Cilli - Brigitte Karcher - E-Book

Cilli E-Book

Brigitte Karcher

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Beschreibung

Die Zwillinge Cilli und Mel sind unzertrennlich. Sie teilen alles, Interessen, Freunde, eine glückliche Kindheit. Doch dann schlägt das Schicksal grausam zu. Sie besuchen eine Aufführung im Puppentheater, von einem Gang zur Toilette kehrt Cilli nicht mehr zurück. "Wo ist Cilli?", fragen die Eltern, als sie ohne die Schwester nach Hause kommt. Wie soll sie es ihnen sagen? Eine Welle des Entsetzens reißt die Familie in den Abgrund. Eine großangelegte Suchaktion bringt kein Ergebnis. Der Verlust und Vorwürfe der Mutter lösen in Mel ein riesiges Schuldgefühl aus, das ihre Kindheit prägt. Sie vereinsamt, leidet an Essstörung, die Familie zerbricht, auch am Selbstmord des Vaters. Mutter und Tochter werden sich mehr als fremd, Ablehnung bestimmt ihre Beziehung. Als erwachsene Frau versucht sie in ihrem künstlerischen Schaffen die Sehnsucht nach der Schwester zu verarbeiten, und sucht als Lehrerin die Nähe zu Kindern. "Mit Cilli lebte ich nur in einer Kinderwelt, nie in der Erwachsenenwelt", sagt Mel. Die Liebe zu einer Schülerin, die sie an Cilli erinnert, stürzt sie in einen erneuten Konflikt, der sie aus dem Gleichgewicht wirft. Hilfe findet sie bei Veit, ihrem Mann und einstigen Mitschüler, der als Jugendlicher Cillis Verschwinden miterlebte. Unermüdlich hatte er damals Fahndungsplakate in der Stadt verteilt. Was hätte sie ohne ihn angefangen, wie leben können? fragt sich Mel. Er begleitet sie bei ihrer jahrelangen Suche, unterstützt sie, als überraschend Mels Mutter stirbt, gerät dabei allmählich selbst an die Grenzen seiner Geduld. Dann, nach dreißig Jahren vergeblicher Suche stoßen sie unerwartet auf Cillis Spur.

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Für meine Zwillingsschwester Ulla

Als die Zwillinge an jenem Morgen erwachten, ahnten sie nicht, dass in wenigen Stunden ihre gemeinsame Kindheit zerstört, und am Ende dieses Tages nichts mehr so wäre wie an seinem Anfang.

Niemals hätte sich irgendjemand etwas Derartiges vorstellen können, nie war von solchen Vorkommnissen in ihrer überschaubaren Welt die Rede gewesen. Man lebte sorglos und sicher in der ruhigen Villenstraße, in der Stadt, in der Region. Alles war vertraut, die Annehmlichkeiten selbstverständlich. Jeder kannte im Stadtviertel fast jeden, die meisten Familien lebten schon lange hier im eigenen Haus, weitervererbt von Eltern auf Kinder, man kannte sich, das Vertrauen war groß.

Regine, die Mutter, quälte sich zeitlebens mit der Frage, ob sie etwas bemerken, etwas hätte verhindern können? An dieser Frage und dem eigentlichen Geschehnis zerbrach sie selbst, ihr Mann Oskar und zwei elfjährige Kinder, die zu schwach waren, die zerstörerische Katastrophe unbeschadet zu überstehen.

Inhaltsverzeichnis

Das Mädchen

Die Mutter

Die Reise

AM MORGEN JENES TAGES versprach ein wolkenloser Himmel wieder ungewöhnliche Wärme. Zu heiß für die Jahreszeit, meldeten die Meteorologen, gerade recht für die Ferien, sagten die Schüler. Ostern war in diesem Jahr auf ein spätes Datum gefallen, und zu Pfingsten hatten bereits hochsommerliche Temperaturen Einzug gehalten.

Mel war hellwach und sah hinüber zum Bett ihrer Schwester. Sie setzte sich auf und sah, wie Cillis Beine sich unter der Bettdecke streckten, wie sie zappelten, wie die Schwester ihre Arme über den Kopf nach oben stemmte und ihre Finger spreizte. Ihr Kopf lag in einem Nest brauner Locken, die sich wie kleine Bäche einen Weg über das leuchtend blaue Kopfkissen suchten. Mel besaß dieselbe üppige Lockenmähne, braune Kringel fielen über Stirne, Ohren und Schulter. Sie saß jetzt aufrecht am Bettrand, beugte sich nach vorn, richtete sich wieder auf und warf dabei in einem einzigen Ruck Kopf und Haare nach hinten. Sie nahm ein Gummiband vom Nachtkästchen und zurrte damit am Hinterkopf die Haarfülle zu einem dicken provisorischen Pferdeschwanz zurecht. Das war hilfreich bei der morgendlichen Wäsche.

Seit sie ins Gymnasium gingen, halfen sich Mel und Cilli gegenseitig beim Kämmen. Meistens entstand dabei ein Zopf im Nacken. Für Schule und Sport war das praktisch, der Zopf selbst schnell geflochten. Regine, ihre Mutter, war froh, diese Aufgabe an die Beiden abgegeben zu haben, denn das unvermeidliche Ziehen und Rupfen, das Jammern beim Entwirren der Locken, hatte sie Nerven gekostet. Und recht machen konnte sie es den Töchtern schon längst nicht mehr. Sie hatte Haareschneiden vorgeschlagen. Ein guter Schnitt, fertig! Ihr Frisör, Herr Bergemann, könne dies in weniger als einer Stunde erledigen. Sein Salon lag gleich um die Ecke.

Doch Mel und Cilli protestierten derart empört, als plane Regine eine unumkehrbare Amputation. Wie konnte die Mutter überhaupt an eine solche Verstümmelung denken! Das hatten sie nicht von ihr erwartet! Misstrauisch beobachteten sie seither Regines Aktivitäten, befürchteten ein Komplott zwischen der Mutter und Herrn Bergemann, ausgeheckt von den Beiden bei Regines letztem ihrer monatlichen Frisörbesuche. Gewarnt durch dieses schockierende Ansinnen, kämpften die Mädchen um ihre langen Haare. Ängstlich achteten sie darauf, dass die Mutter nur die zuvor ausgehandelten Zentimeter der nachwachsenden Haarpracht schnitt, was alle sechs Wochen zu aufregenden Verhandlungen führte.

Die Beiden liebten Ihre Haare, bevorzugt die der Schwester. Mel hielt deren Lockenfluss gern in beiden Händen wie in einer Schale und ließ Cillis glänzendes Geriesel durch ihre Finger gleiten. Sie tauchte ihr Gesicht in die lebendige weiche Fülle, roch an dem duftenden warmen Nest, wühlte darin mit der Nase wie ein kleines Tier und wollte damit nicht zu Ende kommen. Sie spürte, nie wäre dieses wohlige Gefühl, welches sie dabei empfand, durch etwas Anderes erlebbar. Cilli ging es ebenso. Auch sie spielte gerne mit Mels Locken, drückte sie mit ihren Händen zu einem einzigen dicken Knäuel zusammen und ließ sie wieder auseinanderfallen. Wie kleine Sprungfedern wippten die hüpfenden Kringel. Cilli lachte jedes Mal laut auf und begann das Spiel von neuem. Ein altes Spiel, sie liebten es seit langem. Sie konnten noch nicht laufen, da griffen sie sich gegenseitig in die noch kurzen, aber dicht wachsenden Locken, ließen die kleinen Finger durch das weiche Polster auf dem Kopf der Schwester wandern und stimmten dabei ein Konzert zärtlicher Töne an.

Regine glaubte die Zeit für ein Plüschtier sei nun gekommen und kaufte kleine Teddybären. Doch die Zwillinge zeigten nur mäßiges Interesse an den Tieren und wandten sich wieder einander zu. Die Haare wurden länger und das Spiel mit ihnen auch. Wie Wellen flossen sie um und über ihre Köpfchen und bedeckten sie, wenn sie sich müde aneinander kuschelten. Oft fand Regine sie so schlafend liegen. Sie holte Oskar, ihren Mann.

