Süße Tage, bittere Stunden - Petra Durst-Benning - E-Book

Süße Tage, bittere Stunden E-Book

Petra Durst-Benning

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Beschreibung

Dramatisch, packend, süffig erzählt – Meisterköchin Fabienne erlebt noch einmal alle Höhen und Tiefen des Lebens!

Südfrankreich, 1901. Ein Leben lang hat Fabienne von einem eigenen Restaurant geträumt. Nun wird dieser Traum endlich Wirklichkeit: In Gruissan, dem romantischen Ort am Mittelmeer, eröffnet sie direkt am Marktplatz ihr Restaurant. Schon bald kommen die Gäste von weit her, und Fabienne genießt den Erfolg. In dieser glücklichen Zeit scheint sich auch eine weitere Sehnsucht zu erfüllen – ihr geliebter Sohn, der ihr als Baby geraubt wurde, steht plötzlich vor der Tür. Doch das Wiedersehen verläuft völlig anders als erhofft, der junge Mann ist von bitterem Hass auf die unbekannte Mutter erfüllt. Seine Ablehnung stürzt Fabienne in eine tiefe Krise. Erst als es fast zu einer Katastrophe kommt, begreift sie, was wirklich zählt …

Auf keinen Fall verpassen – nach »Große Träume, kleine Siege« und »Alte Hoffnung, neue Wege« nun das fulminante Finale der »Köchin«-Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Petra Durst-Benning!

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Seitenzahl: 635

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Buch

Südfrankreich, 1901. Ein Leben lang hat Fabienne von einem eigenen Restaurant geträumt. Nun wird dieser Traum endlich Wirklichkeit: In Gruissan, dem romantischen Ort am Mittelmeer, eröffnet sie direkt am Marktplatz ihr Restaurant. Schon bald kommen die Gäste von weit her, und Fabienne genießt den Erfolg. In dieser glücklichen Zeit scheint sich auch eine weitere Sehnsucht zu erfüllen – ihr geliebter Sohn, der ihr als Baby geraubt wurde, steht plötzlich vor der Tür. Doch das Wiedersehen verläuft völlig anders als erhofft, der junge Mann ist von bitterem Hass auf die unbekannte Mutter erfüllt. Seine Ablehnung stürzt Fabienne in eine tiefe Krise. Erst als es fast zu einer Katastrophe kommt, begreift sie, was wirklich zählt …

Autorin

Petra Durst-Benning wurde 1965 in Baden-Württemberg geboren. Seit über fünfundzwanzig Jahren schreibt sie historische und zeitgenössische Romane. Fast all ihre Bücher sind SPIEGEL-Bestseller und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. In Amerika ist Petra Durst-Benning ebenfalls eine gefeierte Bestsellerautorin. Sie lebt und schreibt im Süden Deutschlands, Frankreich war viele Jahre lang ihre zweite Heimat.

Von Petra Durst-Benning bereits erschienen

Alte Hoffnung, neue Wege – Die KöchinGroße Träume, kleine Siege – Die Köchin (als Hardcover unter dem Titel »Die Köchin – Lebe deinen Traum« erschienen)Die Fotografin – Am Anfang des WegesDie Fotografin – Die Zeit der EntscheidungDie Fotografin – Die Welt von morgenDie Fotografin – Die Stunde der SehnsuchtDie Fotografin – Das Ende der StilleKräuter der ProvinzDas WeihnachtsdorfDie BlütensammlerinSpätsommerliebe

Petra Durst-Benning

SüßeTage, bittereStunden

DIE KÖCHIN

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Gisela Klemt

Umschlaggestaltung und -motive: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (William Carlier, Kathy, Ldgfr Photos, pornsawan, Xalanx, Victoria Novak) und Abigail Miles / Arcangel Images

BSt · Herstellung: DiMo

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28341-4V003

www.blanvalet.de

Mit einem Buch ist es wie mit einem guten Essen – man fühlt sich danach einfach besser als vorher und schaut wieder mit mehr Zuversicht in die Welt!

Schöne Lesestunden wünscht Ihre

Petra Durst-Benning

Liebe Leserinnen und Leser,

herzlich willkommen in Südfrankreich!

Kennen Sie die ersten beiden Bände dieser Trilogie »Große Träume, kleine Siege« und »Alte Hoffnung, neue Wege«? Falls nicht, erzähle ich Ihnen kurz, was bisher geschah.

Die Geschichte begann elf Jahre zuvor im Jahr 1880. Fabienne war damals sechzehn und lebte am Canal du Midi, wo ihr Vater Schleusenwärter war. Als ihre Mutter starb, brannte die damals erst siebzehnjährige Fabienne mit ihrem damaligen Geliebten durch. Die Liebelei mit dem Bootsmann hielt nur kurz, er ließ Fabienne schwanger im Stich. Zum Glück fand sie eine Stelle als Küchenhilfe im renommierten Weingut von Chevalier Albert Morel, wo sie sich mit Stéphanie, der charismatischen Tochter des Hauses, anfreundete. Ein schwerer Schicksalsschlag setzte Fabiennes kleinem Glück ein abruptes Ende: Ihr drei Monate alter Sohn Victor wurde entführt. Bei einer aufwendigen Suchaktion fand man jedoch weder den Säugling noch Hinweise auf denjenigen, der für die Tat verantwortlich war.

Fabienne gab nie die Hoffnung auf, ihren Sohn eines Tages wiederzubekommen. Die Kraft, bis dahin weiterzuleben, schöpfte Fabienne aus ihrem großen Lebenstraum, Köchin in einem Restaurant zu werden. Denn nur wenn sie am Herd stand und frisches Gemüse zu köstlichen Speisen verarbeitete, konnte sie all ihre Sorgen vergessen.

Fabiennes Weg führte sie nach Lyon, wo sie die berühmten Mères Lyonnaises, die Mütter von Lyon, kennenlernte – Frauen, die es damals schon wagten, ein eigenes Restaurant zu führen. In Lyon lernte Fabienne auch ihren späteren Mann Yves kennen. Gemeinsam zogen sie in den Süden zurück, denn Fabienne hatte nicht nur Heimweh, sie wollte auch die Suche nach ihrem Sohn fortsetzen.

Fabiennes Traum, in einem Restaurant kochen zu dürfen, wurde zum ersten Mal im Jahr 1889 wahr und zwar im Le Miroir in Narbonne. Dort begann sie eine Affäre mit dem begnadeten Küchenchef Noé Sousa. Als ihr Mann Yves davon erfuhr, verließ er Fabienne.

Nachdem Noé Sousa einige Zeit später unter ungeklärten Umständen ums Leben kam, hielt Fabienne es nicht länger im Le Miroir aus – die vielen Erinnerungen an Noé quälten sie. Fortan arbeitete sie in einem Feinkostgeschäft und stellte bald fest, dass sie schwanger war.

Eines Abends stand ihre alte Freundin Stéphanie vor der Tür. Auch sie hatte kurz zuvor ihren Mann verloren. Die Trauer vereinte die beiden Frauen.

Stéphanie schlug einen gemeinsamen Neuanfang vor und zwar in Marseille, wo ihr ein heruntergekommenes Bistro gehörte, das ihr Mann einst beim Pokerspiel gewonnen hatte. Fabienne sagte nach kurzer Überlegung zu.

Nachdem die Frauen das Bistro renoviert hatten, erfreute es sich dank Fabiennes Kochkünsten bald eines regen Zulaufs an Gästen. Doch das allein reichte Stéphanie nicht. Sie organisierte allabendliche Tanzaufführungen, bei denen sie als Flamencotänzerin auftrat – das war schon immer ihr heimlicher Traum gewesen!

Doch das Zusatzangebot brachte eine äußerst zweifelhafte Klientel ins Bistro – trunksüchtige Matrosen, Spieler und die Marseiller Unterwelt. Fabienne betrachtete diese Entwicklung mit großer Sorge, aber sie konnte nichts dagegen machen – das Bistro gehörte schließlich allein Stéphanie.

