Hund, Wolf, Schakal - Behzad Karim Khani - E-Book + Hörbuch

Hund, Wolf, Schakal E-Book und Hörbuch

Behzad Karim Khani

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Beschreibung

Behzad Karim Khanis Debüt über das Schicksal zweier Brüder verbindet die Härte der Straße mit der Melancholie iranischer Prosa. „Zehnmal besser als jedes ‚4 Blocks'.“ (Ijoma Mangold)

Nach der Hinrichtung der Mutter im Tumult der Iranischen Revolution fliehen der elfjährige Saam und sein kleiner Bruder Nima mit ihrem Vater nach Deutschland. Doppelt fremd im arabisch dominierten Neukölln, fristet der Vater ein Leben zwischen Taxifahren, Backgammon und Scham, während Saam versucht, die Rolle des Familienoberhaupts auszufüllen. Mit allen Mitteln erkämpft er sich Respekt unter den brutalen Straßengangs, um seinen Bruder Nima zu beschützen. Bis er eines Tages zu weit geht.
In seinem spektakulären Debüt schreibt Behzad Karim Khani über die komplizierten Schicksale von Revolutionären, Kleindealern und Messerstechern und entwickelt dabei einen ganz eigenen Sound, in dem sowohl die Melancholie iranischer Prosa als auch die Härte afroamerikanischen Raps anklingen.

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Seitenzahl: 316

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Zeit:7 Std. 42 min

Sprecher:Raschid Daniel Sidgi
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Über das Buch

Behzad Karim Khanis Debüt über das Schicksal zweier Brüder verbindet die Härte der Straße mit der Melancholie iranischer Prosa. »Zehnmal besser als jedes ›4 Blocks'.« (Ijoma Mangold)Nach der Hinrichtung der Mutter im Tumult der Iranischen Revolution fliehen der elfjährige Saam und sein kleiner Bruder Nima mit ihrem Vater nach Deutschland. Doppelt fremd im arabisch dominierten Neukölln, fristet der Vater ein Leben zwischen Taxifahren, Backgammon und Scham, während Saam versucht, die Rolle des Familienoberhaupts auszufüllen. Mit allen Mitteln erkämpft er sich Respekt unter den brutalen Straßengangs, um seinen Bruder Nima zu beschützen. Bis er eines Tages zu weit geht.In seinem spektakulären Debüt schreibt Behzad Karim Khani über die komplizierten Schicksale von Revolutionären, Kleindealern und Messerstechern und entwickelt dabei einen ganz eigenen Sound, in dem sowohl die Melancholie iranischer Prosa als auch die Härte afroamerikanischen Raps anklingen.

Behzad Karim Khani

Hund Wolf Schakal

Roman

Hanser Berlin

Für uns, Nito. Immer.

»Only promise me a battle …«

Gil Scott-Heron

UNTIERE

Alles schien gut zu laufen. Alles sah nach Sieg aus. Nach Moral und guter Arbeit. Irgendwo, Hunderte Kilometer entfernt, in einer ocker- und lehmfarbenen Kargheit auf sonnenverbranntem Sand und olivgrünen Flüssen lief der Krieg auf ein Happy End zu, wenn man dem Fernseher Glauben schenkte, wenn man also ein Kind war.

Saam war ein Kind. Und in seinem Leben gab es zwei Monster. Eines davon war der Krieg. Der Krieg, das war dieser Riese, der hinter dem Berg lebte. In Teheran war das so. Tagsüber orange und gelb aufflackernd und in den Nächten phosphorweiß schlug der Riese um sich. Mit Mörsern und Granaten. Aber das war weit weg. In Teherans Straßen gab es diesen Krieg nicht, die Mörser nicht, die Panzer nicht, die Granaten nicht. Und als würde das den Riesen kränken, stieg er manchmal über den Berg und kam, die Stadtbewohner zu strafen. Das war der Teil, den Saam zwar mitbekam, aber nicht mit dem Abenteuerfilm aus der Wüste in Verbindung brachte.

Manche glaubten zu fühlen, wann der Riese kam. Wann die Bomber in den Luftraum der Stadt eindrangen, von denen Saam glaubte, Saddam selbst würde in einem von ihnen sitzen. Dann heulten die Sirenen auf, und die Stadt verfiel in eine kurze Hast, gefolgt von einer Art Starre.

Eine ganze Stadt, fast zehn Millionen Menschen trafen Vorkehrungen, machten Handgriffe, die sich ohne Licht nicht mehr ausführen ließen, dann wurde es dunkel und still. Der Riese atmete jetzt über ihnen. Sogar der Verkehr, der nicht weniger Opfer abverlangte als die Bomben, hielt die Luft an.

Am nächsten Tag hieß es, dass die Bomben ein anderes Viertel getroffen hätten, das auch ein anderes Land, ein anderer Kontinent hätte sein können, und das Leben ging weiter. Der mächtigste Koloss war am Ende nämlich Teheran selbst.

Das zweite Monster in Saams Leben war das Evin-Gefängnis. Das Ungeheuer, das seine Mutter gequält, getötet und dann entsorgt hatte.

Das Gefängnis, von dem Leute erzählten, es wäre zu Shahs Zeiten mit Washington und Tel Aviv unterirdisch verbunden gewesen. Und aus dem angeblich nachts ganze LKW voller abgerissener Fingernägel rausgefahren und in Krematorien im Ausland verbrannt wurden.

Evin war körperlicher. Evin war das Monster, das unter seiner Matratze schlief. Das Monster, das kein Bett brauchte. Dem eine Matratze reichte, eine Decke, ein Kissen, ein Laken, ein Tuch oder der Teppich. Dort lag es dann wach und atmete mit Saam. Erst im selben Rhythmus, dann immer schneller, flacher und hektischer, bis es zuerst Saam und dann jeden anderen im Raum aus dem Schlaf riss. Schließlich stand es auf, öffnete die Tür und ging. Drehte eine Runde, kam nach ein paar Stunden, manchmal auch erst in der nächsten, übernächsten Nacht zurück. Wie eine streunende Katze, die sich von Panik ernährte.