»Sieh nur«, sagte sie, »man kann kaum erkennen, welche Cillis und welche Mels Haare sind, so, als wären sie für alle Zeit ineinander verschlungen.«

Die Zwillinge freuten sich heute auf den Besuch des Marionettentheaters. Der kleine Prinz stand auf dem Programm, und die Schüler des Gymnasiums bekamen am letzten Ferientag für die Nachmittagsvorstellung ermäßigte Karten. Cilli und Mel gingen allein zur Aufführung. Der Weg zum Theater war für sie nicht weit. Sie würden dort viele Mitschüler und ihre Freundinnen treffen.

»Ihr bleibt zusammen«, verlangte die Mutter, »das ist die Bedingung!« »Aber ja«, versprachen die Mädchen, »das tun wir doch sowieso.« Noch nie war ein Kind ohne das andere unterwegs gewesen.

Regine sah ihnen nach, als sie die Steintreppe im Vorgarten hinuntersprangen und die Gartentür öffneten.

»Viel Spaß«, rief sie, »und denkt daran, beieinander zu bleiben!«

»Ja, ja, machen wir«, antworteten sie fast gleichzeitig und winkten noch einmal fröhlich.

Wie schön sie sind, dachte Regine Abel. Sie trugen blaue Sommershorts und zeigten ihre festen, leicht gebräunten Kinderbeine. In luftigen Sandalen hüpften sie davon, die langen Haare hüpften mit. Sie sind außergewöhnlich und wissen es noch nicht. Für sie ist es normal, bevorzugt zu sein, von der Natur wunderbar ausgestattet, mit ihren vollkommen gestalteten kleinen Körpern, ihren völlig identischen, von Locken umrahmten Gesichtszügen, die sie manchmal an Botticellis Frühling denken ließen. Das Bild hatte sie in Florenz gesehen. Sie war darauf stolz, nicht nur gesunde, sondern solch schöne Kinder zu haben. Regine hatte es nicht erwartet, da sie selbst mit ihrem Aussehen nicht gerade zufrieden war. Sie litt unter einer stark gebogenen Nase und eng beieinander liegenden Augen. Sah sie sich auf Fotos, verglich sie sich oft mit einem Vogel. Das ertrug sie schwer.

Oskar verdeckte ein fliehendes Kinn mit einem gepflegten kurzen Bart, der es optisch verlängerte. Seine Nase war nicht so stark gebogen wie die seiner Frau, doch eine ungewöhnlich hohe Stirn passte nicht so recht zu den Gesamtproportionen seines Gesichtes. Aber sein Blick war von großer Freundlichkeit, wer ihm begegnete, fasste schnell Vertrauen. Das war wichtig, denn Oskar war Zahnarzt und behandelte viele Kinder. Mit seiner freundlich geduldigen Art nahm er den kleinen Patienten die Angst vor der Untersuchung. Das hatte ihn vor allem auch bei Müttern beliebt gemacht.

Regine fühlte sich plötzlich schwach auf den Beinen, als wollten diese sie nicht mehr tragen. Unruhe überfiel sie und ein leichter Schwindel. Sie ging die wenigen Stufen in den Garten hinunter. Dort setzte sie sich auf die Bank vor der Buchenhecke, die den kleinen Vorgarten umzäunte. Der Platz war schattig. Sie atmete heftig, als läge ihr etwas schwer auf der Seele. Regine schloss die Augen und lehnte sich zurück. Sie dachte an ihre Mädchen und daran, dass die beiden sie nur noch brauchten, wenn es um die tägliche Nahrung ging. Alles Weitere machten die Zwillinge unter sich aus. Nie besprachen sie ein Problem mit ihr, sei es schulischer, persönlicher oder anderer Art. All diese Dinge regelten sie in ihrer kleinen verschworenen Zweiergemeinschaft, zu der niemand Zutritt hatte. Immer kamen sie mit fertigen Lösungen und Entscheidungen, die derart vernünftig und gut durchdacht waren, dass Regine keinen Grund sah sie nicht zu akzeptieren.

Für Oskar war das sehr angenehm. Ihm fehlte oft die Zeit, sich mit den Töchtern zu beschäftigen. Er nahm es gelassen. Die Mädchen schienen sich auch ohne sein erzieherisches Eingreifen bestens zu entwickeln. Der Freiheit eines Kinderlebens wollte er ohnehin keine unsinnigen Grenzen setzen, an diese würden die Beiden noch früh genug von selbst stoßen, bedauerte er seine Lieblinge. Regine sah das etwas anders, zudem fühlte sie sich mehr und mehr ausgeschlossen und auf eine Rolle beschränkt, die sie auf das Heranschaffen und die Zubereitung der Mahlzeiten reduzierte. Denn Mel und Cilli waren so intensiv miteinander beschäftigt, dass sie ihre Mutter kaum beachteten.

Regine fiel ein, dass es eigentlich schon immer so gewesen war. Die Beiden hatten gerade erst begonnen, ihre Welt auf allen Vieren krabbelnd zu erkunden, da entdeckten sie sich gegenseitig und hatten nur noch Augen für das andere Kind. Wie kleine Tiere robbten sie durch das Zimmer, meist nebeneinander, manchmal hintereinander, hielt eines plötzlich an, hielt auch das andere ruckartig inne. Mit gespreizten Beinchen saßen sie auf dem Boden, lachten, erzählten sich gegenseitig in blubbernden Lauten Geschichten und streckten sich ihre Ärmchen entgegen, die vor Vergnügen zitterten. Winzige Fersen in winzigen Socken klopften dabei geräuschvoll auf das Parkett, was die Kleinen in neue Begeisterung versetzte. Sie fassten sich an den Händen, glucksten, stießen Luft aus ihren aufgeblasenen Backen und steckten sich gegenseitig den Zeigefinger in den Mund. Dabei waren sie vorsichtig, nie grob. Einmal drückte Cilli ihren Finger in Mels Auge. Die wunderbare blaue Murmel hatte es ihr angetan. Mel weinte heftig. Cilli erschrak und weinte mit. Sie saßen voreinander und schluchzten herzzerreißend, stießen wie in Panik spitze Schreie aus und schnappten dazwischen nach Luft. Regine nahm ihre kleinen Mädchen auf den Schoß und beruhigte sie. Danach tat keines dem anderen mehr auf diese Weise weh. Im Lauf der Jahre wurden sie zu regelrechten Komplizen, kleinen Verschwörern, Geheimagenten. Sie brauchten keine Worte, um sich zu verständigen, Blicke genügten. Beim Essen mit den Eltern gaben sie sich Zeichen, eine vorgeschobene Unterlippe, eine hochgezogene Nase, eine Zungenspitze, die im Mundwinkel auftauchte, links oder rechts, alles hatte seine Bedeutung. Regine sprach darüber mit Oskar. Sie glaubte, keinen Zugang zur geheimen Welt der Töchter mehr zu haben. Oskar lachte. Er fand die Art dieser Verständigung lustig und sehr interessant. Lass sie nur, riet er seiner Frau, das geht vorbei.

Regine stand auf und ging ins Haus zurück. Es ging ihr besser. Sie trank in der Küche ein Glas Wasser, dann griff sie nach der Einkaufstasche. Sie wollte noch Wurst und Käse fürs Abendessen besorgen.

Das Marionettentheater war schon gut besetzt, als Cilli und Mel dort ankamen. Vor einigen Jahren liefen im großen Saal noch Filme über die Leinwand. Als das Kino geschlossen wurde, mietete die Stadt die Räumlichkeiten. Die Leinwand wurde entfernt und eine Puppenbühne eingebaut. Eine Künstlergruppe schuf ausdrucksstarke Figuren und feierte mit dem Märchen Schneewittchen bei der Eröffnung des Theaters einen großen Erfolg. Heute gehörte das Marionettentheater zum etablierten Bestand des städtischen Kulturlebens, und jede Aufführung war in der Regel ausverkauft.

