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»Petra Durst-Benning lässt im idyllischen Dorf Maierhofen die Herzen höher schlagen.« BUNTE
Kommen Sie nach Maierhofen – den schönsten Ort der Welt, an dem Träume wahr werden! Die komplette Bestseller-Reihe jetzt in einem Band!
Kräuter der Provinz
Bürgermeisterin Therese liebt ihre schwäbische Heimat – Wiesen mit sattgelbem Löwenzahn, ein paar sanft geschwungene Hügel und mittendrin Maierhofen. Doch die jungen Leute ziehen weg, und der Dorfplatz wird immer leerer. Als Therese krank wird und das Dorf kurz vor dem Aus steht, raufen sich alle Bewohner zusammen – seien es die drei Greisen, die immer auf der Bank sitzen, der linkische Metzgermeister Edi oder die schüchterne Christine. Und sie haben nur noch ein Ziel: ihre schöne kleine Stadt zu retten und das erste Genießerdorf entstehen zu lassen – einen Ort, an dem der echte Geschmack King ist!
Das Weihnachtsdorf
Dezember im malerischen Allgäu. Maierhofen liegt friedlich im Schnee. Der Trubel des Kräuter-der-Provinz-Festivals ist nur noch eine schöne Erinnerung. Langweilig wird es im Genießerdorf jedoch nicht: Der erste Weihnachtsmarkt steht bevor. Wird es den Maierhofenern gelingen, das Wahre und Gute in den Winter hinüberzuretten? Therese freut sich auf Feiertage in trauter Zweisamkeit, doch jemand will ihre Pläne durchkreuzen. Und während es Christine vor ihrem ersten Fest alleine graut, werden Roswitha und Edy auf die Probe gestellt. Probleme brauen sich zusammen wie Winterstürme. Wie viele kleine Wunder braucht es für das große Glück?
Die Blütensammlerin
Nach ihrer Trennung soll Christine entweder aus ihrem Haus ausziehen oder ihren Mann auszahlen. Wer aber gewährt einer Hausfrau Ende vierzig ein Darlehen oder stellt sie ein? Doch die Maierhofener Frauen halten zusammen und helfen Christine, ihr Haus in ein Bed & Breakfast umzuwandeln. Und sie wird Single-Wochenenden ausrichten, an denen man nicht nur das Landleben, sondern auch neue Menschen kennenlernt. Sogar Marketingexpertin Greta ist begeistert: Im Juni findet doch der große Kochwettbewerb statt – und wie wäre es, wenn Christine ein Team zusammenstellte, das daran teilnimmt? So könnte jeder Topf seinen Deckel finden …
Spätsommerliebe
Im Genießerdorf blühte im letzten Sommer nicht nur das Geschäft, sondern auch die Liebe. Magdalena und Christine sind glücklich, doch der Alltag holt sie schnell ein. Der Gastwirt Apostoles bringt Feuer in Magdalenas Leben, aber sie ist von den neuen chaotischen griechischen Verhältnissen überfordert. Auch Christine kann sich nur schwer auf Reinhards Fürsorge einlassen und ihre alten Muster aufgeben. Als sich dann eine Autorin von Liebesromanen in ihre Pension einmietet, knistert regelrecht die Luft in Maierhofen. Sich zu verlieben ist einfach – aber wird es den Maierhofen-Frauen gelingen, ihre Gefühle in den Spätsommer hinüberzuretten?
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Seitenzahl: 1670
Schöne Lesestunden wünscht herzlichst Petra Durst-Benning
Autorin:
Petra Durst-Benning wurde 1965 in Baden-Württemberg geboren. Seit über zwanzig Jahren schreibt sie historische und zeitgenössische Romane. Fast all ihre Bücher sind SPIEGEL-Bestseller und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. In Amerika ist Petra Durst-Benning ebenfalls eine gefeierte Bestsellerautorin. Sie lebt und schreibt abwechselnd im Süden Deutschlands und in Südfrankreich.
Mehr Informationen zur Autorin und ihren Büchern finden Sie auf ihrer Homepage wwww.durst-benning.de oder in der App von Petra Durst-Benning.
Kräuter der Provinz
Bürgermeisterin Therese liebt ihre schwäbische Heimat – Wiesen mit sattgelbem Löwenzahn, ein paar sanft geschwungene Hügel und mittendrin Maierhofen. Doch die jungen Leute ziehen weg, und der Dorfplatz wird immer leerer. Als Therese krank wird und das Dorf kurz vor dem Aus steht, raufen sich alle Bewohner zusammen – seien es die drei Greisen, die immer auf der Bank sitzen, der linkische Metzgermeister Edi oder die schüchterne Christine. Und sie haben nur noch ein Ziel: ihre schöne kleine Stadt zu retten und das erste Genießerdorf entstehen zu lassen – einen Ort, an dem der echte Geschmack King ist!
Das Weihnachtsdorf
Dezember im malerischen Allgäu. Maierhofen liegt friedlich im Schnee. Der Trubel des Kräuter-der-Provinz-Festivals ist nur noch eine schöne Erinnerung. Langweilig wird es im Genießerdorf jedoch nicht: Der erste Weihnachtsmarkt steht bevor. Wird es den Maierhofenern gelingen, das Wahre und Gute in den Winter hinüberzuretten? Therese freut sich auf Feiertage in trauter Zweisamkeit, doch jemand will ihre Pläne durchkreuzen. Und während es Christine vor ihrem ersten Fest alleine graut, werden Roswitha und Edy auf die Probe gestellt. Probleme brauen sich zusammen wie Winterstürme. Wie viele kleine Wunder braucht es für das große Glück?
Die Blütensammlerin
Nach ihrer Trennung soll Christine entweder aus ihrem Haus ausziehen oder ihren Mann auszahlen. Wer aber gewährt einer Hausfrau Ende vierzig ein Darlehen oder stellt sie ein? Doch die Maierhofener Frauen halten zusammen und helfen Christine, ihr Haus in ein Bed & Breakfast umzuwandeln. Und sie wird Single-Wochenenden ausrichten, an denen man nicht nur das Landleben, sondern auch neue Menschen kennenlernt. Sogar Marketingexpertin Greta ist begeistert: Im Juni findet doch der große Kochwettbewerb statt – und wie wäre es, wenn Christine ein Team zusammenstellte, das daran teilnimmt? So könnte jeder Topf seinen Deckel finden …
Spätsommerliebe
Im Genießerdorf blühte im letzten Sommer nicht nur das Geschäft, sondern auch die Liebe. Magdalena und Christine sind glücklich, doch der Alltag holt sie schnell ein. Der Gastwirt Apostoles bringt Feuer in Magdalenas Leben, aber sie ist von den neuen chaotischen griechischen Verhältnissen überfordert. Auch Christine kann sich nur schwer auf Reinhards Fürsorge einlassen und ihre alten Muster aufgeben. Als sich dann eine Autorin von Liebesromanen in ihre Pension einmietet, knistert regelrecht die Luft in Maierhofen. Sich zu verlieben ist einfach – aber wird es den Maierhofen-Frauen gelingen, ihre Gefühle in den Spätsommer hinüberzuretten?
Petra Durst-Benning
Die Maierhofen-Reihe
Band 1 – 4
Kräuter der Provinz Das Weihnachtsdorf Die Blütensammlerin Spätsommerliebe
Blanvalet
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Der Ort Maierhofen ist meiner Fantasie entsprungen, etwaige Ähnlichkeiten mit anderen Orten, aber auch Namensähnlichkeiten sind rein zufällig.
Copyright © der Originalausgaben »Kräuter der Provinz« 2015, »Das Weihnachtsdorf« 2017, »Die Blütensammlerin« 2017 und »Spätsommerliebe« 2018 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Gisela Klemt
»Kräuter der Provinz«: Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Daria Minaeva; Vilor; Diana Taliun)
»Das Weihnachtsdorf«: Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Oksana Shufrych; Andy P; Evgeny Karandaev)
»Die Blütensammlerin«: Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Shutova Elena; Antonova Ganna)
»Spätsommerliebe«: Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Subbotina Anna; harmpeti; Antonova Ganna; panna-yulka; baibaz; Morozov Maxim)
ISBN: 978-3-641-28662-0V001
www.blanvalet.de
Petra Durst-Benning
Roman
Blanvalet
Dieses Buch widme ich allen Menschen, die sich einer Sache ganz und gar verschrieben haben. Menschen, die sich mit Begeisterung ihrer Arbeit widmen, sie mit Herzblut erfüllen und so Großartiges leisten. Menschen, die erfahren haben, was alles möglich ist, wenn viele Hände zusammenarbeiten.
Ich widme dieses Buch aber auch allen Menschen, die noch auf der Suche sind nach ihrer »Aufgabe« im Leben, ihrem Glück, ihrer Bestimmung. Oftmals liegt das alles viel näher, als man glaubt. Schau dich aufmerksam um! Andere halten dich vielleicht für einen Spinner, eine Traumtänzerin? Egal. Es ist dein Leben, nicht das der anderen. Wage es, an dich selbst zu glauben.
Und denke immer daran: Wenn eine Sache es wert ist, getan zu werden, dann ist sie es auch wert, richtig getan zu werden.
Maierhofen kann überall sein!
Ihre/Eure Petra Durst-Benning
Es war das erste Mal, dass sie vom Sterben träumte. Sie lag in einem weißen Hospitalbett, angeschlossen an Zu- und Ableitungen, Sonden und leise piepsende Maschinen. Ihre Augen waren geschlossen, sie wollte sie öffnen, aber es gelang ihr nicht. Ihr Atem dröhnte laut in den Ohren. Doch dann, mit jedem Schlag ihres Herzens, wurde der Atem leiser. Und leiser und leiser …
Es war zwei Uhr, als Therese mit einem erstickten Schrei aufwachte. Ihr Herz raste, ihr Nachthemd war schweißgetränkt. Fragmente des Alptraums liefen wie ein schlechter Film an ihrem inneren Auge vorüber. Sie blinzelte, als könne sie sich so von den Bildern befreien. Zitternd hob sie beide Beine aus dem Bett. Sie zog ihr nasses Nachthemd aus und ging ins Bad.