Als sie kamen, um auch seinen Vater Jamshid zu holen, spielte Saam gerade auf dem Dach. Wo sie im Sommer schliefen, hatte er sich unter einer orange-weißen Plastikplane, die wie ein Vorzelt befestigt und mit schweren Steinen beschwert war, eine kleine Oase eingerichtet. Bilder von Segelflugzeugen und Sportwagen, die er aus Magazinen ausgeschnitten hatte, verblichen an der Wand. Buntnesseln in sonnengesättigtem, tiefem Violett wucherten hier bis in den Herbst hinein. Farne gediehen, und auch Lavendel wuchs, sogar die Geranien, die seine Mutter gepflanzt hatte, obwohl er sie zu oft goss. Ein Winston-Aschenbecher, den er mit Wasser füllte, war die Wasserstelle für die Eidechsen der Nachbarschaft. Er hielt Heuschrecken, Grillen und Käfer in verschließbaren, mit Luftlöchern versehenen Gläsern. Manchmal fing er Wespen, band ihnen etwas Garn um die Taille und knotete sie anschließend an die Geranien wie Luftballons.

Wenn sie flogen, sah es aus, als wollten sie die Pflanzen ausreißen, und er stellte die Rechnung auf, dass genügend Wespen ihn davontragen und mit ihm über die Nachbarschaft fliegen könnten wie der kleine Prinz. Das Buch, das seine Mutter ihm vorgelesen hatte und das er hier oben zwischen den Dinosaurierbüchern aufbewahrte, die er lieber las.

Eine der Heuschrecken war verendet. Saam lag mit dem Rücken auf dem Boden, hielt den leblosen Körper in die Luft und ließ ihn Schleifen drehen wie ein Spielflugzeug. Die Heuschrecke war gerade im Sinkflug, als es unten gegen die Tür pochte. Sein Vater war auf dem Hof, und Saam konnte beobachten, wie vier Männer um ihn herumstanden und diskutierten. Dann holte einer von ihnen Jamshids Krücken, und sie führten ihn ab.

Saam geriet in Panik, wusste nicht, ob er ihnen nachlaufen oder sich verstecken sollte. Er entschied sich fürs Verstecken, schlich zu dem Schrank, in dem seine Großmutter, die sie schon so lange Bibi Joon nannten, dass es ihr Name geworden war, die Wintersachen gestapelt hatte, öffnete ihn und kroch hinein. Das Monster war schon dort. Es wartete. Saam setzte sich zu ihm und atmete im selben Rhythmus, und dann geschah etwas. Durch den offenen Türspalt flogen einzelne, dann Dutzende und schließlich Tausende Bienen herein. Auch Fliegen, Heuschrecken und Käfer kamen und umhüllten ihn wie ein lebender, surrender Mantel und schützten ihn wie Bienen ihre Königin. Millionen Herzen schlugen in dem Schrank mit Saam und dem Monster, und als Bibi Joon, mit seinem kleinen Bruder Nima an der Hand, in den Hof trat und die Haustür öffnete, verschwanden sie, und auch das Monster verschwand, für immer.

AKROPOLIS

Jamshid wusste, dass der Tag kommen würde, an dem sie an seine Tür klopften. Was ihn überraschte, war die beinahe zuvorkommende Verhaftung. Keine Handschellen, keine Gewalt, keine Beleidigungen. Sie siezten ihn sogar. Er schrieb das seinen Krücken zu.

Der Jeep, in den sie ihn gesteckt hatten, fuhr lange, aber nicht sehr weit. Vom Müllmann bis zum Geheimagenten: Vor dem Stau, dem eigentlichen Herrscher der Stadt, waren sie alle gleich wertlos.

Sie hielten vor dem Nebengebäude einer Moschee im Westen der Stadt. Dem Gotteshaus fehlte die Pracht, dem Nebengebäude erst recht. Einer der vier Männer blieb ihm Auto sitzen. Die anderen drei führten ihn hinein. Es fiel kein Licht in den Gang, an dessen Ende der Raum lag, wo sie ihn hinbrachten.

Einer der Begleiter klopfte und rief: »Sarhang! Wir haben ihn!« Der Sarhang hatte wohl direkt hinter der Tür gestanden, denn sofort öffnete sie sich.

Bauern, dachte Jamshid. Keinerlei Geschick für Macht oder auch nur Dramaturgie. Er trat ein. Der Raum war hoch. Viereinhalb, vielleicht fünf Meter. Die Wände karg bis auf das Konterfei Khomeinis, das in einem gold-blauen Plastikrahmen eingefasst war. Es gab ein kleines Fenster zur Seitenstraße, aus dem das grüne Neonlicht der Moschee hineinfiel. Das Rohr des kleinen Blechofens führte dort hinaus. Der Raum roch nach Petroleum. Ein Tisch stand in der Mitte. Stühle gab es nicht. Auch nicht für den Sarhang. Jamshid kannte den Mann. Er wusste nicht, woher, und auch nicht, aus welcher Zeit, aber er kannte ihn.

Der Sarhang grüßte, und Jamshid grüßte zurück.

»Waren Sie auf dem Dach in letzter Zeit? Bei den Bombardements?«

»Ein-, zweimal. Ja.«

Der Sarhang seufzte übertrieben.

»Das ist jetzt also unser Vergnügen. Nachts auf die Dächer klettern und zugucken, wie Saddam uns ausradiert.«

Mit einem starken Akzent fügte er auf Englisch hinzu: »New Year’s Eve«, und lächelte. »Wir versuchen, die Raketen jetzt mit Flaks abzuschießen.« Er ließ den Satz wirken. »Mit Flaks, mit denen wir es nicht mal schaffen, ihre Flugzeuge zu treffen. Wussten Sie das?«

Jamshid nickte. Natürlich wusste er das. Das war das große Thema auf der Straße. Deshalb standen die Familien ja auf den Dächern und schauten sich die Lichter an.

»Haben Sie sich eigentlich je gefragt, was aus Ihren Panzern damals geworden ist?« Die Panzer! Jeder, der von den Panzern wusste, musste auch seine Gesinnung kennen.

»Meine Panzer? Welche Panzer?«

»Sie sind doch Herr Ariapoor, oder? Jamshid Agha!«

»Ja.«

»Dann wissen Sie doch, welche Panzer ich meine. Die Panzer, die Sie den Streitkräften des Shahs geraubt haben. Sie waren doch unser Held, Jamshid Agha.« Dann sprach der Sarhang die beiden Wörter aus, nach denen es keine Zweideutigkeiten, keine Ausflüchte mehr geben konnte.