Cilli und Mel holten an der Kasse ihre Karten. Mel nahm noch eine große Tüte Popcorn dazu. Die beliebte Kinotradition des Popcornessens hatte sich auch im Theater durchgesetzt. Wenn sich der Vorhang zur Vorstellung öffnete, galt allerdings ein striktes Nasch-und Raschelverbot. Doch jetzt herrschte aufgeregte Vorfreude. Lautes Stimmengewirr drang durch die Saaltür, an der eine junge Frau die Karten der Mädchen durch einen kleinen Einriss entwertete. Sie wünschte ihnen viel Spaß, dann wandte sie sich zwei Jungen zu, die hinter Mel und Cilli standen. Mel betrat als erste den Saal und stellte sich auf Zehenspitzen, um einen besseren Überblick zu bekommen. Die Klappsitze waren fast alle schon besetzt. An den Seitenwänden brannten die Wandlampen, die schon leuchteten, als hier noch Filme liefen. Ein weinroter Samtvorhang versteckte die Bühne. In einer der mittleren Reihen sah Mel noch freie Plätze. Ein Mädchen drehte sich jetzt um und blickte suchend zum Eingang. Es entdeckte Mel und Cilli, stand auf und winkte.

»Kommt hierher, ich hab' Plätze für Euch!«

Die Zwillinge schoben sich durch die besetzte Reihe, vorbei an Klassenkameradinnen, die die Beine zur Seite stellten, um die beiden durchzulassen. Sie wurden freudig begrüßt und von Sitz zu Sitz weitergeschoben. Dann ließen sie sich in die Sessel fallen.

»Danke fürs Freihalten«, sagte Mel zu dem Mädchen neben ihr.

»Ihr seid knapp dran, hattet ihr euch verlaufen?«

Mel lachte. »Wer es nicht weit hat, kommt immer zuletzt!«

»Wer sagt denn sowas?«

»Mein Vater!« Sie hielt dem Mädchen die Popcorntüte unter die Nase, aus der ein feiner süßlicher Duft aufstieg. Die Freundin griff in die Tüte und bediente sich. Dann fasste Cilli hinein und ließ Popcorn aus ihrer kräftigen kleinen Hand in den Mund rieseln. Ein paar Körnchen fielen zwischen ihren Oberschenkeln auf den Sitz. Sie stand kurz auf, sammelte die kleinen weißen Brocken ein und steckte sie in den Mund. Sie blieb stehen, blickte in den dämmerig erleuchteten Raum, in dem in den nächsten Minuten langsam das Licht erlöschen würde, ein Vorgang, der die Zuschauer jedes Mal in erwartungsvolle Spannung versetzte.

»Das ist jetzt blöd, aber ich müsste schnell nochmal aufs Klo.«

Cilli war unsicher, ob sie den Gang zur Toilette noch schaffen würde, ehe sich der Vorhang hob. »Was meinst Du«, fragte sie, »kann ich das noch tun?«

Mel stöhnte genervt.

»Muss es denn sein?«

Cilli nickte.

»Mach halt schnell«, sagte Mel.

Wenn sie doch nur gleich gegangen wäre, ich hätte die Karten ja auch allein besorgen können. Jetzt muss es ihr einfallen, dachte sie und ärgerte sich.

»Ich bin gleich wieder da, lass noch Popcorn übrig!«

Cilli zwängte sich durch die enge Sitzreihe. Als sie die Tür des Saales erreichte, drehte sie sich noch einmal um und hob die Hand, als wolle sie etwas andeuten. Mel, die ihr nachgeschaut hatte, hob ebenfalls den Arm und machte dabei eine Handbewegung, als wolle sie Cilli nach draußen schieben.

»Jetzt geh endlich und beeil Dich!«

Cilli verschwand durch die Tür, die noch offenstand. Die Frau, die die Eintrittskarten entwertet hatte, sprach sie kurz an und nickte dann verständnisvoll. Als Cilli an ihr vorbeigegangen war, schloss die Frau bis auf einen kleinen Spalt die Tür. So konnten verspätete Besucher und Cilli ohne Probleme in den Saal gelangen.

Dort wurde es dunkel. Die Wandlämpchen spendeten gerade noch so viel Licht wie ein glimmender Streichholzkopf, und das laute Lachen und Reden ging in ein leises Flüstern über. Mel hielt die Popcorntüte in den Händen und sah, wie ein Lichtkegel die Mitte des roten Vorhanges suchte. In das helle Feld trat ein Mann in einer museumsreifen Pilotenuniform. Er trug eine Lederkappe mit Ohrenklappen auf dem Kopf und sah aus, als wäre er soeben hier im Saal gelandet. Er begrüßte alle Kinder und Erwachsene, sagte, er heiße Antoine de Saint-Exupéry und versprach ihnen eine besondere Geschichte, die er heute erzählen wolle, darum sollten nun alle mucksmäuschenstill sein und gut zuhören.

Er begann.

«Als ich zwölf Jahre alt war, sah ich in einem Buch über den Urwald, das Erlebte Geschichten hieß, ein prächtiges Bild. Es stellte eine Riesenschlange dar, die ein Wildtier verschlang. In dem Buch hieß es, die Boas verschlingen ihre Beute als Ganzes, ohne sie zu zerbeißen. Daraufhin können sie sich nicht mehr rühren und schlafen sechs Monate um zu verdauen.«

Die Kinder schrien »iiii«, und »oah«, als ekelten sie sich bei dieser Vorstellung. Lange konnten sie sich nicht beruhigen. Der Pilot wartete bis es wieder still geworden war, dann fuhr er mit seiner Erzählung fort.

Mel hatte das Kreischen der anderen gehört, konnte aber der Geschichte des Mannes nicht folgen. Sie befürchtete, Cilli könne im Dunkeln ihre Sitzreihe nicht mehr finden. Außerdem schien sie viel zu lang auszubleiben. Warum kam sie nicht? Unruhig sah sie um sich, doch sie konnte Cilli nicht sehen. Sie konnte sich auch nicht auf das konzentrieren, was allen anderen Zuhörern so viel Spaß bereitete. Sie lachten nun schallend beim Anblick einer großen Tafel die der Pilot in die Höhe hob. Eine Zeichnung war darauf zu sehen. Ein kleiner Elefant stand unter einem Hut mit breiter Krempe, als wohne er in diesem. Mel war über die Abbildung erstaunt, fand sie aber keineswegs besonders lustig, eher seltsam. Sie hörte die Stimme des Erzählers, doch was er sagte ging an ihrem Ohr vorbei. Sie überlegte gerade ob sie aufstehen und nach Cilli sehen sollte, als der Pilot plötzlich zur Seite trat und in der Dunkelheit verschwand.

Zu spät, dachte Mel, ich kann die Anderen nicht noch einmal stören, denn jetzt teilte sich der Vorhang und wanderte geräuschlos zu beiden Seiten der Bühne. Mel sah in eine gelb leuchtende Wüstenlandschaft. Kein einziger Baum oder Strauch wuchs dort, nur Wellen von Sandbergen türmten sich hintereinander auf bis hin zum Horizont. Über der Einöde ging gerade eine gleißende Sonne am tiefblauen Himmel auf. Im Vordergrund der Hügelkette lag ein Flugzeug. Eine Marionette saß im Sand und lehnte sich an den Rumpf der Maschine. Deutlich konnte man erkennen, dass ein Pilot hier notgelandet war. Seine Kappe war ihm über die Stirn gerutscht. Er schlief. Dabei glitt er im Schlaf immer mehr am Flugzeug ab und lag schließlich auf dem Boden.

Über die Hügelkette näherte sich ein kleines Männchen und blieb vor dem schlafenden Piloten stehen – ein Kind. Es trug einen luftigen hellgrünen Anzug mit einer weiten Hose. Sein Gesicht war fein modelliert, und ein Büschel sonnengelber Haare wehte wie in einem sanften Luftzug ständig hin und her. Es betrachtete den Schlafenden verwundert, was die kleine Puppe durch leichtes Kopfschütteln zum Ausdruck brachte. Der Pilot erwachte und rieb sich die Augen, als könne er nicht glauben, was er sah. Ruckartig richtete er sich auf und saß vor dem Jungen. Es war der kleine Prinz. Das Kind sprach ihn an und äußerte einen seltsamen Wunsch.

