Große Träume, kleine Siege - Petra Durst-Benning - E-Book

Große Träume, kleine Siege E-Book

Petra Durst-Benning

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Beschreibung

Vom einfachen Mädchen, das gern kocht, zu einer gefeierten Köchin, die die Welt verändert

»Bon appétit!« Fabienne liebt es, die Gäste am Schleusenwärterhaus ihrer Eltern zu bewirten. Schließlich gibt es bei ihnen das beste Essen am ganzen Canal du Midi: Fabiennes Maman zaubert mit einfachen Zutaten die schmackhaftesten Gerichte. Nur der Gedanke an ihren Geliebten Eric lässt Fabienne immer öfter von der großen weiten Welt träumen. Als ihre Mutter unerwartet stirbt, brennt sie kurzentschlossen mit Eric durch. Doch der junge Schiffer erweist sich als wankelmütig, und so steht die minderjährige Fabienne schon bald allein da. Sie kämpft für sich und ihre Zukunft, und auch dank der Hilfe der adeligen Stéphanie scheint sich alles zum Guten zu wenden. Aber dann schlägt das Schicksal ein weiteres Mal unerbittlich zu ... und nichts ist mehr, wie es war.

Der Auftakt der neuen großen historischen Saga von SPIEGEL-Bestsellerautorin Petra Durst-Benning!

Die Hardcover-Ausgabe erschien unter dem Titel »Die Köchin - Lebe deinen Traum« bei Blanvalet.

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Seitenzahl: 570

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Buch

»Bon appétit!« Fabienne liebt es, die Gäste am Schleusenwärterhaus ihrer Eltern zu bewirten. Schließlich gibt es bei ihnen das beste Essen am ganzen Canal du Midi: Fabiennes Maman zaubert mit einfachen Zutaten die schmackhaftesten Gerichte. Nur der Gedanke an ihren Geliebten Eric lässt Fabienne immer öfter von der großen weiten Welt träumen. Als ihre Mutter unerwartet stirbt, brennt sie kurzentschlossen mit Eric durch. Doch der junge Schiffer erweist sich als wankelmütig, und so steht die minderjährige Fabienne schon bald allein da. Sie kämpft für sich und ihre Zukunft, und auch dank der Hilfe der adeligen Stéphanie scheint sich alles zum Guten zu wenden. Aber dann schlägt das Schicksal ein weiteres Mal unerbittlich zu … und nichts ist mehr, wie es war.

Autorin

Petra Durst-Benning wurde 1965 in Baden-Württemberg geboren. Seit über fünfundzwanzig Jahren schreibt sie historische und zeitgenössische Romane. Fast all ihre Bücher sind SPIEGEL-Bestseller und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. In Amerika ist Petra Durst-Benning ebenfalls eine gefeierte Bestsellerautorin. Sie lebt und schreibt im Süden Deutschlands, Frankreich war viele Jahre lang ihre zweite Heimat.

Weitere Informationen unter: www.durst-benning.de

Von Petra Durst-Benning bereits erschienen (Auswahl)

Die Fotografin – Am Anfang des Weges

Die Fotografin – Die Zeit der Entscheidung

Die Fotografin – Die Welt von morgen

Die Fotografin – Die Stunde der Sehnsucht

Die Fotografin – Das Ende der Stille

Die Blütensammlerin

Kräuter der Provinz

Petra Durst-Benning

Große Träume, kleine Siege

Die Köchin

Roman

Dieser Roman erschien erstmals 2022 unter dem Titel »Die Köchin – Lebe deinen Traum« bei Blanvalet.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Hardcover-Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Gisela Klemt

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (jarek106, Kimo, Delphotostock, Mathias Weil) und Abigail Miles / Arcangel Images

BSt · Herstellung: DiMo

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31895-6V001

www.blanvalet.de

Liebe Leserinnen und Leser,

ist Ihnen eigentlich schon aufgefallen, dass sich Kochen und Schreiben ziemlich ähneln?

Man arbeitet bei beiden Tätigkeiten immer mit den gleichen Zutaten wie Kartoffeln, Butter, Eier oder Buchstaben …

Ob daraus ein Einheitsbrei wird oder etwas anregend Neues – das liegt einzig an dem, der den Kochlöffel schwingt beziehungsweise den Text verfasst.

Ich werde für Sie mit meiner Köchinnen-Trilogie ein hoffentlich einzigartiges Drei-Gänge-Menü kreieren. Genießen Sie jedes Häppchen und lassen Sie sich immer wieder aufs Neue überraschen!

»Mit einem Buch kann man verreisen, ohne einen Koffer packen zu müssen« – dieses Zitat gehört seit jeher zu meinen Lieblingssprüchen. Und weil das so ist, lade ich Sie auch mit meiner neuen Trilogie ein, mit mir an meine persönlichen Lieblingsorte zu verreisen: Genießen Sie die ersten Kapitel am berühmten Canal du Midiin Südfrankreich, der heute zum Weltkulturerbe gehört. Besuchen Sie danach ein mediterranes Weingut in der mittelalterlichen Stadt Carcassonne. Reisen Sie weiter nach Lyon, der kulinarischen Hauptstadt der Welt.

Liebe und Leidenschaft, Sinnlichkeit und Lebensfreude sind weitere Zutaten, die ich für meine Trilogie verwende. Aber all das wäre nichts ohne Fabienne! Sie möchte nämlich als eine der ersten Frauen eine klassische Männerdomäne erobern – die Küche eines feinen Restaurants. Und das zu einer Zeit, in der Frauen eigentlich nur am heimischen Herd kochen durften – die Gourmetküche für Feinschmecker und verwöhnte Gaumen traute man einer Frau schlicht nicht zu. Vor diesem Hintergrund erstaunt es einen fast ein bisschen, dass Frauen als Gäste im Restaurant gern gesehen und sogar üblich waren!

Beim Lesen kann man wunderbar Kraft tanken. Machen Sie es sich deshalb ganz gemütlich. Vergessen Sie den Alltag, genießen Sie Lesestunden, die nur Ihnen gehören. Und wer weiß? Vielleicht schenkt Ihnen Fabienne mit ihrem Mut und ihrer Tatkraft genau die Inspiration, die Sie jetzt gerade gebrauchen können!

Ich wünsche Ihnen ganz viel Spaß beim Lesen!

Ihre Petra Durst-Benning

Kapitel 1

Februar 1880, Sallèles-d’Aude am Canal du Midi, Südfrankreich

Markttage waren die schönsten Tage der Woche!, dachte Fabienne nicht zum ersten Mal, während sie und ihre Mutter Violaine von Stand zu Stand gingen, um einzukaufen.

An Markttagen sah man in Sallèles-d’Aude, dem kleinen südfranzösischen Ort am Canal du Midi, nur gut gelaunte Menschen. Wer morgens griesgrämig aus dem Haus ging, dem zauberten die Markthändler mit ihren frechen Sprüchen schnell ein Lächeln auf die Lippen. Und wer für die Scherze der Markthändler nichts übrighatte, wurde vielleicht vom Anblick der Berge von Saucissons aufgeheitert, jener schmackhaften Würste, die es am Stand von Monsieur Garonne gab und deren rauchiger Geruch einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Vielleicht waren es auch die getrockneten Veilchenblüten, mit denen Estelle Vialle ihre runden Ziegenkäse liebevoll dekorierte, die den einen oder anderen Marktbesucher selig lächeln ließen.

Lag es wohl am honigsatten Mimosenduft, der aus den umliegenden Gärten zum Markt wehte, dass die Leute an diesem Februarmorgen so glücklich wirkten?, fragte sich Fabienne, während ihre Mutter sich vom Käsehändler ein Bröckchen Blauschimmelkäse zum Verkosten reichen ließ. Blühten die Mimosen, war das Frühjahr mit seinen warmen Temperaturen nicht mehr weit, das wusste jeder im Süden! Entsprechend groß war die Freude, wenn die ersten Bäume und Sträucher zu blühen begannen. In der Provence, woher ihre Mutter stammte, wurde sogar ein Fest zu Ehren der sonnengelben Blüten gefeiert. Violaine Durant sprach nur selten über ihr Heimatdorf, aber zur Mimosenzeit war ihr Blick stets ein wenig wehmütiger als sonst in die Ferne gerichtet, gerade so, als habe sie Heimweh. Und auf dem Tisch im Schleusenwärterhaus stand Tag für Tag ein frischer Strauß blühender sattgelber Mimosenzweige, deren Duft für Fabies Empfinden fast schon zu aufdringlich war.

Auch Fabienne hätte an diesem Morgen die ganze Welt umarmen können – was allerdings weder am kulinarischen Marktangebot lag noch an der blütenschweren Luft, sondern einzig an der Tatsache, dass sie heute Abend Eric wiedersehen würde. Eric Lacasse mit seinen dunkelbraunen Augen, die glänzten wie ein frisch aufgeschnittener Trüffel. Eric, der sagte, dass er sie liebte. Wenn er sie anschaute, wurde ihr immer ganz anders zumute und …

»Kommst du? Wir brauchen noch Salat und Eier.« Mit einem kleinen Stups riss ihre Mutter sie aus ihren Träumen.

Den Einkaufskorb über den Arm gehängt, folgte Fabie ihrer Mutter durch das dichter werdende Gedränge auf dem Markt. Wenn Maman Salat und Eier einkaufte, bereitete sie heute bestimmt Mimosen-Eier zu, dachte sie. Das Gericht gehörte zu ihren persönlichen Lieblingen – bei den Kanalschiffern hingegen war es nicht ganz so beliebt, die Männer bevorzugten eher handfeste Eintöpfe oder Ragouts. Dennoch würden die Tische auf ihrer Terrasse heute wieder bis zum letzten Platz besetzt sein, denn so gut wie bei Violaine aß man entlang des Kanals nur selten.