Aus dem Spiegel starrte sie eine attraktive Endvierzigerin an, mit kräftigen, schön gewölbten Augenbrauen und Augen, die fiebrig glänzten. Sie habe »Schlafzimmeraugen«, hatte ihr einmal ein Mann gesagt. Sie sähe aus wie eine Mischung aus Susan Sarandon und Senta Berger, hatte ein anderer gemeint. Und mehr als einmal hatte sie zu hören bekommen, dass sie eine erotische Ausstrahlung besitze. Auf ihr Aussehen hatte sie sich immer etwas eingebildet. Statt Schlabberbluse und Jeans trug sie lieber eines ihrer zahlreichen Dirndl, die ihre Rundungen vorteilhaft zur Geltung brachten. Den Gästen ihres Gasthauses Goldene Rose gefiel das, auch wenn ihre bunten, fantasievollen Ensembles mit einer echten Tracht nicht viel zu tun hatten.
Schlafzimmeraugen hin, Dirndl her – zu einem Ehemann hatte sie es bisher nicht gebracht. Und nun sah es so aus, als sei der Zug vollends abgefahren.
Sie wollte nicht sterben. Nicht jetzt mit achtundvierzig. Und auch nicht in den darauffolgenden Jahren.
Nachdem sie sich ein frisches Nachthemd angezogen hatte, ging sie noch immer wie in Trance und sich am Geländer festhaltend die Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo sich Wohnzimmer und Küche befanden. Von allein fand Thereses rechte Hand den altmodischen Lichtschalter neben der Tür zu ihrer winzigen Küche. Wie immer, wenn sie nachts aufwachte, lauschte sie auf Geräusche, die nicht in die Nacht und in das Haus gehörten. Doch alles war still. Nur in ihrem Inneren tobten Chaos und Tumult.
Eine Tasse Kaffee. Schlafen würde sie wahrscheinlich sowieso nicht mehr können. Mit diesem Gedanken schloss Therese die Verbindungstür auf, die von ihrer Wohnung hinüber in die Gaststätte führte. Die Goldene Rose war ein Lokal mit einem großen Schankraum und etlichen Nebenräumen. Massive dunkelbraune Holzmöbel dominierten das Bild, an den Fenstern hingen rotweiß karierte Gardinen, die Tischläufer waren aus demselben Stoff. Der Chic der Siebzigerjahre, dachte Therese nicht zum ersten Mal. Wie oft hatte sie sich schon vorgenommen, ihre Gasträume hübscher und moderner zu gestalten! Neue Stoffe aussuchen, schöne Kissen nähen für die lange Sitzbank neben dem Kachelofen. Die verstaubten Trockenblumensträuße durch neue ersetzen. Über neue Lampen nachdenken, die alten waren nun wirklich keine Augenweide mehr! Aber immer gab es tausend andere Dinge vorher zu tun. Und allem Anschein nach würde sich das in absehbarer Zeit auch nicht ändern.
In der Gaststube roch es wie immer. Nach Bier, nassen Spüllappen und nach der Rotweinsoße, für die ihr Koch Sam berühmt war.
Während sich die große Kaffeemaschine aufheizte, schaute Therese aus dem Fenster. Am verhangenen Himmel stand ein schwacher Mond. Er und die neuen, orange leuchtenden Laternen, die das Dorf erst im letzten Herbst bekommen hatte, schenkten den Straßen ein heimeliges Licht. Wer hier nachts zu Fuß oder mit dem Auto unterwegs war, fühlte sich sicher. Die Laternen waren eine gute Investition gewesen, befand Therese, auch wenn sie heftig mit dem Gemeinderat darum hatte ringen müssen. Aber als Bürgermeisterin einer Gemeinde, die chronisch knapp bei Kasse war, kannte sie es nicht anders.
In allen umliegenden Häusern war es dunkel, nur im Haus von Magdalena, das auf der anderen Seite des Maierhofener Marktplatzes lag, brannte Licht. Konnte die Bäckersfrau auch nicht schlafen? Oder war dies die normale Zeit, in der sie sich für ihren langen Tag im Backhaus und später in ihrem Laden mit dem Café herrichtete? Therese bildete sich ein, ziemlich viel über die Maierhofener zu wissen, aber wann Magdalenas Arbeitstag begann, wusste sie nicht. Seltsam.
Als der Kaffee durchgelaufen war, nahm sie die Tasse, schaltete alle Lichter wieder aus und ging zurück in ihre Wohnung. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, wie klein der quadratische Wohnanbau im Gegensatz zum großen Gasthaus doch war. Wie ein Wurmfortsatz. Ein lästiges Anhängsel. Als wäre den Erbauern des Gebäudes erst nachträglich eingefallen, dass die Wirtsleute ja auch irgendwo wohnen mussten. Die paar Quadratmeter im Erdgeschoss reichten gerade einmal für die winzige Küche und das Wohnzimmer, in dem man sich zwischen Sofa, Bücherschrank und Fernsehtischchen kaum bewegen konnte. Im ersten Stockwerk befanden sich das ehemalige Elternschlafzimmer – heute Thereses Schlafzimmer – und außerdem ein Bad mit Wanne und WC. Der Raum ganz oben unterm Dach war mehr eine Kammer als ein richtiges Zimmer, doch dort hatte Therese ihre Kindheit verbracht.
Während sie den Kaffee trank, schaute sie sich gedankenverloren in ihrem Wohnzimmer um. Von dem dicken Stapel Unterlagen auf dem Couchtisch abgesehen, lag nichts herum. Keine Zeitschrift, kein Strickzeug, nicht einmal die Ohrringe, die sie gestern Abend abgenommen hatte, weil sie an den Ohrläppchen drückten. In ihrem Schlafzimmer sah es nicht anders aus. Die Dirndl hingen fein säuberlich im Schrank, Schmutzwäsche kam sofort in den dafür vorgesehenen Korb, alles hatte seine Ordnung. So war sie es von klein auf gewöhnt. Wehe, sie hatte es als Kind gewagt, eine ihrer Puppen oder anderes Spielzeug unten im Haus herumliegen zu lassen! Da hatte es von ihrer Mutter, von Natur aus eine leicht reizbare Person, schnell Backpfeifen gegeben. Einmal hatte sich Mutter sogar ihre Lieblingspuppe geschnappt und sie in den Mülleimer geworfen. Stundenlang hatte sie, Therese, nach der Puppe gesucht. Vergeblich. Erst viel später hatte sie von ihrer Mutter erfahren, wo das Spielzeug gelandet war.
»Hör auf zu jammern! Hätte dir etwas an der Puppe gelegen, hättest du besser auf sie aufgepasst«, war die barsche Antwort der Mutter auf Thereses Protest gewesen. Diese Lektion hatte Therese nie vergessen. Seitdem passte sie auf alles auf, was ihr lieb und teuer war. Auf alles – nur nicht auf sich selbst.
All die Ordnungsliebe, vergeblich. Denn nichts war mit ihr in Ordnung, gar nichts.
Gebärmutterhalskrebs. Die elfthäufigst diagnostizierte Krebsart. Die zwölfthäufigste Ursache für krebsbedingte Todesfälle. Circa 6000 Frauen erkrankten jährlich in Deutschland daran, etwa 1800 starben. Stundenlang hatte sie in den letzten Wochen im Internet recherchiert, hatte von Impfungen, Ursachen und Heilungschancen gelesen. Sie hatte Berichte von Betroffenen verschlungen und die Empfehlungen der Deutschen Krebshilfe. Die meisten Informationen hatte sie gleich wieder verdrängt, bevor sie sich in ihr Bewusstsein eingraben konnten. Eine von drei Frauen starb an diesem Krebs …
Warum war sie nicht regelmäßig zu ihrer Frauenärztin gegangen? Andere Frauen bekamen das doch auch hin. Ganze vier Jahre waren seit der letzten Untersuchung verstrichen. Unnütze Zeitverschwendung, hatte sie gedacht. Ihr fehlte doch nichts. Die Zeit für die Fahrt in die Kreisstadt konnte sie viel besser nutzen. Fürs Arbeiten und fürs Aufräumen zum Beispiel.
Therese gab einen Seufzer von sich, der eher einem erstickten Aufheulen glich.
Warum sie? Warum? Ihr Blick fiel zum wiederholten Mal auf den Stapel Unterlagen, den ihre Ärztin ihr mitgegeben hatte. Patienteninformationen, Hochglanzbroschüren von zwei Krankenhäusern, die auf solche Fälle spezialisiert waren, Unterlagen, die sie auszufüllen und bei ihrer Krankenkasse einzureichen hatte.
»Lesen Sie alles in Ruhe durch. Und wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte jederzeit an mich«, hatte Frau Doktor Maier zu ihr gesagt. Ihr Ton war mitfühlend, fast mitleidig gewesen.
Therese hatte sich mit einem kräftigen Händedruck bei der Ärztin bedankt. Mit ebenso kräftigen Schritten war sie aus der Praxis gegangen. Sie und Krebs? Ein Irrtum. Vertauschte Unterlagen oder sonst ein Fehler. Topfit fühlte sie sich. Zugegeben, da war dieses Ziehen im Unterleib. Aber musste man jedes Zipperlein gleich ernst nehmen? Dafür war sie nicht der Typ.
