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Von Wahrheit und Willkür in den Plattenbausiedlungen der alten BRD – Der neue Roman von Behzad Karim Khani, dem Shootingstar der deutschen Literatur
Ein Junge, der sich eine Gewalt herbeisehnt, die eine Kuhle hinterlässt mit den Umrissen Deutschlands. Er lebt in einer Siedlung, wo die Küchen keine Abzüge haben, und in deren Fluren es nach Armut, Majoran und Etagenbetten riecht. Es sind die 1990er und er ist mit seiner Familie aus dem Iran ins Ruhrgebiet geflohen. Die Mutter ist Soziologin, der Vater ein Schriftsteller, in dessen Sprache es fünfzehn verschiedene Begriffe für Stolz gibt. Deutschland erlebt er als Kränkung und wird zum Beobachter. Erschöpft sich dabei, das Land zu begreifen, während die Mutter an das An- und Weiterkommen glaubt und die Wut des Sohnes immer ungehemmter wird. Denn auf den Straßen seines Viertels herrscht eine Gewalt, von der die Eltern wenig mitbekommen.
Ein Roman über ein tristes Land. Über die Diaspora als Heimat. Über die Freiheit im Fremdsein. Über kaputte Aufzüge und die Wahrheit der Schwäne.
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Seitenzahl: 163
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Ein Junge, der sich eine Gewalt herbeisehnt, die eine Kuhle hinterlässt mit den Umrissen Deutschlands. Er lebt in einer Siedlung, wo die Küchen keine Abzüge haben, und in deren Fluren es nach Armut, Majoran und Etagenbetten riecht. Es sind die 1990er und er ist mit seiner Familie aus dem Iran ins Ruhrgebiet geflohen. Die Mutter ist Soziologin, der Vater ein Schriftsteller, in dessen Sprache es fünfzehn verschiedene Begriffe für Stolz gibt. Deutschland erlebt er als Kränkung und wird zum Beobachter. Erschöpft sich dabei, das Land zu begreifen, während die Mutter an das An- und Weiterkommen glaubt und die Wut des Sohnes immer ungehemmter wird. Denn auf den Straßen seines Viertels herrscht eine Gewalt, von der die Eltern wenig mitbekommen.Ein Roman über ein tristes Land. Über die Diaspora als Heimat. Über die Freiheit im Fremdsein. Über kaputte Aufzüge und die Wahrheit der Schwäne.
Behzad Karim Khani
Als wir Schwäne waren
Roman
Hanser Berlin
Du warst fünf. Die Buchstaben gehorchten dir nicht. Du dachtest, dass Restaurants Essturants heißen, weil wir dort essen. Und du sagtest traubig statt traurig, weil Tränen aussehen wie Trauben. Und ich wollte, dass du recht hast, solange es nur geht. Weil Tränen von Trauben abzuleiten vielleicht etwas abwendet. Weil traubig das bessere Wort ist.
Aber dann sagtest du irgendwann, es sei fair, dass es Inseln gibt, denn schließlich gibt es ja auch Seen. Und ich, tausend Ängste älter, sagte: Ja, das ist fair.
Und ich, tausend Lügen klüger, sagte nicht, dass fair ein so einfaches Wort ist, und Gerechtigkeit ein so schwieriges.
Und ich, tausend Wunden hoffnungsvoller, sagte dir nicht, dass wir alle an dem längeren Wort gescheitert sind.
Denn, wer weiß? Vielleicht wirst du nicht gewinnen müssen.
Vielleicht wirst du schon gewonnen haben.
Als ich dir sagte, dass ich vorhabe, dieses Buch zu schreiben, und dass es einen Brief an dich enthalten wird, war ich auf eine Gegenfrage vorbereitet, die du nicht gestellt hast, die dir aber — das möchte ich behaupten — auf der Zunge lag.
Es war einer der Momente, wo es diesen Funken gibt. Wo ein Gedanke einen anderen anzündet. Du hattest einen Impuls, hieltest aber inne, gabst ihm nicht nach, und immer, wenn du das machst, wenn du einen Gedanken, eine Idee anhältst, sehe ich dich einen weiteren Schritt in Richtung des Menschen machen, den ich dir zu werden wünsche.
