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Fabienne Durant hofft auf ein Wiedersehen mit ihrem verschwundenen Sohn und setzt dafür alles aufs Spiel – die neue Trilogie von Bestsellerautorin Petra Durst-Benning
Südfrankreich 1888. Fabienne Durant glaubt an sich und ihren großen Traum. Schon bald will sie im eigenen Restaurant für anspruchsvolle Gäste kochen. Und so kämpft sie entschlossen um ihren Platz in der von Männern beherrschten Spitzengastronomie. In dem begabten Koch Noé findet sie einen wichtigen Mentor, der sie zu immer neuen Höchstleistungen anspornt. Doch obwohl sich alles zum Besten zu entwickeln scheint, kann Fabienne eins nicht vergessen: die Sehnsucht nach ihrem Sohn, der als Baby spurlos verschwand. Noch ahnt sie nicht, wie nah ihr das geliebte Kind ist – und welchen Preis das Schicksal von ihr für die Chance auf ein Wiedersehen fordern wird …
Die »Köchinnen«-Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Petra Durst-Benning:
1. Große Träume, kleine Siege – Die Köchin 1 (bereits als Taschenbuch erhältlich)
2. Alte Hoffnung, neue Wege – Die Köchin 2
3. Dunkle Tage, helle Stunden – Die Köchin 3
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Seitenzahl: 621
Südfrankreich 1888. Fabienne Durant glaubt an sich und ihren großen Traum. Schon bald will sie im eigenen Restaurant für anspruchsvolle Gäste kochen. Und so kämpft sie entschlossen um ihren Platz in der von Männern beherrschten Spitzengastronomie. In dem begabten Koch Noé findet sie einen wichtigen Mentor, der sie zu immer neuen Höchstleistungen anspornt. Doch obwohl sich alles zum Besten zu entwickeln scheint, kann Fabienne eins nicht vergessen: die Sehnsucht nach ihrem Sohn, der als Baby spurlos verschwand. Noch ahnt sie nicht, wie nah ihr das geliebte Kind ist – und welchen Preis das Schicksal von ihr für die Chance auf ein Wiedersehen fordern wird …
Petra Durst-Benning wurde 1965 in Baden-Württemberg geboren. Seit über fünfundzwanzig Jahren schreibt sie historische und zeitgenössische Romane. Fast all ihre Bücher sind SPIEGEL-Bestseller und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. In Amerika ist Petra Durst-Benning ebenfalls eine gefeierte Bestsellerautorin. Sie lebt und schreibt im Süden Deutschlands, Frankreich war viele Jahre lang ihre zweite Heimat.
Weitere Informationen unter: www.durst-benning.de
Große Träume, kleine Siege – Die Köchin (als Hardcover unter dem Titel »Die Köchin – Lebe deinen Traum« erschienen)Die Fotografin – Am Anfang des WegesDie Fotografin – Die Zeit der EntscheidungDie Fotografin – Die Welt von morgenDie Fotografin – Die Stunde der SehnsuchtDie Fotografin – Das Ende der StilleDie BlütensammlerinKräuter der Provinz
Petra Durst-Benning
Die Köchin
Roman
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Copyright © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Gisela Klemt
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (dudlajzov, Jenifoto, Victoria Novak, Kathy) und Abigail Miles / Arcangel Images
BSt · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-28340-7V003
www.blanvalet.de
Schöne Lesestunden wünscht herzlichstPetra Durst-Benning
»Wer zur Quelle gehen kann, gehe nicht zum Wassertopf.«
Leonardo da Vinci (1452–1519)
Liebe Leserinnen und Leser,
herzlich willkommen in Südfrankreich! Falls Sie den ersten Band dieser Reihe mit dem Titel »Lebe deinen Traum« gelesen haben – die Taschenbuchausgabe wurde übrigens umbenannt in Große Träume, kleine Siege –, wissen Sie, dass Fabienne Durant, die Hauptfigur, dort geboren wurde. Und in Südfrankreich geht Fabiennes Geschichte mit Alte Hoffnung, neue Wege auch weiter.
Falls Sie heute erst in die Köchinnen-Trilogie einsteigen, dann ist das problemlos möglich, auch ohne den ersten Band zu kennen. Trotzdem fasse ich gern für Sie zusammen, was in Band 1 geschah.
Die Geschichte begann im Jahr 1880. Fabienne war damals sechzehn Jahre alt und lebte am Canal du Midi – der heute übrigens zum Weltkulturerbe gehört –, wo ihr Vater Schleusenwärter war. Zusammen mit ihren Geschwistern Lily, Lucy, Noah und Hugo wuchs Fabienne in der Schleusenstation auf, die malerisch in Rebenfelder eingebettet lag. Ihre Geschwister lebten zu dieser Zeit schon nicht mehr zu Hause – nur Fabienne war vom Vater dazu bestimmt worden, ihrer Mutter Violaine in Haus und Küche zu helfen. Die Frau des Schleusenwärters kochte nämlich täglich für die gens de l’eau, also die »Menschen des Wassers«, die mit ihren Booten die Schleuse passierten. Fabienne liebte es, ihrer Mutter beim Kochen zu helfen, und genauso gern servierte sie den Bootsleuten eine gute Mahlzeit – Mademoiselle bon appétit wurde sie von den Männern deshalb genannt. Doch dann starb ihre Mutter, und für Fabienne brach eine Welt zusammen. Als wäre die Trauer um Violaine nicht schwer genug, holte sich ihr Vater schon kurze Zeit später eine neue Frau ins Haus – und was für eine! Colette Laroque war lebenslustig und verstand es, einen Mann mit ihren Reizen zu bezirzen – kochen oder gar einen Haushalt anständig zu führen, interessierte sie nur am Rande. Fabienne war diese Frau vom ersten Tag an derart zuwider, dass sie nur noch eins wollte – fort! Und so lief sie schließlich eines Nachts mit ihrem Geliebten Eric davon.
Fabienne träumte von einer gemeinsamen Zukunft, von Liebe und Glück. Doch Eric war ein schwacher Mann, und so ließ er – von seinem Vater unter Druck gesetzt – Fabienne schändlich im Stich.
Fortan musste sich die Tochter des Schleusenwärters allein durchs Leben kämpfen – für eine Frau zu jener Zeit nicht gerade einfach. Fabie fand Arbeit als Küchenhilfe auf dem Château Morel, in der Nähe der mittelalterlichen Stadt Carcassonne gelegen, wo sie sich mit Stéphanie Morel, der flatterhaften, abenteuerlustigen Tochter des Hauses, anfreundete.
Die Arbeit machte Fabienne Spaß, sie lernte viel von der Köchin Sophie. Doch dann stellte sich heraus, dass Fabienne schwanger war. Heutzutage ein Kind allein großziehen ist schon schwer – damals war es fast unmöglich. Zum Glück gelang es Stéphanie Morel, ihre Eltern dazu zu bringen, Fabienne weiter auf dem Château zu beschäftigen. So konnte Fabienne ihr Kind in Frieden zur Welt bringen.
Allerdings geschah bald darauf das Schlimmste, was einer Mutter widerfahren kann: Während Fabienne in der Küche arbeitete, wurde ihr drei Monate alter Sohn, der sich zu dieser Zeit in der Obhut von Stéphanies altem Kindermädchen befand, entführt. Eine groß angelegte Suchaktion begann, doch auch nach Tagen intensivster Suche ergaben sich keinerlei Hinweise auf den Verbleib des Kindes. Fabienne wurde vor Kummer fast verrückt. Sie ahnte nicht, dass ausgerechnet ihre »Freundin« Stéphanie mit Victors Verschwinden zu tun hatte.
Anfang 1882 hielt Fabienne es auf dem Château, wo sich dieses schreckliche Geschehen ereignet hatte, nicht mehr aus, und es verschlug sie nach Lyon. Dort arbeitete sie zuerst als Serviermädchen in einem Restaurant, später dann als Privatköchin im Haushalt eines Geigenbauers. In Lyon lernte sie auch Yves Mazeau kennen, er war zuerst nur ihr Kollege und wurde dann zu ihrem besten Freund. Aus dieser Freundschaft entstand schließlich Liebe – Ende 1887 bekam Fabienne von Yves einen Heiratsantrag, den sie glücklich annahm.
Die Hochzeit soll nun im neuen Jahr, also Anfang 1888, in Südfrankreich stattfinden, denn Fabienne hat schon längere Zeit Heimweh nach dem Süden. Außerdem hofft sie, dass die Gendarmerie in Carcassonne in der Zwischenzeit neue Hinweise zum Verschwinden ihres Sohnes gefunden hat. Deshalb beschließen Fabienne und Yves, Lyon den Rücken zu kehren und nach Südfrankreich zu gehen.
Und damit sind Sie mittendrin in Fabiennes Geschichte.
Ich wünsche Ihnen ganz viel Genuss beim Weiterlesen!
Ihre Petra Durst-Benning
28. Januar 1888, Narbonne
Den ganzen Hochzeitstag über wehte vom Meer her ein kalter Wind. Mit seiner Kraft zerfetzte er jedes noch so kleine Wölkchen, bevor es zu einer Wolke heranwachsen konnte, und so strahlten Himmel und Meer in einem fast überirdischen Blau. Der Wind pfiff auch durch die St.-Martins-Kapelle der Narbonner Kathedrale, als Fabienne Durant und Yves Mazeau sich mittags um eins das Jawort gaben. Er lüpfte die Röcke der weiblichen Hochzeitsgäste, als diese aus der Kathedrale ins Freie traten, und dem einen oder anderen Mann wirbelte er den Hut vom Kopf. Später dann, in der alten Scheune abseits der Stadt am Canal du Midi, in der sich die Hochzeitsgesellschaft zum Feiern eingefunden hatte, rüttelte er an den von der Salzluft grausilbern verwitterten Holzbrettern.