Zwei Wochen waren seitdem vergangen. Gestern hatte die Ärztin angerufen. Natürlich wäre es gut, sich bei solch einer Erkrankung Zeit zu nehmen, sich in Ruhe kundig zu machen, sich gegebenenfalls auch eine Zweitmeinung einzuholen. Der Mensch müsse sich schließlich an den Gedanken, sehr krank zu sein, erst gewöhnen. Nichts müsse von heute auf morgen geschehen. Aber zu viel Zeit sollte Therese lieber auch nicht verstreichen lassen. Deshalb habe sie, die Ärztin, in der Woche nach Pfingsten Termine für die letzten wichtigen Voruntersuchungen reserviert, danach sollte unmittelbar die Behandlung beginnen.
Therese hatte nur geschwiegen. Irgendwie waren die Worte der Ärztin gar nicht richtig zu ihr durchgedrungen, es war vielmehr so, als würde sie versehentlich ein fremdes Gespräch in der Leitung belauschen. Bis nach Pfingsten waren es ja noch ein paar Tage, hatte sie gedacht, als die Ärztin beim Abschied erneut auf die Dringlichkeit hinwies.
»Ein Sack Kartoffeln, eine Kiste Äpfel, vier Pfund Butter, Radieschen, Salat, Karotten, fünf Kilo Schweinehals, drei Kilo Rinderschulter …« Wie jeden Montagmorgen ging Therese die Einkaufsliste durch, die ihr Koch Sam am Vorabend geschrieben hatte. Nach der schlaflosen Nacht fiel es ihr allerdings schwerer als sonst, sich zu konzentrieren. Ein wenig verwirrt schaute sie auf. »Rinderschulter? Ich dachte, heute Abend soll es Würstchen mit Kartoffelsalat geben?«
Sabrina Mölling, Inhaberin der kleinen Wäscherei mit angeschlossener Reinigung, wollte heute mit dreißig Gästen ihren fünfzigsten Geburtstag in der Goldenen Rose feiern. Die Maierhofener feierten alles bei Therese – Taufen, Hochzeiten und Geburtstage. Und am Ende auch den Leichenschmaus.
Sam stellte Therese ungefragt eine Tasse Kaffee hin und sagte: »Dachte ich auch. Aber am Samstag war ihr Mann da und hat alles rückgängig gemacht. Für einen runden Geburtstag müsse es schon ein festlicheres Mahl sein, hat er gemeint. Rinderfilet mit Spargel – das wäre nach seinem Geschmack. Ich konnte ihn immerhin auf einen Rinderbraten mit Schmorgemüse herunterhandeln.«
»Gut gemacht!« Therese nickte Sam dankbar zu, während sie innerlich die Augen verdrehte. Kurt Mölling war seit drei Monaten arbeitslos, das hatte Sabrina ihr in einem vertraulichen Moment anvertraut. Damit jedoch niemand sonst im Dorf davon erfuhr, brauste Kurt jeden Morgen mit dem Auto davon, als sei er noch immer bei seinem alten Paketdienst in der Kreisstadt angestellt. »Ich habe keine Ahnung, was er den lieben langen Tag treibt«, hatte Sabrina eine Spur bitter gesagt. »Den schönen Schein wahren! Mir wäre es lieber, er würde mir in der Wäscherei helfen.«
Therese hatte Sabrina zu dem kostengünstigen Mahl geraten, ohne dabei die angespannte finanzielle Situation der Familie zu erwähnen. Von Bratwurst mit frischem Bärlauch und neuen Kartoffeln hatte sie geschwärmt – ein Frühlingsgericht, an das sich ihre Gäste noch lange erinnern würden. Und danach vielleicht eine ebenso leichte Quarkcreme mit Apfelkompott? Sam verwendete dafür seine geheimen Gewürze … Es musste ja nicht immer eine Schoko-Mousse sein. Oder Eis mit heißen Himbeeren, die jetzt sowieso noch keine Saison hatten und dementsprechend teuer waren.
Sabrina war die Erleichterung ins Gesicht geschrieben gewesen. »Bist ein Schatz!«, hatte sie geflüstert und Therese kurz in den Arm genommen.
Nachdem die Wäschereibesitzerin gegangen war, hatte Therese Sam ins Vertrauen gezogen. »Bratwürste? Aus denen bereite ich ein Festmahl«, hatte er grinsend und selbstbewusst zugleich gesagt.
Während sie nun die letzten Punkte der Einkaufsliste durchgingen, dankte Therese ihrem Herrgott nicht zum ersten Mal dafür, dass er ihr Sam geschickt hatte.
Vor gut drei Jahren war Sam Koschinsky – seine Mutter war Amerikanerin, der Vater Pole – in ihrer Gaststätte aufgetaucht. Hatte sich an einen der Fenstertische gesetzt und Schweinebraten mit Knödel bestellt, das würde Therese nie vergessen. Wie jeden Abend hatte sie sich zwischen Küche und Servierstube zerrissen, einen Koch konnte sie sich nämlich nicht leisten. Und ebenfalls wie immer hatte es auch an diesem Abend überall ein wenig gehakt. Die Knödel waren ihr zerfallen, weil sie sie nicht rechtzeitig aus dem Wasser genommen hatte, der Stammtisch hatte schon wieder nach Biernachschub geschrien …
Ihr war fast das Herz stehen geblieben, als der fremde Gast plötzlich bei ihr in der Küche stand und sich wortlos an ihren Töpfen zu schaffen machte.
»Sie brauchen einen Koch und ich Arbeit«, hatte er gesagt, als sei es das Normalste von der Welt. Dann zog er ein Gummiband aus der Tasche und band seine wilden Locken zusammen. Sie, Therese, stand mit offenem Mund da und nickte dümmlich.
Spätnachts, als alle gegangen waren, hatten sie sich unterhalten. Er sei in den letzten Jahren viel herumgereist, erzählte Sam. Hatte auf Kreuzfahrtschiffen und in allen möglichen Städten gearbeitet, aber nun stünde ihm der Sinn nach Landluft und einem einfachen, sesshaften Leben.
Therese hatte gelacht. Ein einfaches Leben? Maierhofen konnte zwar nicht viel bieten, aber das schon! Seitdem waren sie ein Team, und was für eins. Ihr polnisch-amerikanischer Küchenchef hatte sich nicht nur als versierter, sondern auch als kreativer Koch herausgestellt, der wusste, wie man aus jedem Lebensmittel das Beste herausholte. Ihre Gäste waren begeistert, es kamen immer mehr, auch fremde. An manchen Abenden mussten sie den einen oder anderen Gast sogar abweisen, weil alle Tische besetzt waren. Dank Sams Kochkunst waren die Umsätze der Goldenen Rose in den letzten drei Jahren so kontinuierlich gestiegen, dass Therese seinen Anfangslohn inzwischen beträchtlich hatte aufstocken können.
»Ach Sam, was würde ich nur ohne dich tun«, sagte sie jetzt mehr zu sich selbst als zu ihm. Als sie seinen fragenden Blick sah, fügte sie geschäftsmäßig hinzu: »Brauchen wir sonst noch etwas?«
»Hör mal, ist alles o.k.? Du siehst irgendwie … seltsam aus. Noch müder als sonst«, sagte Sam und schaute sie kritisch an.
»Genau das will eine Frau am Morgen hören, vielen Dank! Ich habe schlecht geschlafen, das ist alles«, erwiderte Therese barsch. Sie steckte den Einkaufszettel in ihre Tasche und stand auf. »Ich denke, für heute und morgen müssten wir damit alles beieinander haben. Den Großeinkauf für Pfingsten erledige ich erst am Mittwoch.«
Sam runzelte die Stirn. »Falls du Lust hast, könntest du noch bei Jessy vorbeigehen. Sie hat einen neuen Sirup im Programm, von dem sie meint, dass er ideal für einen Aperitif für die kommende warme Jahreszeit wäre. Wenn er dir gefällt, könnten wir heute Abend einen Versuch damit starten.«
Auf Thereses Gesicht zeigte sich das erste Lächeln des Tages. Jessy und ihre Hexenküche! Sie hatte selten eine so einfallsreiche Frau getroffen wie Jessy, die vom Holunderblütensirup bis zu Kräuterelixieren alles selbst herstellte. Auf einmal erschien ihr der Tag nicht mehr ganz so düster wie zuvor.
Sie legte Sam eine Hand auf den rechten Arm. »Danke«, sagte sie knapp, während sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Eilig lief sie davon.
Maierhofen war ein Dorf der kurzen Wege, die wenigen Geschäfte, die es gab, lagen um den Marktplatz herum und entlang der Hauptstraße. Die Bäckerei, die Metzgerei, die Poststelle von Monika Ellwanger, wo man auch Schreibwaren kaufen konnte. Im Laden vom Elektriker Scholz bot Elfie Scholz, die das Geschäft führte, neben Steckdosen, Verlängerungskabeln und Druckerpatronen auch kleine Geschenkartikel und Seidenblumen an. Schon mehr als einmal war Therese froh gewesen, wegen eines Geburtstagsgeschenks nicht in die zwanzig Kilometer entfernte Stadt fahren zu müssen.
Alle Geschäfte waren zu Fuß gut zu erreichen, doch Therese fuhr an diesem Morgen aus dem Ort hinaus. Als sie am Toyota-Autohaus vorbeikam, huschte wieder ein Lächeln über ihr Gesicht. Das Autohaus gehörte Herbert und Christine Heinrich, und Christine war ihre beste Freundin. Jetzt in Christines gemütlichem Haus eine Tasse Kaffee trinken und ein wenig plaudern, dachte Therese sehnsüchtig. Doch dafür hatte sie keine Zeit.
Ihr erstes Ziel war der Franzenhof, wo sie Kartoffeln, Gemüse und frische Kräuter kaufte. Wie immer musste Therese mehrmals klingeln, bis Roswitha Franz mit müden Augen und verstrubbelten Haaren an der Tür des alten Bauernhauses erschien. Seit Roswithas Mann Alfons vor zwei Jahren das Weite gesucht hatte, lag die ganze Arbeitslast allein auf ihren Schultern. Ihre Eltern waren ihr bei der Arbeit im Haus, im Hof und auf den Äckern keine Hilfe, vielmehr musste Rosi sich um die beiden auch noch kümmern. Die Spuren dieser Mehrfachbelastung waren nicht zu übersehen – Rosi sah weit älter aus als Ende vierzig. Ob ich genauso verlebt aussehe?, fragte sich Therese besorgt.
