen ins Haar. An Weihnachten war sie unser Engel. Ich bastelte Flügel mit Trägern, die sie wie einen kleinen Rucksack auf dem Rücken trug.

Verglichen mit Linde war ich ein großes stämmiges Mädchen mit kräftigen Armen und Beinen. Im Sommer bräunte meine Haut sogar im Schatten. Ich trug meine Schwester, wenn sie auf Wanderungen müde wurde, auf meinem Rücken, oder rannte mühelos mit dem Kind auf dem Arm unseren Eltern davon, oft bis zum Parkplatz, auf dem unser Auto stand.

»Was du für eine Kraft hast«, staunte mein Vater, der keuchend hinter uns herkam.

Linde wurde von allen geliebt, obwohl sie niemandes Freundschaft suchte. Es war, als genüge sie sich selbst. Beobachten und zusehen schätzte sie mehr als irgendwo mitzuwirken. Sie lernte leicht, war aufmerksam im Unterricht, doch danach wirkte sie erschöpft und verträumt. Ihre Lehrer dämpften die Stimme, wenn sie mit ihr sprachen. Ihre Mitschülerinnen suchten trotz Lindes Zurückhaltung ihre Nähe. Eine Musiklehrerin erkannte als erste ihre Musikalität. Eine Eins in Musik hatte es bisher in unserer Familie noch nie gegeben. Ein Cello auch nicht. Eines Tages löste sich Linde aus meinen Beschützer armen und stellte sich neben ein neues Cello wie zu einem Freund, der ihr ein ganz anderes Leben versprach als jenes, das sie kannte.

Es gibt ein Foto von diesem Augenblick. Linde, kaum größer als das Instrument, in einem hellblauen Sommerkleid, legt ihren Arm um den Cellohals. Wenn ich das Bild heute anschaue, kommt es mir vor, als lassen frisch Verlobte grüßen. Die Beiden hatten sich gefunden, das kann ich sehen.

Zum Cello gesellte sich später Gunter mit seiner Violine. An der Musikhochschule lernten sie sich kennen. Gemeinsam bewarben sie sich nach ihrem Diplom beim Landesorchester und erhielten einen langjährigen Vertrag. Sie waren fortan zu viert, Linde, das Cello, Gunter und die Violine. Sie lebten in einer kleinen befriedeten Welt, ihren Instrumenten und ihrer Musik verfallen, abgeschieden vom Trubel und den Plagen des Alltags, im Oberstock unseres Elternhauses, einer kleinen Vorstadtvilla. Sie fuhren in ihrem Kleinstauto zu den Orchesterproben, fieberten den Konzerten entgegen, gingen danach wie auf Wolken im Garten auf und ab, auch spät in der Nacht.

Das Erdgeschoss war mein Revier. Dort übersetzte ich Gebrauchsanweisungen in verschiedene Sprachen, Touristikinformationen, manchmal Bücher. Ich kochte für uns alle, putzte meine und auch Lindes Wohnung, pflegte den Garten.

Linde sagte: »Wieviel Kraft du nur hast,« und sah mir beim Rasenmähen zu.

Und dann kam Karli.

Hätten zu der Zeit meine Eltern noch gelebt, wäre es ihnen als ein biologisches Wunder erschienen, dass ihr überzartes Mädchen einen solch kraftstrotzenden Jungen zur Welt bringen würde. Das hätten sie wohl eher mir zugetraut. Linde selbst starrte auf ihr Kind wie auf ein außerirdisches Wesen.

»Mona«, sagte sie irritiert, »ich weiß nicht.«

»Was weißt du nicht?«

»Na ja, schau ihn dir doch an.«

»Was meinst du«, sagte ich, obwohl ich wusste, was sie meinte.