Autan blanc nannten die Älteren den Wind und fügten an, dass er für Januar nicht untypisch sei.
Perfektes Hochzeitswetter!, dachte ein Teil der Geladenen angesichts des strahlend blauen Himmels.
Wie konnte man nur in der kalten Jahreszeit heiraten?, fragten sich fröstelnd die anderen und hofften, nicht von einer Erkältung heimgesucht zu werden.
Fabienne war der Wind gleichgültig. Es war ihr Hochzeitstag, und nichts und niemand konnte ihr Glück schmälern. Allein das Kleid, das sie trug – die fein gekämmte Baumwolle, die hübsche Spitzenbordüre und dazu gleich drei Unterröcke –, versetzte sie in absolute Hochstimmung! Dabei war sie eigentlich alles andere als eitel. Nur ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie etwas ähnlich Schönes angehabt, damals hatte sie ein Kleid von Stéphanie geliehen bekommen. Dieses Kleid jedoch gehörte ihr! Eine Schneiderin in der Rue Voltaire – den Tipp hatte sie ihrer Schwester Lily zu verdanken – hatte es für sie genäht, und es war zu ihrer Erleichterung gar nicht so teuer gewesen. Und das war auch gut so, dachte Fabienne, der Umzug in den Süden hatte schließlich einiges an Geld verschlungen!
»Was stehst du hier so allein herum?«, raunte von hinten eine Frauenstimme in ihr Ohr.
»Lucy!« Fabienne lächelte, drehte sich um und umarmte die Schwester, die extra mit Mann und Kindern aus Toulouse angereist war.
Lucy zeigte auf Fabiennes Kopf. »Dieses kunstvolle Vogelnest hat dir bestimmt Lily gemacht, oder?«
Fabienne nickte lächelnd. »Als sie hörte, dass ich mir die Haare wie immer zu einem Zopf flechten wollte, war sie geradezu entsetzt. ›Ein Zopf mag bei der Küchenarbeit praktisch sein, aber für deinen Hochzeitstag ist er mehr als unangemessen‹«, imitierte sie ihre älteste Schwester. »Nachdem Lily mit Kamm und Nadeln fertig war, habe ich mich beim Blick in den Spiegel fast nicht wiedererkannt«, endete sie lachend.
»Du siehst wunderschön aus«, sagte Lucy. »Durch die hoch aufgetürmten Haare sieht man erst, wie hübsch deine Locken sind! Und dann dieses Strahlen in deinen Augen … Das erinnert mich so sehr an meine eigene Hochzeit, allerdings war ich damals fünf Jahre jünger als du.«
Fabienne schmunzelte. Nicht nur in Lucys Augen galt sie mit ihren fünfundzwanzig Jahren schon als alte Jungfer. Aber auch das war ihr gleichgültig.
Gemeinsam schlenderten sie hinüber zu dem Tisch, auf dem Karaffen mit Wasser und Wein bereitstanden.
»Dein Yves scheint ein netter Kerl zu sein«, sagte Lucy, während sie ihres und Fabiennes Glas auffüllte. Sie nickte in Richtung des Bräutigams, der mit seiner Familie zusammenstand und gerade herzlich über etwas lachte. »Und gut aussehend ist er auch! Mit seinen stahlblauen Augen, den exakt gescheitelten Haaren und seiner aufrechten Statur könnte man ihn glatt für einen schneidigen Offizier der französischen Armee halten! Dazu sein offenes Wesen, seine freundliche Art – deinem Yves sind bestimmt mehr Frauenherzen zugeflogen, als dir lieb war, oder?«
Fabienne nickte. »Oh ja, Yves hat durchaus die eine oder andere Liebschaft gehabt! Ehrlich gesagt, ist mir das manchmal ziemlich gegen den Strich gegangen. Aber was hätte ich sagen oder gar unternehmen sollen? Ich hatte kein Recht, irgendwelche Besitzansprüche zu stellen. Wir waren schließlich sechs Jahre lang nur befreundet und haben zusammen gearbeitet – zuerst im Le Bistrot du Lyon und später im Privathaushalt von Monsieur Nivet, wo ich als Köchin angestellt und Yves als Hausmeister für das Haus und die Geigenbauerwerkstatt zuständig gewesen war.«
»Die Köchin und der Hausmeister – das hört sich richtig romantisch an«, sagte Lucy seufzend. »Wie um alles in der Welt ist denn nach all der Zeit aus eurer Freundschaft doch noch Liebe geworden?«
»Das weiß ich selbst nicht so genau. Als Yves mir einen Hochzeitsantrag gemacht hat, bin ich jedenfalls aus allen Wolken gefallen«, erwiderte Fabienne lächelnd. Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Wenn es um unsere Gefühle geht, kann ich mir bis heute noch keinen richtigen Reim darauf machen. Im Moment arbeiten Yves und ich nicht zusammen – ich hoffe aber, das wird sich bald wieder ändern! Im Idealfall finden wir Arbeit im selben Restaurant. Beste Freunde sind wir immer noch und nun auch noch ein Hochzeitspaar mit allem, was dazugehört …« Bei dem Gedanken an die nahende Hochzeitsnacht verspürte Fabie nicht nur Aufregung, sondern noch immer auch einen Hauch Verwunderung. Yves und sie waren sich einig gewesen, mit der körperlichen Liebe bis nach der Hochzeit zu warten. Sie beide erregt und eng umschlungen, er in sie eindringend, Besitz von ihrem Körper ergreifend … So richtig konnte sie sich das selbst heute noch nicht vorstellen, dachte Fabienne und war froh, dass sie von dem Gedanken abgelenkt wurde, weil ihr Bruder Noah auf sie zukam. Seine Schleusenstation war nur ein paar Hundert Meter von der Scheune, in der sie feierten, entfernt, somit würden er, seine Frau und die beiden Kleinen später den kürzesten Nachhauseweg haben.
»Darf ich mit euch beiden auf diesen Festtag anstoßen?« Lächelnd hielt er sein Glas in die Höhe. Doch Lucy machte eine Geste in Richtung ihrer Kinder, die wohl ihre Hilfe benötigten, dann lief sie davon.
»Ach, Noah, du glaubst gar nicht, wie glücklich ich bin!« Fabienne trank genießerisch einen Schluck Wein, während ihr Blick über die Hochzeitsgesellschaft schweifte. »Ein eleganter Empfang und ich im Brautkleid – wenn mir das vor einem halben Jahr jemand erzählt hätte, hätte ich denjenigen für verrückt erklärt! Und wahrscheinlich haben auch einige Gäste es schon nicht mehr für möglich gehalten, dass ich noch mal unter die Haube komme.« Sie wies in Lucys Richtung.
Noah nickte lächelnd und sagte dann: »Es ist schön, dass Yves’ Familie extra den weiten Weg aus den Dombes in den Süden auf sich genommen hat. Aber kann es sein, dass Madame Mazeau ihren Sohn ziemlich in Beschlag nimmt?«
Fabiennes Blick wanderte hinüber zu ihrer Schwiegermutter, die – wie immer mit viel Gestik und Mimik – auf Yves einredete. »Schau nur, mit welch gequälter Miene der Arme zuhört! Wahrscheinlich sollte ich hingehen und meinen Mann retten?« Sie verzog tragikomisch das Gesicht.
»Das soll er mal schön selbst tun«, erwiderte Noah. »Sag, hattest du eigentlich auch Hugo eingeladen?«
Ihr Bruder Hugo lebte im Norden und hatte sich schon seit Jahren von der Familie losgesagt.
»Eingeladen habe ich ihn, aber mir war fast klar, dass er kneifen würde. Dabei habe ich rein gar nichts mit seinem und Vaters Streit zu tun.« Fabienne schüttelte traurig den Kopf.
Noah gab ihr einen aufmunternden Stups, dann hob er sein Glas und prostete ihr erneut zu. »Jetzt ist nur noch unsere Lily unverheiratet. Aber wer weiß, vielleicht ändert sich das ja bald.«
Schlagartig wurde Fabienne hellhörig. »Weißt du etwa mehr als ich?«
Ob es in Ordnung sei, wenn sie jemanden zur Hochzeit mitbrächte, hatte Lily ein paar Tage zuvor gefragt. Es gäbe da nämlich jemanden, Pierre hieß er, und er war der Gehilfe eines Hufschmieds. Natürlich hatte sie, Fabienne, zugestimmt.
Noah verneinte. »Ich habe Pierre wie du auch erst heute kennengelernt. Er scheint ein wenig schüchtern zu sein, oder was meinst du?«
Fabiennes Blick wanderte hinüber zu dem großen, stämmigen Mann, der dicht bei Lily stand. »Jetzt, wo du es sagst – ich glaube, bisher hat er sich noch mit niemandem unterhalten …«
Noah zeigte auf sein leeres Glas. »Ich schau mal, ob es noch was zu trinken gibt. Und dann versuche ich, unseren potenziellen zukünftigen Schwager mal ein wenig aus seinem Schneckenhaus zu holen!«
Dankbar schaute Fabienne ihrem Bruder nach, dann blieb ihr Blick jedoch an einem älteren Herrn mit rundlichem Gesicht und stattlichem Bauch hängen. Armand Nivet, ihr ehemaliger Arbeitgeber aus Lyon. Eigentlich hatten Yves und sie ihn nur anstandshalber eingeladen – damit, dass er kommen würde, hatten sie nicht gerechnet. Umso erstaunter waren sie gewesen, als sie ihn mit seiner Geliebten Madame Clape unter den Gästen in der Kirche erblickt hatten. Was für eine Freude und Ehre! Dass sie beide ihre Arbeitsstelle zum Jahresende gekündigt hatten, hatte den alten Geigenbauer nämlich sehr getroffen, er war mit ihr als Köchin und mit Yves als Hausmeister sehr zufrieden gewesen. Dennoch hatte er verstanden, dass sich Fabienne nach sechs Jahren in der Fremde wünschte, wieder in die Heimat zurückzukehren. Und dass Yves ebenfalls nochmals etwas Neues erleben wollte – auch dagegen konnte Armand Nivet nichts sagen.