»Alles in Ordnung bei euch?«, wollte sie eine Spur zu fröhlich wissen.
»Vater hat mir mal wieder ›geholfen‹.« Roswitha verzog das Gesicht. »Beim Schlepper war ein Ölwechsel fällig, den wollte er machen. Leider hat er das falsche Öl verwendet, und jetzt ist der Motor ruiniert.«
»O nein …« Therese war bestürzt. Sie wusste, wie knapp das Geld im Hause Franz war.
»Letzte Woche, als ich beim Frisör war, wollte Mutter mich mit einem Kuchen überraschen. Dann lief ›Rote Rosen‹ im Fernsehen, und sie hat darüber den Kuchen vergessen. Als ich nach Hause kam, war die Küche total verraucht, und im Backofen lag ein schwarzes Brikett. Ich sag dir, auf die beiden muss ich aufpassen wie auf ein kleines Kind!«, stöhnte Rosi.
»Kannst du dir nicht Hilfe ins Haus holen? Ein junges Mädchen, das ein Praktikum auf dem Bauernhof machen möchte? Oder so etwas wie ein Au-Pair-Mädchen«, schlug Therese nicht zum ersten Mal vor.
Roswitha seufzte nur. »Die jungen Leute sind heutzutage doch so anspruchsvoll, die wollen mehr als nur Kost und Logis. Früher, als ich mit meinen Waren noch auf den Wochenmarkt in die Stadt fuhr, kam wenigstens ein bisschen Geld herein, da hätte ich mir so etwas leisten können! Aber ich traue mich einfach nicht mehr, die Eltern so lange allein zu lassen. Inzwischen ist mein schöner Standplatz auf dem Wochenmarkt an einen anderen vergeben worden.«
Therese nickte – die Warteliste für einen Platz auf dem Wochenmarkt in der Stadt war lang.
»Trotzdem – du hast die besten Kartoffeln weit und breit. Deine Kunden vom Markt könnten zum Einkaufen ruhig hierherkommen«, sagte sie eindringlich.
»Ach Therese, ich habe doch nicht mal einen Hofladen. Die Landfrauen haben erst kürzlich eine Broschüre verteilt, in der erklärt wird, wie wir unsere Höfe schöner machen können. Alte Mostfässer sollen wir mit Blumen bepflanzen und Kränze an die Tür binden. Für jede Jahreszeit haben sie uns Tipps gegeben. ›Ländliche Idylle‹ soll alles ausstrahlen, schreiben sie. Das würde mir natürlich auch gut gefallen, aber woher soll ich das Geld dafür nehmen? Und wer sollte meinen Hofladen betreuen? Da müsste ich mich ja vierteilen.« Die Kartoffelbäuerin machte eine resignierte Handbewegung.
Therese schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Wenn eine wie Roswitha, die normalerweise alles mit links stemmte, jammerte, dann halfen Plattitüden nicht weiter, dann war es ernst.
»Mir bleibt nichts anderes übrig, als meine Kartoffeln zu Billigpreisen an den Einkäufer vom Großmarkt zu verramschen. Ich wage gar nicht genau auszurechnen, wie viel Cent pro Zentner ich dabei nur verdiene. Mich kotzt das alles so an! Manchmal bin ich fast so weit, dass ich am liebsten alles hinschmeißen würde. Wenn du nicht regelmäßig bei mir einkaufen würdest …«
Mit einem Sack Kartoffeln mehr als nötig machte Therese sich auf den Weg zum Kerschenhof, der eine Abzweigung weiter ein gutes Stück den Berg hinauf lag. Hier kaufte Therese regelmäßig den Käse, den Sam zum Überbacken und Gratinieren kleiner Gerichte benötigte. Der Bergkäse der jungen Sennerin Madara war so gut, dass Gäste immer wieder fragten, ob sie nicht ein Stück davon kaufen könnten. Therese verwies die Leute dann direkt an den Kerschenhof. Doch die Fahrt zur Käserei war den meisten zu aufwendig.
Auf dem Hof herrschte angespannte Aufregung. Der Bauer packte Zaunlatten und anderes sperriges Material auf seinen Schlepper, aus dem Stall drang lautes Muhen, und Sissi, die Appenzeller-Hündin, rannte jedem zwischen die Beine.
»Wenn das Wetter so gut bleibt, treibe ich die Kühe heute oder morgen hinauf auf die Alm. Sie spüren, dass die Freiheit naht, deshalb sind sie so aufgeregt«, erklärte Madara Büttner, die Sennerin. Ihren roten Wangen war anzusehen, dass sie mindestens so aufgeregt war wie ihre Schützlinge. »Ich kann es kaum erwarten, den ersten Wiesenkäse des Jahres zu machen …«
»Und ich kann es kaum erwarten, ihn zu verkosten«, erwiderte Therese lächelnd. Den ganzen Sommer auf der Alpe verbringen, die Kühe hüten und Käse machen – ein wenig beneidete sie die junge Frau.
Nach einem Blick auf ihre Uhr entschied Therese, dass sie den Besuch bei Jessy und ihren Likören verschieben musste – heute reichte die Zeit einfach nicht mehr.
Zwanzig Minuten später kam sie wieder am Marktplatz an, wo sie in der Metzgerei vorbeischaute. Wie bei jedem anderen Kunden auch wurde Edwin Scholz, als Therese ihn ansprach, puterrot im Gesicht. Der Metzgersohn war von Natur aus so schüchtern, dass er bei den Menschen – je nach Gemütslage – Mitleid erregte oder zum Gespött wurde. Gleichzeitig schaute der Mann stets so unglücklich drein, dachte Therese. Warum wohl? Eigentlich musste er sich im Familienbetrieb doch heimisch und wohlfühlen. Sein Vater, Johannes Scholz, erzählte jedenfalls jedem, wie froh er war, den Sohn mit im Geschäft zu haben. So viel Glück war kaum einem Maierhofener Betrieb beschieden, die meisten Läden warfen zu wenig ab, als dass sie auch die nächste Generation ernähren und bei der Stange halten konnten. Oder die Jungen wollten von vornherein ihr eigenes Ding machen und nicht in die Fußstapfen ihrer Eltern treten.
Erst letzten Monat war der Sohn von Malermeister Brunner in den Norden von Teneriffa ausgewandert. Dabei war er Therese immer so zufrieden erschienen, so … anspruchslos. Dass er einmal seine Koffer packen würde, damit hatte niemand gerechnet. Wie lange würde der alte Brunner sein Geschäft allein noch weiterführen können?, fragte sich Therese, wann immer sie an dem Haus mit der Malerwerkstatt vorbeikam.
»Die Lammkeulen für Sam bereite ich bis Mittwochfrüh vor«, sagte Edwin Scholz zum Abschied und sah dabei aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Es hätte nicht viel gefehlt und Therese hätte dem Metzgersohn tröstend einen Arm um die Schulter gelegt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrem alten Schulkameraden.
Nachdem sie das Fleisch im Auto verstaut hatte, hielt Therese für einen kurzen Moment inne. Wie immer, wenn sie hier auf dem Marktplatz stand, überfiel sie ein warmes Gefühl von Heimatliebe und tiefem Verwurzeltsein.
Ihr Maierhofen …
Sie kannte jedes Haus, jeden Bewohner, und für fast alle hatte sie Platz in ihrem Herzen. Mit einigen verband sie eine langjährige Freundschaft, so wie mit Magdalena aus der Bäckerei oder mit Vincent, dem Schreinermeister. Madara oder Sam kannte sie noch nicht so lange, und wenn sie mit ihnen zu tun hatte, dann war es meist geschäftlich. Dabei hätte sie beide gern auch privat näher kennengelernt. Aber wann? Der Gasthof forderte sie in den meisten ihrer wachen Stunden, und manchmal verfolgte das Geschäft sie sogar im Schlaf. Arbeit, nichts als Arbeit. Therese seufzte auf. Immerhin machte die Arbeit ihr Spaß, tröstete sie sich sogleich. Hoffentlich konnte sie noch lange arbeiten …
Sinnend ließ Therese ihren Blick weiterschweifen. Auf der Kopfseite des fast quadratischen Marktplatzes, an prominentester Stelle also, befand sich nicht etwa die Kirche, sondern das Rathaus, der Kindergarten und das Gemeindehaus, alles zusammen in einem Gebäude vereint. Früher, als die Geburtenrate in Maierhofen noch passabel gewesen war, hatte der Kindergarten drei Gruppen gehabt und das ganze Haus belegt. Heute gab es nur noch eine Gruppe, und der genügte das Erdgeschoss. Im ersten Stock waren die kleinen Tische und Stühle von einst durch welche in Normalgröße ersetzt worden, dort fanden nun regelmäßig Altennachmittage statt, die von Schwester Gertrud, einer der ehemaligen Erzieherinnen, geleitet wurden. Ihr Programm mit Singspielen und Basteleien ähnelte dem der Kinder im Erdgeschoss, aber daran störte sich niemand. Unterm Dach des Vielzweckhauses hatte Therese ihr Amtszimmer, sehr viel nutzte sie die Kammer jedoch nicht, sie erledigte ihre Amtsgeschäfte als Bürgermeisterin entweder direkt vor Ort oder von zu Hause aus.