Sie nahm das Baby nicht in die Arme. Sie betastete es wie eine unerwartete Postsendung, vorsichtig prüfend, was unter der Verpackung zum Vorschein kommen würde. Womöglich etwas Explosives? Linde hatte das immer getan. Ihre sorgfältig verschnürten Geburtstagsüberraschungen wurden von ihr zunächst beklopft, betastet, abgehorcht. War der Inhalt hart oder weich, gab er Geräusche von sich, ein Rasseln, einen Klang? Mit dem Auspacken hatte sie sich Zeit gelassen, als genieße sie vor allem die Vorfreude auf etwas Unbekanntes.

Doch dieses Geschenk wollte sie nicht haben. Es schrie und beleidigte ihr absolutes Gehör.

»Mona, kannst du das Kind beruhigen? Trag es doch ein bisschen hin und her«, sagte meine Schwester und zog sich die Bettdecke über den Kopf.

Als Gunter seinen Sohn sehen wollte, fand er ihn in meinen Armen.

Und alles wiederholte sich. Als Karli auf kurzen festen Beinen stand, lief er auf mich zu und sagte: »Monamam«. Seine Eltern sah er selten. Nach anstrengenden Probentagen waren Linde und Gunter am Abend nicht mehr in der Lage, mit ihrem Kind zu spielen. Im Schlafanzug trug ich ihn nach oben und reichte ihn Linde und Gunter zum Gutenachtkuss. Gunter legte seinen Sohn ins Bett, sagte: »Schlaf gut und träum was Schönes«, und überließ den letzten Akt des Abendrituals gern der Tante. Seine Einschlafgeschichte hörte Karli von mir, angereichert mit englischen, französischen oder spanischen Wörtern, die er nie vergaß und tagsüber sinngenau einsetzen konnte. Ich wunderte mich schon damals über sein Gedächtnis.

Die meiste Zeit verbrachte er in meiner Wohnung. Er ging mir gerne zur Hand, verstreute Mehl, am liebsten Linsen und schlug für den Kuchen Eier auf. Mit seinen dicken Händchen rührte er in der gelben Soße und ließ diese durch seine Finger laufen. Wir arbeiteten gemeinsam im Garten. Er grub kleine Löcher in den Boden und legte Schneeglöckchenzwiebeln hinein, häufelte Erde darüber und wartete gespannt, was passieren würde. Wenn seine Eltern auf Reisen waren, zeigte er mir die Sternbilder am Nachthimmel. Er kannte sie aus einem Bilderbuch, auch die Namen einiger Planeten.

»So weit weg sind die«, sagte er und formte mit seinen Händen eine Guckröhre vor den Augen.

»Der Mond ist nicht so weit entfernt«, sagte ich, »dort waren schon Menschen und hüpften herum. Eine Fahne steckten sie auch in den Mond.«

»Dort oben weht eine Fahne?« Karli war starr vor Staunen und sah in einen besonders großen rotleuchtenden Vollmond.

»Heute ist Blutmond«, sagte ich, »da schickt die Sonne besondere Strahlen zum Mond, die ihn rot färben.« Karli schwieg. Er schaute in die geheimnisvolle Himmelslaterne und atmete schwer.

Wenn ich Texte übersetzte, saß er in meiner Nähe auf dem Boden und legte Puzzles. Ich spielte das Wortfinde-Spiel. »Karli, hilf mir. Wie heißt das Wort für Wolke in Englisch?« Natürlich wusste ich es, aber Karli wusste es auch. »Cloud«, sagte er, ohne von seinem Puzzle aufzusehen.

Er ging an meiner Hand in den Kindergarten und in die Schule. Zu seinem sechsten Geburtstag schenkte ihm Gunter eine Violine. Linde und Gunter standen erwartungsvoll neben seinem Gabentisch. Karli öffnete den Instrumentenkoffer und griff nach der Geige. Er besah sich Vorder- und Rückseite, klopfte auf die Geigendecke, den Boden, schaute durch die kunstvoll geschwungenen Schlitze des Klangkörpers in sein Inneres.

»Warum bekomme ich eine Geige«, sagte Karli.