Eines Tages tauchte wie aus dem Nichts Yves auf, der Mann, mit dem Fabienne immer noch verheiratet war. Nach dem Bruch mit Fabienne hatte er sich als Steward auf Passagierschiffen verdingt und war viel herumgekommen. Mit Fabiennes Bruder Noah stand er jedoch die ganze Zeit in Briefkontakt – und so hatte er auch vom Tod von Fabiennes Geliebten erfahren. Auch wenn ihre Ehe nur noch auf dem Papier existierte, war es Yves nun ein Bedürfnis, zu schauen, wie es Fabienne ging.

Zu ihrer beider Erstaunen näherten sich die Eheleute in Marseille vorsichtig wieder an. Dass Fabienne eine Tochter hatte, benannt nach ihrer Mutter Violaine, freute Yves. Das Bistro hingegen betrachtete er sehr skeptisch.

Eines Tages erfuhr Fabienne durch einen Brief ihres Bruders Noah, dass sich ihre Schwester Lily, zu der sie einst ein enges Verhältnis hatte, in einer schlimmen Notlage befand. Eilig packte sie ihre Sachen und reiste mit Yves und ihrer kleinen Tochter in die alte Heimat, um Lily zu helfen. Danach wollte sie wieder zurück nach Marseille, zu Stéphanie und dem gemeinsamen Bistro. Doch dann kam alles anders …

Ich wünsche Ihnen viel Freude mit Fabienne, Yves und allen andern. Schenken Sie sich ein Glas kühlen Rosé ein und genießen Sie die Reise nach Südfrankreich in vollen Zügen!

Herzlichst, Ihre Petra Durst-Benning

Je sème à tout vent – Ich säe aus in alle Winde

Ehemaliges Motto des Verlags Éditions Larousse, Paris

Kapitel 1

Marseille, Anfang Oktober 1891

Im Bistro roch es wie immer, dachte Fabienne, als sie zögerlich die Tür aufstieß. Nach Fasswein und geschmolzenem Käse, nach Zigarettenrauch und verschüttetem Armagnac. Von der Bäckerei nebenan kam der Duft von frisch gebackenem Brot dazu.

Verspürte sie Freude darüber, wieder hier zu sein?, fragte sich Fabienne. Wehmut? Oder überwog das Bauchgrummeln angesichts der nahenden Konfrontation? Noch bevor sie länger über diese Frage hätte nachdenken können, stürmte Stéphanie auf sie zu.

»Fabienne, du bist zurück! Endlich!« Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

»Bonjour, Stéphanie«, sagte Fabienne ein wenig steif.

Doch schon im nächsten Moment schlang Stéphanie ihre Arme um sie. »Ich wusste die ganze Zeit, dass du zurückkommst! Und recht hatte ich!« Ihre hektisch ausgestoßenen Worte verfingen sich in Fabiennes linkem Ohr. Zugleich stieg ihr Stéphanies nach Zigaretten riechender Atem in die Nase. »Ich habe dich so vermisst …« Sie drückte Fabienne noch fester an sich. »Ganze vier Wochen warst du nun weg – mach so was nur ja nie wieder!«

Fabiennes Inneres sträubte sich wie die Stacheln eines Igels. Fast gewaltsam löste sie sich aus Stéphanies Umarmung. »Ich bin nicht ›zurück‹! Ich will lediglich meine restlichen Sachen holen. Hast du meinen Brief denn nicht bekommen, in dem ich dir alles erklärt habe?« Stéphanie sah gut aus, dachte sie. Ihr Blick war wach, ihre Wangen rosig. Dass sie vormittags um elf Uhr überhaupt schon wach war, wunderte Fabienne ebenfalls – zu dieser Zeit schlief Stéphanie normalerweise noch.

Anstatt auf Fabiennes Frage zu antworten, zeigte Stéphanie mit großer Geste aufs Bistro. »Na, was sagst du – ist nicht alles ganz wunderbar in Schuss?«

Fabienne ließ ihren Blick schweifen. Der Boden war gefegt, die Fenster waren geputzt – sogar die Tische waren schon für den Mittagstisch gedeckt!

»Mir scheint, ihr kommt ohne mich ganz gut zurecht.«

»Hast du etwa gedacht, wir lassen während deiner Abwesenheit alles den Bach runtergehen?«, sagte Stéphanie entgeistert. »Das Bistro ist doch unser gemeinsames Kind! Für mich war es selbstverständlich, dass ich bis zu deiner Rückkehr auf alles Obacht gebe.«

»Stéphanie …«, sagte Fabienne gequält. »Ich bin wirklich nicht dauerhaft zurück! Ich bin lediglich gekommen, um –« Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment ging die Küchentür auf und Mia erschien.

»Habe ich doch richtig gehört – die liebe Fabienne!«, sagte die junge Frau, die vom Freudenhaus auf der anderen Straßenseite hierher gewechselt und Fabiennes Platz in der Küche eingenommen hatte. Mit verschränkten Armen schaute sie Fabienne feindselig an. »Dass du dich hier noch mal blicken lässt! Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was hier los war, nachdem du so einfach abgehauen bist?« Noch bevor Fabienne einen Ton sagen konnte, drehte sich Mia auf dem Absatz um und verschwand wieder in der Küche.

Wie vor den Kopf geschlagen stand Fabienne da.

Stéphanie seufzte. »So geht das schon die ganze Zeit! Anstatt dich würdig zu vertreten, jammert Mia von früh bis spät nur herum. Der Herd ist zu eigensinnig, den Teig für die Quiche bekommt sie nicht hin, und überhaupt ist alles viel zu viel Arbeit für eine Frau! ›Wenn das so ist, dann frage ich mich, wie Fabienne das lange Zeit ganz allein geschafft hat?‹, habe ich sie erst gestern gefragt.«

»Vielleicht ist Mia wirklich noch nicht so weit, um eine Küche ohne Unterstützung zu führen …«, murmelte Fabienne betroffen.

»Ach was, das junge Ding ist einfach nur faul!«

Fabienne biss sich auf die Unterlippe. Wenn Mia eines nicht war, dann faul!

»Ich schaue mal, ob ich ihr irgendwie helfen kann«, sagte sie.

»In Ordnung! Ich bin solange oben in der Wohnung, muss mir die Haare waschen«, trällerte Stéphanie. »Komm einfach hoch, wenn du mit Mia fertig bist.«

Die Küche war blitzblank, alles war an seinem alten Platz. Und allem Anschein nach war Mia am Morgen auch schon auf dem Markt gewesen, denn frisches Gemüse und ein paar Salatköpfe lagen zum Verarbeiten parat. Auf dem Herd simmerte es in mehreren Töpfen, der Duft von Fleischbrühe lag in der Luft.

Fabienne machte eine ausholende Handbewegung, die die Markteinkäufe, den Herd und Mia, die am Spülbecken stand und einen Fisch schuppte, mit einschloss. »Für mich sieht das alles sehr gut aus. Kannst du mir bitte sagen, was es mit deinem Wutausbruch vorhin auf sich hatte?«

Die junge Frau schnaubte. »Dass ich alles sauber halte und pfleglich mit den Lebensmitteln umgehe, ist ja wohl selbstverständlich. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich auch kochen kann! Seit du weg bist, merke ich erst, was ich alles nicht kann! Irgendein Gast hat immer was zu meckern, immer heißt es: ›Bei Fabienne hat es besser geschmeckt!‹ Und ständig schimpft jemand, weil es so lange dauert, bis das Essen kommt. Und dann …« Mia winkte mit einer resignierten Geste ab. »Was rede ich? Als ob dich meine Nöte noch interessieren …«

»Natürlich tun sie das!« Fabienne trat an die junge Frau heran, streichelte hilflos ihren rechten Arm. »Falls es dir ein Trost ist – mir ging es am Anfang genau wie dir, aber das wird besser.«

Doch Mia schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht du, Fabienne, ich schaff das nicht! Als du hier angefangen hast, hattest du schon viele Jahre als Köchin in Lyon gearbeitet, das hast du selbst erzählt. Ich aber habe dir lediglich ein paar Monate über die Schulter geschaut, und das reicht bei Weitem nicht aus. Stéphanie ist auch schon sauer – wenn sie mich rauswirft, muss ich zurück ins Freudenhaus und wieder die Beine breitmachen.«

»Dazu wird es nicht kommen, das verspreche ich dir!«, sagte Fabienne heftig. Schlechtes Gewissen durchflutete sie. Allem Anschein nach hatte sie Mias Fähigkeiten doch falsch eingeschätzt …

Die ehemalige Prostituierte schaute sie spöttisch an. »Du hast hier doch gar nichts mehr zu sagen, wie willst du mir da etwas versprechen? Stéphanie faselt die ganze Zeit davon, dass du hier in der Küche wieder übernimmst, aber mir war von Anfang an klar, dass du uns für immer im Stich lässt!«

Fabienne zuckte zusammen, als habe sie einen Peitschenhieb bekommen. Ein halbes Dutzend Entschuldigungen lagen ihr auf der Zunge, aber sie schluckte alle herunter. Keine wäre geeignet gewesen, Mias Sicht der Dinge zu verändern.