Links vom Gemeindehaus stand ein altes, aber gut gepflegtes Haus, in dem bis vor einem Jahr noch der Spar-Markt von Else Rieger untergebracht gewesen war. Thereses Blick verdüsterte sich, als sie auf die leeren Schaufenster schaute. Nachdem die alte Else an einer Lungenentzündung gestorben war, hatten ihre Erben – ein Neffe und eine Nichte aus Friedrichshafen – den Laden eilig zugemacht. Gelohnt hatte er sich schon lange nicht mehr. Fleisch, Wurst und Backwaren kauften die Maierhofener in Magdalenas Bäckerei oder in der Metzgerei Scholz, für größere Einkäufe fuhren sie in einen der zahlreichen Supermärkte in der Stadt. Im Spar-Markt war dann das eingekauft worden, was man in der Hektik anderswo vergessen hatte. Als Therese von der Schließung Wind bekommen hatte, hatte sie alles Mögliche versucht, um einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für Else zu finden – vergeblich. Nun mussten die Maierhofener entweder ein gutes Gedächtnis haben oder für jedes vergessene Päckchen Nudeln, für jede nicht eingekaufte Flasche Wein aus dem Dorf fahren.
Rechts vom Gemeindehaus stand – ein wenig nach hinten versetzt – die Kirche, was den Eindruck erweckte, als wollte sich das ehrwürdige Gebäude von den Geschäften ringsum distanzieren.
Das erste Haus auf der rechten Seite des Marktplatzes war die Bäckerei, an die ein kleines Café angrenzte. Genießerisch atmete Therese den Duft von frisch gebackenem Holzofenbrot ein. Bei dem Gedanken an eins von Magdalenas Butterbroten, dick bestreut mit Schnittlauch, begann ihr Magen zu knurren. Sie hatte noch nichts gegessen, nur Kaffee in sich hineingeschüttet. Ein kleines Frühstück würde ihr jetzt guttun. Außerdem traf sich morgens halb Maierhofen in der Bäckerei. Die Handwerker kauften ihre Brotzeit ein, die sie später auf ihren diversen Baustellen verzehrten, die Pendler, die in der Stadt arbeiteten, nahmen Kuchen für die anstehende Geburtstagsfeier im Büro mit, die Maierhofener Hausfrauen kauften ihr Brot und gönnten sich hin und wieder eine Tasse Kaffee oder gar ein Frühstück. Jeder kannte jeden, jeder grüßte jeden – Therese hoffte, dass die frohe Stimmung noch ihren letzten düsteren Gedanken vertreiben würde.
»Na Hannes, alles klar?«, sagte sie zu dem alten Mann, der wie immer auf der Bank neben dem Marktbrunnen saß und einen ekelhaft riechenden Stumpen rauchte.
Hannes lächelte sie aus seinem freundlichen, müden Gesicht an.
In früheren Zeiten war hier an Markttagen das Vieh der Händler getränkt worden. Hannes war einer der Marktbeschicker gewesen, er hatte Hühner und Hasen, eingesperrt in winzigen Käfigen, feilgeboten. Auch er hatte seine Ware damals noch mit dem Pferdewagen angekarrt. Nachdem das Marktgeschehen in den 1960er-Jahren eingestellt worden war, hatte sich niemand mehr um den Wassertrog gekümmert. Moos und Flechten hatten seine steinernen Wände überzogen, Unkraut wucherte ringsum. Ein Schandfleck!, darin waren sich alle Maierhofener einig gewesen. Am besten, man riss den Brunnen ab und legte den Boden mit denselben Pflastersteinen aus, die auch für den Marktplatz verwendet worden waren. Doch davon hatte Therese nichts hören wollen. Sie hatte kurzerhand ein paar Freiwillige bestimmt, die sich um den Trog kümmern sollten. Und so war er von einigen mehr oder weniger willigen Männern gesandstrahlt und ausgebessert worden. Christines Mann Herbert hatte das marode Pumpensystem geschweißt, und der Gärtner hatte rund um den Brunnen neue Platten verlegt sowie ein kleines Blumenbeet angelegt, in dem sich jetzt schon etliche Blumen zeigten. Als alles fertig war, hatte Therese den Direktor der örtlichen Kreissparkasse, die an der Hauptstraße lag, so lange bequatscht, bis dieser eine schöne Sitzbank spendierte, die dann von Vincent, dem Zimmermann von Maierhofen und Thereses Jugendfreund, aus groben Balken gebaut worden war. Heute war der antike Brunnen samt Sitzbank der Stolz von ganz Maierhofen.
Ja, die Maierhofener hatten Gemeinschaftssinn!
Das war nicht immer so gewesen. Vielmehr war es Thereses Verdienst, die Dorfbewohner durch mehrere solcher Aktionen zu einer Gemeinschaft zusammengeschweißt zu haben.
Therese ließ ihren Blick weiterwandern. Eigentlich war eine solche Gemeinschaftsaktion längst wieder überfällig, dachte sie. Aber wo anfangen? Maierhofens Verfall war ein schleichender Prozess. Hier war es ein maroder Gartenzaun, der nicht mehr repariert wurde, weil die Kinder aus dem Haus waren und der Zaun niemandem mehr Schutz bieten musste. Ein paar Häuser weiter war es das zugenagelte Schaufenster der ehemaligen Schusterwerkstatt. Das Gemeindehaus musste auch längst wieder einmal gestrichen werden. Und die leeren, halb blinden Schaufenster vom alten Spar-Markt waren ebenfalls keine Zierde. Wenn sich bloß endlich ein neuer Mieter für den Laden finden würde …
Therese seufzte tief auf. Wer würde sich um all das kümmern, wenn sie es nicht mehr konnte? Wer war stark genug, um das »Gebilde Maierhofen« zusammenzuhalten? Der träge Gemeinderat, der stets den Weg des geringsten Widerstandes ging, was in den meisten Fällen bedeutete, dass er ihren Vorschlägen folgte? Frieder Schmauder, der Landtagsabgeordnete ihres Kreises, der einst selbst Absichten auf den Bürgermeistersitz gehabt, aber keine zehn Prozent an Stimmen gewonnen hatte? Magdalena, die mit ihrer Bäckerei mehr als genug zu tun hatte? Christine, die in allem immer so zaghaft war?
So sehr Therese über diese Frage auch nachgrübelte, so kam sie doch zu keiner Lösung.
Als sie die Tür zur Bäckerei öffnete, war ihr der Appetit auf ein Frühstück fast schon wieder vergangen. Zu viele Fragen, zu viele Sorgen, zu viele Probleme, für die sie keine Lösung parat hatte. Und in der Goldenen Rose standen mehrere Feste an – wie sollte sie da in Ruhe über solche grundsätzlichen Dinge nachdenken können?
Sabrina Möllings Geburtstagsgesellschaft feierte und feierte. Eine Runde Schnaps nach der anderen wurde geordert, ein Trinkspruch nach dem nächsten gehalten.
Sam war längst gegangen, als Therese noch immer hinter der Theke stand, Bier zapfte, Schnaps ausschenkte und Gläser spülte. Um ein Uhr nachts hatte sie genug und begann, die Lampen auszumachen.
»Willst du uns etwa hinauswerfen? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«, rief Sabrina ihr halb lachend, halb verärgert zu. »Man wird schließlich nur einmal im Leben fünfzig!«
Oder man wird es nicht, dachte Therese und spürte, wie eine bleierne Müdigkeit sie überfiel. Was, wenn das Ergebnis bei der nächsten Untersuchung sehr viel schlechter ausfiel als bei der letzten?
Obwohl sie so müde gewesen war, wollte der Schlaf nicht zu ihr kommen. Das Kopfkissen drückte unangenehm hart, die Bettdecke war zu heiß, Therese hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Nachdem sie das Fenster geöffnet hatte, fröstelte es sie. Was, wenn sie wieder vom Sterben träumen würde?
Irgendwann hatte Therese genug. Sie zog sich ihren Morgenmantel über, ging ins Wohnzimmer hinunter und schaltete den Fernseher ein. Schöne Frauen in eleganter Abendgarderobe, Herren im Smoking, eloquente Reden und bunte Filmchen auf einer Großleinwand im Hintergrund – »Verleihung des Deutschen Werbepreises« stand in goldenen Buchstaben auf einem großen Banner. Was spätnachts im Fernsehen alles gezeigt wird, wunderte sich Therese und wollte schon weiterzappen, als sie wie gebannt innehielt. Die Frau mit den langen braunen Haaren und den weiblichen Rundungen, der man gerade eine goldene Trophäe überreichte, kam ihr irgendwie bekannt vor. Die braunen Augen, die etwas zu breite Nase …
Therese rutschte auf dem Sofa nach vorn, um besser sehen zu können. Woher kannte sie die Frau? War das eine Schauspielerin? Ein früherer Gast? Höchst unwahrscheinlich. Und dennoch … Das Gefühl von Vertrautheit blieb. Dieser forsche Blick, so eigenständig, so souverän. Als würde die Frau sagen: »Egal was kommt, ich biete der Welt die Stirn.« Auf einmal tauchte vor Thereses innerem Auge ein kleines Mädchen auf, wie ein Geist aus einer früheren Zeit. Es hatte dieselbe Ausstrahlung gehabt, und sie, Therese, hatte die sehr viel Jüngere darum beneidet. Konnte es wirklich sein … Gewiss war das nur eine Verwechslung. Sie war müde, da kam man auf solch verrückte Gedanken. Und überhaupt, das alles lag so lange zurück, da konnte sie doch gar keine Ähnlichkeiten feststellen. Dennoch drehte Therese die Lautstärke hoch. Bestimmt würden die Moderatoren gleich sagen, um wen es sich bei der Frau handelte.
Doch statt Namen zu nennen, wurde ein Film, genauer gesagt eine Werbekampagne, gezeigt. Lippenstifte, Wimperntusche, Frauen in Pettycoats, die zu lauter Musik wild tanzten – all das flackerte über die Bühnenleinwand. Therese wurden die Zusammenhänge nicht klar. Das Publikum jedoch schien diese Kampagne für eine neue Kosmetikserie nicht nur zu kennen, sondern zu lieben, denn immer, wenn die Kamera in den Saal schwenkte, sah man begeisterte Gesichter. Bist halt nicht auf der Höhe der Zeit, verspottete Therese sich im Stillen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich zuletzt einen Lippenstift gekauft hatte.