Fabiennes Elternhaus – das Schleusenwärterhaus – lag ein Stück außerhalb von Sallèles d’Aude inmitten von unendlich wirkenden Rebenfeldern direkt am Canal du Midi, dem 1681 erbauten, 240 Kilometer langen Wasserweg, der Toulouse mit dem Mittelmeer verband. Fabiennes Vater Guy Durant war der Schleusenwärter, und seine Schleuse war auf der langen Route des Kanals eine ganz besondere Station, und das aus gleich mehreren Gründen: Bevor die Schiffe Guys Schleuse passierten, mussten sie nämlich zuvor ein Stück auf dem Fluss Aude fahren, der dem Ort seinen Namen verliehen hatte. Zu Trockenzeiten war die Aude so harmlos wie der Kanal selbst, aber wehe, es regnete mal ein paar Tage lang! Dann wurde aus dem kleinen Flüsschen ein reißender Strom, und das Befahren war höchst gefährlich. Entsprechend erleichtert waren die Schiffer, wenn sie Guys Schleuse passiert hatten und wieder auf dem von Menschenhand erbauten Kanal fahren konnten. So genau wusste es niemand, aber es hieß, dass dieser Streckenabschnitt des Canals der einzige war, wo von den Erbauern ein natürlicher Fluss in den Kanal miteinbezogen worden war.

Eine weitere Besonderheit von Guy Durants Schleuse war das seitliche Trockendock, auf das die Barkenschiffe mittels einer Seilwinde gehievt werden konnten, wenn eine Reparatur durchgeführt werden musste. Bei den arg strapazierten Schiffen ging öfter eine Kleinigkeit kaputt, das Trockendock war entsprechend häufig frequentiert.

Auf der anderen Seite der Schleusenkammer verbreiterte sich der Kanal zu einer Art kleinem Hafen. Hier warteten die Schiffer nicht nur darauf, dass Guy Durant sie durch seine Schleuse brachte – hier blieben die gens de l’eau, die Herren des Wassers, wie sich die Barkenschiffer selbst nannten, auch gern für eine Nacht.

Offiziell durften sie für eine Rast überall auf dem Kanal anlegen, solange sie die anderen Schiffe nicht an der Durchfahrt hinderten. Doch im ovalen Hafenbecken von Guy Durant hielten die Männer besonders gern über Nacht an, was vor allem an Violaines Kochkünsten lag. Nach einem langen Tag auf dem Wasser, an dem sie Dutzende von Schleusen passieren mussten, gönnten sich fast alle Schiffer ein Essen auf der Terrasse des Schleusenwärterhauses. Dass Violaine gegen ein kleines Entgelt außerdem ihre verschwitzten Kittel und schmutzigen Hosen wusch, während die Männer ihre wohlverdiente Nachtruhe genossen, trug noch weiter zur Beliebtheit der Schleusenstation bei. Selbst waschen konnten die Schiffer auf der zweiwöchigen Reise nicht – das durch Müll und Fäkalien verunreinigte Wasser des Kanals war dafür viel zu schmutzig.

Während Fabienne und ihre Mutter über den Markt gingen, grüßten sie hier, tauschten da ein paar Worte – in Sallèles kannte jeder jeden. Dass sich ein Fremder hierher verirrte, kam eher selten vor – selbst die Barkenschiffer, die in Sallèles auf den Markt gingen, um Proviant einzukaufen, waren keine Unbekannten. Niemand wusste es ganz genau, aber man schätzte, dass rund zweihundertfünfzig Schiffe die Wasserstraße nutzten. Bei einer durchschnittlichen Besatzung von drei Mann pro Kahn – der Bootsbesitzer, ein Matrose und ein Postillon, der für die Pferde zuständig war – war die Anzahl der Schiffer also überschaubar.

Der geringe Schiffsverkehr sorgte bei Fabiennes Vater regelmäßig für Verdruss. In seiner Kindheit habe sich eine Barke an die nächste gereiht, und die Schlange vor der Schleuse, die damals noch sein Vater geführt hatte, sei den ganzen Tag lang nicht kürzer geworden, erzählte Guy Durant jedem, der es hören wollte oder nicht. Das seien noch Zeiten gewesen! Doch die goldenen Jahre des einst so stolzen »Königlichen Kanals« waren längst vorbei, und schuld daran waren in Guy Durants Augen die hohen Herren in Paris, die im Jahr 1859 den fatalen Fehler begangen hatten, den gesamten Canal du Midi an eine Eisenbahngesellschaft zu verpachten. Eisenbahner, die sich um eine Wasserstraße kümmern sollten? Das konnte doch nur schiefgehen!, hatten die gens de l’eau geargwöhnt. Sie hatten Recht behalten: Anstatt den ihr anvertrauten Wasserstraßen Aufmerksamkeit zu schenken, richtete die Compagnie des chemins de fer du Midi all ihre Anstrengungen darauf aus, den Bahntransport zu steigern. Während also in ganz Südfrankreich mehr und mehr Schienenkilometer gebaut und Waren per Bahn transportiert wurden, ging es mit dem Kanal immer weiter abwärts. Jetzt fehlte nur noch, dass die feinen Herren hier durch den Ort eine Eisenbahnlinie bauten, unkte Guy Durant oft, dann könnten sie alle ihre Schleusenwärterbüros schließen und einpacken.

Normalerweise stellte sich Fabienne taub, wenn ihr Vater so lamentierte, doch insgeheim fragte auch sie sich, was passieren würde, wenn eines Tages die Winzer, Olivenbauern und andere Produzenten hier im Süden ihre Ware nur noch mit der Bahn verschickten. Dann würden nicht nur die ganzen Kanal-Angestellten, wie ihr Vater einer war, arbeitslos, sondern auch die Barkenschiffer wie Eric und sein Vater.

Der Gedanke, eines Tages ohne Einkommen dazustehen, sorgte alle gens de l’eau. Doch keiner der Männer war so verbittert wie Guy Durant! Fabie und Violaine hofften inständig, dass niemals ein Vertreter der Compagnie des chemins de fer du Midi bei ihnen auftauchen würde. Denn Guy Durants Hass auf diese Gesellschaft war so groß, dass er jeden, der dort angestellt war, wahrscheinlich verprügelt hätte.

Wer Mutter und Tochter über den Markt laufen sah, dachte unwillkürlich, dass hier der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen war. Beide hatten dieselbe hochgewachsene Statur, dieselben langen, schlanken Beine. Ihre Schultern reckten beide stolz nach hinten, den Kopf – aber nicht die Nase – trugen sie hoch, und jede ihrer Bewegungen war von natürlicher Grazie. An den Durant-Frauen war weder etwas Gekünsteltes noch etwas Lautes. Doch hier endeten die Gemeinsamkeiten, denn während Violaines einstmals so satt kupferfarben leuchtende Haare immer mehr ausblichen und silbrig wurden, waren Fabiennes Haare von einem tiefen Kastanienbraun. Und wo die Augen der Jüngeren erwartungsvoll funkelten, wirkten Violaines Augen oft müde und irgendwie desillusioniert. Dunkle, fast violette Schatten lagen unter Violaines Augen, aber wen wunderte es? Wo doch die Arbeit im Haus des Schleusenwärters Durant nie ausging!

Violaine hielt am Stand eines alten Mannes an, der außer Hühnereiern auch noch Gänse- und Enteneier im Angebot hatte. Letzte Woche hatte sie ihre Eier am Stand von Madame Lacasse eingekauft und die Woche davor wieder woanders. Violaine Durant hatte keine Stammhändler – dies hätte ihrer Ansicht nach dazu geführt, dass die Marktleute sich auf ihren Lorbeeren ausruhten und nachlässig wurden.

Als ob es irgendjemand wagen würde, ihrer Maman minderwertige Ware anzudrehen, dachte Fabienne spöttisch. Violaine musste eine Ente nur anschauen und wusste anhand von Federkleid, Schnabel und dem Abnutzungsgrad der Krallen, wie alt oder jung das Vieh war. Wenn Violaine Fisch kaufte, dann nur den mit den klarsten Augen und leuchtend roten Kiemen. Und wenn sie Käse kaufte, dann musste sein Reifegrad optimal sein. Und wehe, jemand wagte, auch nur einen Sou zu viel zu berechnen! Manchmal war Fabienne Violaines Auftreten fast schon peinlich, doch zu ihrem Erstaunen schienen die Händler sie gerade deswegen zu respektieren. Jedenfalls traute sich niemand, der Frau des Schleusenwärters ein Ei anzudrehen, das nicht noch nestwarm war!

Während Violaine Durant drei Dutzend Eier aussuchte, schaute Fabie unruhig in Richtung Kanal. Was, wenn Eric und sein Vater früher als geplant in Sallèles eintrafen und sie ihn verpasste? Es wäre nicht das erste Mal …

Eric und sein Vater waren Barkenschiffer, ihnen gehörte ein so genanntes Pinardier-Boot. Die »Aurelie« – nach Erics Mutter benannt –konnteüber hundert Weinfässer auf einmal transportieren. Unter den Bootsleuten waren die Pinardier-Schiffer besonders hoch angesehen, denn das Hantieren mit den schweren Fässern war nicht ganz ungefährlich. Immer wieder gab es beim Be- und Entladen Unfälle, zum Beispiel, wenn jemand die Kontrolle über eins der schweren Fässer verlor und davon an eine Wand gedrückt oder überrollt wurde. Sehr unbeliebt waren bei den Pinardiers auch Ladungen, die nur aus Brandy bestanden, denn mehr als einmal war es schon vorkommen, dass sich die Ladung bei einer kleinen Unachtsamkeit entzündete und das Schiff in Flammen aufging. Doch so gefährlich die Arbeit der Pinardiers auch war, so mangelte es ihnen nie an Aufträgen, denn in Paris und Lyon war ständiger Nachschub an Wein aus dem Süden erwünscht. Noch sträubten sich die Winzer dagegen, ihren Wein mithilfe der neu erbauten Eisenbahnlinien zu verschicken – der Canal du Midi lag nicht nur näher an ihren Weingütern, es gab auch wesentlich mehr Häfen als Bahnhöfe. Und so trudelte ein Auftrag nach dem anderen bei den Pinardiers ein.