Die Frage, von der ich behaupte, dass du sie stellen wolltest, ist: »Warum schreibst du mir nicht einfach einen Brief? Warum ein Buch, das ich teilen soll mit Tausenden anderen?«
Hättest du gefragt, hätte ich geantwortet: »Weil du Verbündete brauchen wirst. Und vielleicht hilft dir dieses Buch, sie zu finden.«
Aber du hast nicht gefragt. Und ich bin nicht naiv. Ich will dir nicht Dinge aus einer Welt erzählen, die nicht mehr existiert und nichts mit der Welt zu tun hat, die du dir zu eigen machen wirst. Die du mir irgendwann erklären wirst, weil Vaterschaft in unserer Familie in Freundschaft übergeht und wir unseren Vätern wieder begegnen. Weil wir zwar gehen, aber manchmal auch wiederkommen. Weil ich will, dass du wiederkommst. Weil ich hoffe, dass du mir die Tür zur Welt aufhältst, wenn ich sie dir öffne. Und dass ich von dir erfahre, wie die Geschichte weitergeht, wenn ich dir ihren Anfang erzähle.
Ohnehin hat das Hören auf Ratschläge, nach denen man nicht gefragt hat, keine große Tradition. Schon gar nicht in deiner Familie.
Und vielleicht hilft dir dieses Buch auch, etwas zu finden, das gerade angefangen hat, dir zu entgleiten: Nämlich die Möglichkeit einer Heimat. Verstehe mich nicht falsch. Ich will dir nicht die Idee der Heimat nahelegen. Schon gar nicht will ich dir dieses Land als Heimat nahelegen.
Ich will etwas Anderes für dich. Etwas Anderes von dir. Ich will, dass du wählen kannst. Dass in dir mehr steckt als in mir. Mehr als immer dieselbe Antwort. Deshalb schreibe ich dieses Buch.
Es gibt eine Idee, die in meinen Füßen steckt. Da, wo jede Trennung Freiheit bedeutet und jede Begegnung Last. Wo Gehen immer die erste Option ist und Bleiben Argumente braucht.
Ich glaube, dass Trennung ein Gesetz ist.
Ich bin zehn, wir sind noch kein Jahr hier und leben in einer Siedlung. Nicht spektakulär gefährlich oder dreckig. Zumindest noch nicht. Eigentlich, in der 70er-Jahre-SPD-Fantasie geboren, sollte die Siedlung etwas sein, das uns zusammenbringen, zu einem »Wir« formen sollte. Untere Unterschicht bis mittlere Mittelschicht und die Kids gehen in dieselbe Grundschule. Das war die ungefähre Idee, denke ich. Es war, als gäbe es keinen sozialen Sprengstoff. Kohl war Kanzler. Ostermärsche waren der Gipfel des Widerstands, oder wenn man bei der einen Volkszählung 1987 geschwänzt hatte. BRD. Schlecht-Wetter-Geld-BRD.
An uns wurde Kabelfernsehen getestet. Wer in meinem Alter ist, erinnert sich vielleicht an die Debatte darüber, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar war. War es nicht, das Kapital siegte aber. Das Kapital und der Durst nach Anschluss. Die Tests verliefen in meinem Fall positiv. Kohl war nur Kanzler, Chief Ironside war der Chef, Ray Cokes war King, He-Man Master of the Universe. Gute Laune bei den Huxtables. Piňa Coladas auf dem Love Boat.
Da tauchen diese drei Typen spätabends auf, Nachbarskinder, die in meine Klasse gehen. Sie klingeln an der Tür zu einer Zeit, zu der ich schon schlafe. Mein Vater weckt mich und ich ziehe mich um. Meine Mutter öffnet die Tür. Einer von ihnen fragt, ob sie was Persisches zu essen haben können, und streckt meiner Mutter eine Mark entgegen.
Meine Eltern sind gebildete, sehr stolze Menschen. Wir sind Perser. In unserer Sprache gibt es zehn, fünfzehn verschiedene Begriffe für Stolz.