»Wenn du willst, schreibe ich dir ein paar Rezepte auf, vielleicht hilft das ja ein wenig weiter«, sagte sie lahm.

»Rezepte? Nun, dafür müsste ich erst mal lesen können«, erwiderte Mia sarkastisch. Sie winkte Fabienne mit beiden Händen davon. »Geh, geh einfach! Und nimm all deine tollen Versprechungen mit, sie helfen mir nämlich kein bisschen weiter!«

Schweren Schrittes stieg Fabienne die steile Treppe hinauf, die zu der Wohnung im ersten Stock führte. Als sie im September Marseille Hals über Kopf verlassen hatte, hatte sie diese Entscheidung als richtig empfunden. Noahs Brief, in dem er sie über Lilys Notlage informiert hatte, hatte ihr gar keine andere Wahl gelassen, als Lily zu Hilfe zu eilen! Hätte sie etwa aus der Ferne zuschauen sollen, wie ihre Schwester endgültig vor die Hunde ging?

Doch nach dem Gespräch mit Mia hatte sie das Gefühl, mit ihrer überstürzten Abreise einen großen Fehler begangen zu haben.

Ihr Zimmer sah aus, als wäre sie nur über Nacht weg gewesen – die Bettwäsche mit der Zierleiste war noch aufgezogen, da lag noch eine Puppe von Violaine, die wenigen Bücher, die sie besaß, standen im Regal.

Nachdem sie ihre Habseligkeiten gepackt hatte, stellte Fabienne ihren Koffer im Flur ab und trat hinaus auf den Balkon, wo Stéphanie auf einem der beiden Stühle saß und ihre Haare kämmte.

Sobald sie Fabienne sah, reichte sie ihr lächelnd den Kamm. »Magst du?«

Als sie zusammengelebt hatten, hatten sie sich öfter gegenseitig die Haare gekämmt, doch heute schüttelte Fabienne nur den Kopf. »Wir müssen reden.«

»Aber sicher doch! Bevor du mir von deiner Reise erzählst, möchte ich dir allerdings eins vorneweg sagen …« Stéphanie grinste spitzbübisch. »Seit drei Wochen gibt es nur noch zwei Flamencoabende pro Woche, und zwar freitags und samstags!«

»Das freut mich zu hören«, sagte Fabienne lächelnd. »Dass du dich allabendlich derart verausgabt hast, hat mich mit Sorge erfüllt.«

Stéphanie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß – das hast du mir oft genug gesagt, meine liebe Freundin!« Sie sprang auf. »Ich hol nur kurz eine Haarspange, bin gleich zurück.«

Freundinnen – waren sie das wirklich je gewesen? Richtige Freundinnen?, fragte sich Fabienne, während sie auf Stéphanie wartete.

Cathérine Boucher und Gisèle Ricard – beide waren Mères Lyonnaises –, das waren Freundinnen für sie gewesen! Wann immer eine von ihnen Probleme gehabt hatte, hatten die andern ihr beigestanden, jede wäre für die andere durchs Feuer gegangen.

Mit aufgesteckten Haaren erschien Stéphanie wieder auf dem Balkon. »Soll ich eine Flasche Wein für uns öffnen? Oder soll Mia uns einen Kaffee kochen?«

Fabienne schüttelte nur den Kopf. »Setz dich einfach«, sagte sie und zeigte auf den Stuhl neben sich. Dann hob sie stockend an: »Als … als ich dir den Brief schrieb, in dem stand, dass ich mich für … ein anderes Leben entschieden habe … Stéphanie, das war kein Scherz!« Wie hatte sie sich aber einbilden können, mit einem Brief ließe sich alles regeln?, dachte sie, noch während sie sprach.

»Der Brief, der Brief! Mach dir deswegen keine Gedanken, den habe ich sowieso nicht ernst genommen«, erwiderte Stéphanie in so nachsichtigem Ton, als würde sie mit einem Kind reden. »Wahrscheinlich hat deine Familie dich genötigt, ihn zu schreiben. Und dieser Yves, dein sogenannter ›Ehemann‹ – der möchte dich auch am liebsten unter seiner Knute haben. Dass du dir hier in Marseille ein selbstständiges Leben aufgebaut hast, hat ihm nicht gepasst, das habe ich gleich gemerkt! Wir beide sind nun mal selbstständige Frauen, wir brauchen keinen Mann, der uns versorgt. Und das sehen die Männer nicht gern.« Sie nahm Fabiennes Hand, drückte sie so fest, dass es Fabie wehtat. »Aber das Bistro … das ist doch dein großer Traum!«

»Das war mein Traum, ja! Und ich werde dir immer dankbar dafür sein, dass du Vertrauen in mich und meine Kochkünste hattest. Wir zwei haben das Bistro auf Vordermann gebracht, darauf dürfen wir beide stolz sein«, sagte Fabienne. »Aber die Zeit für eigene Träume ist vorbei, jetzt muss ich schauen, dass es Violaine gut geht. Und meiner Schwester …« Sie schaute die Freundin flehend an. »Meine Tochter soll an einem Ort aufwachsen, wo sie sicher ist. Auf dem Land kann sie eine unbeschwerte Kindheit haben – hier in einer Straße, in der es nachts Schlägereien gibt, wäre das unmöglich!« Unvermittelt dachte sie sehnsüchtig an die Obstfarm in den Dombes, wo ihre Liebsten auf sie warteten.

»Violaine, Violaine!« Stéphanie schnaubte. »Du hörst dich genau an wie früher mit Victor – auch da hattest du nur noch dieses Kind im Kopf. Was meinst du wohl, wie ich mich damals gefühlt habe? Nach Victors Geburt hast du mich aus deinem Leben gestrichen, als hätte es mich nie gegeben!«

»Das stimmt doch nicht! Ich bin dir heute noch dankbar für alles, was du für mich getan hast«, wiederholte Fabienne heftig. »Aber du warst die Tochter des Chevaliers und ich nur die Küchenmagd! Während ich mich krummlegte, um meine Arbeit und das Kind unter einen Hut zu bringen, warst du mit deinem Verlobten und euren Freunden unterwegs, um das Leben zu genießen. Du kannst doch jetzt nicht behaupten, dass du die Zeit lieber mit mir verbracht hättest!« Hin und wieder hatte Stéphanie sich dazu herabgelassen, ein paar Worte mit ihr, der Küchenhilfe, zu wechseln. Die meiste Zeit jedoch hatte Stéphanie sie ignoriert. Das konnte man wirklich nicht Freundschaft nennen.