Wenn der Winzer, für den Eric und sein Vater fuhren, den Abholtermin diesmal vorverlegt hatte, dann hatte die »Aurelie« womöglich die Schleuse ihres Vaters längst passiert, und sie würde Eric verpassen …

»Fabienne, du träumst heute ständig vor dich hin! Komm, wir brauchen noch getrocknete Pilze.« Im nächsten Moment schnappte ihre Mutter den inzwischen schwer gewordenen Einkaufskorb und marschierte los. Fabienne, aus ihren Gedankengängen gerissen, folgte ihr mürrisch.

Vorbei ging es am Blumenstand – für Blumen war im Hause Durant kein Geld übrig –, vorbei auch am Stand von Colette Laroque. Sowohl Mutter als auch Tochter warfen der Fischhändlerin einen herablassenden Blick zu, so, wie sie es jede Woche taten. Umgekehrt war der Blick, mit dem die Marktfrau Mutter und Tochter bedachte, nicht weniger unfreundlich.

»Colette ist eine femme bâclée«, hatte Violaine ihrer Tochter vor langer Zeit einmal zugeraunt, als Fabie hatte wissen wollen, warum sie eigentlich nie an diesem Stand einkauften. Eine schlampige Frau – bis heute wusste Fabienne nicht, ob es Colettes äußerst großzügig geschnittenes Dekolletee war, ihre ständigen Männergeschichten, von denen man sich im Dorf erzählte, oder der Fisch, den man schon von weitem roch, der Violaine zu dieser Aussage verführt hatte. Im tiefsten Innern fand Fabie die Frau, die mit ihren verhangenen Augen immer dreinblickte, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gestiegen, irgendwie geheimnisvoll und interessant, aber das hätte sie natürlich nie laut gesagt.

So, wie Colettes Stand der einzige war, den sie nie aufsuchten, war der Tisch des alten Monsieur Ballard der einzige, den Violaine regelmäßig besuchte. Denn seine getrockneten Pilze waren schlichtweg die besten und landeten fein gemörsert als Gewürz in fast jedem von Violaines Gerichten.

Im trockenen Flachland nahe der Küste wuchsen keine Pilze. Der alte Mann ritt deshalb mit seinem alten Gaul weit hinauf in die Berge rund um Assignan. Und selbst dort gäbe es nur wenige Plätze, wo Steinpilze und Pfifferlinge zu finden waren, hatte er ihnen einmal verraten.

Während der Pilzhändler ein kleines Säckchen seiner kostbaren Ware abfüllte, sogen Mutter und Tochter das würzige Aroma nach Wald und dunkler Erde, nach Baumrinde und ein wenig auch nach Hühnersuppe tief in sich auf. Unwillkürlich mussten sie lachen. Dass sie beide ständig irgendwo schnupperten und an etwas rochen, war schon immer so gewesen.

»Mangold, Möhren und Salat sind ja schön und gut«, sagte Violaine und nickte in Richtung der Marktstände. »Aber langsam kann ich es kaum mehr erwarten, dass die ersten Tomaten auf den Markt kommen. Der Duft von reifen Tomaten, für mich gibt’s nichts Schöneres …«, seufzte sie genießerisch.

»Ich freue mich erst mal auf Erdbeeren!«, erwiderte Fabienne. Während vor ihrem inneren Auge noch das Bild der kleinen süßen Früchte entstand, begann Violaine plötzlich zu taumeln. Hilfesuchend schaute sie sich um, als suchte sie etwas, woran sie sich festhalten konnte. Noch bevor Fabienne in der Lage war zu reagieren, schoss Monsieur Ballard mit unerwarteter Wendigkeit hinter seinem Tisch hervor und griff Violaine fest unter die Arme.

Kurze Zeit später saß Violaine im Café von Bébé an einem der kleinen wackligen Tische und hatte eine Tasse Kaffee in der Hand, heiß und mit viel Zucker.

Ein Kaffee und ein bisschen Tratsch gehörten traditionell zum Marktbesuch dazu, doch heute konnte Fabienne weder das eine noch das andere genießen. Besorgt schaute sie ihre Mutter an. Dies war nun schon das dritte Mal in letzter Zeit, dass Violaine schwindlig geworden war.

Diese trank ihren Kaffee in einem Schluck leer. »Das tat gut!«, sagte sie und wollte ruckartig aufstehen. Doch Fabienne legte eine Hand auf ihren Arm.

»Bleib doch noch ein wenig sitzen und ruh dich aus, es ist noch früh am Tag.« Ein wenig Farbe war immerhin in Mamans blasses Antlitz zurückgekehrt, dachte sie erleichtert.

»Ausruhen? Dein Vater würde mir was erzählen! Wer macht denn dann die Arbeit?« Violaine lächelte müde.

»Die Arbeit, die Arbeit! Warum kannst du nicht einmal an dich denken?«, fuhr Fabienne lauter auf, als sie wollte. »Wie lange hast du gestern Nacht wieder in der Waschküche gestanden? Bis zwei? Bis drei?« Sie, Fabienne, hatte sich kurz nach eins vor lauter Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten können und war ins Bett gegangen. Hätte sie doch bloß auch durchgehalten, dann wäre ihre Mutter jetzt nicht so erschöpft, dachte sie schamvoll. »Maman, ich mache mir Sorgen um dich!«, fügte sie leiser hinzu.

Doch Violaine Durant winkte nur ab.

Fabienne presste die Lippen aufeinander. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass Mamans Kochen und Waschen mehr in die Familienkasse einbrachte als die Arbeit des Vaters, war eine unausgesprochene Tatsache – der Beruf eines Schleusenwärters war zwar hoch angesehen, aber äußerst schlecht bezahlt. Ohne die harte Arbeit von Mutter und Tochter hätten sie schlichtweg nicht überlebt.

Kapitel 2

Wie konnte man Wein, Meeresfrüchte und andere Güter vom Mittelmeer und dem Atlantik in andere Gegenden des Landes transportieren, ohne den langen, aufwendigen und teilweise auch gefährlichen Weg über die Straße von Gibraltar zu nehmen? Genau diese Frage war es, die die französischen Könige und ihre Pariser Minister seit jeher umtrieb und die schließlich im Jahr 1667 durch König Ludwig den XIV. zum Bau des berühmten Canal du Midi geführt hatte.

Gerade das Languedoc entlang der Mittelmeerküste war schon immer bekannt gewesen für Wein, Olivenöl, Meeresfrüchte und Obst. Genauso bekannt war der Appetit der Pariser auf all die Köstlichkeiten aus dem Süden. Doch wie hätte man die Ware auf dem Landweg transportieren sollen? Hätte man Langusten, Austern und Doraden mittels Lastenponys auf staubigen Landstraßen von A nach B gebracht, wären sie noch auf dem Transportweg verdorben. Und hätte man mühevoll Weinfass für Weinfass in einer Kutsche transportieren sollen? Ein Schiff hingegen konnte man mit hunderten Fässern Wein beladen – das war rentabel!

Die bis dahin einzige Möglichkeit, vom Mittelmeer zum Atlantik zu gelangen, war aber bisher der Seeweg rund um die Iberische Halbinsel. Für diesen über dreitausend Kilometer langen Seeweg benötigte man hochseetaugliche Schiffe und mutige Besatzungen, denn vor allem vor der spanischen und portugiesischen Küste waren Piratenüberfälle an der Tagesordnung. Dass immer wieder ganze Schiffsladungen feinsten Bordeaux-Weins in den Schlünden von Seeräubern verschwanden, anstatt auf feinen Pariser Tafeln zu landen, war äußerst ärgerlich!

Noch ärgerlicher wurde dieser Umstand angesichts der Tatsache, dass der Weg quer durchs Land im Grunde nicht weit war: Vom Atlantik bis zum Mittelmeer betrug die Luftlinie nicht mehr als fünfhundert Kilometer, und ein Teil davon war schon durch Flüsse und Kanäle befahrbar. Und so spielte man schon im Mittelalter mit dem Gedanken, einen Wasserweg quer durch den Süden des Landes zu erbauen. Dann würde die Schiffsreise keine zwei Monate, sondern nur noch zwei Wochen dauern! Und hochseetaugliche Schiffe benötigte man für die Fahrt auf einem Kanal auch nicht, dafür reichten einfache Barken, achtundzwanzig Meter lang, auf Treidelpfaden von Pferden gezogen. Das Ziel war, auf diesen Barken bis zu hundert Fässer Wein zu transportieren. Und wenn man dann noch – zur Krönung des Ganzen – ausländischen Schiffen das Befahren des Kanals verbot, hätten die französischen Produzenten aus dem Midi einen wahren Vorteil erlangt!