Und jetzt stehen drei Straßenköter vor der Haustür und halten meiner Mutter Geld hin. Und wenn ich sage Straßenköter, dann meine ich das. Der Erste von ihnen, Franky, sollte ein paar Jahre später im Suff seinen Saufkumpanen und Nachbarn — einen sechzigjährigen polnischen Aussiedler mit Holzbein — erstechen. Der zweite, Silvio, schlug mit siebzehn regelmäßig seinen Vater zusammen. Einmal war ich dabei. Da ging es um Air Force One. Er wollte welche und sein Vater konnte sich keine leisten. Das war schon der gesamte Konflikt. Sie waren Sizilianer. Der Vater sprach kaum Deutsch und arbeitete in einer Autowerkstatt als Lackierer, die Zulage für die Schutzmasken sparte er. Die Mutter faltete in einer indischen Pizzeria Kartons zusammen, bevor sie spätnachts eine Dreiviertelstunde mit der Straßenbahn heimfuhr. Natürlich waren die Schuhe zu teuer. Silvio schlug ein Loch in die Badezimmertür, um sich in Stimmung zu bringen. Dann ging er seinem Vater an die Gurgel. Würgte ihn für Turnschuhe. Wir saßen im Kinderzimmer, wollten C64 spielen, als es im Flur laut wurde. Der Blick des Vaters deines Freundes, wenn er von ihm vor dir geschlagen wird. Dein Blick in seinen Augen. Silvio war der Erste in unserer Siedlung mit Air Force One.
Der dritte Typ, Mike, rauchte mit neun schon eine halbe Schachtel am Tag. Mit elf war es eine ganze. Er klaute den Schnaps aus dem Wohnzimmerschrank seiner diabeteskranken Eltern und soff vor uns alleine, weil wir uns nicht trauten. Die erste Alkoholvergiftung hatte er mit zwölf. Die zweite auch.
Diese drei strecken also meiner Mutter eine Mark entgegen, um die Reste unseres Abendessens zu inspizieren. Aber wir — ich weiß, ich habe es schon erwähnt — sind Perser. Man klopft nicht an unsere Haustür, fragt nach Essen und hört ein »Nein«. Wir kennen kein »Kann ja jeder kommen«, kein »Ich klopfe ja auch nicht nachts an Türen«, kein »Ich darf doch bitten«. Unsere Sätze fangen nicht mit »Ich« an. Und es muss auch nichts seine Ordnung haben. Wir, in dieser Siedlung, waren der lebende Beweis dafür.
Also lässt meine Mutter sie rein, macht etwas warm, wir setzen uns und schauen ihnen beim Essen zu. Es ist ein Reisgericht mit Linsen, Zimt und Datteln. Mike sortiert die Datteln aus und fragt nach Ketchup. Natürlich ist das ekelhaft, aber wir haben Ketchup und wir sagen nicht »Nein«, wenn jemand fragt. Meine Mutter holt die Tube aus dem Kühlschrank, Franky tut sich etwas davon auf den Reis und isst weiter, während wir eine Konversation versuchen.
»Du magst das?«
»Ich mag das.«
»Ich mag das auch.«
Subjekt, Prädikat, Objekt. Das »auch« war die ausgestreckte Hand, die Anschluss hätte bedeuten können.
Am nächsten Tag in der Schule ist der Anschluss nicht da. Keine Konversation. Kein »Danke für gestern, war lecker«. Kein »Sorry, dass es so spät war« und das unsichere Gefühl, etwas sei uns genommen worden.
Am Abend dann das gleiche Ritual. Das Klingeln.
Die ausgestreckte Mark. Verschlafenes Rumsitzen am Esstisch. Ketchup. Meine Mutter verwaltet die Situation, während mein Vater schweigt. Mal versucht er ein Lächeln, wundert sich, ist erstaunt, wütend oder gekränkt. Er ist dieser Arm, von dem man nicht weiß, wo man ihn hintun soll. Er ist der verlegene Arm meiner Familie.
Und am nächsten Tag die gleiche Kälte in der Schule. Der gleiche Abstand. Das gleiche Gefühl, beklaut worden zu sein. Ich weiß nicht, wie oft sich das wiederholt, aber irgendwann sind es mehr Kinder, die nachts vor unserer Tür stehen. Und irgendwann wagt es einer von ihnen, meine Mutter auf der Straße anzusprechen und zu fragen, was es abends zu essen gibt, als sei sie seine Angestellte. Meine Mutter schaut ihn an und sagt: »Butterbrot!«. Als wir zu Hause ankommen, fügt sie hinzu: »Den Dreck, den eure Eltern euch geben!« Ich höre meine Mutter zum ersten Mal »Dreck« sagen und da weiß ich, was ich zu tun habe.