Ein feiner Mensch, dachte Fabienne dankbar. Just in dem Moment schaute der Geigenbauer zu ihr herüber, hielt sein Glas in die Höhe und prostete ihr lächelnd zu. Fabienne erwiderte die Geste.
Das Erscheinen eines weiteren Gastes hatte Fabienne ebenfalls in Erstaunen versetzt: das ihres Vaters, mit dem sie seit über sieben Jahren keinerlei Kontakt gehabt hatte. Aber statt ihr Vorwürfe zu machen, weil sie die Schleusenstation einst bei Nacht und Nebel verlassen hatte, hatte Guy Durant sie einfach stumm in den Arm genommen und für einen langen Moment festgehalten. Blut war doch dicker als Wasser, hatte Fabienne, den Tränen nahe, gedacht. Doch der schöne Moment hatte nicht lange angedauert, denn Colette Laroque, die Frau, die nur kurze Zeit nach dem Tod von Fabiennes Mutter deren Platz im Hause Durant eingenommen hatte, hatte sich mit einer dummen Bemerkung in den Vordergrund gespielt. Fabie hatte sich ein säuerliches Lächeln abgerungen, der Frau aber nicht einmal die Hand gegeben. Die Erinnerung daran, wie Colette damals in der Schleusenstation jede noch so kleine Erinnerung an Violaine brutal ausgemerzt hatte, erfüllte sie nach wie vor mit Wut. Ihren Geschwistern schien es ähnlich zu gehen, denn auch sie ignorierten Vaters neue Frau. Bei aller Abneigung blieb ihnen eine kleine Genugtuung: Colette Laroques sehnlichster Wunsch – dass Guy sie heiratete – war zum Erstaunen aller nicht in Erfüllung gegangen. Und das, obwohl die beiden sogar einen Sohn zusammen hatten. Der kleine Marc – ihrer aller Stiefbruder – war sieben Jahre alt. So alt wie –
»Solltest du dich nicht besser unter die Gäste mischen?« Wie aus dem Nichts war Lily erschienen, strahlend und mit gerötetem Gesicht. Sie hielt Fabie so schwungvoll ihr Glas entgegen, dass kleine Spritzer heraussprangen.
Die beiden Schwestern stießen miteinander an.
»Ich genieße nur einen kurzen Moment der Ruhe«, sagte Fabie dann.
»Allein sein kannst du später noch«, sagte Lily. »Sag mir lieber, was du von meinem Pierre hältst! Ist er nicht wunderbar?« Ihre Stimme klang atemlos vor lauter Verliebtheit.
Fabienne lächelte. Ihre Schwester schien es ja ziemlich erwischt zu haben. »Ein stattlicher Mann«, sagte sie wohlwollend.
Lily seufzte versonnen.
»Aber kann es sein, dass er etwas schüchtern ist, dein Pierre?«
»Pierre und schüchtern? Wie kommst du darauf? Du hast doch bisher noch kein Wort mit ihm gewechselt«, erwiderte Lily konsterniert. »Er hat schon das Gefühl, dass alle ihn ignorieren! Außer Noah hat sich noch kein Mensch die Mühe gemacht, mit ihm zu sprechen. Du hättest dich auch längst mal zu uns gesellen können, um ihn kennenzulernen. Aber dir sind ja anscheinend alle anderen Gäste wichtiger.«
»Das stimmt doch gar nicht!«, sagte Fabie entsetzt. »Ich kann nur nicht überall gleichzeitig sein. Im Laufe des Abends ergibt sich bestimmt noch mehr als eine Gelegenheit zu einem Gespräch.«
Lily warf ihr einen kurzen prüfenden Blick zu. »Das hoffe ich. Pierre hat mich nämlich schon gefragt, warum du ihn links liegen lässt.«
»Ich …«, hob Fabie an, um sich zu verteidigen, doch Lily winkte ab.
»Schon gut. Ich geh jetzt wieder zu ihm. Männer mögen es nicht so gern, wenn man sie vernachlässigt.« Sie nickte Fabie zu, dann war sie weg.
Stirnrunzelnd schaute Fabie ihrer Lieblingsschwester nach. Was war denn das? Für Lily drehte sich anscheinend alles nur noch um diesen Pierre … Ihr Gedankengang brach ab, als sie aus dem Augenwinkel heraus bemerkte, dass Sophie Colbert ihr von ihrem Stuhl aus zuwinkte.
»Fabienne, komm doch mal her!«
Fabie stellte ihr Glas ab, dann ging sie zu ihrer alten Lehrmeisterin. Mit Pierre konnte sie auch später noch sprechen.
»Sophie, ich freu mich sehr, dass du gekommen bist! Es gibt so viel zu erzählen.« Sie beugte sich hinab und schlang beide Arme um die alte Frau. Seit Sophie sich zur Ruhe gesetzt hatte, lebte sie in der Nähe in einem kleinen Küstenort. Bestimmt würden sie sich nun öfter sehen können!
»Erzählen – schön und gut«, knurrte die alte Köchin. »Aber meinst du nicht, eure Gäste haben allmählich Hunger? Es ist immerhin schon vier, und wir hatten alle kein Mittagessen. Hilf mir auf, und dann legen wir letzte Hand ans kalte Büfett! In spätestens einer halben Stunde solltet ihr es eröffnen, sonst steigt der Alkohol euren Gästen, ausgehungert wie sie sind, zu sehr in den Kopf.«
Wie früher im Château Morel, wo Sophie die Köchin und Fabie ihre Küchenhilfe gewesen war, befolgte Fabie auch jetzt die Anweisung der alten Frau. Wie schwer sich Sophie mit dem Aufstehen tat!, dachte sie bekümmert. Und wie gebückt sie daherkam, sogar einen Stock brauchte sie beim Gehen. Wenn Fabienne daran dachte, wie leicht Sophie noch vor sieben Jahren in der Küche des Châteaus mit den schweren Töpfen und Pfannen hantiert hatte! Doch Fabie hütete sich, auch nur ein Wort zu sagen. Sophie Colbert war aus hartem Holz geschnitzt – Mitleid wäre ein Graus für sie gewesen. »Dann bin ich mal gespannt, was du zu den Speisen sagst, die ich gezaubert habe«, sagte sie leichtherzig, während sie langsamen Schrittes aufs Scheuneninnere zugingen.
»Zaubern! Nennt man das bei euch in Lyon jetzt so? Bei uns im Süden wird Essen immer noch gekocht«, erwiderte die alte Frau spitzzüngig.
Fabienne lachte auf. »Ach, Sophie, du hast mir wirklich gefehlt!« Sie warf Yves, auf den nun auch noch sein Vater einredete, einen belustigten Blick zu. Spätestens wenn es Essen gab, würden seine Eltern von ihm ablassen.
Kleine süß-salzige Zwiebeln, in Rotwein gegart, daneben eine Platte mit würzigem Roquefortkäse. Champignons, hauchdünn aufgeschnitten, mit Olivenöl beträufelt. Ein Salat aus Fenchel, Oliven und Sardellen. Cervelle de Canut – den Frischkäse hatte Fabie nach einem original Lyonnaiser Rezept zubereitet. Entenleberpastete und ein cremiger Brotaufstrich aus Oliven, jungem Knoblauch und Sardellen. Knuspriges Baguette. Gebratene Hühnchen, die sie fachgerecht zerteilt hatte. Mandelkuchen und Schokoladen-Eclairs als Dessert. Und zur Krönung des Ganzen gab es zwei riesige Platten geeiste Austern!
Fabienne zeigte auf das Büfett. »Und – kann sich das sehen lassen? Die Austern hat übrigens mein Vater spendiert. Das hat er früher bei Festtagen auch immer getan, deshalb bedeutet mir diese Geste sehr viel.« Unwillkürlich hielt Fabie die Luft an, während Sophie um das Büfett herumlief. Das Klack-Klack ihres Gehstocks hörte sich an wie Peitschenknallen.
Da sie in ihrer eigenen Wohnung keine Küche hatten, hatte Fabienne in Noahs winziger Küche tagelang gekocht, gebraten und mariniert, ihre ganze Liebe war in jedes Gericht geflossen. Aber würden die Speisen auch Sophie Colberts kritischer Begutachtung standhalten? Und würde es allen schmecken? Sehr gern hätte Fabie ihre Gäste in ein Restaurant eingeladen, aber das konnten Yves und sie sich einfach nicht leisten.
»Die Rotweinzwiebeln – hast du zur Hälfte Portwein genommen?«
»Natürlich! So, wie ich es bei dir gelernt habe«, erwiderte Fabienne grinsend.