Stéphanie nickte, die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammengekniffen. »Warum wundert es mich nicht, dass du das so siehst? Ich sah in dir eine Vertraute! Du warst ein wichtiger Mensch in meinem Leben. Als du dann nur noch Augen für Victor hattest, habe ich die ganze Zeit gegrübelt, was ich wohl falsch gemacht hatte. Doch dann wurde mir klar – es lag gar nicht an mir! Es lag einzig an dir, Fabienne – du hast mich völlig links liegen gelassen. Und sehe ich etwa aus wie eine Frau, die man einfach links liegen lassen sollte?« Sie schaute Fabienne so hasserfüllt an, dass diese einen Moment Angst bekam, Stéphanie würde auf sie losgehen. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach Stéphanie weiter. »Damals hast du mich das erste Mal verraten. Und jetzt wagst du es allen Ernstes, mir das noch einmal anzutun?«

»Jetzt ist’s aber genug!«, rief Fabienne. Stéphanie war ja wie von Sinnen! »Ich tu dir gar nichts an. Manchmal ändern sich eben die Lebensumstände, und dann muss man darauf reagieren. Vielleicht hätte ich meinen Weggang von hier anders planen sollen, ja. Aber die Zeit drängte nun einmal – meine Schwester Lily schwebte durch ihren gewalttätigen Ehemann in großer Gefahr! Mein Bruder und ich mussten sie da fortholen, je früher, desto besser.«

Stéphanie schaute sie anklagend und entsetzt zugleich an. »Und warum bist du nicht zurückgekommen, nachdem du deine Schwester gerettet hast? Warum jetzt dieser Umzug aufs Land? Violaine, Lily – immer schiebst du irgendjemanden als Vorwand vor. Dabei hast du in Wirklichkeit schon immer nur das getan, wonach dir gerade der Sinn stand! Damals, als du von einem Tag auf den andern Château Morel verlassen hast, hast du auch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie es mir dabei ging. Ich stand in der Tür und winkte dir hinterher – doch du hast dich nicht einmal mehr umgedreht. Du, Fabienne, bist der egoistischste Mensch, der mir jemals begegnet ist!«

Stéphanies Worte hallten noch in Fabiennes Ohren nach, als sie mit ihrem Koffer am Bahnhof von Marseille angekommen war. Stéphanie hatte allen Grund, sie zu hassen. Violaine hätte tatsächlich keinen Schaden genommen, wenn sie sich mit ihrem Weggang noch ein wenig Zeit gelassen hätte. Stattdessen hatte sie egoistisch genau das flatterhafte Verhalten an den Tag gelegt, das sie sonst immer Stéphanie vorgeworfen hatte.

Fabienne schloss die Augen, als könne sie so der eigenen Scham entrinnen.

Ein schrilles Pfeifen riss sie aus ihrer Grübelei. Mit dampfenden Rädern und umhüllt von schwarzem Qualm fuhr der Zug ein, der sie Richtung Norden bringen sollte.

Hektisch hievte Fabienne ihren Koffer die drei Stufen ins Abteil hinauf. Weg, sie wollte einfach nur weg von Marseille, wo sie so viel verbrannte Erde hinterlassen hatte.

»Dass dein Besuch in Marseille genau so verläuft, hätte ich dir sagen können«, stellte Yves fest, als sie ihm nach ihrer Rückkehr davon erzählte. Es war spätabends, Lily und die Kinder waren schon im Bett. Als Lily gefragt hatte, ob sie in Marseille eine gute Zeit verbracht habe, hatte Fabienne dies bejaht. Lily war nach ihrer Flucht von ihrem gewalttätigen Ehemann noch immer nervlich angeschlagen, da tat es nicht Not, sie mit den eigenen Sorgen zu belasten.

Fabienne trank schweigend einen Schluck Wasser. »Und nun?«, sagte sie anklagend.

»Was, und nun?« Yves lachte leise auf. »Was geschehen ist, ist geschehen! Man kann nichts im Leben rückgängig machen, auch seine Fehler nicht. Vielleicht solltest du dir einfach abgewöhnen, deine Zelte immer Hals über Kopf abzubrechen?«

»Du tust ja gerade so, als wäre ich eine völlig verantwortungslose Person«, gab Fabienne zurück. »Alles, was ich getan habe, habe ich für Violaine getan – ist das etwa verwerflich?«

Als er ihre niedergeschlagene Miene sah, drückte er in einer aufmunternden Geste ihre Hand. »Natürlich nicht. Stéphanie und Mia sind starke Frauen. Sie werden schon irgendwie zurechtkommen! Und wir müssen auch schauen, dass uns das gelingt.«

»Hast du daran etwa Zweifel?« Fabienne sah ihn stirnrunzelnd an. Noch mehr schlechte Nachrichten?

Er zuckte mit den Schultern. »Zweifel nicht, aber Respekt vor der Aufgabe, die vor uns steht. Das schaffen wir nur, wenn wir alle an einem Strang ziehen.«

»Glaubst du, das ist mir nicht bewusst?«, fragte Fabienne irritiert.

»Ich weiß es nicht, sag du es mir!« Er verstummte kurz. »So schön es hier ist – das Leben als Obstbauer auf einer so einsam gelegenen Farm ist kein Zuckerschlecken. Wir werden schuften müssen wie die Hunde! Allein das Brennholz, das wir benötigen, um gut durch den Winter zu kommen – darum hätte man sich eigentlich schon im Sommer kümmern müssen.«

»Aber hinterm Haus liegen doch riesige Berge von Holz«, sagte Fabienne verwundert. Jeden Tag seit ihrer Ankunft hatte Yves sie in den Wald geschickt, um Totholz zu holen.

Doch er winkte ab. »Das reicht vorne und hinten nicht. Außerdem muss auch noch alles in Stücke gesägt werden. Und bevor es zu regnen beginnt, in einem trockenen Unterstand geschichtet werden. Und wenn ich damit fertig bin, muss ich anfangen, die Obstbäume zu beschneiden, um sie zu verjüngen. Die kläglichen paar Früchte, die dieses Jahr an den Bäumen hingen, reichen für den Lebensunterhalt einer Familie nicht aus. Bis zum nächsten Frühjahr sollten wir auch die Mauern rund um die Obstplantagen neu setzen, damit der Wind nicht so viel von der wertvollen Erde davonträgt, und so weiter.«

»Aber das geht doch auch eins nach dem andern. Außerdem bist du ja nicht allein, Lily und ich sind von Kindesbeinen an harte Arbeit gewöhnt«, sagte Fabienne. »Um Wintervorräte in der Speisekammer anzulegen, ist es wirklich etwas spät, aber ich sorge schon dafür, dass wir nicht verhungern! Sobald es geht, kümmere ich mich auch um das vernachlässigte Gemüsebeet hinterm Haus, dann ist der Tisch spätestens im nächsten Sommer reich gedeckt.« Das Beet hatte einst Yves’ Mutter angelegt, aber inzwischen schaffte sie es nicht mehr, Unkraut zu jäten oder den Boden zu lockern, hatte die alte Frau Fabienne wehmütig erklärt. »Möhren, Tomaten, Bohnen – gleich im März werde ich die ersten Gemüsesamen aussäen, genau, wie meine Maman es früher getan hat.« Sie seufzte wohlig auf. »Ich kann es kaum erwarten …«

»Vor Mitte Mai kannst du hier in den Dombes gar nichts aussäen! Oder willst du deine jungen Pflänzchen etwa den Eisheiligen zum Fraß vorwerfen?«, sagte Yves spöttisch.

»Den Eisheiligen?«, wiederholte Fabienne. Gehört hatte sie das Wort schon einmal, aber sie wusste nicht, was es bedeutete.