»El Comandante!«

Und da fiel es ihm ein. Vor sieben, acht Jahren hatte sich der Sarhang noch unter Jamshids Kommando über den Asphalt gebeugt, mit einer Spitzhacke und Spaten Löcher gegraben für die Kontrollposten, bis seine Hände münzgroße Blasen warfen, dann hatte er sie bandagiert und mit blutig eitrigem Verband weitergegraben. Weinend vor Schmerz und Ergriffenheit. Was gar nicht nötig gewesen wäre, denn Jamshid hatte einfach nur vergessen, ihn ablösen zu lassen. Jamshid ließ damals die religiösen Jungs aus der Nachbarschaft die niederen Arbeiten verrichten.

Jamshid war Marxist. Leninist. Und er gehörte einer Einheit an, die in seiner Nachbarschaft beinahe hundert Guerillas zählte, Checkpoints errichtete und wichtige Verkehrsadern besetzt hielt. Jamshid hatte in einem Panzerregiment der Streitkräfte gedient. Er kannte die Militärs, die jetzt Kaserne für Kaserne desertierten und nicht nur ihre Waffen mitbrachten, sondern auch die Schlüssel zu den Kasernen, zu den Waffen- und Munitionslagern. Knapp zwei Monate vor dem Ende der Revolution hielt eine Kolonne aus sechs Militärjeeps und zwei Chieftains mit drei Dutzend rote Flaggen schwingenden Kämpfern an Jamshids Checkpoint wie bei einer Militärparade. In der Luke des Panzers, ihre G3 auf den Rücken, ihre Baretts schräg aufgesetzt, die mitternachtsschwarzen Locken im Wind, ein Lächeln auf den großzügigen Lippen, mit den Fingern das Victory-Zeichen formend: Jamshid und sein Jugendfreund Reza. Und von da an nannte man Jamshid im Viertel ebenso wie Che: »El Comandante«.

»Sie sind …«

»Ali. Fahrrad-Ali. Erinnern Sie sich? Ich fuhr damals überall mit dem kleinen Fahrrad meines Bruders hin. Die meisten hielten mich für unterbelichtet. Vielleicht nicht zu Unrecht. Wie könnte ich das selbst beurteilen?« Er lächelte ein treues Lächeln.

»Natürlich. Fahrrad-Ali. Sie … du bist verschwunden.«

»An die Front. Ja. Operation Morgenröte eins und zwei. Beim zweiten Einsatz traf mich ein Schrapnell in die Schulter. Daher musste ich unsere Brüder leider bei der dritten Offensive im Stich lassen. Gott nahm meinen Bruder, den, dessen Fahrrad ich damals fuhr, und schenkte ihm das Martyrium. Mit mir war er nicht so großzügig. Bei Morgenröte vier und fünf durfte ich wieder dienen.«

»Möge seine Seele Freude finden.«

Die Gesichtszüge des Sarhangs froren ein. Gleichzeitig schien ihm irgendetwas unangenehm zu sein.

»Zu Ihren Panzern. Haben Sie sich je gefragt, wo sie gelandet sind?«

»Ehrlich gesagt … nein.«

»Ich mich schon. Sehr oft sogar. Vor knapp einer Woche sind unsere Truppen auf eigenem Boden überfallen worden. Einige Soldaten sind desertiert. Jede Menge Kriegsgerät wurde erbeutet. Auch Panzer. Natürlich weiß ich nicht, ob es Ihre waren, aber da dachte ich wieder daran. Die Ironie, verstehen Sie?«

Jamshid nickte. Er verstand die Ironie.

»Vielleicht kämpfen die Monafeghin jetzt in diesem Augenblick mit Ihren Panzern gegen uns. Komisch, oder? Sie erobern sie alleine als Partisan aus den Händen einer der mächtigsten Armeen der Welt, und wir schaffen es als die offizielle Streitkraft dieses Landes nicht, unsere Panzer durch unser eigenes Gebiet an die Front zu bringen.«

Jamshid nickte. Das war eine gute Zusammenfassung. Hatte schon seinen Grund, warum ihr damals nicht mehr durftet, als Löcher zu graben und Sandsäcke zu füllen, dachte er und erwiderte: »Ich war nicht allein. Wir hatten auch viel Glück bei der Aktion.«

Der Sarhang betrachtete Jamshid und fragte völlig unvermittelt, was aus seinem Schnauzer geworden sei. Immer hatte Jamshid, wie jeder iranische Kommunist, einen Schnauzbart getragen. Als Hippie zu Koteletten wuchernd. Während des Wehrdienstes kürzer. In den Monaten der Revolution kombiniert mit einem Dreitagebart. Unter der Herrschaft der Vollbärtigen in einem ansonsten akkurat rasierten Gesicht, damit keine Missverständnisse aufkamen, und aus Trotz etwas länger. So, dass er die Unterlippen berührte, was der Reinheitskodex der Moslems verbietet. Und jetzt, wo er sich mit dem Gedanken, nach Europa zu fliehen, beschäftigte, gerade so gestutzt, wie es die Ehre zuließ. Jamshid war ein aufrechter Mann. Sein Gang der eines Mannes, der Stolz in Würde verwandelt hatte. Ein Gang, von dem die Leute sagten, er hätte sich nach dem Attentat nicht verändert, und der ihm auch vor dem G3 und den Panzern etwas verlieh, das die Frauen im Viertel entweder den Blick senken oder den Tschador etwas öffnen ließ. Er kam aus einem Viertel, in dem die Männer auf ihre Schnauzer schworen. Und jetzt saß er hier und wurde zu seinem Bart befragt. Von Fahrrad-Ali, der nicht mal strammstehen konnte.

Durch dunkle Augen schaute Jamshid den Sarhang an.

»Habe ihn gestutzt«, antwortete er. »Meinen Scheitel ziehe ich jetzt auch anders. Aber ihr habt mich nicht hergebracht, um über Frisuren zu reden.«

»Nein. Haben wir nicht. Auch nicht, um über Panzer zu reden.« Er antwortete schnell, fast als wollte er sich entschuldigen.

»Wissen Sie, Panzer sind nicht die einzigen Dinge, die in dem Chaos dieser Tage an Orten landen, wo sie nicht hingehören.«

Dann zog er die Schublade auf, holte einen Pass heraus und schob ihn Jamshid rüber.

»Ist das Ihr Pass?«

Es war sein Pass. Sein Foto. Sein falscher Name. Homayoon Kashani. Der Pass, für den sie eine Hypothek auf das Haus aufgenommen hatten und dessen Ausstellung seit über drei Wochen fällig war.