Doch trotz aller Gedankenspiele war der Bau des »Königlichen Kanals« lange Zeit an der Frage gescheitert, woher das Wasser dafür kommen sollte. Erst dem in Béziers geborenen Kanalbaumeister Pierre-Paul Riquet gelang es, dieses Problem mithilfe eines ausgeklügelten Wasserversorgungssystems zu lösen. Diese Herausforderung war nur eine von vielen, die den Kanalbaumeister Zeit seines Lebens beschäftigten. Doch ganz gleich, wie schwierig die topografischen Verhältnisse waren, ganz gleich, wie schwierig die Finanzierung, ganz gleich auch, wie groß teilweise die politischen Widerstände einzelner Landesherren waren – für seinen Traum vom Canal du Midi überwand Paul Riquet jedes Hindernis.

Alle gens de l’eau – die Schiffer und die Kanalangestellten – waren gleichermaßen davon überzeugt, dass es kein großartigeres Bauwerk als »ihren« Kanal gab. Doch keiner war stolzer als Guy Durant, der sogar ein Buch über den Bau des Kanals besaß. In seinem Schleusenwärterbüro hing außerdem eine große Karte, auf der alle Häfen des Kanals eingezeichnet waren. Wann immer Fabie oder eins ihrer Geschwister dem Vater als Kinder etwas zu essen oder zu trinken gebracht hatten, hatte er ihnen auf der Karte diese oder jene Besonderheit gezeigt. So wie andere Väter familiäre Anekdoten zum Besten gaben, so erzählte Guy Durant seinen Kindern von Paul Riquet und seinen heldenhaften Taten, bis der Mann Fabie wie ein Märchenprinz vorgekommen war, wie ein Zauberer, der übermenschliche Kräfte besaß. Doch auch die schönsten Märchen konnten traurig enden, hatte Fabienne in ihrer Kindheit gelernt: Paul Riquet war kurz vor seinem Ziel gewesen – der Inbetriebnahme des Kanals –, als der liebe Gott ihn zu sich geholt hatte.

Nach dem Marktbesuch und der Einkehr bei Bébé waren Fabienne und ihre Maman auf dem Nachhauseweg, der sie am Kanal entlangführte. Statt jedoch an die technischen Finessen des Bauwerks oder die ebenso geniale wie tragische Figur seines Erbauers zu denken, hingen die beiden Frauen ihren eigenen Gedanken nach.

Violaine ordnete im Geist die vielen Aufgaben des Tages. Und Fabienne fragte sich, ob sie zulassen durfte, dass Eric und sie sich demnächst einmal sehr viel näherkamen, als dies bisher der Fall gewesen war. Er könne es kaum mehr erwarten, sie zur Frau zu machen, hatte Eric schon vor Wochen gesagt, und ihr war allein bei seinen Worten ganz schwummerig geworden. War das schon eine Art Heiratsantrag gewesen?, hatte sie sich gefragt. Auch sie sehnte sich sehr danach, endlich in seinen Armen zu liegen und seine Hände auf ihrem Körper zu spüren! Eric war bestimmt ein guter Liebhaber, davon war Fabienne überzeugt – auch wenn ihr nicht ganz klar war, was eigentlich dazugehörte. Und solange er ihr keinen richtigen Heiratsantrag gemacht hatte, würde sie das wohlige Rumoren in ihrem Unterleib, das entstand, sobald er sie küsste, wohl weiterhin ignorieren müssen! Sich ihm einfach so hinzugeben, kam für sie nicht in Frage – sie war schließlich keine femme bâclée wie Colette Laroque!

Bisher war Eric der einzige Mann, der sich je für sie, Fabienne, interessiert hatte. Unattraktiv war sie zum Glück nicht, aber als besonders hübsch galt sie auch nicht – dazu war der Zug um ihren Mund zu resolut, ihr Blick zu direkt, ihre Nase vielleicht eine Spur zu lang. Vielleicht wäre es von daher gut, Eric nicht zu lange hinzuhalten?

Aber selbst wenn sie bereit gewesen wäre, sich ihm hinzugeben – wo sollte dies geschehen? Für Eric war es schwierig genug, überhaupt vom Schiff herunterzukommen, denn fast immer verdonnerte sein Vater ihn zur Schiffswacht, während er selbst sich beim Kartenspiel mit anderen Schiffern vergnügte. Und ihr gelang es auch nur selten, sich wegzustehlen. Doch war das Glück ihnen einmal hold, dann waren weder der kleine Wald inmitten der Rebenfelder noch die kleine Quelle hinter der Schleuse, wo Violaine tagsüber Wäsche wusch, gute Verstecke für zwei Liebende. Aufs Schiff selbst wagte Fabienne sich nicht. Im Lagerraum unter Deck, hinter den Weinfässern – da würde sie niemand entdecken, hatte Eric behauptet. Fabie war sich nicht so sicher – was, wenn sein Vater früher als erwartet vom Kartenspielen zurückkam und sie erwischte?

Warum mussten sie sich überhaupt verstecken wie Diebe?, dachte Fabienne wütend. Mit ihren bald siebzehn Jahren war sie erwachsen genug, um zu entscheiden, wen sie liebte, oder etwa nicht? Eric würde ihr ein guter Ehemann sein, davon war sie überzeugt.

Sie seufzte selig auf, was ihr sogleich einen Seitenblick ihrer Mutter eintrug, den sie geflissentlich ignorierte. Stattdessen streckte sie genießerisch ihr Gesicht der Sonne entgegen, die schon erstaunlich viel Kraft hatte. Weder Fabie noch Violaine wäre es im Traum eingefallen, unter den Platanen zu laufen, die das Kanalufer befestigten und in der heißen Jahreszeit den dringend benötigten Schatten für Mensch und Tier spendeten. Sie waren beide Sonnenanbeterinnen und nutzten jede Möglichkeit, sich wärmen zu lassen.

Fabienne ließ ihren Blick über die noch kahlen Rebstöcke schweifen und gab ihre Gedanken wieder frei.

Violaine war auch erst achtzehn gewesen, als sie Lily, Fabiennes älteste Schwester, zur Welt gebracht hatte. Und zu diesem Zeitpunkt war Violaine schon von Zuhause ausgezogen und verheiratet gewesen! Fabiennes Geschwister hatten ebenfalls alle recht früh das Haus verlassen, ohne dass jemand sie daran gehindert hätte. Nur bei ihr wurde fast jeder Schritt überwacht. Fabienne warf ihrer Mutter einen missmutigen Blick zu. Doch als sie sah, wie gebückt und müde Violaine neben ihr herging, wandelte sich ihr Anflug von Wut rasch in Mitleid. War es nur der schwere Korb, oder war es die Last ihres Lebens, unter der Violaine fast zusammenzubrechen schien?, fragte sich Fabienne traurig.

»Wollten wir den Korb nicht abwechselnd tragen?«, sagte sie. Als Violaine keine Anstalten machte, den Einkaufskorb herzugeben, nahm Fabienne ihn ihr einfach ab.

Schweigend liefen die beiden Frauen weiter.

Die imposant weitläufige Schleusenanlage, das Zuhause von Fabiennes Familie, war aus ockerfarbenem Sandstein gebaut und bestand neben dem Schleusenbecken, dem Hafenoval und dem Trockendeck auch aus dem Schleusenhauptgebäude auf der anderen Seite des Kanals, in dem Guy Durants Schleusenwärterbüro und die Wohnung der Familie untergebracht war. Es handelte sich um ein langgestrecktes, architektonisch schönes Bauwerk im Stil von Ludwig dem XIV., mit hohen Fenstern und hellgrünen Fensterläden. Zwischen zwei Fenstern war in den Sandstein die Jahreszahl 1670 eingeschlagen. Dass seine Schleuse schon vor der Eröffnung des Kanals gebaut worden war, war in Guy Durants Augen ein Indiz dafür, welche Bedeutung ihr die Erbauer schon bei der Gesamtplanung beigemessen hatten. Davon zeugte auch die steinerne Brücke, die bei ihnen anstatt eines Eisenstegs über den Kanal führte und die so breit war, dass ein Pferdefuhrwerk sie befahren konnte. Und dann die geschwungenen Treppen, die links und rechts der Brücke hinab zum Kanal führten und sich auch in einem Amphitheater gut gemacht hätten!

An die Wohnräume der Familie schloss sich auf Höhe des Kanals eine Terrasse an, auf der ein paar grob gezimmerte Tische und Bänke standen. Hier verköstigte Violaine die Schiffsleute. Bei Regen gab es allerdings kein Essen, denn die Terrasse war nicht überdacht.

Hinter dem Hauptgebäude befand sich ein Obst- und Gemüsegarten, in dem ein riesiger Feigenbaum stand. Wenn die Früchte im Juli reif waren, mussten Fabienne und Violaine schnell sein beim Ernten, sonst kamen die Wespen! Ganz am Ende des Gartens, dort, wo die natürliche Quelle war, stand der Schuppen, in dem Violaine die Wäsche der Schiffsleute wusch.

In der milchig-trüben Februarsonne leuchtete das Sandsteingebäude in einem sanften Gelb und wirkte so friedlich wie ein Kloster. Doch die Ruhe trog: Obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr am Morgen war, warteten schon drei Schiffe darauf, von Guy Durant durch die Schleuse gebracht zu werden. Weitere Schiffe lagen im kleinen Hafenbecken. Und in der Ferne sah Fabienne noch mehr Barken herankommen, allesamt barques de voitures, die Waren aller Art transportieren. Am rechten Kanalufer standen mindestens zehn Pferdefuhrwerke und versperrten sich gegenseitig den Weg – jeder wollte so nah wie möglich am Wasser halten. Weinfässer, Getreidesäcke, Glasballons mit Olivenöl oder Likör wurden von den Wagen ab- und auf die Schiffe umgeladen – dass Guys Schleusenstation als Umladehafen diente, war ebenfalls eine ihrer Besonderheiten. Dockarbeiter so wie in den großen Häfen gab es bei ihnen nicht, die Arbeiten wurden von den Bauern und Barkenschiffern selbst durchgeführt.