»So nennt man die Tage zwischen dem zehnten und fünfzehnten Mai. Sie wurden nach irgendwelchen katholischen Heiligen benannt – mein Vater könnte dir sicher die Namen nennen. Ich weiß nur, dass alle die Eisheiligen sehr fürchten. Denn während dieser Tage ist erfahrungsgemäß leider immer noch mal Nachtfrost möglich. Und wenn das passiert, dann können wir nicht nur das Gemüsebeet vergessen, sondern auch die Obstbäume.«

»Aber … das wäre ja schrecklich!«, rief Fabienne entsetzt. »Wenn wir kein Obst verkaufen können, wovon sollen wir dann leben? Wir brauchen das Geld, um Kleidung zu kaufen oder Hustensaft oder Mehl, Zucker, Eier und vieles andere mehr!« Und sie hatte gedacht, sie könne Violaine hier eine sichere Kindheit bieten …

Yves nickte grimmig. »Außer späten Nachtfrösten gibt es noch einiges mehr, was unsere Ernte gefährden kann – gefräßige Raupen, eine Krankheit namens Mehltau, bei der die Blätter erst weiß wie Mehl werden und dann vertrocknen, oder ein Hagelsturm, der innerhalb einer halben Stunde die ganzen Früchte zerstört. Als Kind habe ich das alles erlebt! Um nicht völlig vom Obstbau abhängig zu sein, haben meine Eltern irgendwann noch die Ziegen angeschafft. Aber die gehören Gregory, nicht uns …« Er schaute Fabienne ernst an. »Als junger Bursche hatte ich auf all diese Unwägbarkeiten keine Lust. Deshalb bin ich damals weggegangen.« Yves nahm ihre Hand. »Aber diese Zeiten sind vorbei. Es geht nicht mehr allein um uns zwei. Wir müssen unsere ganze Kraft dafür einsetzen, dass es allen hier gut geht. Und trotzdem werden wir das gewisse Quentchen Glück obendrein benötigen! Was wir allerdings gar nicht gebrauchen können …«, er machte eine bedeutungsvolle Pause, »… sind sprunghafte Entscheidungen, nur weil man plötzlich auf etwas keine Lust mehr hat.«

Das hatte gesessen!, dachte Fabienne, als sie sich kurze Zeit später vor dem Frisierspiegel fürs Bett herrichtete. Yves’ Worte waren wie eine schallende Ohrfeige gewesen. Sie ließ die Haarbürste sinken, schaute sich prüfend im Spiegel an. War sie wirklich ein egoistisches, sprunghaftes Wesen?

Nachdenklich flocht sie ihre Haare zu einem Zopf und rieb dann die Haarspitzen mit etwas Olivenöl ein. Eins stand fest – sie war keine Heilige! Als sie damals mit gerade einmal siebzehn Jahren durchgebrannt war, hatte sie nicht daran gedacht, dass ihr Vater sich vielleicht um sie sorgen würde. Sie hatte sich nur von ihren Gefühlen leiten lassen, genau wie bei ihrer Affäre mit Noé …

Und dass sie Stéphanie und Mia im Stich gelassen hatte – dafür würde sie sich ewig schämen! Aber woher sollte man auch immer wissen, was richtig und was falsch war? An wem sollte sie sich denn orientieren? Die meisten Frauen ließen es zu, dass ihre Ehemänner die Entscheidungen für sie trafen, nur wenige Frauen lebten so selbstbestimmt wie sie.

Eins war ihr nach Yves’ Gardinenpredigt jedenfalls klar geworden, dachte sie, während sie ins Bett stieg. Mit der »Selbstbestimmung« war es vorbei! Ab jetzt würde sie bei jeder Entscheidung nicht nur an sich, sondern an das Wohl der ganzen Familie denken. Selbst wenn ihr morgen jemand ein verheißungsvolles Angebot als Chefköchin in Lyon machen würde – sie konnte nicht mehr einfach auf und davon! Und selbst wenn ihr das Leben auf der Farm gar nicht behagen sollte – sie würde ausharren müssen. Das war sie Yves, Violaine und allen anderen schuldig.

Kapitel 2

In den Dombes, Mai 1892

»Was für eine Blütenpracht …« Mit einem Kloß im Hals ließ Fabienne ihren Blick über die Obstbäume schweifen. Die Apfelbäume, die Birnbäume, die Kirschbäume – alle waren übersät mit Abermillionen weißen oder zartrosafarbenen Blüten. Lediglich die Pfirsichbäume hatten schon im März geblüht. »Das alles ist so schön, dass es mich fast zu Tränen rührt.« Aus dem Augenwinkel warf sie den Kindern, die auf einer Decke unter einem Apfelbaum spielten, einen Blick zu. Die Szenerie wirkte wie aus einem Gemälde.

»Mir kommt es auch wie ein Wunder vor«, sagte Lily, die neben Fabienne stand. »Früher, in der Schleusenstation, haben wir die Blütezeit gar nicht wirklich mitbekommen – Obstbäume gibt es bei uns nur wenige. Und wenn die Rebstöcke blühen, ist das eher eine unauffällige Angelegenheit. Hier jedoch …« Sie schüttelte fasziniert den Kopf. »Ich kann mich gar nicht sattsehen an dieser Pracht – als hätte der liebe Gott den Obstbäumen Brautschleier übergelegt!«

Fabienne schaute ihre Schwester, die ihre Hände wie zum Gebet gefaltet hielt, erstaunt an. So poetisch kannte sie Lily gar nicht.

»Dann hoffen wir, dass der liebe Gott auch dafür sorgt, dass die Eisheiligen nicht zuschlagen«, kam es leicht ironisch von Yves. Er war mit den Schwestern zu den Obstwiesen gegangen, um sich zu vergewissern, dass die Bienen fleißig ihre Arbeit taten und die Blüten bestäubten. Außerdem hatte er ihnen gezeigt, wie man einen Teil der Blüten mit den Fingerspitzen ausknipste. Es müsse nicht aus jeder Blüte ein Apfel oder eine Birne werden, hatte er erklärt, er wollte lieber ein paar Früchte weniger, dafür diese aber gesund und kräftig!

Es war der zehnte Mai. Ein paar Tage mussten sie also noch mit Nachtfrost rechnen. Und in der letzten Nacht war es schon empfindlich kalt gewesen … Fabienne kniff sorgenvoll ihre Brauen zusammen. Wenn die Blüten erfroren, wäre die ganze Arbeit der Wintermonate umsonst gewesen – der Gedanke war einfach nur schrecklich! Wochenlang hatten sie Bäume beschnitten, zu steil nach oben wachsende Triebe nach unten gebunden, damit sie später im Jahr mehr Früchte tragen würden. Sie hatten den Boden mit Harken gelockert, bis sie abends vor lauter Kreuzschmerzen kaum mehr ins Bett krabbeln konnten. Sie hatten Kompost in den Boden eingearbeitet.

»Und es gibt wirklich keine Möglichkeit, die Bäume vor dem Frost zu schützen?«, fragte Lily.

»Manche Obstbauern stellen Kerzen zwischen den Baumreihen auf. Aber ob das bisschen Wärme den Bäumen im Ernstfall hilft?« Yves zuckte skeptisch mit den Schultern. »Außerdem wüsste ich nicht mal, wo wir so viele Kerzen auf einmal herbekommen sollten – von den Kosten ganz zu schweigen.«

»Wenn nur schon der sechzehnte Mai wäre«, sagte Fabienne seufzend. Dann hatte sie Geburtstag. »Wenn bis dahin alles gut geht, spendiere ich zur Feier des Tages für alle Erwachsenen auf der Farm ein Glas Crémant!«

Gegen halb zwölf lief Fabienne zum Haus zurück, um Mittagessen für die Familie zu kochen. Violaine ließ sie bei Lily und den andern. Seit die Kleine sicher laufen konnte, hatte sie einen fast unbändigen Bewegungsdrang, dem sie hier draußen zwischen den Obstbäumen besser nachkommen konnte als in der engen Küche.

Bevor Fabie in die Küche ging, steuerte sie das Gemüsebeet an, das sie über die Wintermonate liebevoll kultiviert hatte. Mangold und Kohlrabi wuchsen bereits, und von den Möhren, die sie entgegen Yves’ Rat doch schon im März ausgesät hatte, war das erste Grün zu sehen. Die Kohlrabi waren noch zu klein, um sie zu ernten, aber vom Mangold schnitt Fabienne einen Armvoll Stängel ab. Sie wollte die Stiele und Blätter in kleine Stücke schneiden und in Butter, Olivenöl und etwas Knoblauch anbraten. Dazu würde sie Kartoffeln und ein Spiegelei servieren – eine einfache, nahrhafte Mahlzeit, die allen schmeckte.