»Bitte, zeichne mir ein Schaf.«

»Wie bitte?«

Er glaubte nicht richtig zu hören und sprang auf die Füße.

»Bitte, zeichne mir ein Schaf«, wiederholte das Kind und schaute den Mann vor ihm erwartungsvoll an.

Der Pilot schüttelte ungläubig den Kopf.

»Aber, was machst denn Du da?«

Das kleine Kerlchen beachtete die Frage gar nicht, sondern wiederholte ganz sanft, aber ernsthaft, als handele es sich um eine äußerst wichtige Sache:

»Bitte, male mir ein Schaf.«

Mel hatte die Vorgeschichte nicht verstanden, auch jetzt verfolgte sie das Geschehen nur mit geteilter Aufmerksamkeit. Sie wunderte sich, war plötzlich sehr besorgt. Was war mit Cilli, wo blieb sie denn?

Warum dauerte es so lange, bis sie wiederkam, war ihr vielleicht in der Toilette schlecht geworden? Mel starrte befremdet auf den leeren Stuhl neben ihr, der hochgestellt war, seit Cilli ihn verlassen hatte. Sie klappte den Sitz vorsorglich nach unten, damit die Schwester sich sofort setzen könne, wenn sie käme.

Je länger Cilli aber fortblieb, desto größer wurde Mels Verwirrung. Sie konnte dem Erzähler, der nun seitlich auf der Bühne saß, kaum folgen. Doch das Spiel der Puppen zog sie schließlich nach und nach in ihren Bann. Während sie den Bitten des kleinen Prinzen lauschte, redete sie sich ein, Cilli sei vielleicht nach Hause gegangen, alles würde sich ganz natürlich aufklären. Dann fiel Mel ein, dass Cilli heute beim Mittagessen sehr wenig gegessen und über Bauchschmerzen geklagt hatte. Diese waren nach Regines Vorschlag, auf die Theatervorstellung zu verzichten und besser daheim zu bleiben, allerdings schnell wieder vergangen. Hatte Cilli ihr plötzliches Wohlbefinden nur des kleinen Prinzen wegen vorgetäuscht? Vielleicht war der freundlichen Kartenfrau aufgefallen, dass es Cilli nicht gut geht, und sie hatte sie in ihrem Büro auf ein Sofa gebettet? Womöglich hatte sie sich in der Toilette erbrochen, würde vielleicht krank werden, eine Krankheit ausbrüten, wie ihre Mutter es nannte. Ja, so musste es sein! Nach der Aufführung würden sie sich treffen. Eine andere Möglichkeit kam Mel nicht in den Sinn.

Die Stimme des Erzählers reihte die Erlebnisse des kleinen Prinzen aneinander wie Perlen auf eine Schnur, und die Puppen brachten deren Inhalt und Sprache zum Leuchten. Der kleine Prinz erzählte von seiner langen Reise zu verschiedenen Planeten, und unterschiedlich große, ballonähnliche Kugeln, bedeckt von fremdartigen Pflanzen und bizarren Gesteinsbrocken, schwebten aus der Tiefe der Kulisse heran. Auf jedem dieser Planeten hauste nur ein einziger seltsamer Bewohner. Mit jedem dieser Einsiedler führte der Kleine ein besonderes Gespräch, aufmerksam lauschte er ihren merkwürdigen Reden. Man sollte unbedingt den Planet Erde gesehen haben, er habe einen guten Ruf, belehrte ihn der Letzte seiner Gastgeber. Der kleine Prinz hüpfte nachdenklich auf der Planetenkugel umher, sein goldener Haarschopf flatterte kräftiger als zuvor, dann, durch einen dunklen Weltraum schwebend, landete er schließlich auf der Erde und dort mitten in der Wüste. Neue Abenteuer erwarteten ihn. Er traf eine gelbe Schlange, er traf einen Fuchs. Dieser schenkte ihm zum Abschied sein Geheimnis: Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

Obwohl Mel noch ein Kind war, konnte sie diesen Satz verstehen. Sie teilte mit dem Jungen die Sorge um seine Rose, die er verlassen hatte und begleitete ihn und den verdurstenden Piloten durch die Wüste auf der Suche nach Wasser. Als sie endlich zu einem Brunnen kamen und trinken konnten, war nicht nur Mel erleichtert, durch den ganzen Saal ging ein hörbares Aufatmen.

Mel ließ sich vom kleinen Prinzen mit seinem wehenden Haarschopf restlos verzaubern, vergaß schließlich Zeit und Cilli, und erst zum Ende des Spiels, als der Junge, von der gelben Schlange tödlich gebissen, in den Sand fiel, und die Zuschauer laut aufschrien, erschrak sie. Plötzlich fühlte sie Angst. Der Tod des kleinen Prinzen legte sich schwer auf ihre Seele. Gleichzeitig spürte sie, wie die Geschichte in ihr eigenes Leben hineinzuwachsen begann, denn mit dem Ende des Theaterstücks fiel der Vorhang zwar vor diesem, doch nicht vor ihrer eigenen Sorge. Er öffnete sich weiter als zuvor und ließ sie in etwas dunkel Bedrohliches blicken, das unerklärlich war. Denn Cilli war nicht in den Kinosaal zurückgekommen. Der Platz neben Mel war leer geblieben. Cilli lag auch nicht auf einem Sofa im Büro der Kartenfrau, und sie war nicht nach Hause gegangen. Cilli war nirgendwo.

Ich lebe heute nicht mehr in der Stadt, in der Cilli verschwand. Ich gehe nicht ins Kino, nicht ins Theater. Ich bin verheiratet. Kinder habe ich nicht. Ich wollte keine eigenen Kinder haben. Ich wurde Lehrerin, habe Kontakt zu den Kindern anderer. In der Stadt, in der Cilli verschwand, lebt heute niemand mehr aus meiner Familie.

Bald nach Cillis Verschwinden fing mein Vater an zu kränkeln. Er klagte über Schlaflosigkeit, Herzrasen und Appetitlosigkeit, zusehends magerte er ab. Immer wieder unterbrach er eine begonnene Zahnbehandlung, weil er sich im Büro seiner Praxis für einige Minuten auf das Sofa legen musste. Einmal fiel er während einer Behandlung in Ohnmacht. Der Notarzt kam. Die Zustände ließen sich mit Medikamenten behandeln, wurden seltener, blieben dann aus. Etwas später begann er zu trinken. Lange bemerkten es seine Patienten nicht. Als ich zum Studium in eine andere Stadt gezogen war, hörte ich von Mutter, dass die abendliche Rotweinmenge größer geworden war. Oft entkorkte er noch eine zweite Flasche und leerte diese bis zur Hälfte oder ganz. Am nächsten Morgen putschte er sich mit mehreren Tassen Schwarztee ins Arbeitsleben. Als er entdeckte, dass seine Hand zitterte, wenn er zu den Instrumenten griff, versuchte er, etwas weniger zu trinken. Während der Zahnbehandlung dicht gebeugt über seinen Patienten stehend, begannen diese, den abendlichen Alkoholkonsum zu riechen. Das sprach sich in der Stadt herum. Er hörte davon. Eines Morgens lag er tot auf dem Sofa in seiner Praxis. Er hatte zu dieser Zeit öfter dort übernachtet. Meine Mutter hatte sich deshalb keine Sorgen gemacht. Sie fand auf seinem Schreibtisch das ausgetrunkene Wasserglas neben einer leeren Tabletten-Packung. Sein Hausarzt bescheinigte als Todesursache Herzstillstand. Beide hatten sich gut gekannt.

»Er hat Cilli nun gefunden«, sagte meine Mutter auf dem Heimweg von seiner Beerdigung.

»Das glaub' ich nicht.«

Ich fuhr das Auto meiner Eltern. Meine Mutter saß neben mir. Ich warf einen kurzen Blick auf sie und sah, wie ihr Gesicht noch finsterer wurde, als es ohnehin schon gewesen war.

»Du gönnst mir nicht einmal diesen winzigen Trost«, beschuldigte sie mich.