»Und die Sardellen im Salat? Hast du sie zwei Stunden zuvor gewässert?«
Fabienne nickte. »Es soll ja nicht zu salzig schmecken.«
»Die Mimoseneier – sie sehen gut aus. Hast du sie nach dem Rezept deiner Mutter gemacht?«
»Kein anderes Rezept kommt für mich infrage«, erwiderte Fabienne inbrünstig. »Eigentlich hatte ich gehofft, dass die Mimosen schon blühen, dann hätte ich die ganze Scheune mit dicken Sträußen der gelben Blüten geschmückt …« Ihr Blick verlor sich einen Moment lang in der Ferne. »Mimosen waren die Lieblingsblumen meiner Mutter. Wann immer die Frühjahrsboten blühen, muss ich besonders intensiv an sie denken.«
»Eine Mutter vermisst man sein Leben lang. Es hört nie auf«, sagte Sophie leise. Doch schon im nächsten Moment wurde ihr Tonfall wieder streng. »Dieser Frischkäse hier, er ist ein wenig klumpig!«
»Genauso mögen die Lyonnaiser ihn«, erwiderte Fabienne schmunzelnd und schüttelte den Hauch von Wehmut ab. Wenn das alles war, was Sophie auszusetzen hatte, dann hatte sie, Fabie, ihre Sache richtig gut gemacht!
»Du glaubst nicht, wie froh ich bin, wieder im Süden zu leben. Ich habe wirklich genug von Lyons deftigen Speisen mit Gesottenem, fetter Wurst und Innereien«, sagte sie überschwänglich. »Hier ist die Küche viel leichter als in Lyon, die Gerichte werden nicht kaputt gekocht – das alles entspricht meinem Geschmack wesentlich mehr. Ich kann es kaum erwarten, eine neue Arbeit als Köchin zu finden!«
Sophie lächelte. »Du gehörst auch zu den Verrückten, die sich ein Leben abseits des Herdes nicht vorstellen können, nicht wahr? Hast du denn schon eine Stelle in Aussicht? In Narbonne gibt es viele reiche Bürgerhäuser, bestimmt wird dich jemand mit Handkuss nehmen.«
Doch Fabienne schüttelte den Kopf. »Ich möchte in einem Restaurant arbeiten, wo ich einem guten Koch über die Schulter schauen kann. Monsieur Nivet wollte vor allem, dass ich seine Lyonnaiser Leibspeisen auf den Tisch bringe, das hat mich im Laufe der Jahre immer mehr gelangweilt. Ich will endlich neue Gerichte lernen, neue Techniken, vielleicht sogar neue Zutaten ausprobieren. Und dann … eines Tages, wenn ich genug gelernt habe – dann eröffne ich mein eigenes Restaurant!« Fabienne drehte sich um die eigene Achse und machte dabei eine weit ausholende Handbewegung, als wolle sie ihr zukünftiges Reich umschreiben.
Sophies Lächeln hatte etwas Mütterliches, als sie sagte: »Du und deine Träume! Aber so beharrlich, wie du bist, glaube ich langsam auch daran, dass du sie in die Tat umsetzen wirst.« Sie pochte mit ihrem Stock auf den Boden. »Bon! Und nun lass uns die Kräuter hacken, die über die Champignons gehören. Und hast du etwa die Zitronenachtel für die Austern vergessen?«
Als Fabie und Sophie sich wieder zu der Hochzeitsgesellschaft gesellten, war die Stimmung noch fröhlicher als zuvor. Die einen freuten sich über ihr Wiedersehen, die anderen darüber, die neue Verwandtschaft kennenzulernen. Nachdem Yves’ Vater sein Interesse am Canal du Midi bekundet hatte, gab es für Fabiennes Vater kein Halten mehr – er unterhielt den Gast aus den Dombes mit Schwänken aus seinem Schleusenwärteralltag, er dozierte, nannte Zahlen und Fakten zum Kanalbau. Yves’ Mutter suchte schnell das Weite und fand in Fabies Schwester Lucy eine taugliche Gesprächspartnerin. Die beiden Frauen tauschten Marmeladenrezepte und Ansichten über die Kindererziehung aus. Und zu Fabiennes Freude unterhielten sich Yves und ihr Bruder Noah, als würden sie sich schon ewig kennen!
Doch so angeregt die Gespräche auch waren, so verstummten sie doch, sobald Yves das Büfett eröffnete. Eilig schnappten die Gäste ihre Teller. Ein paar Austern vorneweg? Oder doch lieber gleich etwas Pastete und Gurkensalat? Ein Stück Brathähnchen oder eins der Mimoseneier mit etwas Salat? Solche Fragen bedurften größter Konzentration, Gespräche waren dabei weder hilfreich noch erwünscht.
Auf eine Sitzordnung hatten Fabie und Yves verzichtet, sie waren schließlich nicht mal dreißig Personen, da sollte sich jeder hinsetzen, wo er mochte. Doch auch als sich alle an der langen Tafel niedergelassen hatten, blieb es weiterhin still. Hier und da hörte man lediglich ein »Hmmm«, ein wohliges Aufseufzen beim Biss in einen knusprigen Hühnerschenkel, ein »Délicieux!« beim Kosten von Salat oder Pastete. Wenn jemand eine Auster an seine Lippen ansetzte, ertönte nichts außer einem schlürfenden Geräusch, denn in diesem Moment waren alle Sinne auf le goût de la mer – den Geschmack des Meeres – gerichtet.
Die Hühnerschenkel waren bis auf die Knochen abgenagt, die Platten mit gegrilltem Gemüse geleert, in den Salatschüsseln schwamm nur noch ein Pfützchen Vinaigrette, als die Gespräche wieder Fahrt aufnahmen. Man wurde persönlicher, fröhlicher. Sogar Pierre taute auf, unterhielt sich mit Noah, später mit Guy, und immer wieder hörte man sein dröhnendes Lachen. Da hatte sie mit ihrer Annahme, er sei schüchtern, anscheinend völlig falschgelegen, dachte Fabienne.
Sie hatten die Tafel gerade aufgehoben, als plötzlich ein fremder Mann in der Scheune auftauchte. Er hatte eine Violine in der Hand und begann sogleich, eine fröhliche Melodie zu spielen. Die Gäste johlten und pfiffen, sogar Lucy und ihr Mann klatschten vornehm in die Hände.
Yves und Fabienne tauschten einen Blick. »Hast du den bestellt?«, raunte Fabie. Angesichts ihrer knappen Kasse hatten sie eigentlich beschlossen, auf einen Musikanten zu verzichten.
Yves schüttelte irritiert den Kopf.
Fabienne wollte schon aufstehen, um den Mann wieder fortzuschicken, als Colette sich zu ihr herüberbeugte und mit knoblauchgeschwängertem Atem sagte, der Musiker sei ein alter Freund. Eine Hochzeit ohne Tanz sei schließlich kein richtiges Fest, fügte sie noch an.
Ein Freund? Fabienne vermutete eher, dass der Mann, der Colette feurige Blicke zuwarf, ein früherer Liebhaber war. »Danke, das ist sehr nett von dir«, sagte sie dennoch erfreut und lächelte die Frau ihres Vaters zum ersten Mal in ihrem Leben an.
»Und – bist du glücklich?« Yves hielt Fabienne fest im Arm, während sie wie fast alle ausgelassen zum Spiel der Violine tanzten.
Fabie blies sich eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, aus dem erhitzten Gesicht. Und ob sie glücklich war!
»Ich mag deine Familie. Ich glaube, Noah und ich werden mal richtig gute Freunde«, flüsterte Yves ihr ins Ohr. »Nur dass Lucy eure Schwester ist – das fällt mir schwer zu glauben. Mit ihrem Dutt und ihrem strengen Gehabe wirkt sie so altmütterlich! Ich habe anfangs geglaubt, sie sei eine Tante von euch.«
Fabienne lachte leise auf. »Lass das bloß Lucy nicht hören. Du hättest sie mal erleben müssen, als wir alle noch Kinder waren! Sie war zwar nicht so wild wie Lily und ich, dafür hat sich Lucy immer um die Pferde der gens de l’eau gekümmert, und das richtig gut. Bei ihr war jeder noch so widerspenstige Gaul zahm.« Mehr konnte Fabie nicht über ihre ältere Schwester erzählen, denn das Spiel des Musikanten nahm nun immer mehr Fahrt auf. Yves und sie hatten Mühe, Schritt zu halten. Sie lachten, und sie drehten sich im Kreis, und alle Fragen, Gedanken und Zweifel wurden unter ihren Sohlen zermahlen wie Staub.
»Es war die richtige Entscheidung, hierherzuziehen. Wie ich mich auf unser neues Leben freue!«, sagte Fabienne außer Atem, als das Lied zu Ende war. Impulsiv küsste sie Yves auf den Mund. »Du und ich, Hand in Hand arbeitend in einem guten Restaurant. Dazu unsere hübsche kleine Wohnung mit Blick auf den Kanal – vielleicht erlaubt uns Monsieur Basse ja doch noch, einen Herd einzubauen.« Dass ihre Zweizimmerwohnung keine Küche hatte, war der einzige Wermutstropfen für Fabie.
»Bloß nicht!«, rief Yves mit gespieltem Entsetzen, während der Musikant eine langsamere Melodie anstimmte. »Es reicht, wenn du zehn Stunden am Tag in einer fremden Küche am Herd stehst. Und dann brauchen wir ja auch noch Zeit für unsere wichtigste Aufgabe …«
Fabies Lächeln fror ein. Die Suche nach ihrem verlorenen Sohn. Keinen Tag ihres Lebens hatte sie aufgehört, zumindest unbewusst nach ihm Ausschau zu halten, sich nach ihm zu sehnen – wohl wissend, dass nur ein Wunder oder der liebe Gott allein ihr ihr Kind zurückbringen konnte.