Am Tag darauf in der Schule packe ich meine Sachen schon zusammen, bevor es klingelt, und bin der Erste, der draußen ist. Ich schmeiße meine Tasche ins Gebüsch, stelle mich vor das Schultor und warte, bis der Junge rauskommt. Er schaut mich an, grinst und ich breche ihm das Gesicht. Vor der gesamten Scheißschule. Punche mit allem, was ich habe, auf seine Nase und breche sie. Packe seinen Kopf, halte ihn nach unten und trete ihm mit dem Knie ins Gesicht. Immer und immer wieder. Ich weiß nicht, wie oft. Keine Ahnung, wie lange. Aber als ich ihn loslasse, klappt er einfach zusammen und bleibt liegen. Hält nicht mal mehr sein Gesicht fest.
Noch nie hatte es an der Schule Gewalt von dieser Qualität gegeben. Der Junge kommt fünf, sechs Wochen lang täglich in einer anderen Farbe zur Schule. Violett. Grün. Blau. Gelb. Rot. Orange. Danach bin ich King. Scheiß auf Ray Cokes, Chief Ironside. Scheiß auf He-Man. Ich bin der Master of the Universe. Scheiß auf »auch«. Scheiß auf Anschluss. Scheiß auf »uns«. Scheiß auf SPD.
Meine Eltern glauben dem Fernseher von Anfang an nicht. Und das bleibt so.
Sie glauben Wrigley’s Spearmint nicht. Yogurette nicht. Sanso nicht und auch Perwoll nicht. Sie glauben Zott Sahnejoghurt nicht. Kein Weekend-Feeling für meine Eltern. Sie ahnen, dass Herr Kaiser weder Hamburger, noch Mannheimer ist. Sie nehmen Nescafé-Angelo nicht ab, dass er kein Auto hat. Sie wissen, dass Villabajo nicht schrubbt, während Villarriba schon wieder feiert. Dass Werthers nicht echt sind.
Sie kennen den Mullah, der im Fernsehen behauptet, Frauen, die keine Büstenhalter tragen, verursachten Erdbeben. Oder Gespräche von Geistlichen, bei denen es um die Frage geht, ob ein Kind haram ist, wenn sein Erzeuger bei einem Unfall auf die eigene Tante gefallen ist und sie dabei versehentlich geschwängert hat.
Sie kennen also Stupidität. Aber sie kennen sie nicht in Kombination mit Profanität. Dummheit hatte in ihrer Welt immer einen Überbau. Wollte Neuordnung, Staat, Gesellschaft, Tod und Gesetz. Tüchtigkeit, Moral und Disziplin. Opfer und Widerstand. Richtung. Nicht etwas, das es im Supermarkt gab. Und jetzt schalten sie hier den Fernseher ein und ein Zeichentrick-Biber versucht sie von einer Zahnpasta zu überzeugen, als wären sie fünf.
Einmal kommt uns in der Fußgängerzone ein dicker Mann entgegen, auf dessen T-Shirt steht: Bier formt diesen schönen Körper!
Als er vorbeigelaufen ist, fragt meine Mutter mich, was »formt« bedeutet. Ich glaube, sie versteht das Wort und auch den Satz. Was sie nicht versteht, ist das T-Shirt. Es ist die Begegnung eines Menschen, der ein Land hinter sich gelassen hat, in dem es für ihn kein Weiter gab, mit einem Menschen aus einem Land, in dem es ein Weiter gibt, dem sich dieser aber verweigert. Der sich stattdessen entschlossen hat, etwas zur Schau zu stellen, was für ihn Souveränität und Unbezwingbarkeit bedeutet und für meine Mutter das Unbekannte. Verwahrlosung ist ein Wort, das sie bis heute nicht kennt. Ich weiß es. Ich habe nachgefragt. Und so misstraut sie lieber ihrer Sprachkenntnis.
»Nichts. Der Mann ist dumm«, sage ich.
Ein paar Jahre später wird meine Mutter vielleicht mit einem ähnlichen Blick auf ein »Geiz ist geil!«-Plakat schauen und mit allem recht haben, was ihr durch den Kopf gehen wird. Gier kennt sie. Von Kindern. Geiz gibt es auch im Iran, aber hier ist er offiziell. Hier muss sich die Großzügigkeit erklären.