In ihrer Stimme lag ein scharfer Ton.

»Wenn er sie jetzt gefunden hätte, müsste Cilli tot sein, und das will ich nicht denken.«

»Wenn sie nicht tot ist, warum meldet sie sich nicht, sie ist doch alt genug«, klagte meine Mutter weinerlich, eine Frage, die wohl eher provozierend als ernst gemeint war.

»Vielleicht hat sie uns aus irgendeinem Grund vergessen oder will nichts mehr von uns wissen.« Ich wusste, dass ich sie mit meiner Bemerkung quälte, und dass ich es absichtlich tat, um meiner Mutter weh zu tun. Die ganzen letzten Jahre hatte sie mir die Schuld für Cillis Verschwinden gegeben mit ihrem Vorwurf, damals nicht mit zur Toilette gegangen zu sein.

»In aller Ruhe hast du dir das Theaterstück angeschaut!« Damit hatte sie mir eine Last auf die Schultern gelegt, die ich nicht tragen konnte. Damals hatte ich begonnen sie zu hassen.

Wir fuhren schweigend zum Haus meiner Eltern, in dem Cilli und ich unsere gemeinsamen Jahre verbracht hatten. Ich war lange nicht mehr dagewesen, hatte die Besuche bei ihnen auf wenige beschränkt, hatte sie ihrem Kummer überlassen, so wie sie mich dem meinen überließen. Wir konnten nicht zusammen trauern. Jeder ging dabei seine eigenen Wege. Gleich nach Beendigung der Schule war ich weggegangen, aus dem Haus, aus der Stadt, aus meinem alten Leben. Ich hatte nicht gehofft, ein neues zu finden, doch Abstand zu den Jahren, die mir wie Blei in der Seele lagen. Ich hatte nicht viel mitgenommen: meine Bücher, meine Kleidung, keine Fotos, doch Erinnerungen die ich nicht dort lassen konnte, weil sie nicht dortblieben, weil sie mit mir gingen, mich nicht freigaben: das Puppentheater, Cilli, die die Hand an der Tür hochgehalten hatte, und das Lächeln des kleinen Prinzen, mit dem er sich von seinem Freund dem Piloten verabschiedete, bevor die Schlange ihm den tödlichen Biss versetzte.

Ich hatte damals während der ganzen Aufführung gehofft, Cilli warte entweder im Kartenbüro, oder sei aus irgendeinem Grund nach Hause gegangen, habe sich womöglich nicht getraut, allein in den dunklen Saal zurückzugehen, obwohl das gar nicht zu ihr passte. Doch jeder Gedanke war mir recht gewesen, um mir das zu erklären, was ich nicht verstehen konnte: dass sie mich hier allein im Theater sitzen ließ.

Doch wollte ich nicht böse auf sie sein, gerne wollte ich sie verstehen. Das wichtigste war für mich, sie würde es mir erklären können. Ich war mir sicher gewesen, dass, wenn ich nach der Aufführung schnellstens nach Hause lief, Cilli bereits am Abendbrottisch säße und mir alles erzählen würde. Ich wollte auch Mutter bitten, nicht zu schimpfen, weil wir nicht zusammengeblieben waren. Ich wollte meine Schwester verteidigen und unser Verhalten rechtfertigen. Alles wollte ich tun, damit dieser Tag ein gutes Ende nähme. Damals konnte ich noch nicht das wirklich Bedrohliche der Situation in vollem Umfang erkennen. Das Zuwiderhandeln gegen die strikte Abmachung war in diesem Moment das eigentliche Vergehen, das es zu bereinigen galt.

Als eine der ersten verließ ich meinen Platz, noch während die anderen Schüler Beifall klatschten. Die Frau stand wieder an der Eingangstür, hatte diese schon geöffnet.

»Na, hat es dir gefallen?«

Vielleicht glaubte sie, das Mädchen wiederzuerkennen, das vor einer guten Stunde zur Toilette gegangen war. Ich nickte nur kurz und rannte durch das Foyer des alten Kinos hinaus auf die Straße. Mir war klar geworden, dass Cilli sich nicht in ihrer Obhut befand wie ich gehofft hatte. Die Hitze des späten Nachmittags schlug mir entgegen und erschreckte mich. Im Theater war es kühl gewesen, und ich hatte ein bisschen gefroren.

Den Weg nach Hause nahm ich im Dauerlauf, war außer Atem, als ich die Gartentür aufstieß und auf den Stufen zum Hauseingang stolperte. Dann stand ich in der Tür des Esszimmers und sah: meine Eltern saßen am Tisch und aßen bereits zu Abend. Sie hatten nicht auf uns gewartet, da es nur Brot, Tomaten, Wurst und Käse gab, eine Mahlzeit, die nicht warmgehalten werden musste. Mein Vater schaute auf, er kaute an einem Bissen des Salamibrotes, das auf seinem Teller lag. Meine Mutter legte ihr Messer neben den Teller und schaute an mir vorbei in die offene Zimmertür:

»Wo ist Cilli?«

Melanie Abel verließ am frühen Nachmittag das Schulgebäude durch den Hintereingang. Sie wollte vermeiden, jetzt noch irgendwelchen Schülern zu begegnen, die auf der großen Treppe des Haupteingangs saßen. Dort trafen sie nach Schulschluss Verabredungen oder diskutierten Unterrichtsprobleme. Melanie wollte heute von niemand mehr angesprochen werden. Sie war müde und ausgelaugt von fünf Stunden Zeichenunterricht. Viele Schüler nahmen das Fach Kunst nicht allzu ernst. Sie benutzten es, um zu schlafen, zu lesen oder gedankenlos ein Blatt Papier zu bekritzeln, auf dem Melanie gerne eine Farbkomposition gesehen hätte. Doch sie schaffte es nicht, uninteressierte Kinder für Farbe, Pinsel und Papier zu begeistern. Darum war sie froh über einen Stamm von Mitmachern, die kreativ arbeiten wollten und Melanies Vorschläge begeistert aufgriffen. Auf diese Schüler konnte sie sich verlassen. Sie waren es auch, die ihr das notwendige Gefühl gaben, nicht im falschen Beruf gelandet zu sein, eine Sorge, die ihr oft zu schaffen machte.

Heute hatte sie einen solchen Vormittag erlebt, an dem sie sich gefragt hatte, ob es nicht besser gewesen wäre, Jura oder Pharmazie zu studieren, eine Bank- oder Verwaltungslaufbahn zu beginnen. Die Hälfte der Klasse hatte keine Lust verspürt, die persönlichen Eindrücke eines Zoobesuchs in einer farbigen Collage darzustellen. Die zwölf- bis dreizehnjährigen Schüler hatten sich für eine Papierfetzen-Tauschbörse entschieden, indem sie Collage-Teile wie zerrissene Fotos und Farbpapiere, Naturmaterialien wie Gräser oder Blätter, in die Luft warfen und wieder auffingen, wie und wo sie diese gerade erreichen konnten. Die Schüler rannten dabei im ganzen Klassenzimmer umher, schnappten sich die fliegenden Teile aus der Luft und bliesen sie wieder nach oben. Was auf dem Boden landete, blieb liegen oder klebte an Schuhsohlen und war nicht mehr zu gebrauchen. Nur wenige gaben am Ende der Stunde eine fertige Arbeit ab. Melanie sammelte sie niedergeschlagen ein und legte sie in eine Mappe, die sie jetzt unter den Arm geklemmt hatte.

Sie ging zu ihrem Auto, das auf dem Parkplatz hinter der Turnhalle stand. Sie würde nach Hause fahren, sich ins Sofa fallen lassen, die Beine hochlegen und durchatmen. Sie würde ein Glas Rotwein trinken, jetzt gleich, noch bevor Veit nach Hause käme, noch vor dem Essen.