»… Greta Roth von der Werbeagentur Simon & Fischli!«
Therese verschlug es den Atem. Da war ihre Ahnung doch richtig gewesen! Die schöne erfolgreiche Frau, zu deren Ehren heftiger Applaus aufbrandete, war ihre Cousine!
Wie weggeblasen war Thereses Müdigkeit, konzentriert hörte sie Greta Roths Rede zu, in der diese darauf hinwies, dass ihr Verdienst auch der ihrer Kollegen sei.
Therese konnte es immer noch nicht fassen. So viele Jahre hatten sie sich nicht gesehen, und trotzdem hatte sie die Cousine wiedererkannt, war das die Möglichkeit? Dabei war es Ewigkeiten her, dass Greta ein paar Sommer in Maierhofen verbracht hatte …
»Morgen kommen deine Tante Elli und deine Cousine Greta zu Besuch«, hatte ihre Mutter eines Tages zu ihr gesagt. Die Sommerferien hatten gerade begonnen, daran konnte Therese sich gut erinnern. Zehn oder elf war sie damals gewesen. Sie solle sich um die Jüngere kümmern, wies ihre Mutter sie an. Und fügte hinzu, dass Tante Elli ein wenig Ruhe und Erholung dringend nötig hätte. Dabei hatte sie den Mund verzogen, so, als könne sie gut auf die Extraarbeit, die Elli und Greta ihr bereiten würden, verzichten.
Sie hatte eine Cousine? Und eine Tante noch dazu? Aber … Warum wusste sie davon nichts? Warum lebten die nicht in Maierhofen, so wie sie auch? Wie alt war die Cousine und überhaupt – war sie nett?
Doch ihre Mutter hatte keine Zeit für Kinderfragen gehabt, sondern war wortlos wieder an ihre Arbeit zurückgeeilt. Und so war Therese nichts anderes übrig geblieben, als einfach abzuwarten, was auf sie zukam.
Gedankenverloren schaute Therese auf den Fernseher, wo die erwachsene Greta jetzt mit einem Siegerlächeln und geradem Rücken von der Bühne ging.
Es hatte nicht lange gedauert, bis sie, das zehnjährige Dorfmädchen, und Greta, das sechsjährige, aufgedrehte Kind aus der Stadt, sich nähergekommen waren. Dass ihre beiden Mütter so gut wie keine Zeit für sie hatten, war die erste Gemeinsamkeit, die sie fanden.
Während Thereses Mutter zusammen mit dem Vater von früh bis spät im Gasthaus zu tun hatte, war Tante Elli vor elf am Morgen nie aus dem Bett gekommen. Zu dieser Zeit hatte Thereses Mutter schon missmutig Mittagessen für die Gäste der Goldenen Rose gekocht. Statt ihre Hilfe anzubieten, hatte sich Elli mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette zum Frühstück hinaus in den Biergarten verzogen. Den Rest des Tages hatte sie in Zeitschriften geblättert oder sich in einem klapprigen Liegestuhl gesonnt, den Thereses Vater für sie aus den Tiefen des Kellers gekramt hatte. So viel Müßiggang war den Dorfbewohnern sauer aufgestoßen, mehr als einmal hatte Therese mitbekommen, dass die Leute mit dem Finger auf Gretas Mutter zeigten und über sie tuschelten. Auch sie fand die Untätigkeit der Tante ein wenig seltsam. Hätte Tante Elli nicht wenigstens hin und wieder mit ihrer Tochter spielen können? Aber da ihre eigene Mutter ebenfalls nie Zeit für sie hatte, dachte sie über diese Frage nicht lange nach. Ein wenig aus Mitleid, aber auch, weil es der Wunsch ihrer Mutter war, nahm Therese die Cousine also mit ins Baumhaus, an den Weiher und hinaus zu den Kartoffeläckern, wo sie gemeinsam mit den Buben Frühkartoffeln stibitzten und diese dann über einem offenen Feuer grillten. Beide hatten sie sich die Münder verbrannt, beide hatten sie sich darüber halb totgelacht. Dass das Stadtkind für jede Schandtat zu haben war, hatte Therese und ihre Clique beeindruckt. Und Greta schien den Zusammenhalt zwischen den Dorfkindern sehr zu genießen, so etwas kannte sie aus der Stadt nicht.
Während die Kirschen heranreiften, reifte auch die Freundschaft der Mädchen. »Für immer und ewig!«, hatten sie sich geschworen. Doch dann – der August war schon in den September übergegangen – waren Tante Elli und Greta wieder abgereist. Anfangs hatten die Mädchen sich noch fleißig Briefe geschrieben, doch bald war ihr jeweiliger Alltag wieder wichtiger geworden, und den Winter über verloren die Cousinen den Kontakt.
Wie viele Sommer war das so gegangen?, fragte sich Therese, während sie sich eine Decke über die Beine legte. Drei, vier Sommer lang mindestens! Jedes Jahr im August hatten die Cousinen übergangslos da anknüpfen können, wo sie im Jahr zuvor aufgehört hatten. Doch dann hatte Tante Elli Manfred kennengelernt. Geheiratet hatten die beiden zwar nie, trotzdem hatte Greta »Papa« zu ihm gesagt. Ganz aufgeregt hatte sie Therese geschrieben, dass der neue Papa einen Wohnwagen besaß und sie damit nach Spanien reisen wollten. Aber im nächsten Sommer würde sie wieder nach Maierhofen kommen, ganz bestimmt! Doch im Sommer darauf war Frankreich mit dem Wohnwagen angesagt gewesen und im Jahr danach wieder etwas anderes.
Und so kam es, dass Greta und sie sich aus den Augen verloren hatten. Aber warum hatte sie später, als sie älter war, keinen Versuch unternommen, Gretas Adresse herauszufinden? Und umgekehrt – warum hatte auch Greta nie versucht, den Kontakt wiederherzustellen?, fragte sich Therese stirnrunzelnd. Sie hatte doch sonst keine Verwandtschaft, da wäre es schön gewesen, wenigstens eine Cousine zu haben, mit der man ab und an telefonieren konnte.
Und nun war Greta eine erfolgreiche Werbefachfrau, wer hätte das gedacht … Hätte sie nicht zufällig gerade jetzt den Fernseher eingeschaltet und hätte sie nicht zufällig dieses Programm gewählt, wäre ihr die Cousine ganz bestimmt nicht wieder in den Sinn gekommen.
Ein Zufall. Oder mehr?
Plötzlich surrte es in Thereses Kopf – eine Idee, so aufdringlich wie eine hungrige Wespe. Ihr wurde schwindlig, sodass sie sich mit einer Hand am Sofatisch festhalten musste. Vielleicht konnte ja Greta irgendetwas für Maierhofen tun? Jemand, der so erfolgreich und erfahren war wie Greta, hatte bestimmt einen ganz anderen Blick auf Maierhofen als sie alle. »Den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen«, so sagte man doch. Ein frischer Blick von außen hingegen war vielleicht die Chance, dass das Dorf wieder den Anschluss an die Zukunft fand. Womöglich konnte man eine Werbekampagne starten, mit der man junge Familien anlockte? Kinder, die auf dem Land aufwuchsen, wohlbehütet, naturnah, friedlich … Sie würden wieder eine zweite Kindergartengruppe aufmachen können, und die jungen Mütter würden sich zum Frühstück in Magdalenas Café treffen … Wovon träumst du hier eigentlich, verspottete sich Therese im nächsten Moment. Ohne Arbeitsplätze würde sie niemanden hierherlocken können. Aber deshalb gleich den Gedanken aufgeben? Vielleicht … gab es eine Chance für ihr Dorf, vom Tourismuskuchen eine Scheibe abzubekommen? Vielleicht kam eine ausgebuffte Werbefrau wie Greta auch auf eine gänzlich andere Idee? Imagekampagne nannte man so etwas doch. Die Tourismusgemeinden eine Autostunde entfernt gönnten sich das ständig, warum sollte es also nicht auch für ihr Dorf möglich sein? Nur, weil bisher niemand daran gedacht hatte?
Therese spürte, wie ihr vor Aufregung ganz warm wurde. Eine Zukunft für Maierhofen! Wenn es Greta gelänge, den Menschen diese Hoffnung wiederzugeben, wenn sie keine Angst mehr haben müssten, dass auch noch die letzten jungen Leute davonliefen, wenn eine fleißige Kartoffelbäuerin von ihrer Arbeit wieder redlich leben konnte – dann war es letztlich egal, ob sie selbst den verdammten Krebs überlebte oder nicht.
Thereses Herz schlug so heftig, dass sie es bis hinauf an den Hals spürte. Jetzt beruhige dich wieder, ermahnte sie sich stumm. Warum sollte eine so erfolgreiche Werbefrau sich ausgerechnet um Maierhofen kümmern wollen? Bestimmt konnte sich Greta vor Aufträgen nicht retten. Eine wie sie gehörte zu den Topleuten ihrer Branche, sie nahm gewiss nicht mehr jeden Auftrag an! Und selbst wenn – wie sollte solch eine Imagekampagne bezahlt werden? Aus der klammen Gemeindekasse etwa? Am besten schlug sie sich solche Fantasien gleich wieder aus dem Kopf. Doch das aufgeregte Surren hinter ihrer Stirn blieb.