Mutter und Tochter tauschten einen kurzen Blick. Heute schien es ein guter Tag für die Schleusenstation zu werden.

»Violaine, chérie, ich habe einen ganzen Sack Wäsche für dich!«, rief einer der Männer von seinem Boot zu den Frauen hinauf.

»Dann bring sie mir nachher vorbei!«, gab Violaine zurück.

»Violaine, Severine hat mir die getrockneten Tomaten mitgegeben, die du bestellt hattest!« Behände kletterte ein junger Mann von einem anderen Boot die Uferböschung hinauf und drückte der erfreuten Violaine ein Leinensäckchen in die Hand. Sein Hund, der seinem Herrn beherzt gefolgt war, sprang aufgeregt an Fabiennes Korb hoch.

»Violaine! Was gibt’s heute Mittag zu essen? Doch hoffentlich nicht etwa Severines alte Schrumpeltomaten?«, rief ein anderer der wartenden Schiffer.

Lucien Fabre hatte anstelle von Waren Passagiere und Post geladen. Viele dieser barques de post gab es nicht mehr – seit vor mehr als zwanzig Jahren die Zugstrecke von Bordeaux nach Sète eingeweiht worden war, reisten die meisten Leute mit dem Zug. Wenn überhaupt noch jemand auf dem Kanal unterwegs war, dann fuhr er meist auf einem der Frachtschiffe mit. Wie es Lucien Fabre dennoch gelang, Passagiere für sein Boot zu finden, war Fabienne schleierhaft.

»Von wegen Schrumpeltomaten, sei nicht so frech!«, antwortete Violaine lachend. »Sag mir lieber, wie viele Passagiere du an Bord hast!« Sie schirmte mit der rechten Hand ihre Augen ab, um gegen die Sonne besser sehen zu können.

»Fünf Herren, sie interessieren sich sehr für die Historie des Kanals! Es wäre ihnen eine Freude, würde der Herr Schleusenwärter ihnen ein wenig von seinem reichen Wissensschatz vermitteln«, antwortete der Schiffer und grinste ihr verschwörerisch zu. »Bis später!«

Fabienne stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Mutter ging es wieder gut, Vater würde heute in seinem Element sein – wenn jetzt noch Eric kam, dann konnte man sich über den Tag wahrlich nicht beklagen!

Als sie über die Brücke zum Hauptgebäude gingen, sah Fabienne, dass im Trockendock ein Boot lag. Metallisches Hämmern war zu hören, auch lag der Geruch von Teer in der Luft. Warum konnte das nicht die »Aurelie« sein, das Pinardier-Boot von Erics Familie?, dachte Fabienne. Eine defekte Ruderanlage vielleicht oder ein Schaden nach einer leichten Havarie mit einer der anderen Barken. Dann würden Eric und sein Vater gezwungen sein, länger als eine Nacht bei ihnen an der Schleuse zu verweilen. Doch gleich darauf schämte sich Fabienne für diesen Gedanken – wie kam sie dazu, Erics Familie derartige Umstände zu wünschen, nur damit sie sich sehen konnten?

Den ganzen Trubel ignorierend gingen die beiden Frauen ins Haus. In zwei Stunden erwarteten die gens de l’eau ihr Mittagessen!

Während Fabienne den Ofen anschürte und das Wasser für die Eier aufstellte, begann Maman, den Salat zu putzen.

»Hoffentlich bringt Bastien genügend Baguette mit«, sagte Violaine mehr zu sich als zu Fabienne.

Bastien war der Bäcker des Dorfes. Jeden Tag kam er kurz vor Mittag vorbeigeritten, auf dem Rücken einen großen Sack voller Baguette. Violaine und Fabienne waren für diesen Service sehr dankbar, denn sie hatten auch ohne die Brote genug Einkäufe zu schleppen.

»Befürchtest du, die Eier reichen nicht?« Fabienne schaute stirnrunzelnd nach draußen. Sie hatten drei Dutzend gekauft, wenn jeder Gast zwei bekam …

Violaine winkte ab. »Wir kriegen schon alle satt. Zur Not bekommt jeder einfach einen Klacks Mayonnaise und ein Stück Brot mehr!«

Fabienne nickte. »Hast du die riesige Wildschweinkeule gesehen, die der alte Gustave an seinem Stand hatte? Ein Wildschweinragout mit Rüben und viel Rotwein – das könnten wir auch mal kochen, solange es noch nicht so heiß ist«, sagte sie, während sie das Olivenöl für die Mayonnaise holte. Wenn das Fleisch so zart war, dass es von der Gabel fiel … Fabienne lief allein beim Gedanken daran das Wasser im Mund zusammen.

»Eine Wildschweinkeule möchte Mademoiselle? Haben wir etwa einen Geldscheißer? Das beste Essen kocht nicht der Reiche, sondern der Arme, lass dir das gesagt sein.«

Als Fabienne beobachtete, wie Violaine ein Ei nach dem anderen so sorgfältig ins kochende Wasser gab, als handelte es sich um einen kostbaren Schatz, fühlte sie sich beschämt. »Du hast recht, wer braucht schon ein Wildschwein!«, sagte sie betont fröhlich. »Die Schiffer lieben deine Mimosen-Eier! Magst du mir noch mal erklären, wie du sie zubereitest?«

Violaines Gesicht leuchtete auf. »Das Wichtigste ist, dass du einen Teil der hartgekochten Eigelbe durch ein sehr feines Sieb streichst. Das Gekräusel, das unten aus dem Sieb herauskommt, sieht aus wie Mimosenblüten. Und …«

Wie lebendig ihre Mutter wirkte, wenn sie beim Kochen war! Wie ihre Augen glänzten. Und wie weich und sanft ihre Stimme wurde, wenn sie ein Rezept erklärte. Wie zärtlich sie das Wasser aus den Salatblättern schüttelte. Als wäre Kochen ein Liebesakt.

»Denkst du schon wieder an Eric, oder warum lächelst du so versonnen?«, fragte Violaine und hielt mitten in ihrer Bewegung inne.

»Nein, nein«, winkte Fabienne ab. »Soll ich die Mayonnaise aufschlagen?«

»Gleich. Geh zuerst in den Garten und schneide etwas Dill. Und bring auf dem Rückweg Äpfel aus dem Vorratskeller mit, ich will noch zwei Apfelkuchen fürs Dessert backen.«

Fabie tat, wie ihr geheißen, sie kannte es nicht anders. Von Kindesbeinen an hatten ihre Geschwister und sie in der Schleusenstation mitgeholfen, Tag für Tag. Kaum waren sie von der Schule zurück gewesen, hatten die Jungs den Vater an der Schleuse unterstützt oder sich beim Be- und Entladen der Boote nützlich gemacht. Die Mädchen halfen der Mutter in der Küche, im Garten und in der Wäscherei – Lucie, die zwei Jahre älter als Fabienne war, hatte auch gern bei der Versorgung der Pferde, die die Schiffe zogen, mit angepackt. Sie hatte den Tieren Heu und Eimer mit Hafer hingestellt und ihnen mit einem feuchten Schwamm den Schweiß aus dem Fell gewaschen, so dass sie für die Weiterfahrt erfrischt waren. Das Geld, das die Schiffsleute ihr dafür gaben, war in die Haushaltskasse gewandert.

Sosehr Fabienne die Arbeit in der dampfig-heißen Waschküche hasste, sosehr liebte sie es, ihrer Mutter in der Küche zu helfen. Wenn Maman aus stets denselben Zutaten wie Eier, Mehl, Milch und Kartoffeln immer wieder neue Gerichte fabrizierte, war das für Fabie wie Zauberei! Wie konnte es sein, dass man aus Eiern einerseits ein Omelette machen konnte, das so luftig war wie Federwölkchen an einem Sommerhimmel, und andererseits ein rustikales Bauernfrühstück mit Speck und Kräutern? Wie konnte es sein, dass aus einem Sack gewöhnlichem Mehl so unterschiedliche Dinge entstanden wie Crèpes oder Nudeln oder Mehlklöße?

Ob ein ganzer Korb Kartoffeln zu schälen war oder ob sie ein Huhn zum Rupfen auf dem Schoß hatte, ob es galt, die gens de l’eau auf der Terrasse zu bedienen oder danach Berge von Geschirr zu waschen – Fabienne war zufrieden damit. Oder war es zumindest bis vor kurzem gewesen. Sie half ihrer Mutter wirklich gern und begeistert, aber in der letzten Zeit verspürte sie doch auch Unmut darüber, dass sie so gar kein Recht auf ein eigenes Leben zu haben schien.

Jetzt stieg sie die wenigen Treppen in den Vorratskeller hinab. Er lag am hinteren Ende des Hauptgebäudes, dort, wo auch der Garten war. Vielleicht hätte sie sich in der Vergangenheit öfter mal ein wenig dümmer anstellen sollen? Hätte wie ihre Schwester Lucie Stunden mit den Pferden der Schiffer verbringen sollen? Als die Eltern nämlich mitbekommen hatten, wie gern Lucie die Tiere versorgte, war sie von den Küchenpflichten befreit worden. Nun, Fabienne hätte auch wie Lily, ihre andere Schwester, beim Rupfen eines Huhns ständig Würgegeräusche von sich geben können – nachdem Violaine nämlich mitbekommen hatte, wie sehr es die feinfühlige Lily vor dem toten Tier auf ihrem Schoß grauste, war sie fortan von dieser Aufgabe verschont geblieben. Sie, Fabienne, war jedoch stets die patente, handfeste gewesen, auf die Mutter immer zählen konnte – sie hatte man von keiner Aufgabe verschont.