Er schüttelte den Kopf.

»Homayoon Kashani steht hier. Ich bin Jamshid Ariapoor. Sie … du kennst meinen Namen.«

»Das Foto sieht Ihnen ziemlich ähnlich.«

Jamshid warf noch einen Blick darauf.

»Es geht. Ich sehe besser aus.«

Der Sarhang lachte plötzlich auf. Sein herzlich naives Fahrrad-Ali-Lachen hob alles auf, was sich an Macht, militärischem Rang und Gewalt in dem Raum zu konzentrieren versuchte.

»Gut. Ich will Ihre Zeit nicht verschwenden. Der Pass wurde bei einer Festnahme mit dreißig anderen gefälschten Pässen gefunden. Ich habe das Foto gesehen und ihn eingesteckt.«

»Gut für Homayoon«, sagte Jamshid.

»Gut für Homayoon.« Der Sarhang schob Jamshid den Pass rüber.

»Ich habe Sie herholen lassen, weil ich dachte, dass Sie Homayoon kennen könnten.«

»Ich kenne Homayoon nicht.« Jamshid schob den Pass wieder von sich, aber der Sarhang nahm ihn nicht an.

»Stecken Sie ihn trotzdem ein«, sagte er.

Jamshid verstand nicht.

»Vielleicht läuft er Ihnen ja mal über den Weg.«

Jamshid nahm das Dokument, das alles entscheiden würde, vom Tisch. Es war perfekt. Genau wie versprochen. Die Farbe, das Material, alles stimmte.

»Ich soll ihn einstecken?«

Der Sarhang nickte.

Jamshid schaute ihn skeptisch an und steckte den Pass sehr langsam und demonstrativ in seine linke Jackentasche.

»Ich habe noch eine Bitte. Sagen Sie Homayoon, dass ich weiß, dass er abhauen will, und dass das gut ist. Sein Platz ist nicht mehr hier. Sagen Sie ihm, dass das jetzt das Land der Verrückten und der Barfüßigen ist. Der Pechvögel, die hinter dem Berg leben. Sagen Sie ihm, dass das jetzt das Land der Analphabeten ist, die seine Bücher nicht verstehen. Nie verstanden haben.« Kurz glühten seine Augen, dann schaute er zur Seite.

Jamshid wollte protestieren. Aber der Sarhang winkte ab.

»Schon gut. Schon gut. Ich weiß, was Homayoon über uns denkt. Sagen Sie ihm das. Sagen Sie ihm, er soll nach Europa gehen. Champs-Élysées. Buckingham Palace.« Er nannte diese Orte, als würden sie nicht existieren. Als würde er von Atlantis reden oder einem Planeten aus einem Science-Fiction.

»Sagen Sie ihm, er soll sich mit seinen Intellektuellenfreunden in Rom in ein Café an der Akropolis setzen und sich schöne Gedanken machen.«

Jamshid nickte.

»Ist die Akropolis in Rom?«, fragte der Sarhang.

»In Athen«, antwortete Jamshid, und der Sarhang lächelte.

»Athen. Sagen Sie ihm, dass ich ihm viel Spaß in Athen wünsche, und sagen Sie ihm, er soll reden. Viel reden. Aber wenn seine Freunde uns Barbaren und Schergen nennen, soll er bitte an diesen Moment denken. Dann soll er ihnen sagen, dass er hier Menschen getroffen hat, die Würde besitzen. Die versuchen, ihre Ehre zu wahren. Seine Mutter vor Raketen zu schützen mit dem, was sie haben.«

»Richte ich ihm aus.«

»Wissen Sie …« Er holte tief Luft, wurde etwas lauter, förmlicher, genau dadurch aber unsicherer. »Sie haben sich damals in die eine Richtung gedreht und wir uns in die andere. Sie waren der Sohn des Direktors und stehen jetzt da. Ich war der Sohn des Salzverkäufers und stehe hier. Wir sind auf dieser Seite des Tisches gelandet und Sie auf der anderen. Hätten Sie das gedacht?« Jamshid stammte aus einer Königs-, dann Hochadels-, später Feudalherrscher-, noch später nur Großgrundbesitzer- und schließlich Beamtenfamilie. Einer Familie also, die seit fast dreihundert Jahren kontinuierlich abgestiegen war, aber nicht nur Geschichte, sondern auch einen Herrschaftsanspruch ausstrahlte.

Sie schauten sich in die Augen, während Jamshid nickte und der Sarhang stillstand. Jamshids Herz pochte unter dem Pass. Das Herz des Sarhangs unter dem Taschenkoran und dem Passfoto seines Bruders in seiner Westentasche.

»Grüßen Sie Homayoon von mir, wenn Sie ihn sehen. Sagen Sie ihm, wir vergessen die Güte seiner Mutter nicht. Gott sei mit Ihnen.«

»Gott sei mit Ihnen, Sarhang«, antwortete Jamshid. Unschlüssig, ob er gleich zur Tür stürzen oder dem Sarhang noch die Hand geben sollte. Der Sarhang richtete sich und seine verwaschene Uniform, salutierte vor seinem alten Kommandeur, und Jamshid salutierte ebenfalls. Als er draußen war, wurde ihm klar, dass der Abschied von seiner Stadt anders aussehen würde, als er gedacht hatte.

PANOPTIKUM

Nach dem Reiseverbot, dem Berufsverbot, der Hinrichtung seiner Frau, nach dem Anschlag auf ihn, dem Verschwinden seiner Genossen, den abschiedslosen Auswanderungen seiner Freunde, den Massenverhaftungen, nach den Hausdurchsuchungen, nach den Warnungen der Partei, nach dem Aufsuchen von Schmugglern und Fälschern hätte nichts unwahrscheinlicher sein können, als ihn abzuholen, um ihm seinen gefälschten Pass auszuhändigen. Aber genau das war passiert.

Er presste seine Hand auf die Jackentasche. Der Pass war da. Er hatte ihn. Auf der anderen Straßenseite standen Telefonzellen. Davor saß ein Spastiker, der Scheine in Münzen wechselte und für jeden Tausch einen Toman behielt. Jamshid gab ihm einen Zehner und bekam neun Münzen zurück. Er rief die einzigen Nachbarn an, die ein Telefon hatten, und erwischte die Hausherrin, die ihren Sohn zu seinen Eltern rüberschickte, Entwarnung zu geben. Dann entschied er sich, ein paar Blocks zu gehen, und humpelte los.