Diese Atempause brauchte sie heute. Sie spürte, wie ihre Nerven unter der Haut vibrierten. Sie legte die Hand an die Stirn. Ihr war, als hätte sie Fieber, aber ihr Gesicht war kühl. Als sie aus dem Parkplatz fuhr, in den Rückspiegel schaute, und zur Sicherheit den Kopf nach hinten drehte, schmerzte der Nacken. Sie fuhr langsam durch eine ruhige Straße, von dieser in die stark befahrene Hauptstraße. Mel ließ das Seitenfenster nach unten gleiten. Sie wollte Luft spüren. Es würde vielleicht helfen. Als sie die Stadt hinter sich gelassen und die Landstraße erreicht hatte, öffnete sie auch das zweite Fenster. Sie fuhr schneller und genoss den kräftigen Luftzug, der durch ihre Haare fegte.

Es wird vorübergehen, dachte sie, es wird vorbei sein, heute Abend, morgen früh.

Sie verriegelte das Garagentor und ging auf einem schmalen, mit Waschbetonplatten belegten Weg zum Haus. Es war ein älteres Gebäude, mit kleinen Fenstern und einem kleinen Balkon über dem Hauseingang. Dort oben konnte man sehr gut den Eingangsbereich überschauen und sehen, wer sich dem Haus nähern wollte. Gleichzeitig diente der Balkon als Schutzdach bei Regen. Das hatte Veit bei einer ersten Besichtigung besonders gut gefallen.

Mel stand oft dort oben und ließ den Blick über die Straße wandern, als erwarte sie jemand, als wolle sie vorbeigehenden oder vorbeifahrenden Leuten zeigen, wer hier wohnt. Eine Art Vorgarten, ein spärlich mit Gras bewachsener Streifen Erde, grenzte an den Gehsteig. Dort hätte sie Blumen oder Sträucher pflanzen können. Sie tat es nicht. Was dort gewachsen war, hatte sie entfernt. So stand das Haus schmucklos an der Straße, zur Verwunderung der Dorfbewohner, die in ihren Gärten für wahre Blütenwunder sorgten. Sie tat es nicht. Sie hielt den Grasstreifen vor dem Haus so kurz wie eine Bürste. Öfter als nötig fuhr sie mit einem kleinen Handmäher über die Fläche und schnitt unsaubere Ränder mit einer Gartenschere nach. Dabei ließ sie sich viel Zeit, ging hin und her, schnitt hier und da etwas nach und behielt dabei die ganze Zeit die Straße im Auge, soweit sie diese überblicken konnte.

Heute hatte Mel keinen Blick für die Straße und das Rasenstück vor dem Haus. Sie schloss die Haustür auf, blickte nicht wie sonst zurück. Im Flur legte sie die Mappe mit den Schülerarbeiten auf ein Tischchen neben der Garderobe. Sie hängte ihre Jacke an einen Haken und zog die Schuhe aus. In Strümpfen ging sie in die Küche. Dort legte sie ihre Schultasche auf den großen Holztisch mitten im Raum. An diesem Tisch wurde gegessen, Gemüse geschnitten, gemalt, gekleistert und gesägt. Das sah man ihm an, deutliche Arbeitsspuren zeugten davon. Jetzt war der Tisch leer und sauber geputzt und eine Weinflasche stand an Mels gewohntem Platz. Veit hatte sie für Mel bereitgestellt. Er wusste, sie würde diese heute benötigen. Mel drehte sofort am Schraubverschluss der Flasche und ließ den Deckel auf den Küchentisch fallen. Er rollte bis zum Rand des Tisches und fiel auf den Boden. Mel ließ ihn liegen.

Sie packte die Flasche am Hals, hielt sie mit einer Hand nach unten und schlenkerte sie hin und her, während sie ins angrenzende Wohnzimmer ging. Dort versank sie in einem dunkelbraunen Ledersofa, streckte die Beine von sich und stemmte die Flasche gegen ihren Oberschenkel. Sie hatte große Lust, sie sofort an den Mund zu setzen für einen ersten Zug, dann noch einen und noch einen zu tun, doch sie stand wieder auf und holte sich aus dem Wandschrank ein Glas. Sie goss Wein ins Glas bis knapp unter den Rand und balancierte es vorsichtig an die Lippen. Sie nahm einen tiefen Schluck, legte die Füße auf einen kleinen Couchtisch und ließ sich im Sofa nach hinten sinken. Sie hatte sich vorgenommen zu entspannen, der Wein sollte helfen. Sie konnte jedoch nicht verhindern, dass die Bilder des Tages auftauchten und sie belästigten. Sie trank noch einmal, behielt das Glas in der Hand und dachte an den missratenen Vormittag, an den in ihren Augen völlig misslungenen Unterricht.

Und dann dachte sie an das Mädchen, das vor einer Woche neu in die Klasse gekommen war. Es hieß Marilen Alberti. Seine Eltern waren vor kurzem nach Radstett gezogen und hatten die Kanzlei eines verstorbenen Steuerberaters übernommen. Soweit war Mel von der Rektorin informiert.

Marilens Mutter hatte ihre Tochter am ersten Tag in der neuen Schule nach Unterrichtschluss abgeholt. Dabei sprach sie auch mit Mel und stellte sich vor. Frau Alberti schien eine Frau Mitte vierzig zu sein. Sie war klein, ziemlich beleibt, doch balancierte ihr schwerer Körper mühelos auf sehr hohen Stöckelschuhen. Ihr Haar war blauschwarz und, wie Mel annahm, gefärbt, dicht gewachsen, sehr kurz und perfekt geschnitten. Wie eine Pelzkappe umrahmte es ein rundes Gesicht, dessen Haut über den Backenpolstern spannte. Im Gegensatz zu ihrer Mutter war Marilen ein mageres Mädchen, groß für ihre zwölf Jahre, und Mel konnte sich nicht vorstellen, dass die Tochter einmal einen ähnlichen Umfang haben könne wie die Mutter. Marilens dichte braune Locken waren straff nach hinten gekämmt, in einem Zopf im Nacken gebändigt.

Marilen verhielt sich bisher sehr zurückhaltend. Sie sprach keinen Mitschüler von sich aus an, gab jedoch freundlich Antwort, wenn sie gefragt wurde. Schüchtern schien sie nicht zu sein, da sie mit großer Aufmerksamkeit alle Vorgänge in und um den Unterricht herum verfolgte. Fast sah es so aus, als beobachte sie vorerst ein Schlachtfeld, um später darüber Bericht erstatten oder irgendwann selbst Position darin beziehen zu können.

Was Mel schon wusste, ein Blick in Marilens letztes Zeugnis hatte diese als sehr gute Schülerin ausgewiesen. Ab und zu schien das Mädchen sich zu amüsieren, wenn sich Mel mit einem Schüler in eine Auseinandersetzung verstrickte und dabei den Kürzeren zog. Dann verengten sich Marilens Augen zu kleinen Schlitzen. Sie lächelte, zog ein wenig ihre Schultern nach oben und tat so, als lese sie in ihrem Buch.

Mel gefiel es. Sie fühlte sich in diesem Augenblick mit dem Mädchen seltsam verbunden, als wären sie beide so etwas wie Komplizen. Sie suchte Blickkontakt zu Marilen, während sie sich mit anderen Schülern beschäftigte und beobachtete sie unverhohlen und neugierig. Noch nie hatte ein Kind sie derart überrascht wie dieses Mädchen. Dabei war ihr nicht klar, was Marilen so sehr von den Anderen unterschied. War es ihre offensichtliche Klugheit, der wache Blick, der unbefangen beobachtend in alle Richtungen schweifte, war es der magere Körper mit den braunen langen Armen, zu denen das hellblaue T-Shirt so gut passte, oder das silberne Armkettchen, das am Handgelenk glitzerte? Mel wusste es nicht. Doch sie bekam Herzklopfen, wenn sie hinter Marilen stand und deren kräftigen Zopf über den Rücken fallen sah.