Normalerweise gehörten die Stunden am Herd für Fabienne zu den schönsten des Tages. Sie liebte es, aus einfachen Zutaten immer wieder neue schmackhafte Speisen zuzubereiten. Dadurch, dass sie dies täglich für die Familie tat, vermisste sie ihre Arbeit als Köchin nicht ganz so sehr wie befürchtet.

Heute allerdings stand eine grüblerische Stimmung mit ihr am Herd. Was, wenn die Obstbäume in einer der nächsten Nächte doch noch erfroren und die Obsternte ausblieb?

Sie würde alles tun, damit niemand hungern musste, dachte Fabienne grimmig. Notfalls würde sie sogar in Lyon als Privatköchin anheuern, während Lily auf Violaine aufpasste.

Fabienne ließ die Kartoffel, die sie gerade im Spülbecken von Sand befreite, sinken. Allein der Gedanke, dass dies eintreten könnte, beunruhigte sie zutiefst. Hatte sie sich nicht geschworen, ihr Kind nie in die Obhut eines anderen Menschen zu geben – so, wie sie es damals mit Victor tun musste? Sicher, Lily war ihre Schwester …

Ihre Gedanken brachen ab, als Lily mit einem Briefumschlag in die Küche kam. Sie war blass, wirkte regelrecht erschüttert.

»Noah hat geschrieben – Pierre ist im Gefängnis! Er hat bei einer Prügelei einem Mann den Arm gebrochen. Anscheinend war er völlig betrunken.« Lily schüttelte den Kopf. »Es war nur eine Frage der Zeit, dass so etwas passiert …« Kraftlos sank sie auf einen Stuhl am Küchentisch.

»Was für ein schrecklicher Mensch ist dieser Pierre!«, sagte Fabienne angewidert. »Gott sei Dank hast du den Mut aufgebracht, ihn zu verlassen.« Wie die Schwester sich jemals für diesen Kerl hatte entscheiden können, würde ihr immer ein Rätsel bleiben. Sie alle hatten Lily von Anfang an vor dem Mann gewarnt.

»Ich und mutig …« Lily schüttelte den Kopf. »Ohne eure Hilfe hätte ich das nie geschafft. Dass die Kinder und ich hier in Frieden leben können, ohne Angst, mit genügend Essen und in einem sauberen Zuhause – das kommt mir immer noch wie ein Wunder vor. Yves’ Familie hat uns so liebevoll aufgenommen, die Kinder fühlen sich pudelwohl, wir haben ein Dach über dem Kopf. Dafür werde ich dir bis an mein Lebensende dankbar sein!«

»Blödsinn«, murmelte Fabienne nur.

»Das ist kein Blödsinn, das ist die Wahrheit. Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal im Leben so glücklich sein würde.« Lily sprang auf und umarmte Fabienne heftig.

Fabienne lächelte. Es tat gut, der Schwester endlich wieder nahe zu sein, dachte sie.

»Jetzt fehlt nur noch Lucy, dann wären wir drei Schwestern wieder vereint«, sagte Lily.

Einen Moment lang verharrten die Schwestern noch in ihrer Umarmung, dann begann der Deckel des Topfs, in dem Fabie zuvor Wasser aufgesetzt hatte, zu klappern.

Eine nach der andern gab sie die Kartoffeln ins kochende Wasser, dann stellte sie eine Pfanne auf den Herd, um den Mangold darin anzubraten.

»Und du? Bist du auch glücklich?«

Lilys Frage traf Fabienne völlig unerwartet. Sie lachte hilflos auf. »Natürlich! Wenn ich sehe, wie unbeschwert die Kinder hier aufwachsen dürfen, macht mich das sehr froh.«

»Und was ist mit deinem großen Traum von einem eigenen Restaurant?«

Noch bevor Fabienne über eine Antwort nachdenken konnte, ertönte vor dem Küchenfenster die Stimme von einem der Zwillinge. »Das ist unser Kätzchen!«

»Ich will es aber auch mal halten!«, war daraufhin die weinerliche Stimme von Lilys dreijährigem Sohn Pierre zu hören.

»Vio Tatze!«, mischte sich nun noch die kleine Violaine ein und klang dabei sehr bestimmt.

»Oje – ich geh mal nach draußen, bevor unnötiger Streit ausbricht«, sagte Lily schmunzelnd.

Fabienne schaute ihr hinterher. Den Traum von einem eigenen Restaurant würde sie nie aufgeben, dachte sie, während sie den Tisch für die Familie deckte. Genauso wenig würde sie die Hoffnung aufgeben, eines Tages ihren Sohn Victor wiederzufinden.

Die Eisheiligen waren gnädig und verschonten die Obstplantagen vor den gefürchteten Nachtfrösten.

Fabienne, Yves und Lily atmeten innerlich auf. Doch die Erkenntnis, dass ihre Existenz hier auf der Farm nicht so sicher war wie angenommen, beunruhigte Fabie weiterhin.

»Leg nie alle Eier in einen Korb«, hörte sie im Geist ihre Mutter Violaine sagen, damals, als sie auf dem Markt von Sallèles eingekauft hatten. »Wenn der Korb runterfällt, ist alles auf einmal kaputt!«

Ach Maman, dachte Fabienne, du hattest damals wie so oft recht. Nur – was tat man, wenn es keinen zweiten Korb gab?

Kapitel 3

»Gestern gab es geschmorten Ochsenschwanz, heute die leckeren Pfannkuchen – woher kennst du eigentlich all diese Rezepte? Maman hat immer nur dieselben Gerichte gekocht, bei dir jedoch kommt ständig etwas anderes auf den Tisch«, sagte Lily.

Es war Mittagszeit, und wie jeden Tag hatte Fabienne für die Familie gekocht. »Oh, einen Teil meiner Rezepte habe ich tatsächlich von Maman«, erwiderte sie. »Aber in meiner Zeit als Küchenhilfe habe ich den Köchen auch so manches abgeschaut. Und dann in Narbonne …« Sie schluckte. Noch immer durchfuhr sie ein Schmerz, wenn sie nur an Noé dachte. »Ich hatte einen guten Lehrmeister«, sagte sie mit betont lockerem Ton.

»Bessere Pfannkuchen als du kann niemand backen!«, sagte Yves und gab einen großen Klacks Pflaumenmarmelade auf seinen, bevor er ihn zusammenrollte.

»Pierre hat sich oft darüber beschwert, dass ich immer dasselbe koche. Bei unserer mageren Haushaltskasse hätte er froh sein müssen, dass ich überhaupt etwas auf die Teller gebracht habe! Sehr viel mehr als Kartoffeln und Rüben konnte ich mir nicht leisten.« Lily schauderte.

Fabienne warf ihrer Schwester einen mitfühlenden Blick zu. »Dass du es überhaupt noch geschafft hast, dich und die Kinder zu verpflegen, war bewundernswert. Aber die Männer im Bistro jammerten auch immer, dass sie daheim stets dasselbe zu essen bekämen. Ehrlich gesagt verstehe ich das gar nicht – es würde mich langweilen, immer gleich zu kochen. Und Abwechslung ist auch keine Frage des Geldes. Allein aus Kartoffeln lassen sich so viele unterschiedliche Speisen kochen – ein Kartoffelkuchen mit Speck, Bratkartoffeln, ein lockerer Kartoffelbrei, ein Gratin aus hauchdünnen Kartoffelscheiben mit viel Knoblauch und –«

»Hmmm …«, machten die Kinder und verdrehten die Augen.

»Hörst du jetzt augenblicklich auf, uns den Mund mit deiner Aufzählung deftiger Speisen wässrig zu machen, während wir Pfannkuchen mit Marmelade auf dem Teller haben?«, sagte Yves mit gespieltem Ärger.

Fabienne hob lachend die Hände, als wollte sie kapitulieren. »Ich bin ja schon still. Bon appétit!«

Da die Abende Mitte Mai noch kühl waren, machte Yves ab und an ein kleines Feuer im Kamin, so auch an diesem Tag. Danach verabschiedete er sich. An Gregorys Leiterwagen war ein Rad gebrochen, das wollten sie reparieren.