Ohne aus dem ruhigen Rhythmus zu kommen, sagte Yves: »Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, deiner Familie bezüglich Victor reinen Wein einzuschenken? Warum sollen sie nicht wissen, dass jemand vor sieben Jahren deinen drei Monate alten Sohn entführt hat und nicht gefasst wurde – ich kann das bis heute nicht begreifen!« Seine Miene verdüsterte sich. Lucy, die gerade mit ihrem Mann an ihnen vorbeitanzte, warf ihnen einen besorgten Blick zu.
Fabienne verzog den Mund. Dieses Gespräch führten sie nicht zum ersten Mal. Yves meinte es nur gut, das wusste sie. Aber jedes Mal, wenn er mit dem Thema anfing, war ihr, als würde jemand ein spitzes Messer in ihr Herz bohren. Je weniger sie an Victor dachte, je weniger sie über ihn sprachen, desto besser konnte sie den Schmerz verdrängen.
Da sie nicht gleich antwortete, fuhr Yves fort: »Vielleicht könnte deine Familie uns bei der Suche nach Victor helfen. Dein Vater und Noah kennen durch ihre Arbeit als Schleusenwärter so viele Leute, sie hören täglich neue Geschichten, Gerüchte. An manchen ist was dran, an anderen wieder nicht. Und manchmal hilft auch ein dummer Zufall …«
Fabie spürte, wie sie innerlich immer mehr verkrampfte. Dachte Yves nicht an die Folgen, die diese Beichte mit sich brächte? Sie würde erklären müssen, von wem das Kind war. Die ganze Geschichte mit Eric, dem treulosen Kindsvater, würde ans Tageslicht kommen. Sie wäre Gegenstand von Klatsch und Tratsch, noch bevor sie in der alten Heimat wieder Fuß gefasst hatte. Es reichte, dass sie sich selbst immerzu Vorwürfe machte, weil sie nicht gut genug auf ihr Kind aufgepasst hatte – das brauchte sie von anderen nicht auch noch zu hören!
»Am liebsten wäre mir, wenn meine Familie von Victor erst erfährt, wenn ich ihn gefunden habe. Bitte, akzeptiere das«, sagte sie leise. Betont fröhlich fügte sie an: »Wie wäre es mit einer kleinen Tanzpause? Ich würde mich gern ein bisschen mit Lilys Verehrer unterhalten, kommst du mit?«
»Madame Mazeau, wie könnte ich zu Ihnen Nein sagen?« Yves, der wusste, wann er sich geschlagen geben musste, reichte ihr mit übertriebener Geste seinen Arm und führte sie von der Tanzfläche. »Lily und Pierre stehen da drüben bei deinem Vater. Ich hole uns nur rasch ein Glas Wein, dann gesellen wir uns dazu.«
»… denn früher war alles besser! Da hatten die Dinge noch ihre Ordnung, und jeder wusste, woran er war. Aber seit immer mehr von diesen Teufelsmaschinen, diesen Automobilen, die Straßen unsicher machen, geht alles den Bach runter. Brave Leute wie wir Hufschmiede haben immer weniger Arbeit – ich sag euch, da könnt ich glatt auf die Barrikaden gehen!« Pierres Gesicht war erhitzt, seine Augen zu engen Schlitzen zusammengepresst, als er auf Guy einsprach.
Guy schaute seinen potenziellen Schwiegersohn anerkennend an. »Es sind doch nicht nur die Automobile – auch die Eisenbahn ist ein Werk des Teufels! Der Eisenbahn haben wir den Untergang der Kanalschifffahrt zu verdanken, davon kann ich dir auch ein Liedchen singen!« Er hob sein Glas und prostete Pierre so heftig zu, dass beide Gläser laut aneinanderschlugen.
»Diese Erfindungen braucht kein Mensch«, knurrte Pierre.
Fabienne und Yves schauten sich an. In was für ein Gespräch waren sie denn da geraten?
»Vater, Pierre, heute ist ein fröhlicher Tag – lasst doch die ernsten Themen einfach beiseite«, sagte Lily, die an Pierres Arm hing, mit einem hilflosen Lächeln. In Richtung Fabienne zuckte sie entschuldigend mit den Schultern.
Pierre warf ihr nur einen kurzen Blick zu. Ein wenig Spucke lief aus seinem rechten Mundwinkel, als er erwiderte: »Davon verstehst du als Frau nichts. Dein Vater hat absolut recht, Lily. Ob Eisenbahn oder Automobil – diese Teufelswerkzeuge sind schuld daran, dass inzwischen schon gute Pferde geschlachtet und zu Wurst gemacht werden, nur weil ihr Besitzer ›mit der Mode gehen möchte‹!« Die letzten Worte brachte er in einem nachäffenden Ton voller Verachtung vor.
Fabienne runzelte die Stirn. Ihr Vater und Pierre – da hatten sich anscheinend die Richtigen gefunden.
»Unser alter Brotherr Monsieur Nivet fährt auch eins dieser ›Teufelswerke‹. Und er ist sehr zufrieden damit. Sein Pferd hat er deswegen nicht gleich schlachten lassen, es darf seinen wohlverdienten Ruhestand genießen«, sagte sie, woraufhin ihr Yves sogleich einen kleinen Tritt mit dem Fuß gab. Auch Lily schaute sie konsterniert an. Fabie ignorierte beide – sie ließ sich auf ihrer eigenen Hochzeit doch nicht den Mund verbieten!
Pierre öffnete seinen wie zu einer heftigen Erwiderung, doch dann schien er sich zu besinnen und sagte nur: »Im Norden ist halt vieles anders, das ist mir schon klar. Hier bei uns im Süden müssen die einfachen Leute schauen, wie sie über die Runden kommen. Aber so war es ja schon immer – die da oben im Norden haben sich seit jeher für etwas Besseres gehalten!«
»Oh, von der Sorte gibt’s hier auch genug«, sagte Lily. »Stellt euch mal vor, was sich meine Herrschaften vor ein paar Tagen geleistet haben …«
Es war schon nach Mitternacht, als Fabienne und Yves in ihre Wohnung kamen. Zusammen mit ein paar freiwilligen Helfern hatten sie noch die Tische und Stühle zusammengerückt, das schmutzige Geschirr zum Abtransport in Körbe gestellt und die Essensreste eingepackt. Das Geschirrspülen wollte unbedingt Noahs Frau Elodie übernehmen – dies sei ihr persönliches Hochzeitsgeschenk, hatte sie verkündet. Fabie war erstaunt und erfreut zugleich gewesen.
»Geschafft!« Mit einem Seufzer ließ sich Yves aufs Bett fallen, gleichzeitig streifte er die Schuhe ab.
Fabienne, die vor dem Spiegel die Nadeln aus ihrer Hochsteckfrisur klaubte, lachte. »Du hörst dich an, als hättest du eine anstrengende Reise oder stundenlanges Holzhacken hinter dir.«
»Sag nicht, du fandest den Tag nicht anstrengend. Die Hochzeitszeremonie, die ganzen Vorbereitungen – es galt an so vieles zu denken! Aber am Ende hat ja alles gut geklappt. Mutter sagte, sie hätte noch nie ein so üppiges Büfett gesehen. Das hast du wirklich toll hinbekommen.«
»Ja, es hat allen geschmeckt. Und satt sind auch alle geworden – dass ich mich mit den Mengen verkalkuliere, war nämlich meine größte Sorge«, sagte Fabie, während sie ihre Haare ausbürstete. »Es war ein wunderbares Fest, das wir nie vergessen werden!« In welch weichen Wellen ihr die Haare über die Schultern fielen, nun, da sie einen Tag lang nicht in enge Zöpfe geflochten gewesen waren, dachte sie bei einem letzten Blick in den Spiegel. Ihr Hochzeitskleid hatte sie schon ausgezogen und auf einen Bügel gehängt. Nun streifte sie fröstelnd ihr Nachtkleid über. Tagsüber, wenn die Sonne schien, war es in ihrer Wohnung angenehm warm, doch nun, wo der Wind durch die maroden Fensterrahmen pfiff, war es grimmig kalt. In den nächsten Tagen würde sie dringend zwei dicke Wolldecken kaufen müssen, dachte Fabie und hätte dennoch nicht sagen können, ob ihr Zittern von der Kälte oder der inneren Aufregung kam. »Und nun?«, hätte sie am liebsten gefragt, als sie sich auf die Bettkante setzte. Stattdessen schaute sie Yves nur an.
Er nahm lächelnd ihre Hand und drückte sie. »Wenn du zu müde bist, dann können wir es auch verschieben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Unsere Hochzeitsnacht ist heute«, sagte sie bestimmt und krabbelte zu ihm unter die Bettdecke.
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, streifte er ihr das Nachtkleid wieder über den Kopf. Sie wollte lachend protestieren, doch er legte sanft einen Finger auf ihren Mund. Dann begann er, ihren Körper mit federleichten Küssen zu übersäen. Seine Hände streichelten sanft über ihre Arme, fuhren an ihren Schenkeln entlang wieder nach oben und über ihren Leib, zärtlich liebkosten sie ihre Brüste. Wie liebevoll er war, wie wertschätzend er sie berührte, kein bisschen grob – genau, wie sie es sich vorgestellt hatte, dachte Fabienne. Es dauerte nicht lange, und sie begann, lustvoll seine Zärtlichkeiten zu erwidern, sie streichelte seinen muskulösen Körper, küsste seine breite Brust, drängte sich an ihn.