Die Wasserbäche entlang der Straßen kamen vom Alborz-Gebirge im Norden Teherans. Geschmolzener Bergschnee floss klar, kalt und voller Kraft den reichen Norden runter und verendete unten im Süden. Nachdem man den Bächen Kilometer für Kilometer Dreck zu fressen gegeben hatte, übergaben sie sich schließlich vor den Füßen der Einwohner von Javadiyeh, Amiriyeh, Simetri und Gomrok. Dort unten kamen die Bäche zum Erliegen wie ein Statement.

Am Straßenrand stand eine Frau, die immer wieder schrie, sie habe keine Angst. Wovor, behielt sie für sich. Ein paar Straßen weiter hatte ein alter, zahnloser Mann einen Stand aufgebaut und verkaufte Bücher kiloweise. Jamshid blieb stehen, stützte sich auf seine Krücken und zündete sich eine Zigarette an. Es gab zwei verschiedene Kilo-Tarife. Einen, wenn man die Bücher selbst aussuchte, und einen günstigeren, wenn der Verkäufer blind um sich griff. Wie beim Obstkaufen. Wie Orangen oder Äpfel. Jamshid hatte in den vergangenen Nächten große Teile seiner Büchersammlung verbrannt, und er würde in wenigen Wochen, vielleicht sogar Tagen, den Iran verlassen, und trotzdem schaute er jetzt nach seiner Tasche. Nichts beschrieb den Zustand seines Landes besser als dieses Bild, dachte er. Er zählte sein Geld, trat an den Stand und kaufte zwei Kilo Bücher. Der Mann stellte einen kleinen Stapel auf die Waage. Zwei Kilo und dreihundert Gramm. Er kassierte für zwei Kilo.

Es war noch weit bis nach Hause, aber Jamshid wusste, dass er diese Straßen bald nicht mehr sehen würde, und entschied sich, zu Fuß Abschied zu nehmen. Alles, was er in diesen Wochen tat, würde er wahrscheinlich zum letzten, vorletzten, vorvorletzten Mal tun. Er würde den Spastiker nie wiedersehen, die Frau nicht, die ihre Angst anschrie, und er würde nie wieder zwei Kilo Bücher kaufen. Wie wohl die Verrückten auf den Champs-Élysées aussahen?

Es war spät geworden, als er Javadiyeh erreicht hatte. In dem Rinnsal zu seinen Füßen trocknete in der schräg einfallenden Abendsonne die Schlammkruste auf den Zigarettenkippen, Plastiklatschen, Essensresten, Einkaufstüten und einem platten Fußball, dem ein paar Kilometer weiter oben ein Kind hinterhergeweint haben musste. Die Münder der Passanten hatten immer weniger Zähne. Es waren unzählige Kinder auf den Straßen, obwohl es immer später wurde. In den von ihren Müttern mit einfachen Nadeln durchstochenen Ohrläppchen trugen die Mädchen Draht oder Bindfäden als Ohrringe. Die Tschadors wurden strenger, wie auch die Gesichter strenger wurden. Die Menschen hier hatten einen anderen Stress, schwitzten einen anderen Schweiß. Er war jetzt im Süden. Und erschöpft.

Er hielt ein Taxi an, erklärte dem Fahrer, dass er kein Geld dabeihabe und es von zu Hause holen müsse, und stieg ein.

Er fuhr vorbei am Cinema Casablanca, wo er, seit er nicht mehr an der Schule lehren durfte, nachts als Filmvorführer arbeitete. Wo er in dem heißen Projektorraum saß, die Filmrollen wechselte und die alten Russen oder Márquez las. Er fuhr vorbei an dem Café, wo er tagsüber Kalligrafien anfertigte und für wenig Geld an Leute aus dem Viertel verkaufte, die ihn für das bewunderten, was er mal gewesen, oder für das bemitleideten, was davon übrig geblieben war.

Vorbei an den Reklame- und Straßenschildern, auf die seine Mutter bei Spaziergängen mit hennafarbenen Händen zeigte, während ihr Gesicht mit zittrig konzentrierten Lippen Anlauf nahm, die Schriften zu entziffern. Sie las, wie andere Kreuzworträtsel lösten. Mit dem Lesen erledigte sie die Wörter. »Sch-ne-i-de-rei Meh-ran« transportierte nichts, »B-ra-ut-klei-der Ba-har« nichts, der »Gom-rok Pla-tz« nichts. Revolution nichts, Diktatur nichts, Darwin nichts, schwarze Löcher nichts, Tod dem Shah! Nichts, Kommunismus nichts. Manchmal dachte er, dass es schade war, dass es ihren Himmel nicht gab. Sie hätte dort gut reingepasst.

Er fuhr vorbei an Männern, die sich Nashorn-Ali, Doppelschwanz-Mahmood, Siebenfinger-Jaafar oder Mohsen das Tier nannten. Und an dem Schlachthof. So, wie Nord und Süd Reich und Arm voneinander trennte, trennte der Schlachthof Armut von Elend. Nördlich vom Schlachthof streckte man den Beton, wie man Heroin streckte. Südlich waren die Häuser aus Lehm. Südlich streckte man nicht mal mehr. Nördlich waren die trockenen Tage vielleicht eine Geruchsbelästigung, südlich war nichts bedrohlicher als zwei Tage Regen. Ab dem dritten Tag wurde der Niederschlag zum Schicksal wie ein unbezahlter Heroindealer, von denen es südlich wie nördlich des Schlachthofs wimmelte.

Als Jamshid am Ende der Gasse aus dem Wagen stieg, konnte er den Weihrauch riechen, den sein Vater abends anzündete. In der Küche brannte das helle Halogen hinter der Silhouette seiner Mutter. Nima und Saam standen vor ihrer eisernen Eingangstür mit einem Wasserschlauch und spülten den Dreck der Gasse in die Rinne. Hinter ihnen die Einschusslöcher, die ihr Großvater gleich am nächsten Tag nach dem Attentat zugespachtelt hatte. Acht Schüsse hatten sie auf Jamshid abgegeben und nur das Bein getroffen.