Und während meine Eltern im Iran den Trottel, der den Mullahs die Sache mit dem Erdbeben geglaubt und den die Geschichte mit der geschwängerten Tante interessiert hat, schon an Hemd, Frisur, Gang, Blick und Sprache erkennen, ist der Idiot, der kauft, was der Zahnpasta-Biber ihm nahelegt, schon schwieriger ausfindig zu machen. Aber klüger ist er nicht. Für Zahnpasta hängt man nur keine Menschen auf.
Vielleicht ist das schon alles.
In den Achtzigern erreicht uns kein Brief aus dem Iran, der nicht geöffnet wurde. Auch die Briefe, die wir verschicken, kommen geöffnet an. Sie werden aufgeschnitten — gelesen oder nicht — und mit braunem Leim wieder zusammengeklebt. Wir sollen wissen, dass sie geöffnet werden. Unsere Briefe überbringen zwei Botschaften. In den Neunzigern wird es etwas besser. Der Kleber ist nicht mehr sichtbar. Die Briefe nur noch manchmal merkwürdig verklebt.
Vielleicht machen sie Stichproben, vielleicht haben sie Lampen, die sie benutzen, um die Briefe zu durchleuchten. Vielleicht benutzen sie besseren Kleber. Vielleicht fühlen sie sich sicherer, jetzt, wo sie genügend Menschen umgelegt haben. Vielleicht verlassen sie sich auf unsere Paranoia. Die eine Sache, an der es nicht mangelt, sind Theorien.
Noch ist mein Vater nicht gänzlich in sich selbst eingekehrt, sein Exil liegt noch außerhalb seines Körpers. Ist begehbar. Landkarten kennen den Ort. Er ist ein Poet. Also schreitet auch seine Verkapselung poetisch voran. Sie beginnt damit, dass ihm deutsche Schuhe nicht mehr passen. Kategorisch. Das sagt er auch genau so. »Hier passen mir die Schuhe nicht«, sagt er und betritt nie wieder ein deutsches Schuhgeschäft. Lässt sich welche aus dem Iran schicken. Schuhe, die er nie gesehen, nicht anprobiert hat, die ihm aber passen. Manchmal gibt er Aphorismen von sich, die keine Resonanz erzeugen, keinen Hall. Sätze wie »Gott ist tot, aber wir brauchen ihn« oder »Identität ist eine Krücke. Brauchst du nur, wenn du schwach bist«.
In dem Nichts unserer Plattenbauwohnung sollen sie etwas bewirken, erklären, ertasten. Weiß nicht, ob er das mir erzählt oder sich selbst. Ob er laut denkt oder leise spricht. Ob er mich erzieht oder mir etwas zu vererben versucht. Ob es Vermächtnis ist oder Erkenntnis. Mal ist er ein Prophet, der den Berg nicht mehr findet. Mal ein General ohne Armee. Mal ein Gestrandeter auf einer kargen Insel, ein Meer zwischen sich und den anderen und kein Baum, den er fällen, der ihm Boot oder Brücke werden kann.
Als Nächstes stört ihn der 4/4-Takt. Das tsss mache ihn nervös, sagt er. Er meint die Snare. Die Monotonie des Taktes mache dumm. Das sind Dinge, die weiß er jetzt und einmal ausgesprochen ist das dann auch so.
Es ist wie in dem R. E. M.-Song. Er steht in der Ecke und verliert seinen Glauben.
Wie mein Vater hat auch meine Mutter Sätze, die sie wie Pflöcke in die Welt rammt. Mit denen sie Zäune zieht und Wege markiert.
Einmal zeigt sie auf die Pflastersteine unter unseren Füßen und sagt, dass man sie nur an den Ecken etwas abschleifen muss, um sie ins Rollen zu bringen.
Während mein Vater mit seinen Sätzen den Krater hinter sich zu begreifen und bebildern versucht, klopfen die Sätze meiner Mutter uns auf die Schulter, kennen Ziel und Richtung. Zurück schaut sie nur, um Abstände zu messen, den Weg zu betrachten, der hinter uns liegt.