Mel goss Wein nach. Sie trank mehrere Schlucke und goss sofort noch einmal nach. Das Glas sollte voll sein, wenn sie daraus trank. Sie stellte es auf das Tischchen, streckte sich auf dem Sofa aus, legte die Beine auf ein Kissen und ihren Kopf auf die gepolsterte Armlehne, schloss die Augen und wollte an nichts denken, doch dann tauchte es auch schon wieder auf, ein Bild, das sie seit vielen Jahren zu vergessen suchte:

Ihre Mutter am Esstisch, die das Messer neben den Teller legt und fragend zur Tür schaut. Der Vater, der nicht verstehen will und glaubt, Cilli erlaube sich einen Spaß und verstecke sich hinter der geöffneten Tür. Und Mel sieht sich wieder einmal zum Mädchenzimmer laufen, in der Hoffnung, Cilli läge dort in ihrem Bett, aus irgendeinem Grund, den sie nicht kennt. Sie hofft, Cilli sei unbemerkt an der Mutter vorbei ins Zimmer geschlichen, um sich hinzulegen, habe nicht erklären wollen, warum sie ohne mich nach Hause gegangen ist. Aber sie findet das Bett leer, das Zimmer auch. Mel hastet wieder zurück zu den Eltern, die reglos dasitzen. Auf dem Esstisch stehen zwei unbenutzte Teller. Die Mutter hat für beide Mädchen aufgedeckt. Doch Mel wagt nicht, sich an ihren Platz zu setzen. Sie steht einfach nur da und flüstert:

»Ich weiß nicht, wo Cilli ist, sie wollte doch gleich wieder zurück sein.«

Die Mutter beginnt, Mel zu drängen: »Was ist passiert, warum kommst Du allein?«, sag' endlich was los ist!« Mel tut es. Die Mutter gerät in Panik.

»Hast du nicht auf der Toilette nachgeschaut? Vielleicht ist das Türschloss dort verklemmt, und Cilli kann nicht nach draußen kommen! Vielleicht ist Cilli immer noch auf dieser Toilette eingesperrt! Warum nur hast Du nicht sofort nach der Vorstellung nachgeschaut? Warum hast Du das nicht getan!«

Mel erinnerte sich, dass diese letzten Worte wie Schläge auf sie niedergegangen waren. Sie hatte auch geglaubt, Schläge zu verdienen, und irgendwie hätten sie ihr in diesem Moment sogar gutgetan. Aber gleichzeitig keimte auch eine winzige Hoffnung auf, dass es so sein könne, wie die Mutter sagte. Cilli war noch dort im Theater und konnte sich selbst nicht befreien!

Mel gibt zu, nach dem Ende des Stückes sofort losgerannt zu sein, um schnellstens nach Hause zu kommen.

»Aber das hättest du nicht tun dürfen, du hättest nachschauen müssen, du hättest um Hilfe bitten, hättest Meldung dort machen müssen. Wie konntest du deine Schwester so allein lassen!«

Regine klagt verzweifelt und legt in diesem Augenblick eine schwere Last auf die Schulter ihres Kindes, das verstört zu ihr aufsieht und schließlich zu weinen beginnt. Der Vater, der bisher schweigsam und versteinert dasaß, schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf. Er geht zu einem kleinen Tisch, auf dem das Telefon steht. Er stützt sich mit der linken Hand auf den Tisch. In der rechten Hand hält er den Hörer und wählt mit dem ausgestreckten Zeigefinger eine Nummer. Eine Weile wartet er, dann hört Mel ihn nach der Telefonnummer des alten Kinos fragen. Als er dort anruft, hat er kein Glück. Ein Anrufbeantworter verweist ihn auf die Öffnungszeiten der Kasse. Diese sei erst wieder am nächsten Tag erreichbar.

Oskar Abel stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch und lässt seinen Kopf nach unten fallen. So steht er eine Weile. Dann wählt er eine weitere Nummer, und Mel hört ihn langsam und mühsam sprechen.

»Ich möchte eine Vermisstenmeldung machen, meine Tochter ist verschwunden.« Ein Beamter ist kurze Zeit später im Haus.

Mel starrte an die Decke, als sähe sie dort das unvergesslich Schreckliche jenes Abends, der an diesem Tag dreißig Jahre zurücklag. Sie schloss die Augen, aber die Bilder verschwanden nicht. Sie drehte sich zur Seite und presste ein Sofakissen vor ihr Gesicht. Der Beamte hatte ihr damals Fragen gestellt. Sie hatte geantwortet. Mel erinnerte sich, dabei geweint zu haben. Sie erinnerte sich auch an Hunger und Durst, aber sie hatte an diesem Abend nicht gewagt zu essen oder zu trinken. Die Eltern hatten sie nicht mehr beachtet, und sie selbst wollte nicht essen. Wie hätte sie es tun können, solange Cilli nicht nach Hause kam?

Der Beamte bleibt sehr lange. Er telefoniert mehrmals und bespricht mit Oskar und Regine die allernächsten Schritte, die die Polizei unternehmen wolle.

»Zwei meiner Leute sind bereits im Theater, durchsuchen die Toiletten und das gesamte umliegende Areal. Das hat im Augenblick allerhöchste Priorität.«

Er sieht sich nach Mel um.

»Wer sind denn eure besten Freunde? Hast du die Telefonnummern deren Eltern?« Mel nennt ihm einige Namen und kann auch mit Nummern helfen. Sie holt ein kleines Adressbuch aus ihrer Schultasche und gibt es dem Kommissar. Der ruft der Reihe nach Adressen an. Er sorgt vor allem für große Aufregung und Bestürzung bei den Eltern der Freundinnen und Mitschülern, die, soweit sie ebenfalls im Theater gewesen waren, angestrengt überlegen, wann sie Cilli zuletzt gesehen haben.

Es gibt zwei Aussagen die sich gleichen. Zwei Mädchen behaupten unabhängig voneinander, Cilli am Ende der Vorstellung noch im Kinosaal gesehen zu haben. Aber nein, versichert Mel dem Kommissar, Cilli war die ganze Zeit nicht im Saal, ihr Platz war ja leer geblieben.

»Nun, es kann doch sein, dass sich deine Schwester in die letzte Reihe gesetzt hat, um die begonnene Vorstellung nicht zu stören?«

Regine horcht auf und schöpft Hoffnung.

»Ja, aber warum hat sie dann nicht auf mich gewartet, sie hätte mir doch zuwinken können.« Sie überlegt. »Warum ist sie nicht wenigstens heimgegangen, so wie ich?«

Mel setzt sich an den Tisch, wagt aber nicht ein Brot zu nehmen, obwohl sie plötzlich großen Hunger hat. Sie glaubt, es stünde ihr nicht zu, jetzt etwas zu essen, weil Cilli auch nicht isst in diesem Augenblick und hier am Tisch.

Damit beginnt etwas, was sie zuvor noch nie gefühlt hatte. Ein Gedanke trifft sie mit harter Gewissheit. Sie glaubt, es wäre besser, Cilli säße hier, und Mel wäre verschwunden. Diese plötzliche Erkenntnis frisst sich geradezu in ihr fest und sollte sie nie mehr freigeben, denn sie ist sich plötzlich sicher, das Unglück wäre mit ihrem Verschwinden nicht so groß.

Die Eltern scheinen durch ihren Anblick die Abwesenheit der Schwester ganz besonders schmerzlich zu empfinden, und Mel fühlt sich wie ein personifizierter Missstand , den es so nicht geben dürfe. Sie glaubt im Blick der Mutter zu lesen, was tust du hier ohne deine Schwester?

Der einzige, der Mitgefühl für Mel zu haben scheint, ist der Kommissar. Erich Lutz ist ein guter Bekannter ihres Vaters, zudem Patient von ihm seit langem, und für die Eltern im Moment die Person, auf die sie ihre ganze Hoffnung setzen. Was bleibt ihnen auch anderes übrig.

Lutz versucht vor allem, Zuversicht zu verbreiten, verspricht, alles zu tun, was in seiner Macht stünde, um Cilli zu finden. Er beugt sich über das Mädchen, das wie betäubt und verloren am Esstisch sitzt.

«Glaub' mir, wir werden deine Schwester finden. In ein paar Stunden sehen wir alle schon klarer. Ich meine, du solltest aber etwas essen. Du hast doch ganz bestimmt Hunger?«

Bei dieser Frage wendet er sich an die Eltern, als richte er sie mehr an sie als an das Kind. Mel schüttelt langsam den Kopf, als wundere sie sich über den Vorschlag des Beamten. Doch Erich Lutz sieht, wie sich die Augen des Mädchens mit Tränen füllen, und denkt, man müsse sich um dieses Kind ebenso große Sorgen machen wie um das vermisste.