Seit den Nächten mit Eric auf dem Boot seines Vaters war sie nicht mehr mit einem Mann zusammen gewesen, und so hatte sie befürchtet, unbeholfen und befangen zu sein. Doch Yves’ Körper war ihr nach all der Zeit fast so vertraut wie ihr eigener. Sie wusste, wie er roch, wenn er verschwitzt war. Sie wusste auch, dass er von oben bis unten Gänsehaut bekam, wenn sie durch den Regen liefen. Gemeinsam hatten sie beim Umzug Kisten geschleppt, gemeinsam ihre Siebensachen in die Schränke geräumt. Sie wusste daher ganz genau, wie sich seine Hände anfühlten, und sie kannte auch die Narbe an seinem linken Oberschenkel, wo ein Ziegenbock ihn einmal mit seinem Horn gerammt hatte. Yves war einfach Yves und niemand, vor dem sie Angst haben musste.
Und so gab sie sich mit geschlossenen Augen ihrer Lust hin, genoss seine Zärtlichkeiten und schenkte ihm ihrerseits welche. Nur als er in sie eindringen wollte, wurde sie steif. Schlagartig war ihre Lust verschwunden.
»Was ist?«, murmelte er innehaltend. »Ich tu dir nicht weh, keine Sorge.« Schon schob er sein Knie erneut zwischen ihre Schenkel.
»Das ist es nicht«, flüsterte sie kläglich. »Aber … ich …« Sie biss sich auf die Unterlippe. Wie konnte sie ihm sagen, dass sie Angst hatte, schwanger zu werden, ohne ihn zu verletzen? Hilflos streichelte sie seinen Arm. »Es ist nur so … Wir wollen uns doch Arbeit suchen in den nächsten Tagen, eine Schwangerschaft käme da zur Unzeit. Wäre es möglich, dass du, also ich meine … dass du aufpasst?« Sie suchte flehend seinen Blick.
Er ließ von ihr ab, stemmte sich auf seinen linken Ellenbogen und schaute sie für einen langen Moment schweigend an.
Oje, jetzt hatte sie die Stimmung zerstört, dachte Fabie zerknirscht. Vielleicht hätte sie schon früher mit ihm darüber sprechen sollen. Aber was hätte sie sagen sollen? Sie war seine Ehefrau, da war es ja ihre Pflicht, zu empfangen!
»Ich hätte schon längst mit dir reden müssen«, sagte Yves dumpf. »Unverantwortlich, dass ich es nicht getan habe.« Er schüttelte den Kopf, sein Blick war traurig und wütend zugleich. »Aber ich hatte Angst, dass du mich nicht mehr willst, wenn ich es dir sage …«
»Wenn du mir was sagst?« Fabie schaute ihn verständnislos an.
Er holte tief Luft. »Mit großer Wahrscheinlichkeit kann ich keine Kinder zeugen. Als kleiner Junge war ich einmal krank, die Krankheit nennt sich Ziegenpeter. Die alten Männer in den Dombes behaupten, viele von denjenigen, die das einmal hatten, werden dadurch unfruchtbar.« Er zuckte unglücklich mit den Schultern. »Jedenfalls … Bei den … den Liebschaften, die ich hatte, ist nie etwas passiert. Früher war ich froh darüber, aber nun … Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als irgendwann ein Kind mit dir zu haben …«
Fabienne war wie vom Donner gerührt. Yves konnte keine Kinder zeugen? Genau das wäre aber sein Wunsch gewesen? Und wie ging es ihr dabei? Sie richtete sich ebenfalls auf, konfus, hilflos um eine Antwort verlegen. Darüber, ob Victor eine Schwester oder einen Bruder bekommen sollte, hatte sie noch nicht nachgedacht. Vielleicht irgendwann einmal …
»So, jetzt weißt du die Wahrheit. Es tut mir unendlich leid, Fabienne, dass ich ein solcher Feigling war, es dir nicht vor der Eheschließung zu sagen.« Yves’ Miene war voller Selbstverachtung.
»Oh, Yves …« Sie schaute ihn an – ihren Mann, ihren besten Freund –, und es brach ihr fast das Herz angesichts seines Schmerzes. »Es ist, wie es ist. Dass man die Dinge hinnehmen muss, wie sie sind, das wissen wir doch beide, oder? Außerdem … Ich habe ein Kind – irgendwo … Ich hätte dich auch geheiratet, wenn ich vorher Bescheid gewusst hätte.« Stimmte das?, fragte sie sich im selben Moment, doch dann sah sie, wie Erleichterung sein Gesicht geradezu überflutete, und die Antwort auf ihre Frage wurde gleichgültig.
»Ist das wirklich dein Ernst?«
Sie nickte und küsste ihn zärtlich. »Wie wäre es, wenn wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben?«
Als Fabienne erwachte, nahm sie den würzigen, leicht holzigen Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee wahr. Und da war noch etwas … Sie schnupperte wie ein Hund auf einer interessanten Fährte. Hatte Yves etwa schon Croissants besorgt? Wohlig streckte sie ihre Arme und Beine aus – an einen Tagesanfang wie diesen konnte sie sich gewöhnen!
Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zum Vortag zurück. Die Hochzeit, das Tanzen, das Wiedersehen mit der Familie – alles war so wunderschön gewesen. Und dann auch noch die Hochzeitsnacht! Yves war ein wunderbarer Liebhaber. Sie lächelte und seufzte zufrieden.
Im Zimmer war es auch am Morgen unangenehm kalt, und so beschlossen sie, Kaffee und Gebäck mit ins Bett zu nehmen. Während immer mehr knusprig-goldene Croissantkrümel das Laken sprenkelten, ließen sie nochmals ihr Hochzeitsfest Revue passieren.
Schließlich sagte Fabienne: »Ich frage mich, ob Lily mit diesem Pierre die richtige Wahl getroffen hat – mein Fall ist er jedenfalls nicht.«
Yves schaute sie von der Seite aus an. »Mir geht es genauso. Pierre ist einer, der vom Leben immer nur Zitronen bekommt, aber nicht weiß, wie man Limonade draus macht. Kein Wunder, dass ihn das sauer und missmutig macht!«
Fabienne warf ihrem Mann einen Blick zu. Auch nach all den Jahren, die sie sich schon kannten, konnte Yves sie noch mit seiner Scharfsinnigkeit verblüffen. Sie trank einen Schluck Kaffee. »Pierre ähnelt in erschreckender Weise unserem Vater, der hat seit jeher auch nur ein Thema, und das ist der ›Untergang des Mittelmeerkanals‹«, sagte sie in ironischem Ton. »Maman und wir Kinder konnten sein Lamentieren nicht mehr hören. Dass sich Lily nun ausgerechnet einen Mann ausgesucht hat, der in dieselbe Kerbe schlägt …« Sie biss von ihrem Croissant ab, das buttrig und ein wenig nach Karamell schmeckte.
Einen Moment lang schwiegen sie.
»Vielleicht solltest du mal mit Lily sprechen? Herausfinden, wie ernst es ihr ist«, sagte Yves schließlich.
»Sehr ernst, befürchte ich«, antwortete Fabie seufzend. »Aber du hast recht – reden sollte ich auf alle Fälle mit ihr. Nur, du weißt ja selbst – Ratschläge in Liebesangelegenheiten sind so beliebt wie eine Riesenspinne morgens im Waschbecken.«
Gleich nach dem Frühstück richteten sie sich zum Gehen. Nachdem sie die ersten Wochen des Jahres mit den Hochzeitsvorbereitungen und dem Einrichten der Wohnung verbracht hatten, war heute der erste Tag, den sie der Suche nach Arbeit widmen konnten. Endlich!, dachte Fabienne, als sie die Tür hinter sich zuzog. Der Gedanke, noch länger von ihren Ersparnissen leben zu müssen, gefiel ihr gar nicht – schließlich war das Geld irgendwann einmal für ihr Restaurant bestimmt!
Ihre Wohnung lag am östlichen Stadtrand direkt am Canal de la Robine, einem Seitenarm des Canal du Midi, bis zum Stadtzentrum mit Geschäften, Banken und Restaurants waren es nur wenige Gehminuten.
»Sobald wir Arbeit gefunden haben, möchte ich mit dir an einem unserer freien Tage auf einer Kanalbarke ans Meer fahren!« Yves zeigte auf den Wasserweg links von ihnen. »Dein Vater sagte gestern, der Canal de la Robine führe durch eine sehr interessante Lagunenlandschaft. Im Étang de Bages und dem Étang de l’Ayrolle könne man sogar riesengroße Flamingos beobachten! Vögel gibt’s zwar bei uns in den Dombes auch, aber Flamingos habe ich noch nie gesehen. Und am Ende mündet der Kanal im Hafen von Port-la-Nouvelle ins Meer.«
Fabienne lachte. »Oje, dann hat mein Vater dir gestern also auch die Ohren vollgequasselt über den Canal du Midi und seine Abzweige!«
»Ich fand’s interessant«, sagte Yves schulterzuckend. »Und schließlich haben wir außer dem Narbonnaiser Standesamt noch nichts Besonderes kennengelernt. Ich frage mich: Wohin gehen die Bewohner der Stadt, wenn sie etwas zu feiern haben?« Er machte eine weit ausholende Handbewegung, die Narbonne mit seinen pompösen Stadthäusern, der Kathedrale und den vielen Plätzen einschloss. »Wo gibt’s einen günstigen Mittagstisch? In welchem Etablissement wird abends Musik gespielt, und wo gibt’s für ein paar Sous ein gutes Glas Wein? Jetzt sind wir bald einen Monat hier und wissen noch gar nichts, Fabie. Ich kann es kaum erwarten, dass du mir endlich den Süden zeigst!«
»Wenn du da mal nicht zu viel von mir erwartest.« Fabienne seufzte. »Früher beschränkte sich mein Leben auf die Schleusenstation. Die Ausflüge, die wir in meiner Kindheit und Jugend gemacht haben, kann ich an einer Hand abzählen. Auch am Meer war ich höchstens zwei-, dreimal …« Wie sehr hatte sie damals den Meeresgeruch geliebt, das Spiel der Wellen, den weichen Sand unter den nackten Füßen …
Yves legte einen Arm um ihre Schulter. »Wir werden alles gemeinsam erkunden!« Er zeigte auf eins der Bürgerhäuser vor ihnen, in dessen Erdgeschoss ein Restaurant untergebracht war. »Schau, das Chez René! Wie wäre es, wenn wir da als Erstes anfragen?«
Fabiennes Blick richtete sich auf die lange Fensterfront des Restaurants. Die weißen Gardinen, die Laternen links und rechts der Tür, die mit Zypressen bepflanzten Blumenkübel – allein bei der Vorstellung, in solch einem eleganten Restaurant arbeiten zu dürfen, schlug ihr Herz bis zum Hals. »Ich weiß nicht – ist das nicht zu fein für uns?«, fragte sie dennoch zögerlich.