Und weil sie so zuverlässig und arbeitsam war, befand sie sich nun in einer misslichen Lage, ging es Fabienne durch den Kopf. All ihre Geschwister waren weggegangen, nur sie war noch in der Schleusenstation. Jeder hatte einen eigenen Weg gewählt: Noah, Fabiennes ältester Bruder, hatte eine Schleusenstation am Canal du Robinie übernommen – dieser Sohn, der in seine Fußstapfen trat, war natürlich der ganze Stolz von Guy.

Fabiennes zweitältester Bruder Hugo hingegen … Sie wollte nicht an den vielen Streit denken, den Hugos Berufswahl ausgelöst hatte. Wochenlang hatte der Haussegen schief gehangen, als Hugo verkündete, ausgerechnet bei der Eisenbahn arbeiten zu wollen! Er wolle nicht wie Vater Tag für Tag über zwölf Stunden in einem Schleusenbüro hocken, angekettet wie ein Hofhund, aufgefressen von der Arbeit!, hatte Hugo bei seinem Weggang dem Vater entgegengeschleudert. Seine zukünftige Frau sollte sich nicht zu Tode schinden müssen, wie Maman es tat.

Fabie war erschrocken gewesen über seinen Ton, aber auch über seine Sicht der Dinge. Die gens de l’eau waren allesamt stolze Männer, wie konnte er sie mit einem Hofhund vergleichen? Es war eine Ehre und ein Privileg, am Kanal arbeiten zu dürfen, wie kam es ihm auch nur in den Sinn, dies aufzugeben? Hätte Paul Riquet aufgegeben, wäre der Canal du Midi nie gebaut worden!, hatte Guy Durant seinem Sohn erwidert. Doch Hugo hatte nur gelacht und gemeint, dass er nicht aufgab, sondern einfach einen anderen Weg wählte.

Ob Vater und Hugo je wieder ein Wort miteinander sprechen würden?, fragte sich Fabienne, während sie die Tür des Vorratskellers aufschloss.

Zwei Schwestern hatte Fabienne nie kennengelernt. Die Zwillinge kamen zur Welt, als Lucie und Lily gerade einmal ein beziehungsweise zwei Jahre alt waren. Eine reiche Pariser Familie hatte sie mitgenommen – die Frau hatte selbst keine Kinder bekommen können. Sie würden es sehr gut haben, hatte die von den kurz aufeinanderfolgenden Geburten sehr erschöpfte Violaine der zweijährigen Lily weinend erklärt. Lucie war für Erklärungen noch zu klein gewesen. Lily hatte fortan in Angst gelebt, eines Tages auch weg zu müssen. Doch alle anderen Kinder hatten bleiben dürfen.

Lucie hatte einen Lehrer aus Toulouse geheiratet und führte dort seitdem das Leben einer feinen Dame. Und Lily war in einem Haushalt in Narbonne angestellt, wo sie ihr eigenes Geld verdiente und nach Feierabend bestimmt ihr Leben genoss.

Feierabend haben, eigenes Geld verdienen – das würde ihr, Fabienne, auch gefallen! Genauso gern hätte sie einen Beruf gelernt. Welchen genau, war ihr nicht ganz klar, aber ihre Lehrer hatten immer gesagt, sie sei ein kluges Mädchen, das es mit etwas Fleiß durchaus zu etwas bringen konnte. Als sie die Schule letztes Jahr beendete, hatte einer ihrer Lehrer sogar mit ihren Eltern gesprochen. Eine weiterführende Schule oder eine Lehre für die jüngste Tochter – ob man sich das vorstellen könne? Maman hatte nachdenklich genickt, doch Guy Durant hatte nur abgewunken. »Und wer soll dir bitteschön helfen, wenn Fabienne nicht mehr da ist?«, hatte er schnaubend zu Violaine gesagt. Maman hatte resigniert mit den Schultern gezuckt.

Vater hatte recht, dachte Fabienne. Ohne sie würde Mutter wirklich nicht zurechtkommen. Ein Dienstmädchen oder eine Küchenhilfe einzustellen, dafür langte das Geld nicht. Außerdem – wozu sollte sie irgendeinen anderen Beruf erlernen – sie lernte doch genug bei Maman!

Bisher hatte sie sich ein anderes Leben als jenes, das sie kannte, gar nicht vorstellen können. Doch seit Eric und sie sich liebten, war alles anders. Im Mai wurde sie siebzehn – ein Alter, in dem andere junge Frauen schon ans Heiraten dachten. Wenn es nach ihren Eltern ging, sollte sie jedoch gewiss einmal als alte Jungfer enden …

Im Vorratskeller war es kühl und dunkel. Im Winter musste Fabienne eine Ölfunzel mitnehmen, um genug sehen zu können, jetzt im Februar reichte schon das durch die Tür einfallende Licht, dass sie erkennen konnte, wie spärlich die Regale gefüllt waren. Ein paar Gläser Marmelade standen noch da, ein Topf mit eingelegtem Gemüse und ein Korb Äpfel. Höchste Zeit, dass der Sommer kam, dachte Fabienne fröstelnd.

Aprikosen, Pfirsiche, Feigen – sobald die ersten Früchte reiften, kochten Maman und sie Obst ein oder bereiteten Marmeladen und Mus zu. Ein Teil der Früchte wurde über Nacht mit der Restwärme des Ofens gedörrt. In besonders erntereichen Jahren kochten sie aus den Früchten sogar Saft oder Sirup, das war ein Fest!

Waren die Zucchini und Paprika reif, legten sie das Gemüse sauer ein. Möhren durften ihren Winterschlaf in feinstem Sand verbringen, bis sie ausgegraben und zu deftigen Eintöpfen verarbeitet wurden.

Der Vorratskeller war Violaines und Fabiennes ganzer Stolz! Jede Woche ging eine von ihnen hinab, um Staub zu wischen und zu kontrollieren, ob sich nur ja nirgendwo Schimmel oder Fäulnis gebildet hatte.

Fabienne hatte schon ein Dutzend Äpfel in ihrer Schürze eingesammelt, als sie abrupt innehielt.

Der Vorratskeller! War er nicht das perfekte Versteck für Eric und sie, um ein wenig miteinander allein zu sein?

Kapitel 3

Mit gleich vier Tellern auf einmal ging Fabienne nach draußen.

»Monsieur Berlot, bon appétit!« Schwungvoll und mit einem Lächeln servierte Fabienne das Essen.

»Jean, für dich, bon appétit!Und hier, für euch zwei – lasst es euch schmecken! Fréderic, schling nicht so gierig, ja?«

»Merci, Mademoiselle bon appétit!«, riefen die Männer wie aus einem Mund.

»Gern geschehen«, sagte Fabienne und machte einen übertriebenen Knicks.

»Mademoiselle bon appétit, pardon!«, rief einer der Schiffer. »Aber mit meinem Essen stimmt etwas nicht – da liegen Mimosenblüten drauf!«

Der Witz war alt – wann immer Fabienne Violaines Lieblingsspeise servierte, konnte sie damit rechnen, dass einer der Männer ihn ihr zurief. Dennoch brachte er Fabienne immer noch zum Lachen.

Sie wollte gerade zurück ins Haus gehen, um weiteres Essen zu holen, als sie aus den Augenwinkeln sah, wie ein Mann an einem der Tische Platz nahm. Er war im Alter ihres Vaters, sein Kittel war so fadenscheinig, dass man das Unterhemd durchsah, und seine Hose so schmutzig, als hätte er sie seit Ewigkeiten an, was wahrscheinlich auch der Fall war. Mit einem lauten Rums stellte er einen verfleckten Leinensack neben sich ab.

Ein clochard!, dachte Fabienne stirnrunzelnd. Sie holte tief Luft, dann ging sie zu dem Mann hinüber. »Monsieur, diese Tische sind für die Schiffer reserviert. Wenn ich Sie bitten darf zu gehen.« Sie fuchtelte mit der rechten Hand in Richtung Brücke.

»Ich habe aber Hunger. Und Geld!«, sagte der Mann mit brüchiger Stimme.

Fabienne runzelte die Stirn. Was nun? Sie wollte vor den anderen Männern nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen.

Eilig lief sie in die Küche. »Draußen sitzt ein clochard. Er stinkt! Ich habe ihm gesagt, dass er gehen soll. Aber er will essen«, berichtete sie ihrer Mutter.

Violaine warf dem Mann durchs Fenster einen Blick zu. »Ich kenne ihn«, sagte sie. »Er hatte mal eine Schneiderwerkstatt in Coursan. Als seine Frau starb, verfiel er dem Alkohol. Er konnte seine Miete nicht mehr zahlen, der Hausherr warf ihn hinaus, seitdem … Keine Ahnung, wovon er lebt.« Noch während sie sprach, bereitete sie einen Teller mit einem Ei extra zu. »Bring ihm das!«

»Aber …«

»Kein Aber!«, schnitt Violaine Fabienne das Wort ab. »Gastfreundschaft ist eine Selbstverständlichkeit!«

Na wunderbar, dachte Fabienne. Da drehten sie auf dem Markt jeden Sou um, aber kaum kam solch eine Gestalt daher, war Maman die Großzügigkeit in Person.

Nicht sonderlich freundlich stellte sie dem Mann sein Essen hin.