»Es ist wichtig, früh mit einer Sache zu beginnen, wenn man sie gut machen will«, sagte Gunter, und Linde nickte ihrem Jungen ermunternd zu.

Karli legte die Geige in den Koffer zurück.

»Dann möchte ich lieber einen Computer«, sagte das Kind.

Karlis kleiner Schreibtisch steht seit seiner Einschulung in meinem Arbeitszimmer. Das ist praktisch für uns beide. Karli liebt es, in meiner Nähe seine Schularbeiten zu schreiben. Ich liebe unsere anregenden Gespräche zwischendurch, die kleinen Pausen mit Kaffee und Saft, und seine Eltern wissen ihn bestens betreut. Zudem fürchten sie sich vor Fragen ihres Sohnes, die sie nicht beantworten können. Das überlassen sie gerne mir. »Mama und Papa wissen das nicht«, sagt Karli aus Erfahrung. Außer Partituren und Notenblätter lesen die beiden fast nichts. Papier, das nicht mit Noten oder musikgeschichtlichen Daten bedruckt ist, hat für sie keinen echten Wert. Ihr einziges Interesse gilt der Perfektionierung ihres Spiels, dem Training, der Höchstform. Sie wollen mitspielen, nicht mitreden, nicht in politische Diskussionen verwickelt sein oder mit philosophischen Überlegungen glänzen. Ihr Wissensniveau stammt noch aus der Schulzeit, doch das stört sie nicht. Ein Buch zu lesen kostet Zeit, die sie sich nicht nehmen, weil sie ihnen vergeudet erscheint. Taucht ein lesenswerter Roman am literarischen Himmel auf, hochgelobt und preisverdächtig, tröstet sich Linde mit der Aussicht auf dessen Verfilmung.

»Ich warte, bis die Geschichte im Fernsehen läuft, da ist das Thema in einer guten Stunde durch.«

Bei Small Talk auf Empfängen ihres Orchesters im In- und Ausland erwähnen sie aber doch ganz gerne ihren Bildungsgrad, der, sieht man von ihrem Fachdiplom ab, mit der Matura seinen Abschluss gefunden hatte. Das verschafft ihnen manchmal Anerkennung, ohne dass sie etwas beweisen müssen. Linde erzählt bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass es ihr größter Wunsch gewesen sei, auf eine Musikhochschule zu gehen.

Sie sagt: »Damals, nach der Matura, hatte ich nur eines im Kopf, ich wollte mein Cellospiel perfektionieren.«

»Sie haben das Abitur?« bewundert sie ein Bildhauer, der sein Können einer Steinmetzlehre verdankt.

Nach den Schularbeiten startet Karli seinen Computer. »Ich fahr jetzt mal mein Notebook hoch«, meldet er und öffnet die geheimnisvolle Welt des Internets. Das dauert ein bisschen, dann hör ich Karlis »Boh«, und ich weiß, dass seine Landung auf dem Mars wieder einmal gelungen ist.

»Sieh mal Mona, dieser Berg ist etwa fünfundzwanzigtausend Meter hoch. Es ist der Olympus Mons.«

Ich stehe auf und schaue über Karlis Schulter auf seinen Bildschirm. Ein breiter Höhenzug erhebt sich aus einer rötlich schimmernden Ebene, die sich in flachen Terrassen und Mulden ins Unendliche auszubreiten scheint. Ein kühler Schauer streift meinen Rücken. Ich stecke meine Nase in Karlis Locken, blase in den weichen Pelz auf seinem Kopf.

»So hoch sieht der Berg gar nicht aus, er erinnert mich an einen aufgegangenen Hefeteig oder an eine Schildkröte«, sage ich und denke an das spitze Matterhorn. Karli lacht.

»Mona, das ist nicht so blöd, was du sagst. Man nennt diese Art Vulkan tatsächlich Schildvulkan, man weiß aber nicht, ob er noch aktiv oder längst erloschen ist.« Karli bedient sich, wenn möglich, einer angemessenen Fachsprache.