Der Vater tröstet sich in den kommenden Monaten immer öfter mit der Formel »die Polizei hat nichts versäumt, sie tut, was sie kann.« Lutz ist für ihn der richtige Mann zur richtigen Zeit, und er zählt alle Aktivitäten auf, die die Suche nach Cilli begleiten.

Diese beginnen zunächst mit dem Bescheid am selben Abend, dass die Durchsuchung des gesamten Theaterareals und seiner näheren Umgebung ergebnislos verlaufen sei. Das können wir also ausschließen, kündigt der Kommissar fast erleichtert an, so als sei man durch dieses negative Ergebnis einen gewaltigen Schritt vorangekommen.

»Wir konzentrieren uns nun auf die erweiterte Umgebung«, und fast entschuldigend bittet er Regine um ein Kleidungsstück von Cilli, »etwas Getragenes, bitte nicht frisch gewaschen. Wir werden noch heute Nacht das gesamte Viertel mit einer Hundestaffel absuchen, ebenso den Stadtwald, ein Gebiet, das sich bis weit über den Stadtrand ausdehnt und ein beliebtes Naherholungsgebiet ist.«

Regine kann nicht helfen. Stattdessen beginnt sie zu weinen und lässt sich in den Lesesessel vor der Bücherwand fallen. Sie weint hemmungslos und zittert plötzlich am ganzen Körper.

»Ein Schock, ich muss ihr etwas geben.«

Oskar verlässt das Zimmer, er hat Beruhigungsmittel im Haus.

»Ich könnte etwas von Cilli holen.«

Mel schaut den Kommissar fragend an.

»Aber natürlich. Du weißt ja wohl am besten, was deine Schwester zuletzt getragen hat. Das wäre jetzt eine große Hilfe für mich, und auch für Cilli«, setzt er nach kurzem Zögern hinzu.

Mel nickt und steht auf. Sie lassen die immer noch zitternde und schluchzende Regine in ihrem Sessel allein zurück. Mel geht voraus durch den breiten Flur, der angenehm freundlich wirkt. Ein großes Fenster an seinem Ende wirft warmes Abendlicht an die Wände. Zwei Korbstühle und ein kleines Tischchen stehen davor und verbreiten wohnliche Atmosphäre. In einem der Korbstühle sitzen ein Teddybär und eine Puppe, etwa gleich groß, und lehnen aneinander. Bei der letzten Tür kurz vor dem Fenster bleibt Mel stehen.

»Das ist unser Zimmer, hier wohnen Cilli und ich.« Erich Lutz tritt ein.

»Ihr habt also ein gemeinsames Zimmer«, stellt er beim Anblick der beiden weiß lackierten Betten sachlich fest. Er sieht sich um. Die Betten stehen links und rechts der Länge nach an der Wand. Das Besondere an diesem Raum ist der halbrunde Erker mit einem Kranz hoher Fenster, durch die der Kommissar einen Blick in den Garten wirft. Er nimmt sich vor, den Garten nach Spuren durchsuchen zu lassen. Vor den Fenstern stehen zwei weiße Schreibtische dicht nebeneinander, die zeigen, dass die Mädchen ihre Schularbeiten und anderes in großer Nähe zueinander erledigen. Lutz seufzt, denkt, es wird mir doch hoffentlich gelingen, das Kind zu finden. Am Fußende der Betten steht für jedes Mädchen ein schmaler Kleiderschrank an der Wand. Zwischen den Betten bietet ein genügend großer Raum Platz für Spiele. Ein halbfertiges Puzzle liegt auf dem Boden. Der bereits fertige Teil lässt eine Pferdekoppel erkennen, auf der zwei Schimmel friedlich grasen.

»Und welches ist nun Cillis Bett?«, fragt Lutz.

Mel geht zu einem der Betten und setzt sich ans Fußende.

»Das hier«, sagt sie und streicht vorsichtig über die Zudecke, die ordentlich zurechtgelegt war. »Liegt Cillis Schlafanzug oder ein Nachthemd unter der Decke?«

Lutz wartet Mels Antwort gar nicht ab, er hebt die Decke an und schlägt sie zurück.

»Das Nachthemdchen wäre ideal, ich würde es gerne mitnehmen.« Lutz sagt es so, dass seine Absicht wie eine Bitte klingt, doch ist es eine Feststellung. Er übersieht bewusst, wie Mel erschrocken nach dem Hemdchen ihrer Schwester greifen will. Das Nachthemd ist aus einem luftigen gelben Baumwollstoff, die Armausschnitte und der Saum sind mit einer breiten Rüsche verziert. Lutz formt eine kleine Rolle aus dem Hemdchen und hält diese in der linken Hand nach unten, während seine rechte in einem Buch blättert, das auf Cillis Nachtkästchen liegt. Cilli hat noch am Abend in dem Buch gelesen. Es erzählt von einem Indianermädchen, das in einem Reservat in Amerika aufwächst. Hiawatha steht auf dem farbigen Schutzumschlag, über einem Mädchenkopf mit tiefschwarzen langen Haaren. Lutz ergreift alle Seiten auf einmal und lässt sie wie ein Daumenkino durch seine Hand laufen. Er hofft, irgendeinen Zettel oder einen anderen Hinweis zu finden, der in dem Buch versteckt sein könnte. Doch da ist nichts.

»Fällt dir irgendeine Veränderung in eurem Zimmer auf, oder kannst du sehen, dass etwas fehlt, was noch dagewesen war, bevor ihr heute zusammen weggegangen seid?«

Mel, die immer noch auf Cillis Bett sitzt, sieht sich um. Dann schüttelte sie müde den Kopf.

»Nein, es ist alles wie immer. Aber Cilli hat heute Morgen schon ihre Schultasche gepackt, sie steht neben ihrem Tisch.«

Mel zeigt mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Tasche. Lutz will noch wissen, ob Cilli Tagebuch schreibt.

«Natürlich nicht«, antwortet Mel.

Lutz lächelt.

»Zwillinge erzählen sich wohl alles, sie brauchen deshalb nichts aufzuschreiben, ist das so?«

Mel nickt wieder, dann kommen ihr die Tränen. Ja, sie haben sich alles erzählt, am liebsten abends, wenn sie in ihren Betten lagen, wenn die Dunkelheit sie wie eine große Decke einhüllte und ihre Stimmen im Flüsterton hin- und hergingen. Mel wird bewusst, dass die kommende Nacht keine heimlichen Gespräche im Dunkeln bringen kann. Sie ist allein und weiß nicht, wo Cilli in dieser Nacht schlafen wird.

Etwas Unvorstellbares, etwas Abgründiges tut sich vor ihr auf, und es ist Mel, als fiele und fiele sie, und niemand könne diesem Fallen Einhalt gebieten. Sie krampft ihre Hände in Cillis Bettdecke, um irgendeinen Halt zu finden, doch das Fallen wird nur noch schlimmer und die Tiefe vor ihr er- scheint bodenlos. Der Kommissar bemerkt Mels Verzweiflung, geht zu ihr, hebt sie hoch und trägt sie zu ihrem Bett. Er setzt sie an dessen Rand, kniet sich nieder und zieht ihr die Sandalen aus. Er legt sie vorsichtig auf das Bett, deckt sie behutsam zu und streicht ihr über die Locken.

»Ich bringe Cilli zurück«, flüstert er Mel ins Ohr, dann bemerkt er, dass sie aus Erschöpfung bereits eingeschlafen ist.

Die Eltern kümmern sich an diesem Abend nicht mehr um Mel. Dieser Mann hat sie zugedeckt in ihrem weißen Mädchenbett, und er hat ihr versprochen, die Schwester wieder zurückzubringen. Dabei ist sich Erich Lutz keineswegs sicher, ob ihm dies gelänge. Doch ist er sich sicher, alles dafür tun zu wollen.