Yves lachte nur. »Mehr, als uns wieder davonschicken, können sie nicht tun. Also, komm!«
Das Chez René, das Louvre, das Maison De La Belle Vie. Die Auberge de Narbonne, die Brasserie Provence – Fabienne und Yves traten an diesem Tag durch viele Türen. Erfolg hatten sie nirgendwo. Im Louvre hätte Yves sofort als Spülhilfe beginnen können, im Café Du Pays hätten sie ihn als Kellner genommen. In der Brasserie Provence suchten sie ebenfalls einen plongeur, auch da hätte Yves am selben Abend mit Geschirrspülen beginnen können. An Fabienne hatte niemand Interesse.
Nach einem halben Dutzend Absagen und einigen geschlossenen Restaurants – im Januar durchaus üblich – gönnten sie sich in einem kleinen Bistro in einer Seitenstraße eine kurze Pause.
»So schwierig habe ich mir das nicht vorgestellt«, sagte Fabienne geknickt, während sie Milch in ihren Kaffee rührte. »Ich war so überzeugt, dass das gute Zeugnis, das Monsieur Nivet mir ausgestellt hat, helfen würde! Aber niemand hat es auch nur sehen wollen. Allem Anschein nach können sich die Leute hier im Süden nicht vorstellen, dass eine Frau nicht nur am eigenen Herd, sondern in einer Restaurantküche kochen möchte. Wenn ich da an Lyon denke! Dank der Mères lyonnaises ist das dort schon ganz normal, mehr noch – die Mères führen die Restaurants sogar auf eigene Rechnung!«
»Du hast doch selbst gehört, was der Kellner im Louvre gesagt hat – Personal kommt und geht, die Lage kann sich also täglich ändern. Wir finden schon was!«, sagte Yves und tätschelte aufmunternd ihre Hand.
Du vielleicht, dachte Fabie. Hatte er nicht die abwertenden Blicke gesehen, die man ihr zuwarf, als sie wegen einer Arbeit als Köchin angefragt hatte? Einer der Männer – Fabie wusste nicht, ob er der Chefkellner oder der Inhaber des Restaurants gewesen war – hatte sogar lauthals losgelacht, als habe sie einen Scherz gemacht.
Sie trank einen Schluck Kaffee. »Ich denke, du solltest eine der angebotenen Stellen annehmen. Dann hätten wir wenigstens ein Gehalt.«
»Kommt gar nicht infrage! Es war ausgemacht, dass wir in ein und demselben Restaurant arbeiten. Ansonsten hat deins montags Ruhetag, und mein Chef macht am Mittwoch zu – und das wäre es dann mit unseren gemeinsamen Ausflügen und Erkundungen.«
Fabienne schwieg. Ganz unrecht hatte Yves nicht.
»Sollten wir diese Woche nichts finden, dann aber spätestens nächste Woche, wenn die Restaurants nach ihrer Winterpause wieder aufmachen.« Yves winkte der Bedienung. »Und nun los, wir haben heute noch einiges vor!«
Fabienne schüttelte nur den Kopf. Yves’ Zuversicht war wirklich bewundernswert, dachte sie, während er einen kleinen Schwatz mit der Frau hielt, bei der er bezahlte. Und recht hatte er – noch war nicht aller Tage Abend. Nächste Woche würde auch das Chez Olivier wieder öffnen, das Restaurant, in das sie einst von Stéphanie Morel eingeladen worden war und vor dessen verschlossenen Türen sie heute auch schon gestanden hatten. Schlagartig waren viele Erinnerungen auf Fabienne eingeströmt.
Aus welchen Gründen auch immer hatte Albert Morels Tochter damals an ihr, der Küchenhilfe Fabie, einen Narren gefressen, und so hatte sich zwischen ihnen eine ungewöhnliche Freundschaft entwickelt. An besagtem Tag hatte Stéphanie sich einen Spaß daraus gemacht, Fabienne als feine Dame zu verkleiden und ins Chez Olivier mitzunehmen, wo sich ihre ganze Clique traf. Fabienne, die nicht einmal gewusst hatte, dass es solche Etablissements überhaupt gab, war sich wie in einer Märchenwelt vorgekommen. Die feinen weißen Tischdecken, die riesigen Spiegel an den Wänden, die Kerzenleuchter. Dazu der himmlische Duft nach Bratensoße, in Butter geschwenkten Kartoffeln und mit Knoblauch sautiertem Gemüse … An diesem Tag wurde ihr großer Traum, eines Tages selbst Köchin in einem Restaurant zu sein, geboren. Stéphanie hatte sie deswegen ausgelacht und gemeint, dass es ihr als Frau niemals gelingen würde, in diese Männerwelt einzudringen. Das würde man ja sehen, hatte sie, Fabienne, damals trotzig gedacht.
Und wenn man alle Restauranttüren vor ihr zunageln würde – sie würde weiter an ihrem Traum festhalten!, dachte sie nun genauso trotzig. Sie trank den letzten Schluck Kaffee und sagte dann: »Wie oft hat Vater uns Kindern von den Steinen erzählt, die man Paul Riquet beim Bau des Canal du Midi in den Weg gelegt hat! Monsieur Riquet hat dennoch nie aufgegeben, und am Ende wurde sein großer Traum wahr. Yves, wir suchen weiter – irgendjemand wird mir ganz bestimmt eine Chance geben.«
Yves schaute sie wohlwollend an. »So gefällst du mir schon besser!«
»Allerdings würde ich – nach den Erfahrungen heute – doch zuerst nach Carcassonne fahren. Ich werde zwei, höchstens drei Tage weg sein. Du kannst ja in der Zwischenzeit ruhig weiter auf Arbeitssuche gehen.«
»Du willst die Suche nach deinem Sohn allein wieder aufnehmen?« Yves schaute sie entgeistert an. »Hatten wir das nicht anders besprochen? Ich begleite dich gern nach Carcassonne! Vier Augen sehen mehr als zwei, vier Ohren hören mehr …«
»Falls es überhaupt irgendeine neue Spur gibt nach all den Jahren«, antwortete Fabienne seufzend. »Wahrscheinlich komme ich völlig enttäuscht zurück. Aber ich will nichts unversucht lassen – die Suche nach Victor ist ja schließlich einer der Gründe, warum wir in den Süden gezogen sind. Mein Gefühl sagt mir, dass ich diese Reise machen muss, und zwar allein!«
Der Himmel war grau an diesem Morgen – zum ersten Mal, seit Fabienne zurück im Süden war, erschien nicht die Sonne am Horizont. Hoffentlich war das kein schlechtes Omen, dachte sie, während sie am frühen Morgen die Tür hinter sich zuzog. Yves schlief noch, und das war ihr recht.
So, wie sie einst von Carcassonne fortgegangen war, so reiste sie nun wieder an: mit einer Passagierbarke auf dem Canal du Midi. Doch dieses Mal hüllte sie sich nicht in ihren dicken Schal, weil sie ihr Gesicht verstecken wollte, sondern einzig wegen der Kälte.
In Carcassonne suchte sie als Erstes die örtliche Polizeistation auf. Zu ihrem Erstaunen traf sie dort auf denselben Beamten, der sie nach Victors Verschwinden verhört hatte. Er war gerade dabei, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Sogleich wallte ein ungutes Gefühl in Fabiennes Magengegend auf. Ausgerecht der … Der Gendarm hatte sie damals vernommen, als glaubte er, sie selbst habe ihren Sohn verschwinden lassen oder gar umgebracht.
Noch bevor sie einen Ton äußern konnte, winkte der Mann ab. »Sparen Sie sich Ihre Worte, ich weiß, wer Sie sind. Sie waren in der Küche im Château Morel beschäftigt. Ihr Kind wurde entführt, es war der fünfundzwanzigste Oktober 1881, ein Dienstag.«
»Das wissen Sie noch?« Fabienne wurde schlagartig so schwindlig, dass sie sich an der Schreibtischkante festhalten musste. Wenn der Mann das noch wusste, bedeutete das dann, dass er mehr wusste?