Ihre Glaubenssätze formuliert meine Mutter meist, wenn wir spazieren gehen, wobei es eher Erkundungen sind als Spaziergänge. Wir laufen die neue Gegend ab. Suchen uns immer neue Wege aus.
Von allen Kleidungsstücken, die Mutter besitzt, gefällt mir die stonewashed Jeans mit dem Karottenschnitt am besten. Auf der Gesäßtasche ist noch eine kleine Tasche aufgenäht und die hat einen Reißverschluss. Wenn Mutter die Jeans anzieht, stelle ich mir vor, sie sei meine ältere Schwester. Wenn sie spricht, nicke ich meist, sage Ja, als hätte ich mir ähnliche Gedanken gemacht und sei zu denselben Schlüssen gekommen, während ich die Pusteblumen am Wegrand mit Tritten enthaupte. Ich versuche sie so wegzuschießen, dass die Blume eine Linie aus Gleitern hinter sich herzieht, wie die Flugzeuge in den Kriegsfilmen, aus denen Fallschirmspringer abspringen. Gelingt aber nie.
Unsere Siedlung ist von der Stadt getrennt durch Raps- und Maisfelder. Mit der Stadt verbunden ist sie über eine Brücke, vor der ein gelbes Schild aufgestellt ist. Auf dem Schild ist ein Panzer abgebildet. Zahlen und Pfeile, die entweder das Gewicht des Panzers oder seine Geschwindigkeit reglementieren. Und ich bin vielleicht der einzige Mensch, für den dieses Schild Wärme ausstrahlt. Die Vorstellung, dass auch hier ein Krieg stattfinden könnte, der so naheliegt, dass man Verkehrsschilder für Panzer aufgestellt hat, bringt mir dieses Land näher. Außerdem ist der Panzer gut dargestellt. Sieht aggressiver aus als die, die ich als Kind gemalt habe.
Bis zu dem Schild laufen wir manchmal. Ab da geht es nicht mehr weiter. Wir kommen oft hierher. Oft zu zweit. Manchmal auch zu dritt.
Der Weg entlang der Felder ist bis auf eine leichte Biegung nach links kilometerweit gerade, und deshalb übt meine Mutter hier Fahrrad zu fahren.
Mein Vater hält ihren Sattel hinten fest und läuft neben ihr her, während er ihr Anleitungen zuflüstert.
Ich schaue ihnen hinterher und stelle fest, dass ich meinen Vater nie rennen gesehen habe. Nicht ein einziges Mal habe ich erlebt, dass er es eilig hatte, zu spät dran war oder gestresst.
Ich weiß nicht, was seine Ruhe ausmacht. Ob es das Gefühl ist, die Welt könne warten, oder dass es ohnehin für alles zu spät sei. Aber auf diesem Schotterweg mit dem Löwenzahn an den Rändern rennt er. Weit weg von meiner Vorstellung von ihm, sieht er merkwürdig aus.
Später, viel, viel später, als ich erwachsen bin und wir uns wieder annähern, besucht er mich in Berlin und sieht, wie ich meiner Freundin die Autotür aufhalte. Sie steigt ein, ich schließe die Tür und gehe um das Auto herum zur Fahrerseite. Er setzt sich hinter mich und flüstert auf Persisch: »Seit ich deine Mutter kenne, habe ich nicht zugelassen, dass sie auch nur eine Tür selbst öffnet.«
Meine Freundin versteht kein Persisch. Es ist nicht nötig, leise zu sprechen. Trotzdem antworte auch ich gedämpft.
»Ja. Ist wichtig«, sage ich.
Und er flüstert wieder zurück: »Sehr wichtig!«
Sein Flüstern ist fest. Nur damals habe ich ihn so sprechen hören. Auf dem Schotterweg. Mit der Hand an dem Sattel, auf dem meine Mutter saß.
»Schau nach vorne! Nicht nach unten!«, war einer seiner Sätze. Als wäre er sie und sie er.
Ich lächle, drehe den Zündschlüssel und denke, dass das wahrscheinlich der wärmste Moment ist, der je zwischen uns beiden entstanden sein wird. Dass wir uns nie näher sein werden als in diesem Moment. Und der Gedanke bringt ein paar Dinge in Einklang, über die wir niemals reden werden. Verzeiht und bereinigt etwas.