»Und von welchem Punkt aus wird seine Höhe gemessen, es gibt ja dort oben keinen Meeresspiegel«, frage ich mit wachsendem Interesse.

Karli weiß auch das.

»Man misst vom mittleren Planetenniveau aus, dem Nullpunkt. Da ergibt sich eine Höhe von zweiundzwanzigtausend Metern, von der umliegenden Tiefebene aus gemessen sechsundzwanzigtausend Meter. Und Mona, stell dir vor, das Ding hat einen Durchmesser von sechshundert Kilometern, eine Strecke etwa von München bis Berlin. So ein Berg passte überhaupt nicht in unser Land. Er wäre viel zu groß.«

»Ich kann es mir nicht vorstellen, ich finde das unheimlich, irgendwie zum Grausen,« sage ich und lege meine Wange an seinen wuscheligen Schopf. Karli schnurrt wie eine Katze und zieht den Kopf zwischen die Schultern.

»Jaha, gemütlich ist es nicht da draußen im All, das sag ich dir. Dafür wahnsinnig spannend, einfach total aufregend. Sieh doch!« Karli deutet mit der Spitze seines Bleistifts auf den bandartigen schmalen Sockel des Riesen, der an einigen Stellen breite Abbrüche zeigt.

»Was glaubst du denn, wie hoch der Fuß des Berges ist, ich meine seine Steilkante, schätze mal.«

»Na ja, wenn das Massiv selbst schon so hoch ist, vielleicht dreitausend Meter.«

Ich stelle mir die Höhe der Zugspitze vor. Karli macht es spannend, wackelt mit dem Kopf.

»Mona«, sagt das Kind, »allein die Kante ist sechstausend Meter hoch, sechstausend Meter.«

»Das ist Micha, mein Freund. Er sitzt in der Schule neben mir. Er hat kein Notebook und will mal den Mars sehen«, sagt Karli.

Micha ist kleiner als Karli und mager. Das Schild seines Baseballkäppis verdeckt lässig sein linkes Ohr. Ein Netz mit einem Fußball hängt über seiner rechten, ein schwer beladener Schulranzen über der linken Schulter. Wie von selbst gleitet dieser an seinem dünnen Arm zu Boden.

»Du interessierst dich fürs Weltall?« Ich bin überrascht. Statt seiner nickt Karli begeistert und nimmt Michas Hand.

»Ja schon«, sagt Micha, »aber auch noch für Fußball und Gleitschirmfliegen.«

Ich staune. »Du fliegst mit deinem Papa im Gleitschirm mit?«

»Nein, mein Papa kann das nicht. Aber wir schauen manchmal zu. Er fährt mit mir auf die Rossalpe. Da schauen wir den Gleitschirmfliegern zu.«

»Ach, so ist das.« Plötzlich packt mich eine unerwartete Rührung. Erwartungsvoll schauen die Jungen zu mir auf. »Na, dann schau dir mal den Mars an, das ist auch sehr spannend.«

Karli holt Saft aus der Küche, ich spendiere einen Teller mit Eiswaffeln. Dann sitzen sie an Karlis Schreibtisch und ich verziehe mich mit einem Buch auf die Terrasse, sitze direkt vor dem geöffneten Fenster meines Arbeitszimmers.

»Wem gehört denn der große Schreibtisch?« höre ich Micha fragen, während ihm Karli die Probleme einer punktgenauen und sanften Landung auf dem roten Planeten erklärt.

»Der gehört Mona. Wir arbeiten zusammen, ich hier, Mona dort.«

»Ist sie deine Mutter?«

»Ja, das heißt nein. Mona ist eigentlich meine Tante, aber meine Mutter hat ein Cello und wenig Zeit«, höre ich meinen geliebten Neffen sagen.

»Ah, klar, verstehe«, sagt Micha. Anscheinend ein Kind mit Erfahrung.