Die Cousine wiedersehen, wie schön wäre das! Und dazu noch eine Werbekampagne für Maierhofen – das konnte die Chance auf eine gesicherte Zukunft sein. Ein Traum …
Therese schnaubte unmutig. Hatte sie nichts anderes zu tun, als zu träumen? Ein Traum wurde nicht von sich aus einfach zur Wirklichkeit, dafür musste man etwas tun! Doch für so etwas hatte sie nicht die geringste Zeit, es gab zu viele andere Dinge, die keinen Aufschub mehr erlaubten. Ihre Ärztin wartete auf ihren Rückruf, sie wollte den Termin für die letzten Voruntersuchungen endlich von Therese bestätigt haben. Außerdem hatte sie zwei Kliniken für die Behandlung vorgeschlagen, Therese sollte sich für eine davon entscheiden. Und als ob das nicht genug wäre, musste sie sich dringend überlegen, was während ihrer Abwesenheit mit der Goldenen Rose geschehen sollte. Sam konnte sich unmöglich gleichzeitig um Küche und Schankraum kümmern. Durfte sie ihre Freundin Christine um Hilfe bitten oder wäre das zu viel verlangt?
Es wurde schon langsam hell, als Therese nachdenklich die Treppe hinaufging, um sich für den Tag fertig zu machen. Doch sosehr sie sich auch mühte – der Gedanke an ihre Cousine Greta und eine Imagekampagne für Maierhofen wollte sie nicht mehr loslassen.
Obwohl sie eine Frühaufsteherin war, kam Christine an diesem Morgen nicht aus dem Bett. Schuld waren die heruntergelassenen Rollläden in ihrem Schlafzimmer.
»Wenn du gehst, zieh bitte die Rollläden nach oben, im Dunkeln komme ich nicht zu mir«, flüsterte sie ihrem Mann Herbert jeden Morgen schlaftrunken zu. Acht von zehn Mal tat er ihr den Gefallen, an den beiden anderen Tagen war es eine endlose Quälerei für sie, bis sie endlich die Beine über die Bettkante schwingen konnte.
Warum fiel es Herbert so schwer, ihr morgens diesen kleinen Liebesdienst zu erfüllen? War es Gedankenlosigkeit? Hörte er ihr nicht zu?, fragte sie sich, während sie krampfhaft versuchte, die Augen zu öffnen.
»Du und deine Marotten!«, ertönte aus dem Off die Stimme von Steffi. Steffi war ihre älteste Tochter, die seit zwei Jahren in Hamburg Betriebswirtschaft studierte. Auch ihre jüngere Tochter Sibylle studierte, und zwar an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften. Dass Christine bis zum heutigen Tag nicht genau wusste, was Sibylle dort machte, war symptomatisch für die Beziehung zu ihren Töchtern. Natürlich liebte sie beide abgöttisch und war unglaublich stolz auf sie, gleichzeitig waren sie ihr jedoch ein wenig unheimlich.
»Mama, ich bitte dich, ich kann doch nicht auf irgendeine Kleinstadt-Uni gehen, wo sich Hackl und Packl die Hand reichen«, war Steffis Antwort gewesen, als Christine nach dem Gymnasium vorgeschlagen hatte, eine Universität näher am Wohnort zu suchen.
»Kommt es nicht in erster Linie darauf an, dass du etwas lernst und die Prüfungen bestehst?«, hatte Christine wissen wollen. Bei einem näher gelegenen Studienplatz hätte man sich öfter sonntagnachmittags bei Kaffee und Kuchen sehen können.
»Ach Mama …«, hatte Steffi erwidert, und es hatte so viel Resignation und Geringschätzung in ihrer Stimme gelegen, dass Christine nicht weiter nachgefragt hatte. Was wusste sie schon?
»Mama, das ist alles viel zu kompliziert für dich«, bekam sie von Sibylle zur Antwort, wenn sie nach den angewandten Wissenschaften fragte. Zugegeben, sie hatte zwar nur die Mittlere Reife, aber mussten ihre Töchter deswegen so tun, als sei sie auf den Kopf gefallen? Auch wenn Christine es kaum wagte, den Gedanken zu denken, geschweige denn, ihn laut auszusprechen – in ihrem tiefsten Innern war sie froh, die beiden Töchter glücklich und zufrieden an ihren jeweiligen Hochschulen zu wissen. Und man sah sich ja an Weihnachten und anderen Feiertagen, das war doch auch etwas.
Apropos Feiertage … Sie musste dringend zum Metzger, den Braten fürs kommende Pfingstwochenende bestellen. Herbert erwartete an Festtagen selbstverständlich ein Festessen.
Christine war gerade dabei, sich endlich im Bett aufzurichten, als das Telefon auf ihrem Nachttischchen klingelte.
»Christine?«
»Therese, bist du das?«
»Ja, ich bin’s. Sag mal, kannst du nachher bitte kurz vorbeikommen? Es gibt etwas, was ich dir erzählen muss.«
Christine runzelte die Stirn. Normalerweise besuchte sie ihre beste Freundin immer freitagmorgens. Dann erzählten sie sich bei einer Tasse Kaffee und zwei Hefeschnecken, die Christine zuvor in der Bäckerei gekauft hatte, von ihrer Woche. Und Therese berichtete, welche Feierlichkeiten am Wochenende bei ihr stattfinden würden.
»In Ordnung, ich komme, ich muss nachher eh zum Metzger.«
Etwas verwundert über Thereses Anruf stand sie auf. Sofort klopften zwei Hunderuten rhythmisch auf den Parkettboden. Jack und Joe, zwei korpulente braune Labradorrüden, schauten Christine aus warmen braunen Augen an. Beide waren acht Jahre alt, beide waren Hinterlassenschaften ihrer Töchter, die im Alter von zwölf und vierzehn Jahren kein Pferd hatten haben wollen, sondern einen Hund. »Und wer kümmert sich nun um die beiden?«, hatte Christine ihre Töchter gefragt, als diese ihre Koffer fürs Studium packten.
»Na, du natürlich!«, hatte sie mit großer Selbstverständlichkeit zur Antwort bekommen. Dass sie nie einen Hund hatte haben wollen, interessierte die Mädchen nicht.
Nachdem Christine die Hunde in den Garten gelassen hatte, ging sie ins Bad. Zähneputzen, eine schnelle Dusche, die kurzen Haare kämmen, und fertig war sie für den Tag. »Mama, du bist die einzige Frau, die ich kenne, die kein Make-up trägt. Warum nimmst du nicht wenigstens etwas Wimperntusche und ein bisschen Lippenstift?«, musste sie sich dafür von Sibylle anhören. Make-up wozu?, fragte sich Christine. Herbert nahm sie schon lange nicht mehr wahr, und wenn sie eine Runde durchs Dorf drehte, schaute auch niemand nach, ob sie einen Lidstrich trug.
Jeans und ein schwarzer Rollkragenpullover vom Vortag lagen schon bereit. Damit sie nicht ganz farblos daherkam, band sich Christine ein buntes Seidentuch um. Schöne Seidentücher zu sammeln war eine ihrer Leidenschaften.
In einem Monat wurde sie achtundvierzig Jahre alt, ging es Christine durch den Kopf, als sie ihrem Spiegelbild einen letzten Blick zuwarf. Galt das heutzutage nun als alt oder als noch einigermaßen jung? Es gab Tage, an denen sie sich fühlte wie eine Achtzehnjährige. Und es gab Tage, an denen sie sich eher wie achtundachtzig fühlte. Christine war sich noch nicht sicher, zu welcher Sorte der heutige Tag gehören würde.
Sie ging die Treppe hinab in die Küche, wo sie Herberts Frühstücksteller und Tasse in die Spülmaschine räumte. Die Kaffeemaschine bereitete sie stets am Vorabend vor, sodass er nur den Ein-Knopf drücken musste. Mit einem Becher Kaffee trat sie in den Garten, wo die Hunde am Zaun standen und sehnsuchtsvoll in die Ferne schauten.
Leise lächelnd ließ sich Christine auf der hölzernen Bank, die mit dem Rücken an der Hauswand stand, nieder. Ganz gleich, welche Witterung es war, ganz gleich, ob Minusgrade herrschten oder hochsommerliche Schwüle – sie liebte es, die erste Tasse Kaffee des Tages in ihrem Garten zu genießen. Und wenn sie hundert Jahre alt wurde – sie würde nie des Blickes überdrüssig werden, der sich ihr von diesem Sitzplatz aus bot.
Ihr Haus lag am Ortsrand von Maierhofen, inmitten sanft geschwungener Hügel und Felder. Hier und da stand vereinzelt eine Silberweide oder eine Birke, es gab ein paar Kuhweiden und Trockenwiesen. Im Frühsommer blühten dort wilde Orchideen, und vom Duft des wilden Fenchel und Thymian wurde einem ganz schwindlig.
Der Frühsommer – besser gesagt, die Zeit um den Johannistag herum – war für Christine die schönste Zeit des Jahres. Aber schon jetzt, Mitte Mai, war die Natur zu vollem Leben erwacht. Christine kannte die Stellen, wo die wilden Maiglöckchen blühten. Und sie wusste, dass das hintere Ufer des Windegg-Weihers übersät war mit den lilafarbenen, sich im Wind neigenden Blüten der Kiebitzei. In Christines Garten blühten die letzten Tulpen, der Flieder verströmte seinen unnachahmlichen Duft, und die Rosen bereiteten sich auf ihre große Zeit vor. So viel Arbeit der Garten auch machte, so viel Freude brachte er ihr auch. Und nicht nur ihr – selbst Herbert und die Mädchen gaben zu, dass es in ganz Maierhofen kaum einen schöneren Garten gab als ihren.
Der einzige Wermutstropfen – wenn man von solch einem überhaupt reden konnte – war die Tatsache, dass man von hier aus die Alpen nicht sehen konnte, dies war nur vor dem Haus möglich. Dafür grenzte an den hinteren Teil des Gartens fast unmittelbar der Windegg-Weiher. Das Geschnatter der wilden Gänse, die schon seit vielen Jahren am Weiher überwinterten statt den weiten und gefährlichen Weg nach Afrika anzutreten, zauberte Christine ebenso ein Lächeln aufs Gesicht wie das Froschkonzert, das jedes Jahr spätestens ab Mai vom Weiher zu ihnen herüberdrang.