Es gab Prothesen, aber eine Prothese war für ihn wie eine Perücke. Eine Lebenslüge. Jamshid trug keine. Und er ließ seine Mutter auch nicht die Hose an der Seite kürzen, wo jetzt kein Bein mehr da war. Er faltete es und steckte es mit Sicherheitsnadeln ab, als erwartete er, dass das fehlende Bein irgendwann wieder nachwuchs. Drei Paar Schuhe hatte er gekauft seit dem Attentat. Die rechten trug er, die linken bewahrte er auf.

Es war gut, dass sie gingen, dachte er. Der Pass würde sie nach Istanbul bringen, da würde er eine Telefonnummer wählen, und jemand würde sich um sie kümmern. Jemand, der wissen würde, der vielleicht sogar jetzt schon wusste, wie die Reise weiterging. Welche Route sie nehmen müssten, welches Land sie akzeptieren würde. Schweden, die Sowjetunion, Jugoslawien oder Deutschland. Er selbst hatte keine Präferenz. Er rannte vor etwas weg, nicht zu etwas hin.

WELT

Sie fuhren zwei Tage, bis sie an der türkischen Grenze waren. Sie fuhren durch die dichten Wälder Aserbaidschans und Kurdistans, durch Landschaften wie geschliffen aus einem einzigen, kilometerlangen Stein. Mit Schlaf in den Augen und dem Geschmack von Seven Up und Zahnpasta auf der Zunge, weil Jamshid den Wasserleitungen der Raststätten nicht traute und sie ihre Münder mit Limonade ausspülten. Sie fuhren durch zwei Nächte. In der einen Nacht hagelte es so aggressiv, als wollte das Wetter mit der Gewalt in ihrer Heimat mithalten. Die andere Nacht war so trocken, salzig und klar, dass ihre Lippen aufsprangen. Beide Nächte gleich violett. Beide Nächte in demselben, grausamen, weiten Land.

Sie fuhren in einem Bus mit fünfzig Passagieren, und jeder von ihnen hatte genau fünfhundert zum offiziellen Kurs gewechselte Dollar und genauso viele Geheimnisse und Lügen dabei. Fünfundzwanzigtausend Ungereimtheiten, mit denen sie in Istanbul entweder aus dem Bus in ein neues Leben stiegen oder zurückfuhren, um ihr altes abzubezahlen.

Viele reisten nämlich nur wegen des Wechselkurses und der Dollar-Preise auf dem Schwarzmarkt. Der Gepäckraum im Bauch des Busses war nicht besonders voll. Er würde sich aber bald mit Auberginen, Kürbissen, Fa-Shampoo-Paletten, Billig-Batterien, Nivea-Creme und Leerkassetten füllen, die der Fahrer in der Türkei einladen würde. Jamshid hatte nicht geschlafen. Seine Gedanken waren wie die Insekten in Saams Glas. Sie sprangen und surrten, klebten fest oder hingen kopfüber in seinem Schädel. Sie krochen übereinander oder fielen auf den Rücken und strampelten ohne Halt. Streckten die Flügel aus und flogen nur einen Zentimeter, bis sie gegen die Innenwände knallten. Aber wenn sie zu Boden fielen und sich im Kreis drehten, fühlte es sich zumindest kurz an wie Schlaf. Vielleicht nervte ihn Saams Glas auch deshalb. Er bildete sich ein, das Glas könne verdächtig sein oder zumindest ein Anlass, Fragen zu stellen. An der Grenze warteten sie zwei Tage, bis sie durch den Zoll konnten. Jamshid hatte nicht weniger Lügen im Gepäck als die anderen. Und er trug auch eine Prothese, die er während der gesamten Fahrt nicht abnahm.

Die Kinder schliefen auf dem Bürgersteig. Auf einer Plane, zugedeckt mit den Wollpullovern, die Bibi Joon gegen die eisige Kälte in Deutschland gestrickt hatte. Sie alle erdachten sich das fremde Land wie das Stalingrad der Nazifilme. Am zweiten Morgen wurden sie mit den anderen Passagieren ins Zollgebäude gerufen. Jamshid packte die Sachen ein und sagte Saam, dass er das Glas nicht mitnehmen könnte.

»Man darf keine lebenden Tiere in ein anderes Land bringen. Setz sie auf der Wiese aus und komm schnell zurück.«

»Und wenn sie selbst in die Türkei fliegen?«

»Dann klären sie das mit dem türkischen Insektenzoll. Mach schnell.«

Saam ging zu dem begrünten Mittelstreifen, öffnete das Glas und wunderte sich über die vielen Insekten, die nicht hinauswollten. Erst als er es schüttelte, fielen und flogen sie in die Freiheit oder krabbelten auf die Außenseite. Er stellte das Glas ab und lief zu Jamshid und Nima, die in der Schlange standen. Dann betraten sie das Zollgebäude. Als sie hinaustraten, begann das am Busbahnhof versprochene »International« mit der anderen Seite Kurdistans.

1

ACHTUNGLAND

Das »Achtung!« der Wehrmachtsoffiziere in den Nazifilmen, die bis auf ebendieses »Achtung!« ins Persische synchronisiert wurden, war das Wort, mit dem Deutschland in Saams Leben getreten war. Er war sieben, vielleicht acht damals. So wie man den Franzosen das »Monsieur« ließ und den Amerikanern das »Mister«, ließ man den Deutschen ihr »Achtung!«, und diese Aura des Strammstehens umgab auch deutsche Marken und Namen. Achtung! Solingen. Achtung! Zwilling. Bosch. Krupp. Benz. Achtung! Beckenbauer und Rummenigge.

Aber auch alles andere Deutsche war stabil, fest und wog etwas. Die Schneiderschere seiner Großmutter zum Beispiel, die so schwer war, dass Saam Kraft brauchte, um sie vom Tisch zu heben, und wenn sie damit ein Garn schneiden wollte, war es, als ginge man mit einem Beil eine Blume pflücken. Oder ihre alte Wertheim-Nähmaschine mit dem gusseisernen Tretpedal, in deren Nähe Saam die Bilder aus dem Fernsehen nachstellte, einen Schützengraben aus Kissen baute, von wo aus er mit seinem Spielzeuggewehr in Stellung ging, jedes Mal, wenn Großmutter die Nähmaschine anschmiss und dem Gerät die Präzision eines Maschinengewehr-Stakkatos entlockte, einen Überraschungsangriff der Nazis einläutete und Saam damit in die Reihen des Widerstands rief.