Der Gendarm, der allem Anschein nach im Begriff war, zum Mittagessen aufzubrechen, schaute sie stirnrunzelnd an. »Glauben Sie mir, es verging in all den Jahren kein Tag, an dem ich nicht über dieses Verbrechen nachgedacht habe. Ich hasse ungeklärte Fälle, und der Ihres Sohnes ist mehr als das – er ist ein Mysterium! Immer wieder kommt unter uns Kollegen das Gespräch auf damals, wir alle halten bis zum heutigen Tag Augen und Ohren offen und werden dies auch weiterhin tun. Doch falls Sie gekommen sind, um zu fragen, ob es neue Erkenntnisse gibt, muss ich Sie leider enttäuschen. Nicht der geringsten Spur konnten wir bisher nachgehen.«
Fabienne sackte in sich zusammen, als habe sie einen Fausthieb in die Magengegend bekommen.
Sie fragte im Rathaus nach, doch von den dortigen Beamten konnte ihr auch niemand weiterhelfen. Sie ging zur Redaktion der örtlichen Tageszeitung, aber der Redakteur, den sie dort antraf, wusste nichts von dem Fall und erinnerte sich auch nicht, je davon gelesen zu haben. Sie besuchte wahllos das eine oder andere Geschäft. Jedes Mal, wenn sie ihre Geschichte vortrug, kam ihr ihr Vorhaben abstruser vor. »Bonjour, ich suche einen siebenjährigen Jungen, genauer gesagt meinen Sohn. Man hat ihn vor sieben Jahren von Château Morel entführt. Erinnern Sie sich? Mehr noch, haben Sie meinen Victor womöglich irgendwo gesehen?« Die Leute schauten sie an, als hätten sie eine Geisteskranke vor sich.
Das bringt doch alles nichts, dachte Fabienne am frühen Nachmittag entnervt. Eigentlich konnte sie sich den Besuch im Château sparen. Was sollte sie ausgerechnet dort herausfinden? Mutlos machte sie sich dennoch auf den Weg.
Kurz nachdem sie die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen hatte, hatte sie Glück und wurde von einem Kutscher mitgenommen, der in Richtung der Schwarzen Berge fuhr. Er komme aus Katalonien und habe erst letztes Jahr in eine hiesige Winzerfamilie eingeheiratet, erzählte er in einem so fremd klingenden Dialekt, dass Fabie Mühe hatte, ihn zu verstehen.
Alles war noch wie früher, dachte sie, während sie durch die unendlich wirkenden Rebenfelder fuhren. Jetzt im Winter wirkten die blattlosen Rebstöcke fast filigran. Auf den Gehöften ringsherum kläfften Hofhunde, in weiter Ferne sah Fabienne das Château wie einen Solitär in der Winterlandschaft stehen. Dahinter erhoben sich die Schwarzen Berge und schienen zum Greifen nah.
Mit jedem Kilometer, den sie dem Château näher kamen, malträtierten die Erinnerungen Fabienne heftiger. Durch genau diese Weinberge war sie nach Victors Verschwinden gerannt. Den ganzen Tag, im strömenden Regen, bis spät in die Nacht hinein. Wie eine Wahnsinnige hatte sie immer wieder seinen Namen gerufen, als hätte sie ihn damit herbeizaubern können. In den umliegenden Höfen waren längst die Lichter angegangen, als sie immer noch hoffte, ihren Sohn zu finden, wenn sie nur gründlich genug nach ihm suchte. Wie dumm sie damals gewesen war, dachte sie nun. Derjenige, der das Kind entführt hatte, war zu dieser Zeit bestimmt schon über alle Berge gewesen. Oder in einem Versteck, von dem er annahm, dass niemand es finden würde. Warum nur hatte sie nicht besser auf Victor aufgepasst? Sie hätte sein Körbchen in die Küche stellen können – heimlich, sodass niemand es mitbekam –, anstatt ihn in die Obhut der alten Marianne zu geben.
So präsent die damalige Verzweiflung war, so groß ihre Wut auf sich selbst – Fabienne spürte dennoch so etwas wie Hoffnung in sich aufkeimen. Es war nicht mehr als ein Wunder, auf das sie hoffte. Aber vielleicht würde ihr gleich hinter der nächsten Kurve ein Junge begegnen, sieben Jahre alt …
Beim Näherkommen sah das Château aus wie früher, imposant, trutzig, über alles erhaben. Über dem Eingangsportal hing noch immer die eiserne Tafel, auf der stand: Vent d’Est, Vent d’Ouest. Ost- oder Westwind – ihr war es gleich, welcher Wind ihr ihr Kind zurückbringen würde, dachte Fabie, während sie auf wackligen Beinen durch das Eingangsportal schritt.
Wie still es hier war! Kein Topfgeklapper drang aus der Küche. Kein Pferdewiehern war aus dem Stall zu hören, kein Gegacker von Hühnern und Enten. Niemand fluchte, weil ihm ein Werkzeug aus der Hand fiel. Niemand lachte über den Scherz eines anderen.
Dass es im Château keine Köchin mehr gab, wusste Fabie von Sophie. Aber wo waren die Gärtner, die Pferdeknechte, die Hausbediensteten?
Ratlos schaute sie sich im Hof um, dann ging sie auf die Stallungen zu. Drinnen hing der Geruch nach Pferden noch in der Luft, doch außer ein paar Ziegen, die gelangweilt an einem der Holzbalken herumnagten, war niemand zu sehen. Fabienne streichelte die Tiere kurz, dann ging sie wieder hinaus.
Hinter den Stallungen lag der Gemüsegarten. Als Fabie sah, wie gut gepflegt er war, hellte sich ihre Miene auf – vielleicht war doch noch einer der Gärtner von früher da, mit dem sie reden konnte. Doch weit und breit sah sie auch hier keine Menschenseele.
Sollte sie am Herrenhaus anklopfen? Was, wenn der neue Besitzer sie für eine Bettlerin hielt und vom Hof jagte, noch bevor sie vorsprechen konnte? Und was sollte der Fremde ihr schon sagen können?, fragte sie sich, während wie aus dem Nichts ein starker Wind aufkam.
Sophie Colbert hatte erzählt, dass das Château schon lange nicht mehr ihrem alten Arbeitgeber, der Familie Morel, gehörte. Das gesamte Anwesen war mittlerweile im Besitz einer Narbonnaiser Bank. Die Gründe dafür, dass die ehrwürdige Winzerfamilie Morel ihr Zuhause verloren hatte, waren vielfältig, aber angefangen hatte alles im Jahr 1877 mit einem kleinen Insekt: Zu jener Zeit war das Weingut wie viele andere Weingüter im Süden auch von der Reblaus heimgesucht worden. Der Schädling hatte die Arbeit vieler Jahre zerstört, Weinbau war lange nur noch sehr eingeschränkt möglich gewesen. Um überleben zu können, hatte Albert Morel im Jahr 1880 einen Kredit bei dem Narbonnaiser Bankier Oscar de Carneval aufgenommen – Stéphanie Morels damaligem Verlobtem. Als der Winzer seine Kreditraten nicht mehr hatte bedienen können, übernahm Oscars Bank das Anwesen, und Albert Morel stand von einem Tag auf den anderen vor dem Nichts.
Als wäre das alles nicht schon schlimm genug gewesen, war seine Frau Delphine mit einem sehr viel wohlhabenderen Mann auf und davon gegangen. Albert Morel selbst lebte in einer der Dienstbotenkaten auf dem Château und arbeitete dort als Verwalter – auch das wusste Fabie von Sophie.
Bestimmt war Stéphanies Vater nur noch ein Schatten seiner selbst, dachte Fabienne und stählte sich für die Begegnung mit dem Mann, vor dem sie einst so viel Ehrfurcht empfunden hatte. Der Wind zerrte an ihrem Haar, als sie auf die Dienstbotenunterkünfte zuging.
Das kleine Haus, in dem Sophie und sie gewohnt hatten, stand leer. Die Hütte, in der Marianne, Stéphanies altes Kindermädchen, gelebt hatte, war ebenfalls verlassen – bestimmt war die alte Frau gestorben. Fabie stellte beschämt fest, dass der Gedanke sie mit Frieden erfüllte. Die alte Frau hatte auf Victor aufpassen sollen, während sie, Fabie, in der Küche schuftete. Doch als der Unhold, der Victor entführt hatte, gekommen war, schlief Marianne den Schlaf der Gerechten.
Fabienne versuchte, tief Luft zu holen, doch die Last von damals lag wie ein zentnerschwerer Stein auf ihrer Brust. Gramgebeugt lief sie weiter und sah, dass beim letzten Gesindehaus ganz hinten im Hof dünner Rauch aus dem Kamin zog. In früheren Zeiten hatte einer der Gärtner dort gelebt.
Sie klopfte an und hörte von drinnen: »Herein!«
Zögerlich öffnete sie die Tür und sah am Tisch einen Mann sitzen, einen Topf mit Pellkartoffeln vor sich. Sie dampften noch.
Fabienne schluckte aufgeregt. Der Chevalier! Anstelle des feinen Zwirns von früher trug er eine derbe Arbeitshose, ein blaues Hemd und ein von altem Schweiß hart gewordenes Halstuch. Sein Gesicht war unrasiert, seine Haut ledrig braun wie die eines Bauern, der sich Tag für Tag in der Sonne aufhielt.
Fabienne zitterte auf einmal so sehr, dass sie sich an der Türklinke festhalten musste.
»Ich kenne dich«, sagte wie zuvor der Gendarm nun auch Albert Morel, noch bevor sie einen Ton herausbrachte. »Du warst Sophie Colberts rechte Hand, Stéphanie hatte dich von irgendwoher angeschleppt. Aber da war noch etwas …« Er brach ab, seine Miene verdüsterte sich.
»Ja, da war noch etwas – von Ihrem Weingut wurde mein Sohn entführt«, sagte Fabienne zornig. »Ich bin gekommen, um zu fragen, ob sich neue Spuren ergeben haben.«