Nachdem die Schwestern ihre Kinder ins Bett gebracht hatten – alle drei schliefen in einem Zimmer –, setzten sie sich wie jeden Abend noch in die warme Stube. Manchmal unterhielten sie sich, manchmal las eine von ihnen und die andere stopfte Strümpfe. Die Stimmung war stets friedvoll und entspannt.

Während Lily nun ihr Strickzeug in die Hand nahm und sich in einen alten Sessel am Fenster setzte, kramte Fabienne aus einer Schublade ein altes Notizbuch und einen Stift hervor und ließ sich damit am Tisch nieder. »Unser Gespräch vorhin hat mich auf eine Idee gebracht. Ich werde spaßeshalber einmal die Namen aller Rezepte aufschreiben, die mir mit Kartoffeln einfallen«, sagte sie.

»Warum nur die Namen? Schreib doch gleich die ganzen Rezepte auf! Aber bitte so einfach wie möglich«, erwiderte Lily. »Damit ich sie nachkochen kann. Dann könnten wir uns in der Küche auch mal abwechseln.«

Fabienne schaute Lily erstaunt an. »Du willst kochen?«

»Ja, warum nicht? Wenn ich es irgendwann einmal richtig lernen würde …« Sie verzog den Mund, dann nahm sie ihre Handarbeit wieder auf. »Was ist, warum schaust du so?«, fragte sie, als Fabienne reglos mit dem Stift in der Hand verharrte und in die Ferne sah.

»Ich muss nur gerade an etwas denken.« Fabienne winkte ab. Sie hatte keine Lust, Lily von Stéphanie zu erzählen – sie wollte nicht einmal an Stéphanie denken! Und doch fiel ihr gerade jetzt ein Gespräch ein, das sie beide an ihrem allerersten Abend geführt hatten, damals, als Stéphanie sie mit auf das Weingut ihrer Familie genommen hatte.

Sie waren in der Küche gewesen, Fabienne war hungrig und hatte aus Essensresten, die sie in der Küche des Châteaus gefunden hatte, eine kleine Mahlzeit bereitet. »Woher zum Teufel kannst du kochen?«, hatte Stéphanie verwundert von ihr wissen wollen. Naiv, wie sie mit ihren siebzehn Jahren gewesen war, hatte Fabie geantwortet, dass der liebe Gott das Kochen den Frauen doch in die Wiege gelegt habe. Stéphanie hatte schallend gelacht und gemeint, dies wäre das Lustigste, was sie seit Langem gehört habe.

Jetzt legte Fabienne den Kopf schräg. »Deine Nachbarinnen in Narbonne – konnten die eigentlich kochen? Oder die weiblichen Hausangestellten der Herrenhäuser, wo du als Magd gearbeitet hast?«

Lily prustete laut auf. »Spinnst du? Woher soll eine Wäscherin denn kochen können? Oder eine Zofe? Wenn wir uns überhaupt mal darüber unterhalten haben, dann habe ich herausgehört, dass es bei ihnen genauso lief wie bei mir: Es wurden abends schnell ein paar Kartoffeln und Rüben in den Topf geworfen, und dann wartete man, bis sie gar waren.« Sie zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Nicht jede hat so viel Glück wie du und lernt das Kochen bei seiner Maman …«

Pochierte Eier mit Kartoffeln, ein einfaches, schmackhaftes Gericht. Rührei, wie es in Katalonien gemacht wurde, mit Paprika und Tomaten – das bekam auch jede Frau hin. Und Brioche! Die Gäste im Bistro hatten es immer geliebt, wenn sie ofenwarme Brioche zum Salat serviert hatte. Die Stirn vor lauter Konzentration in eine steile Falte gelegt, fügte Fabienne »Brioche« ihrer immer länger werdenden Liste hinzu.

Was für ein Durcheinander!, dachte sie im selben Moment. Da stand eine Suppe über einem Fleischgericht, als Nächstes kam eine Süßspeise, und jetzt auch noch ein Backrezept!

Eins hatten die aufgeschriebenen Gerichte jedoch gemeinsam: Ihre Zutaten waren günstig zu bekommen und die Zubereitung einfach. Wenn sie für Lily später ein paar Gerichte heraussuchte, um die vollständigen Rezepte aufzuschreiben, dann würde sie sich einzelne Rubriken dafür ausdenken: Kalte Speisen. Suppen und Eintöpfe. Fleischgerichte. Gemüse und Eierspeisen. Ein paar Fischrezepte würde sie auch aufschreiben müssen, hier in den Dombes gab es schließlich eine Fischzucht neben der anderen. Schon notierte Fabienne die berühmte Marseiller Fischsuppe auf ihrer Liste, darunter Wolfsbarsch mit Weißweinsoße und gebratene Krevetten. Als Beilage zu all dem eigneten sich kleine Kartoffeln mit Oliven aus dem Ofenrohr …

»Was war das wieder ein langer Tag! Ich geh jetzt ins Bett.«

Lilys Gähnen riss Fabienne aus ihrer Konzentration. Ihr Blick fiel auf die Wanduhr. »Du liebes bisschen – es ist schon nach elf?«

Lily dehnte ihre vom Stricken verspannten Arme. »Du hast fast drei Stunden in dein Buch gekritzelt, und du warst dabei wie in einer anderen Welt«, sagte sie mit vorwurfsvollem Unterton. »Immer, wenn ich dir eine Frage gestellt habe, hast du lediglich mit Ja oder Nein geantwortet.«

Fabienne lachte. »Dafür habe ich aber auch einiges geschafft! Schau mal …« Sie legte das Notizbuch so auf den Tisch, dass Lily darin lesen konnte.

»Fischpastete, eine Tomatentarte, Kartoffelomelette … Mir läuft das Wasser im Mund zusammen! Ich hätte schon Mühe, die ganzen Namen der Gerichte fehlerfrei zu schreiben, geschweige denn sie zu kochen«, sagte Lily und schaute Fabienne fasziniert an. »Und all diese Rezepte hast du im Kopf?«

»Ja, ich glaube schon«, antwortete Fabienne. »Ehrlich gesagt bin ich selbst ein wenig erstaunt darüber, wie vielfältig mein Kochrepertoire ist.« Sie lachte verlegen.

Da ging die Haustür, und im nächsten Moment stand Yves im Zimmer. »Ihr seid noch wach? Das trifft sich gut. Gregory hat mir eine Flasche uralten Apfelschnaps geschenkt, unser Großvater hat ihn einst gebrannt. Ich überlege ernsthaft, ob wir das Schnapsbrennen nicht wieder aufnehmen sollen. Habt ihr Lust, ein Gläschen zu verkosten?«

Die beiden Schwestern schauten sich an. Na, und ob!

Die nächsten Tage verliefen wie so oft in einem angenehmen Gleichklang. Tagsüber arbeiteten sie auf den Obstplantagen und passten auf, dass die Kinder nicht allzu viel Unsinn anstellten. Abends machte sich Yves, der an der Idee des Schnapsbrennens Feuer gefangen hatte, auf die Suche nach alten Gerätschaften seines Großvaters. In einem Anbau, zwischen halb zerfallenen rostigen Gerätschaften, hatte er schon einen Gärbehälter und eine Destille gefunden.

Fabienne schrieb derweil Rezepte für Lily auf.

»Wenn du so über dein Heft gebeugt dasitzt, erinnerst du mich sehr an Lucy. Immer wenn es etwas für die Schule vorzubereiten gab, war unsere liebe Schwester auch so fleißig und strebsam«, sagte Lily einmal grinsend, woraufhin Fabienne ihren Stift nach ihr warf.

Eines Abends war sie gerade dabei, das Rezept für eine Knoblauchsuppe mit Käse aufzuschreiben, die sie schon mehrmals gekocht hatte und die alle in der Familie liebten, als Elena ohne Anklopfen oder ein Wort des Grußes hereinstürmte.