Nima hingegen, der nichts von den Krematorien wusste, in dessen vierjährigem Leben »Achtung! Auschwitz« also noch keinen Platz gefunden hatte, kämpfte kurzzeitig auf deutscher Seite, und zwar ausschließlich aus Respekt vor der Nähmaschine. Der treuen, zuverlässigen Superwaffe, der er salutierte, bevor er sich in den Schützengraben warf, um Amerikanern und Engländern, nie aber Franzosen oder Russen das Fürchten zu lehren. Nie schoss er dabei auf Saam und Saam nie auf ihn, was Jamshid damit erklärte, dass Nima scheinbar an der Westfront und Saam an der Ostfront diente. Später wechselte Nima dennoch die Seiten, und als Saam eine Keksdose, die eine Trommel von ambitionierter Größe darstellen sollte, mit verschwenderisch viel Klebefilm an den Lauf seines Gewehrs befestigte und es so zum Maschinengewehr frisierte, stellte sich der Verrat auch als eine kluge Entscheidung heraus.

Aber es gab auch andere Geräte. Geräte wie den holzverkleideten Telefunken-Fernseher ihrer Großeltern mit der Lamellenschiebetür, auf dem Saam Maradonas Jahrhunderttor gegen England gesehen hatte, vor dessen Bildschirm sechzehn Jahre zuvor in einer ähnlich heißen Sommernacht Jamshid und Großvater mit einem gar nicht so unähnlichen Gesichtsausdruck der Mondlandung beigewohnt hatten und dessen Anschaffung in ihrem Haus ein Ereignis markierte, das mit beiden Wundern hätte mithalten können.

Die ersten Monate in Berlin hatten sie von der Stütze gelebt. Im ersten Winter bewohnten sie nur ein Zimmer der Wohnung, um Heizkosten zu sparen. Im Sommer fiel die Waschmaschine aus, und die Reparatur kostete die Kinder den Ferienpass und Jamshid das Geld für zwei Monate Zigaretten. Dann bestand er die Taxiprüfung, und die Zeiten, in denen er flüchtig bekannte Parteifreunde aufsuchen und um Hilfe bitten musste, um Formulare auszufüllen und Anträge zu stellen, wenn eines der Kinder eine Jacke brauchte oder Schuhe, waren zumindest vorbei. Von seinem ersten Wochenlohn kaufte er einen Gebrauchtfernseher. 1988. Die EM in Deutschland. Die UDSSR schlug England und zumindest in der Gruppenphase auch die Niederlande, den späteren Europameister. In einem der Werbeblöcke lief ein Clip für eine Mikrowelle. Die tausend Watt starke Version war da und löste das 750-Watt-Gerät ab. In der Reklame schob eine Hausfrau je einen kleinen Schneemann in die Geräte. Einer schmolz 250 Watt schneller, und zwei Wochen später hing an der Pinnwand im Supermarkt eine Anzeige. »Mikrowelle zu verkaufen. 750 Watt. Zwei Jahre alt. 200 Mark. Moulinex.« Viele Ausrufezeichen.

Jamshid brauchte also eine Mikrowelle.

Auch wenn das Gerät von Moulinex, einem französischen Hersteller, war, die Idee, dass es Strahlen gab, die wussten, was zu erwärmen war und was nicht, konnte nur eine deutsche Erfindung sein. Eine, die gefüllt war mit Zukunft. Sie fuhren zu dritt hin. Nach einer kurzen Vorführung half der Verkäufer dabei, das Gerät in die Originalverpackung zu stecken und es hinunter und auf den Rücksitz des Taxis zu tragen, und sie fuhren heim.

Zu Hause nahm Jamshid drei Toasts aus dem Kühlschrank, schmierte sie mit Ketchup ein, legte Mortadellascheiben und Scheiblettenkäse drauf, stellte den Teller in die Mikrowelle und schaltete sie ein. Die Handgriffe die eines Physiklehrers. Drei Minuten. Und die Zukunft machte bling. Er öffnete die Tür zu der kaum erwärmten kleinen Kabine, schaute auf den geschmolzenen Käse und sagte: »Pizza«, als hätte er gerade das Penicillin entdeckt, die Schwerkraft oder eben die Mikrowelle.

Von da an war Pizza ein großes Ding. Saam erweiterte das Angebot um die Varianten Salami und Thunfisch. Er probierte Pizza mit Erbsen und Karotten aus der Dose aus. Es gab Zucchini und misslungene Experimente mit rohen Kartoffeln, frischen Gurken, die bitter wurden, und mit unter den Käsescheiben aufgeweichten, in der Mitte noch gefrorenen Fischstäbchen. Irgendwie war es auch eine gute Zeit.

ZERESCHK

Nur wenige, die nicht auch dort lebten, kamen durch ihre Siedlung und nutzten die Straßen ihrer Nachbarschaft wie Straßen. Frau Winkler war eine davon. Sie wohnte in einem der kleineren Häuser bei der Schrebergartenanlage, die sie nicht verstanden. Der Weg durch die Siedlung war der kürzeste zu dem Supermarkt auf der anderen Seite. Frau Winkler war alt, ihre Beine waren zu wackelig für den Bogen um das Prekariat, ihre Augen zu schwach für die Zeichen von Gefahr oder Gewalt.

Mit einer Tasche, in der sich selten mehr als drei Artikel befanden, schlich sie an dem Haus vorbei, in dem Saam und Nima wohnten und vor dem sie Fußball spielten. Meist zu zweit, manchmal aber auch mit anderen Kindern. Einmal hatte Saam den Ball liegen lassen, war zu ihr gelaufen, hatte »Ich helfe?« gefragt und auf die Tasche gezeigt.

»Gerne!«, hatte Frau Winkler geantwortet, die Tasche übergeben und ihren Weg fortgesetzt. Saam war ihr gefolgt und die anderen dann auch. Nima lief neben ihm her, während die Nachbarskinder über die Gehwegplatten rannten und hüpften, einander Beinchen stellten und sich gegenseitig schubsten. Bei den Schrebergärten angekommen, löste sich die Eskorte auf, während Saams sehniger Arm den Beutel über die Straße trug und auf der Stufe vor dem Hauseingang abstellte. Hier endete die Freundlichkeit des Dienstes, ab hier würde die Aufdringlichkeit beginnen.

»Wo kommt ihr zwei Schönen denn her?«

»Iran!«, antwortete Saam für sich und seinen Bruder. Falten freudiger Verwunderung bildeten sich auf Frau Winklers Stirn. Iran hatte eine Reaktion ausgelöst, die mit Freude zu tun hatte.