Die Hunde kamen angerannt, gemeinsam trugen sie einen großen Stock, den sie vor Christines Füßen fallen ließen. Sie tat ihnen den Gefallen und warf den Stock so weit sie konnte. Beide Hunde sprangen freudig hinterher.
Christine nahm noch einen Schluck Kaffee. Die Prise Zimt, die sie dem Kaffeepulver hinzugefügt hatte, verlieh dem Ganzen in der noch frischen Morgenluft eine warme Note.
Ja, es war ein großer Luxus, diese Zeit für sich zu haben, anstatt wie andere zur Arbeit hetzen zu müssen. »Aber Mama, dass eine Frau nur zu Hause herumhängt und Däumchen dreht, ist einfach nicht mehr zeitgemäß«, meinten hingegen ihre Töchter. Christine musste sich jedes Mal schwer beherrschen, um nicht in die Luft zu gehen, wenn die beiden so daherredeten. Natürlich war es gut und wichtig, dass Frauen ihr eigenes Geld verdienten! Nur – wann, wo und wie hätte sie das tun sollen? Nach dem Morgenkaffee drehte sie eine große Runde mit den Hunden, manchmal querfeldein, manchmal hinein ins Dorf, wenn sie dort Dinge zu erledigen hatte. Am späten Vormittag bereitete sie das Mittagessen zu – Herbert kam jeden Tag pünktlich um zwölf Uhr dreißig vom Autohaus heim und erwartete eine warme Mahlzeit. Und bitte keine Dose Ravioli oder eine Fertigpizza, die man einfach in den Ofen schob. Sondern ein mit Liebe gekochtes Mahl, Christine hatte ja schließlich außer dem Haushalt und der Versorgung der Hunde nichts zu tun. Sie kochte gern für Herbert, und während ihres gemeinsamen Mittagessens hörte sich Christine auch gern an, was er über den Vormittag im Autohaus zu erzählen hatte. Seine Kunden kamen nicht nur aus Maierhofen, sondern auch aus den umliegenden Dörfern und manch einer sogar aus der Stadt. Die Toyota-Geländewagen, die er verkaufte, hatten sich in den Allgäuer Wintern bestens bewährt, dementsprechend gefragt waren sie. Die Werkstatt vom Autohaus Heinrich hatte ebenfalls einen guten Ruf, sodass es Herbert an Kunden nie mangelte. Wenn er bei Gulasch und Nudeln erzählte, dass der Inhaber der Ölmühle, die ein paar Kilometer von Maierhofen entfernt lag, zum dritten Mal in diesem Jahr seinen Wagen beim Einparken verkratzt hatte oder dass die Frau vom Brauereibesitzer partout auf Knallrot als Farbe für ihr neues Auto bestand, hatte Christine das Gefühl, wenigstens ein bisschen an Herberts Geschäft teilhaben zu können.
Am Nachmittag, bevor die zweite Runde mit den Hunden anstand, musste sie sich um den Haushalt und den Garten kümmern. Und dann die Brotzeit für den Abend vorbereiten. Zugegeben, wenn es hart auf hart kam, würde sie schon ein paar Stunden aushäusig arbeiten können, aber die Frage stellte sich nicht. 450-Euro-Jobs gab es in Maierhofen nicht, hier erledigte jeder seine Arbeit selbst. Und selbst wenn beim Bäcker oder Metzger eine solche Stelle ausgeschrieben wäre, würde Christine sie nicht in Erwägung ziehen. Am Ende dachten die Leute noch, sie kämen mit ihrem Geld nicht aus.
Herberts Buchhaltung – die hätte sie gern erledigt! Mit Zahlen war sie schon immer gut gewesen, und die Zusammenstellung der monatlichen Bilanzen sowie die Lohnbuchhaltung traute sie sich mit ein bisschen Einarbeitung zu. Aber ihr Mann gab lieber alles außer Haus und zahlte den Steuerberater dafür. Wenn es ums Geschäft ging, war Herbert ein wenig eigenbrötlerisch. Früher hatte es sie verletzt, dass er sie dabei so außen vor ließ, aber dann hatte sie sich gesagt, dass sie es doch eigentlich schön hatte. Wer hatte schon so viel Zeit für sich und seine Hobbys wie sie? Und dass Herbert und sie jeden Tag gemeinsam zu Mittag essen konnten, war auch ein Ritual, das sich kaum jemand leisten konnte.
Alles in allem war Christine zufrieden mit ihrem Leben. Zudem gefiel es ihr in Maierhofen. Hier konnte sie Brot, Eier, Wurst und Fleisch einkaufen, sie konnte etwas zur Post bringen, und bei Elfie Scholz gab es nette Kleinigkeiten, wenn sie mal ein Geschenk brauchte. Die großen Einkäufe erledigte sie einmal wöchentlich in einem Supermarkt in der Stadt, dorthin ging sie auch, um nach schönen Stoffen und Wolle für ihre Handarbeiten zu suchen. Und dann gab es ja auch noch das Internet. Sie lebte zwar auf dem Land, aber war bestens mit allem versorgt, auch wenn ihre Töchter das nicht glauben konnten! Mit der Vorstellung, dass ihr Leben für lange Zeit genau gleich verlaufen würde wie jetzt, konnte sie sehr gut leben. Solange es nicht noch gleicher wurde.
Christine trank einen letzten Schluck Kaffee, dann ging sie zurück ins Haus, wo sie Hundeleine, Einkaufskorb und Geldbeutel zusammensuchte. Anschließend betrat sie die Speisekammer, nahm ein Weckglas aus dem Regal und legte es in ihren Korb. Draußen rief sie die Hunde zu sich, die sogleich angerannt kamen. Endlich, der Morgenspaziergang!
Die Freude der beiden bekam jedoch wenige Meter nach dem Gartentor einen Dämpfer, als Christine nämlich nicht den Weg in Richtung Weiher wählte, sondern nach rechts in die Straße abbog, die ins Dorf führte. Bei diesem Spaziergang wurden beide Hunde angeleint. Andererseits gab es entlang der Hauptstraße etliche Kumpels zu begrüßen und Duftnoten zu erforschen.
Das erste Haus, an dem sie vorbeikam, war das von Luise Stetter. Wie jeden Morgen wechselte sie mit der alten Frau ein paar Worte, die, die Arme auf ein Kissen gestützt, aus dem Fenster schaute und darauf wartete, dass eine der Maierhofener Frauen ihr Essen brachte und diverse Tätigkeiten für sie verrichtete. Einen professionellen Pflegedienst gab es in Maierhofen nicht, also gingen Christine und ein paar andere Frauen der Witwe zur Hand, indem sie für sie Staub saugten oder bügelten. Es hieß, die Stetterin habe ein schwaches Herz, doch Christine war schon vor einiger Zeit zu der Überzeugung gelangt, dass die Frau zu jenen Kranken gehörte, bei denen eigentlich das meiste in Ordnung war. Luise Stetter gefiel es einfach, wenn sich alle um sie kümmerten. Und statt selbst einmal über ihre Böden zu wischen, nahm sie lieber an zwei Dutzend Preisrätseln teil – pro Woche. Lotto spielen und im Fernsehen Quizshows ansehen zählte ebenfalls zu ihren Leidenschaften – viel mehr, als sich um ihren Haushalt zu kümmern. Doch Christine wollte nicht diejenige sein, die solche unangenehmen Wahrheiten aussprach und damit einen Streit vom Zaun brach. Und so kochte sie einfach, wenn sie an der Reihe war, eine Portion Gulasch mehr mit und brachte sie der alten Frau.
Bald darauf gelangte Christine auf ihrem Weg ins Dorf bei dem Haus von Jessy an, die wunderbare Liköre und Essenzen aus Holunder- und Lavendelblüten herstellte. Im Erdgeschoss war ein Fenster einen Spaltbreit geöffnet, und schon am frühen Morgen drang ein Duft, ähnlich dem beim Marmeladekochen, auf die Straße. Es roch nach geschmolzenem Zucker, nach Vanille und etwas blumig Frischem. Was bei Jessy heute wohl im Kessel brodelte? Einen Moment lang erwog Christine, ob sie klopfen und bei ihrer jungen Freundin vorbeischauen sollte. Dank ihrer gemeinsamen Leidenschaft für die verschiedenen Wildkräuter, die rund um Maierhofen wuchsen, ging ihnen der Gesprächsstoff nie aus, und es kam öfter vor, dass eine der Frauen bei der anderen auf eine Tasse Kräutertee vorbeischaute. Für Christine war diese Freundschaft dennoch ein wenig belastet, denn sie war auch mit Jessys Mutter Magdalena, der Bäckerin, befreundet.
Auf Wunsch ihrer Eltern hatte Jessy das Bäckerhandwerk gelernt und war danach in den elterlichen Betrieb eingestiegen, ganz so, wie es sich für eine brave Tochter gehörte. Nur ein Jahr später war ihr Vater gestorben. Ein Herzinfarkt, morgens um vier beim Herstellen des Brezelteigs, hatte es ihn erwischt. Viel Zeit zu trauern hatten Mutter und Tochter nicht gehabt, die Maierhofener brauchten schließlich ihr tägliches Brot. Patent, wie sie war, hatte Magdalena das Regime übernommen, was bedeutete, dass sie alles so weiterführte, wie ihr verstorbener Mann es jahrein, jahraus getan hatte. Jessy hingegen hatte darauf gebrannt, eigene Ideen einzubringen, Dinge neu zu gestalten, zu verändern. Doch sie hatte die Rechnung ohne ihre Mutter gemacht. Ganz gleich, ob es eine neue Torte war, die sie ins Sortiment aufnehmen wollte, oder ob sie einen neuen Farbanstrich fürs Café vorschlug – ihre Mutter blockte jeden Vorschlag ab. Die Bäckerei war das Erbe vom Vater, wie konnte Jessy es wagen, daran zu rütteln?