»Liberté, égalité, fraternité«, murmelte der Mann und zog vor Fabienne seinen Hut. »An der Tafel einer guten Gastgeberin sind alle Menschen gleich.«

Sie hatte schon eine schnippische Antwort auf den Lippen, als sie plötzlich Eric entdeckte, der sein Boot, die »Aurelie«, an einem der Poller vertäute. Sie schienen gerade erst angekommen zu sein.

Vergessen war der clochard, vergessen waren auch die restlichen Speisenteller, die in der Küche auf sie warteten. Hastig strich Fabienne sich die Haare glatt und befeuchtete ihre Lippen, dann sprang sie davon. Erics Vater war weit und breit nicht zu sehen, vielleicht war er irgendwo austreten …

»Eric!« Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, ihm nicht vor den Blicken aller um den Hals zu fallen.

»Fabienne!« Seine Augen leuchteten auf, als er sie sah. Einen Moment lang rechnete Fabienne damit, dass er sie in den Arm nehmen und küssen würde. Stattdessen nickte er angstvoll in Richtung seines Vaters, der damit begonnen hatte, Weinfässer von einem Pferdefuhrwerk abzuladen.

»Vater braucht nicht mitzubekommen, dass wir uns unterhalten. Wir sehen uns nachher, wenn er bei euch zu Mittag isst!«, raunte er ihr zu.

Babtiste Lacasse gönnte sich meistens ein Essen bei ihnen – seinen Sohn ebenfalls einzuladen, fiel ihm dabei nicht ein.

Nicht nur sie, auch Eric wurde von seinen Eltern wie ein Sklave behandelt, dachte Fabienne wütend. Und wie ihre Eltern stellten sich auch Erics Eltern gegen ihre junge Liebe. »Ich habe das perfekte Versteck für uns entdeckt – unser Vorratskeller! Hinter dem Haus führt eine Treppe hinunter. In einer halben Stunde? Ich bring dir was zu essen mit.« Sie lächelte und machte eine Geste, als würde sie einen Kuss über die Innenfläche ihrer rechten Hand in Erics Richtung fliegen lassen, dann sprang sie davon.

»Ach, schaut Mademoiselle auch mal wieder vorbei?«, sagte Violaine, kaum dass Fabie die Küche betreten hatte. Noch während sie sprach, drückte sie ihr weitere Teller in die Hand. »Sollen die Männer wegen dir ewig auf ihr Essen warten? Vite, vite!«

»Ich habe dich so vermisst …« Zärtlich strich Fabienne über Erics Wange. Konnte man in den Augen eines anderen ertrinken?, fragte sie sich. Im nächsten Moment warf sie sich in seine Arme und schmiegte sich so eng an ihn, dass sie seinen Herzschlag spüren konnte.

Seine Hände wanderten ihren Rücken hinab zu ihrem Po, er bekam ein Stück ihres Rocks zu fassen, raffte ihn in die Höhe, Stück für Stück, und stöhnte dabei in freudiger Erwartung. Dem Baguette und dem Käse, die Fabienne auf einem kleinen Teller für ihn aus der Küche herausgeschmuggelt hatte, schenkte er keine Aufmerksamkeit.

Fabie lächelte in sich hinein. Nie hätte sie gedacht, dass sie, Fabienne Durant, einmal einen Mann verrückt machen konnte – so verrückt, dass er deswegen sogar aufs Essen verzichtete! Sie atmete tief auf und räkelte sich noch mehr in Erics Armen, so dass er ihre harten Brustwarzen spüren konnte.

Sie waren im Vorratskeller. Eric hatte sich verbotenerweise von der »Aurelie« heruntergeschlichen, während sein Vater bei ihnen auf der Terrasse aß. Im Grunde war die Wache, zu der er verdonnert wurde, völlig unnütz, denn sollte der unmögliche Fall eintreten, dass jemand es wagte, eins der wertvollen Weinfässer zu stehlen, hätte man das von der Terrasse aus jederzeit gesehen. Allem Anschein nach wollte Erics Vater unbedingt vermeiden, dass Eric und sie sich trafen.

Fabienne wiederum war einfach ohne weitere Erklärungen gegangen. Ihre Mutter wusste eh, dass sie sich mit Eric traf.

Ideal war ihr neuer Treffpunkt nicht, hatten sie gleich zu Beginn festgestellt, denn es gab im Keller keinerlei Möglichkeit, sich zu setzen, geschweige denn hinzulegen! Beim nächsten Mal würde sie wenigstens eine Decke hineinschmuggeln, schwor sich Fabienne. Weiterdenken konnte sie nicht, denn Erics rechte Hand kroch unter ihrem Unterrock ihren nackten Schenkel empor. Sie spürte, wie ihr Unterleib von einer weiteren heißen Woge Leidenschaft erfasst wurde. Es kostete sie die größte Überwindung, sich nicht noch mehr an ihn zu drängen.

Stattdessen wand sie sich aus seinen Armen und zog ihren Rock wieder nach unten. »So mag ich das nicht. Ich komme mir schäbig dabei vor«, sagte sie. »Warum müssen wir uns im Keller verstecken? Warum können wir nicht einfach einen schönen Spaziergang durch die Rebenfelder machen oder entlang des Kanals? Wir lieben uns, was ist daran verboten?« Wenn sie sich Eric das erste Mal hingab, dann sollte es auf einem weichen Bett aus Gras und Blumen sein und nicht hier zwischen Einmachgläsern und Sauerkraut!

Eric seufzte leicht enerviert auf. »Das haben wir doch schon zig Mal erörtert! Sowohl deine Eltern als auch meine sind gegen unsere Beziehung.«

»Aber wir sind erwachsen, verflixt! Wie kann es sein, dass jeder ein eigenständiges Leben führen darf, nur wir zwei nicht?« Warum ging er nicht einfach zu seinen Eltern und sagte ihnen ins Gesicht, dass er sie liebte?, dachte Fabienne. Doch sie traute sich nicht, ihm die Frage zu stellen. Er sollte schließlich nicht das Gefühl haben, dass sie ihn zu einer Heirat drängte!

Mit einem Grinsen zog Eric sie wieder an sich heran. »Wenn du so wütend bist, werde ich noch wilder nach dir …« Im nächsten Moment spürte sie seine vollen Lippen auf den ihren, seine Zähne knabberten erst spielerisch an ihrer Unterlippe, doch schon im nächsten Moment wurde sein Küssen fordernder. Bereitwillig öffnete sie ihre Lippen. Eine Zukunft war ihnen derzeit nicht vergönnt, aber diesen einen Kuss konnte ihnen niemand nehmen.

Als Fabienne zurück in die Küche kam, war Violaine dabei, die Essensteller abzuspülen. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft, draußen auf der Terrasse saßen die Männer bei Apfeltarte und Mokka. Manch einer zog eine kleine Flasche Eau-de-vie aus seiner Hosentasche und gab davon einen Schluck in den Mokka.

Fabienne nahm ein Geschirrtuch und begann wortlos, die gespülten Teller abzutrocknen. Wieder einmal war ihr Treffen gehetzt und viel zu kurz gewesen. Wieder einmal hatten sie fast nichts besprechen können. Sie wusste nicht einmal, wann Eric wiederkommen würde!

»Eric ist nichts für dich.«

Ein paar Worte nur, hingeworfen wie ein nasses Handtuch. Doch für Fabienne waren sie wie Messerstiche in ihrer Brust.

»Schlag ihn dir aus dem Kopf, Fabienne!«, fuhr ihre Mutter fort, als sie nicht antwortete. »Die Pinardier-Schiffer heiraten nur unter ihresgleichen, das weißt du ganz genau. Bestimmt hat Babtiste Lacasse schon längst ein Mädchen für Eric ausgesucht.«

»Pfff! Als ob Eric sich darum scheren würde.« Fabienne machte eine lässige Handbewegung. »Er liebt mich, warum ist das so schwer zu verstehen?«

»Liebe …«, antwortete Violaine müde.

»Ja, Liebe!«, sagte Fabie heftig. »Ich bin mir sicher, dass Eric bei der nächsten Gelegenheit mit seinem Vater spricht. Babtiste Lacasse kann seinen Sohn ja nicht ewig wie einen Hund auf dem Schiff anketten! Ich hingegen …« Sie zuckte mit den Schultern, den Tränen nah. »Mich behandelt ihr ebenfalls, als wäre ich eure Gefangene. Dabei bist du als junges Mädchen auch auf und davon und hast Papa geheiratet!«

»Das musste ja kommen.« Violaine lachte bitter auf. »Ja, ich bin dem Ruf der ›Liebe‹ gefolgt. Und wie du siehst, hat mich mein Traumprinz direkt in sein Schloss gebracht. Seitdem lebe ich glücklich und zufrieden wie eine Prinzessin im Märchen. Oder halt – verwechsle ich da etwa was?« Wie in einer Parodie legte sie ihren Zeigefinger an ihre Stirn, als dächte sie angestrengt nach. »Bin ich womöglich doch nur Cendrillon, das Aschenbrödel?«

Fabienne spürte, wie sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufstellten, als fröstelte es sie. Wie bitter sich Maman auf einmal anhörte.

»Das klingt ja fast so, als wärst du unglücklich und würdest bereuen, uns Kinder bekommen zu haben. Sind wir dir als Familie nicht gut genug?« Wie schrecklich war dieser Gedanke!