»Aus dem schönen Persien!«

»Ja«, sagte Nima.

»Und wo sind eure Eltern?«

»Zu Hause!«, antwortete Saam etwas zu schnell.

Frau Winkler erkundete weitere Eckdaten ihres Daseins, die erstandenen Süßigkeiten wurden angeboten, nicht angenommen, einzelne Vokabeln nachgefragt. Was heißt Auf Wiedersehen auf Persisch?

»Siehst du? Wir sind nicht wie sie«, hatte Saam auf dem Rückweg gesagt und die Nachbarskinder gemeint.

Von Anfang an hatte er auf den Unterschied zwischen ihnen, den Verlorenen, und den anderen, den Verlierern, bestanden.

Dann hatte er hinzugefügt: »Diese Frau sieht so was.«

An einem der darauffolgenden Abende stand Saam mit Jamshid am offenen Fenster. Jamshid rauchte, und sie schauten über die Siedlung, die noch immer nicht ihre geworden war.

»Frau Winkler«, durchbrach Saam die Stille und deutete mit dem Kopf auf die Frauengestalt auf der anderen Seite der Straße.

»Wer ist Frau Winkler?«, fragte Jamshid.

»Eine Bekannte von uns«, prahlte Nima, der ans Fenster gekommen war, und brüllte »Hallo!«, um es zu beweisen. Frau Winkler hörte ihn, drehte sich um und suchte aus der Ferne nach dem Rufenden, als wäre ihr entfallen, dass sie sehr schlecht sehen konnte.

Noch einige Male sollte es passieren, dass Saam ihr die Tasche abnahm. Eine Hilfestellung, auf die er beinahe beharrte, und Nima überkam das Gefühl, sie nahm die Hilfe nur noch Saam zuliebe an. Manchmal entstand eine Stille vor Frau Winklers Hauseingang, die ihre Ratlosigkeit verriet.

Und dann stand sie plötzlich vor Saams und Nimas Tür. Hatte sich die Schuhe auf dem abgesenkten, im Estrich eingelassenen Gitter abgetreten, war durch den im Hausflur hängenden Geruch von Bockshornklee, Urin und Majoran geschritten, die ochsenblutfarbene, mit beigem PVC bezogene Treppe hochgegangen, hatte einen Blick aus dem Flurfenster zum Hinterhof geworfen, auf die Wäscheständer, Kinderfahrräder und Plastikstühle im moosbewachsenen Schatten der Mauer, und an ihre Wohnungstür geklopft.

Jamshid öffnete, und noch im Flur schlug Frau Winkler ihm vor, die Kinder einmal wöchentlich in Deutsch zu unterrichten, und Jamshid überwand im selben Moment seinen Stolz und willigte ein. Zwischen ihnen die verschlissene Stelle auf dem PVC, über die Jamshid ein Handtuch gelegt hatte. Frau Winkler putzte sich die Füße ab und trat ein.

»Schön haben Sie es hier!«, sagte sie, und es war all den ihr widersprechenden Realitäten zum Trotz nicht gelogen. Manche Menschen können so etwas. Sie trank Tee, erahnte den Tod der Mutter und fragte Saam und Nima nie wieder nach ihr, als die beiden bald darauf im wöchentlichen Rhythmus Herbst-, Winter- und Frühlingsnachmittage an Frau Winklers Esstisch verbringen sollten.

Die Kante der kalten Glasplatte in Frau Winklers Wohnzimmer drückte sich in ihre Unterarme. An der Wand wachte ein mit kraftvoller Pinselführung gemaltes Selbstportrait des verstorbenen Herrn Winkler über sie, und sie lernten. Sie erfuhren zunächst von der Existenz, dann von der Dringlichkeit und schließlich auch von der Willkür deutscher Artikel. Dass es nicht die, sondern das Mädchen heißt und dass Geld und Waffen nicht männlich sind. Fast ein halbes Jahr lang liefen sie jeden Mittwoch durch Frau Winklers Hausflur an Wohnungseingängen vorbei, die mit Türschildern geschmückt waren, auf denen Enkelkinder Familiennamen aus Ton und Salzteig geformt hatten. Kränze aus Tannenzweigen hingen an pastellfarbenen Bändern um Türspione, durch die nur selten hindurchgeschaut wurde. Im Treppenhaus waren Gummibäume in mit Granulat gefüllte Töpfe gepflanzt, aus denen Feuchtigkeitsmesser ragten wie Fieberthermometer. Das dichte, semmelbraune Bürstenhaar der Schuhabtreter war so lupenrein, dass man annehmen könnte, ihre Besitzer kämen aus einer saubereren Welt heim. Die Treppe aus schwarzem Granit, deren Steigung die langen, damals noch schlaksigen Beine Saams nicht ernst nahmen. Die akkurat gezogene Linie zwischen Rasen und Beet, der rechte Winkel, das dornige Violett der sauber geschnittenen Berberitzenhecke, auf die sein Vater einmal gezeigt und »Zereschk« gesagt hatte. Überrascht, als hätte er einen alten Bekannten wiedergetroffen.

»Die Hecke. Das sind Berberitzen! Sie kennen das?«, hatte Frau Winkler erwidert.

Jamshid hatte genickt und gesagt: »Das ist Zereschk!«

Dann pflückte er ein Blatt aus der Hecke, biss mit den Vorderzähnen darauf, schmeckte und versicherte noch mal: »Zereschk! In Iran wir essen.«

»Sie essen das in Iran?«

»Nicht das.« Er lachte. »Die Blume? Nicht die Blume! Das …« Suchend rieb er Daumen und Zeigefinger aneinander.

»Die Samen?«, schlug Frau Winkler vor, und Jamshid nickte, obwohl er die Frucht meinte. Er pflückte ein weiteres Blatt und reichte es ihr. Die pensionierte Lehrerin nahm es mit einer deutlich zu großen Geste des Dankes in die Hand, begutachtete es, schaute zu Nima und biss darauf. Schließlich griff auch Nima in die Hecke. Die Herbstsonne stand tief, und jeder von ihnen aß nun ein Blatt, als wäre es ein kultisches Ritual, als schlössen sie gerade einen Pakt.

»Sauer!«, sagte Frau Winkler.

»Sauer!«, wiederholten nacheinander Nima und Jamshid.