»Sieh mal«, sagt Karli, »das sind die erfolgreichen Marslander, die die Nasa dort oben absetzen konnte, bis jetzt. Sie haben alle Namen. Insight heißt dieser hier. Zu seiner Ausstattung gehört ein Bohrer der fünf Meter tief in den Marsboden eindringen kann, tut er aber momentan nicht, er steckt bei dreißig Zentimetern fest. Man weiß noch nicht warum, aber das kriegen sie schon hin. Das ist Opportunity. Er wurde von einem Sandsturm lahmgelegt. Jetzt antwortet er nicht mehr. Die Nasa hat ihn immer wieder angepiepst, wollte ihn wecken, aber er gibt kein Lebenszeichen mehr von sich. Sie haben ihn schweren Herzens aufgegeben, leider. Spirit, der da, landete fast zur gleichen Zeit. Spirit sollte nach Spuren von Wasser suchen. Er besitzt mehrere Kameras an schwenkbaren Gelenkarmen, eine speziell für Panoramabilder und ein Gesteinsmikroskop. Und das sind Solarpaneele mit aufladbaren Batterien, sehen aus wie Flügel, finde ich. Seine Räder sind einzeln bewegbar und können den Boden aufwühlen und fotografieren. Jetzt steckt er leider auch im Sand. Sie haben ihn aufgegeben. Sechs Monate sollte er arbeiten, fünf Jahre hat er das geschafft, ein ganz toller war das.«

Karli holt Luft und zoomt einen Bildausschnitt heran. »Genau«, sagt er, »da ist er ja, das ist Curiosity. Er liefert seit Jahren gestochen scharfe Fotos vom Mars. Das meiste, was wir sehen können, hat er mit seiner Kamera aufgenommen. Der neueste Lander heißt Perseverance. Er wurde erst kürzlich mit einer Rakete hinausgeschossen. Den Start haben Mona und ich am Bildschirm verfolgt. Momentan sieht alles sehr gut für ihn aus, in sechs Monaten soll er landen. Er hat einen Drohnen-Helikopter im Gepäck, der auf dem Mars weite Strecken fliegen soll. Das wird sehr aufregend. Ich bin gespannt auf die Landung von Perseverance. Stell dir vor, die Kapsel rast mit etwa 20000 km Geschwindigkeit in die Marsatmosphäre und muss auf Nulltempo abgebremst werden, mit Bremsraketen und Fallschirmen. Die Wissenschaftler sagen, die letzten Augenblicke vor dem Aufsetzten der Kapsel seien für sie die schlimmsten ihres Lebens. Minuten des Grauens, die Hölle sei es, kaum auszuhalten. Danach fallen sie sich in die Arme und weinen vor Freude.«

Es wird still in meinem Zimmer. Sie trinken Saft, das kann ich hören. Micha isst Waffeln, das höre ich auch.

»Und dein Vater, hat der auch wenig Zeit«? Unsere Familienverhältnisse scheinen Micha mehr zu interessieren als der Fuhrpark auf dem Mars.

»Der hat eine Violine und auch wenig Zeit, aber schau dir das hier an. In diesem breiten, endlos weiten Tal, könnten eines Tages die ersten Menschen landen. Die Gegend heißt Arcadia Planitia und ist gut geeignet für eine Landung der Astronauten, und weißt du auch warum?«

Eine Waffel knistert zwischen Michas Zähnen. »Keine Ahnung«, sagt Karlis Freund, »hab ich noch nicht drüber nachgedacht.«

»Na,« verrät Karli, »das ist doch ganz einfach. Weil es im Boden gefrorenes Wasser gibt. Man braucht Wasser um zu überleben, man kann ja keine gefüllten Tanks von der Erde mitnehmen. Aber in diesem Tal braucht man nur ein paar Schaufeln, dann kann man das Eis aus dem Boden holen, es liegt zum Teil nur dreißig Zentimeter unter der Oberfläche. Auch die Landebahn wäre gut. Eine Tiefebene ohne größere Hindernisse wie Felsen oder Erdspalten, schön flach und sandig.«