Violaine nahm Fabienne abrupt in den Arm und drückte sie fast so fest an sich, wie es Eric zuvor gemacht hatte. »Mais oui! Ihr Kinder seid das Beste, was mir je widerfahren ist. Ich bin so stolz auf euch, stolz wie ein Pfau! Ich will nur nicht, dass du etwas Überstürztes tust. Eric ist dein erster Schwarm, gib dich ihm nicht achtlos hin! Und ans Heiraten solltest du auch noch nicht denken. Ich war viel zu jung und dumm damals – heute weiß ich das. Glaube mir, es wird nicht alles besser, wenn man geht. So manche Träume lösen sich schneller in Luft auf, als man schauen kann.« Wie ein Blasebalg, aus dem jedes bisschen Luft entwichen war, sackte Violaine in sich zusammen. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie erneut umkippen, doch dann zog sie sich einen Schemel heran und setzte sich.

Fabienne erschrak, aber bevor sie etwas sagen konnte, winkte Violaine ab. »Es ist nichts, mir tun bloß die Füße weh vom vielen Stehen und Laufen.« Ihr Lächeln wirkte verkrampft und nicht überzeugend, als sie fortfuhr: »Ich weiß, wie es ist, jung zu sein. Man möchte die Welt erobern. Und wenn man dann noch verliebt ist, sieht alles aus wie rosaroter Zuckerguss. Aber glaube mir, im Augenblick bist du hier noch gut aufgehoben. Und wer weiß? Vielleicht kommt eines Tages ein junger Mann daher, der Freude daran hat, deinem Vater an der Schleuse zu helfen. Dann würdest du es jedenfalls besser haben als mit einem Barkenschiffer, der in jedem Hafen eine andere hocken hat.«

Eric ist anders, lag es Fabie auf der Zunge zu sagen, doch als sie in das erschöpfte Gesicht ihrer Mutter sah, verkniff sie sich ihre trotzigen Worte. Sie wusste auch so, dass sie, Fabienne, recht hatte.

»Bien!« Violaine stand mit einem Seufzer auf. »Worüber ich mit dir noch sprechen wollte – Lilys Geburtstag im April fällt dieses Jahr auf einen Sonntag. Wenn sie von ihrer Herrschaft an diesem Tag frei bekommt, dann wird sie uns sicher besuchen. Ich würde ihr gern einen Kuchen backen. Was meinst du, wäre eine Tarte mit getrockneten Feigen gut? Oder besser ein Rhabarberkuchen?«

Fabie erkannte das Ablenkungsmanöver, dennoch ging sie darauf ein. »Das ist lieb gemeint, Maman, aber Lily hat sich ja noch nie viel aus Süßem gemacht. Wenn es sonntags ein Dessert gab, hat sie es immer einem von uns spendiert!«

Violaine lachte auf. »Deine Schwester ist wirklich der einzige Mensch, der nicht gern Kuchen isst – wie konnte ich das vergessen?«

Fabienne wusste nicht, warum, aber vor ihrem inneren Auge erschien plötzlich der Stand von Monsieur Garonne auf dem Markt, der seine saucissons immer kreisförmig aufeinanderstapelte, was äußerst hübsch aussah. Ebenfalls wie aus dem Nichts kam ihre eine Idee. »Wie wäre es, wenn wir eine deftige Torte für Lily zubereiten?«, sagte sie gedehnt.

»Stimmt, ich könnte auch eine Quiche Lorraine backen.«

»Ich meine eine richtige Torte, mit verschiedenen Schichten und schön verziert, allerdings nicht mit Erdbeeren und Sahne, sondern mit Blutwurst, saucissons und Leberpastete. Dekorieren könnten wir mit Cornichons oder Oliven oder …« Fabienne war gerade dabei, sich warm zu reden, als Maman sie unterbrach.

»Würste, Leberpastete – wer soll das alles bezahlen? Für das Geld, das diese Zutaten kosten würden, verköstige ich fünf Tage lang die Barkenschiffer!«

Fabienne runzelte die Stirn. So eine deftige Torte war tatsächlich ein teurer Spaß. Aber Lily würde solche Augen machen!

Lily war Fabiennes Lieblingsschwester – auch wenn sie das nie laut gesagt hätte. Lily war für jedes wilde Spiel, jeden Streich, jede verrückte Laune zu haben gewesen – im Gegensatz zur braven Lucie, die so gern las und zum Beten in die Kirche ging. Wenn es nach ihr, Fabienne, ging, dann hatte Lily die beste Geburtstagsüberraschung überhaupt verdient!

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie zu ihrer Mutter, während sie sich fragte, wie sie um alles in der Welt die Zutaten für Lilys Torte zusammenbekommen sollte.

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Die Tage in der Schleusenstation waren betriebsam wie immer – durch den vielen Regen, den das Frühjahr sah, wurde die Arbeit noch erschwert. Die Pferde rutschten und schlitterten auf den Treidelpfaden, und jeder wartete darauf, dass eins der stoischen Tiere ins Wasser fiel. Die Speichen der Fuhrwerke, die Waren für die Schiffe brachten, schleuderten Matsch durch die Gegend, an den Schuhen der Barkenschiffer klebte ebenfalls Dreck, und im Garten hinter der Schleuse wuchsen nicht nur die kleinen Gemüsepflanzen prächtig heran, sondern auch das Unkraut. Normalerweise liebte Fabienne es, Unkraut zu jäten und den steinigen Boden aufzulockern, damit die Pflanzen genügend Wasser und Nährstoffe aufnehmen konnten. Sie freute sich alljährlich auf den Tag, an dem sie die jungen Zucchinipflanzen, die sie in Töpfen entlang der Hauswand vorgezogen hatten, in exakte Reihen ins Beet setzen durfte. Sie mochte es auch, überflüssige Triebe von den Tomatenstauden mit dem Fingernagel abzuknipsen. Wenn der leicht metallische Geruch der rostroten Erde in ihre Nase stieg, wurde sie davon fast berauscht. Und wenn Maman, eine ebenso fleißige Gärtnerin wie Fabienne, und sie ihre Arbeit unterbrachen, um eine kleine Brotzeit zu genießen, dann war Fabienne glücklich.

Doch in diesem Frühjahr war es für sie nicht einfach, die Gartenarbeit auch noch in ihren vollgepackten Tagen unterzubringen. Denn sie musste dringend Geld verdienen, wenn sie ihre Schwester wirklich mit ihrer Geschenkidee überraschen wollte. Und so ging Fabienne Tag für Tag für ein, zwei Stunden ins Dorf, manchmal frühmorgens, manchmal abends, nach getaner Arbeit. Sie putzte die Fenster von Renauds Boulangerie, sie holte an Markttagen für die Marktleute Kaffee bei Bébé, sie half beim Frühjahrsputz bei der alten Madame Grosz. Violaine duldete ihr Treiben, auch wenn dies bedeutete, dass bei ihnen zu Hause nicht alles ganz rundlief. Zum einen war sie im tiefsten Inneren stolz auf Fabiennes Ehrgeiz, zum andern sah sie es gern, dass ihre Tochter nicht einmal mehr Zeit hatte, Eric Lacasse zu treffen.

Normalerweise wäre Fabienne darüber am meisten betrübt gewesen, doch sie vertröstete sich selbst auf die Zeit nach Lilys Geburtstag. Derzeit war nur eins für sie wichtig: Sie wollte, dass ihre Lieblingsschwester einen unvergesslichen Geburtstag verlebte.

Kapitel 4

»Maman, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir heute getrennt voneinander auf den Markt gehen?« Getrennt voneinander, wie blöd sich das anhörte, dachte Fabienne, noch während sie sprach.

Es war Samstag, der zehnte April, einen Tag vor Lilys Geburtstag. Die Schwester würde von ihrer Herrschaft am morgigen Tag tatsächlich frei bekommen, um im Schleusenhaus zu feiern. Außer Lily wollte auch Noah kommen. Als Fabie ihren Bruder das letzte Mal gesehen hatte, hatte er verlegen gesagt, er würde ihnen gern seine Braut vorstellen. Seine Braut! Wie erwachsen sich das anhörte. Fabienne konnte es kaum erwarten, die junge Frau kennenzulernen.

»Ich verstehe nicht …?« Violaine schaute von ihrem Waschbrett auf.

»Nun ja … Weil ich doch die Zutaten für Lilys Kuchen kaufen muss. Das wird ein bisschen länger dauern als sonst.« Verlegen trat Fabienne von einem Bein aufs andere. Sie hatte hart gearbeitet in den letzten Wochen, und nun klimperten viele kleine Münzen verführerisch in ihrer Schürzentasche. Im Geist sah sie sich schon von Stand zu Stand gehen, hier die appetitlichsten Würste aussuchen, da das schönste Stück Leberpaté, dort noch einen Batzen Frischkäse. Sie würde mit dem Geld hantieren wie eine feine Dame! War es gemein von ihr, diesen Moment des Triumphs, wie sie ihn im Stillen nannte, allein auskosten zu wollen?

Violaine wandte sich wieder ihrer Wäsche zu. »Warum gehst du nicht ganz allein und bringst mir die paar Sachen, die auf meiner Einkaufliste stehen, mit?«

Fabienne schaute ihre Mutter stumm an. Wieder einmal lagen dunkle Schatten unter ihren Augen, und durch ihre Sommerbräune, die von der Gartenarbeit kam, schimmerte eine ungesunde Blässe. Die Stirnfalte, die sich schon vor Jahren auf Violaines Miene eingegraben hatte, wirkte noch tiefer als sonst. War es die Anstrengung am Waschbrett?

Es hätte nicht viel gefehlt, und Fabienne hätte Violaine die Wäsche aus der Hand gerissen und in den Kanal geworfen. Diese elende Schinderei, Tag für Tag, Woche für Woche! Da fiel der stärkste Gaul irgendwann um. Und Maman