»Ich bin so wütend!«, rief die Schwägerin aufgebracht. »Da komme ich von der Arbeit nach Hause und mache mir die Mühe, einen Hasen zuzubereiten, und dann wird das Mistvieh zäh wie eine Schuhsohle! So etwas bräuchte ich ihm nicht noch mal servieren, hat Gregory gesagt. Ist das nicht frech?«

Lily und Fabienne schauten sich an, dann lachten sie los. Elenas Vater war Tierarzt und sie seine Helferin. Gemeinsam fuhren sie täglich von Hof zu Hof, um kranke Ziegen, Enten und Gänse und das eine oder andere Pferd zu versorgen. Als Tierarzthelferin war Elena äußerst patent, mit ihren Kochkünsten hingegen war es nicht weit her, das hatte Fabienne inzwischen mitbekommen.

»Ein Hasenbraten braucht viel Zeit, damit er schön zart wird. Wahrscheinlich hat deine hungrige Meute aufs Essen gedrängt, und du hast ihn zu früh aus dem Topf geholt«, sagte Fabienne.

»Genau so war es!«, rief Elena. »Wenn ich das nächste Mal einen Hasen von einem der Bauern geschenkt bekomme, dann bereite ich ihn in aller Ruhe als Sonntagsschmaus zu. Aber vorher hole ich mir bei dir ein paar Tipps, in Ordnung?«

»Ich weiß was Besseres«, sagte Fabienne und tippte auf ihr Notizbuch. »Ich kenne zufällig ein Rezept, mit dem jeder Hasenbraten garantiert gelingt – wenn du magst, schreibe ich es gern für dich auf.«

Keine Nachtfröste. Kein Hagel. Und auch sonst kein Unbill – deshalb waren Mitte Juni die ersten Kirschen reif. Saftig und prall hingen sie an den Bäumen und wollten gepflückt werden. Fabienne, Lily und Yves waren überglücklich. Lily ließ sich sogleich von Yves’ Mutter erklären, wie man Kirschsaft herstellte. Und Fabienne hatte schon den Duft von samtiger Kirschmarmelade in der Nase. Doch Yves bestand darauf, den größten Teil der Früchte in Villars-les-Dombes, der nächstgelegenen Stadt, auf dem Markt zu verkaufen. Die ersten reifen Kirschen waren immer etwas Besonderes, dafür gaben die Marktbesucher gern etwas mehr Geld aus, erklärte er den beiden Schwestern. Kirschen für den Hausgebrauch würde es in den nächsten Wochen noch reichlich geben!

Fabienne war das nur recht. Marmelade und Kirschsaft waren schön und gut, aber es geisterte eine Idee durch ihren Kopf, die schmackhafter war als die süßesten Kirschen …

»Es gibt etwas, worüber ich gern mit dir sprechen möchte«, sagte sie ein paar Tage später zu Yves, als sie in den Obstplantagen waren, um wie jeden Tag Kirschen zu pflücken. Obwohl Fabienne versuchte, ihre Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen, war die Aufregung, die sie innerlich verspürte, nicht zu überhören.

Yves, der gerade auf einer Leiter stand, schaute zu ihr hinunter. »Leg los!«

Noch am Morgen hatte Fabie sich alle möglichen guten Gründe zurechtgelegt, mit denen sie dieses Gespräch beginnen wollte. Doch nun platzte es einfach aus ihr heraus: »Was würdest du davon halten, wenn ich ein Kochbuch schreibe?«

»Ein Kochbuch?« Emsig pflückte Yves weiter Kirschen, immer darauf bedacht, die Stiele mitzunehmen.

»Ja, und zwar für alle Frauen«, sagte Fabienne, während sie Yves eine Ladung Kirschen abnahm und vorsichtig in einen Korb legte – die empfindlichen Früchte durften weder geworfen noch gedrückt werden. »Früher habe ich gedacht, dass jede Frau kochen kann, aber dem ist gar nicht so! Nur die allerwenigsten haben das zu Hause gelernt – so gesehen hatte ich richtig Glück, dass meine Mutter mir so viel beigebracht hat.« Sie warf Violaine, die sich gerade eine Kirsche in den Mund steckte, einen liebevollen Blick zu. Sie würde ihrer Tochter auch alles beibringen!

»Ein Kochbuch für Frauen – gibt es so etwas nicht längst?«, fragte Yves und kletterte noch einen Ast höher.

»Kochbücher gibt es schon, aber sie sind von Männern für Männer geschrieben – für Restaurantköche, um genau zu sein«, erwiderte Fabienne. Auf dem Weg vom Markt zurück ins Le Miroir hatte Noé öfter in einer Buchhandlung vorbeigeschaut, und wann immer ein neues Kochbuch erschienen war, hatte er es mitgebracht. Ein Kochbuch für Frauen war nie dabei gewesen. »Als wir im Herbst in Lyon waren, habe ich in dem großen Buchladen am Place Bellecour nach einem Kochbuch für Frauen gefragt. Ich hätte es gern Mia geschickt. Damals wusste ich noch nicht, dass sie gar nicht lesen kann. Aber der Buchhändler hatte eh nichts in dieser Art.« Sie grinste. »Du siehst, es wird höchste Zeit, dass ein solches Kochbuch erscheint!« Und wenn sich das Buch gut verkaufte, würde es ihr sogar ein Extraeinkommen bescheren, frohlockte sie im Stillen, schalt sich jedoch sogleich für ihre Träumereien. »Ich will den Frauen einfache Rezepte an die Hand geben, mit denen sie aus preiswerten Lebensmitteln nahrhafte Speisen zubereiten können. Viele Frauen glauben beispielsweise, dass die Blätter von Kohlrabi nur als Hasenfutter taugen, dabei kann man aus ihnen auch eine schmackhafte Suppe kochen. Wenn eine Frau solche kleinen Tricks kennt, kann sie ihre Familie doch viel besser versorgen!«

»Ich weiß nicht …«, sagte Yves skeptisch. »Erinnere dich mal daran, unter welchen Umständen Lily in Narbonne leben musste. Da hätte ihr ein Kochbuch auch nicht weitergeholfen.«

Fabienne schwieg. In Lilys Speisekammer hatte gähnende Leere geherrscht, da hatte es außer ein paar verrunzelten Kartoffeln nichts gegeben.

»Außerdem können viele Frauen in den Armenvierteln gar nicht lesen – was sollten sie also mit einem Kochbuch anfangen?«

Fabienne schaute ihn ärgerlich an. »Willst du mir meine Idee ausreden? Ja, es stimmt, den Frauen in den Armenvierteln vermag ich mit meinen Rezepten wahrscheinlich nur bedingt zu helfen. Und dass jemand lesen kann, ist nun einmal die Grundvoraussetzung dafür, ein Buch zu kaufen. Aber vor meinem inneren Auge sehe ich vor allem auch Frauen wie Elena – Frauen, die tagsüber arbeiten –, Fabrikarbeiterinnen, die Damen vom Amt, Verkäuferinnen, aber auch Mägde, die sich nach der Arbeit im Herrenhaus todmüde zu ihrer Familie schleppen und dann noch kochen müssen! Mit meinen Rezepten hätten sie es leichter, ihre Familie gut zu versorgen. Wenn man es geschickt anstellt, dann kann man aus ein paar Kartoffeln, Möhren und einem gekochten Suppenhuhn gleich drei Speisen auf einmal zubereiten. Ein solches Vorgehen in der Küche spart immens viel Zeit, verstehst du? Das alles möchte ich in dem Buch vermitteln.« Fabienne spürte, wie sie immer aufgeregter wurde. Bisher hatte sie nur ein paar Rezepte für Lily und Elena aufgeschrieben. Für ein Kochbuch würde sie jedoch mindestens hundert aufschreiben müssen, und alles fein säuberlich in einzelne Rubriken unterteilt! Und für Küchentipps würde sie ein extra Kapitel einplanen … Am liebsten hätte sie gleich losgelegt.

Yves schaute sie einen Moment lang schweigend an. »Wann immer du übers Kochen sprichst, bist du wie verwandelt! Ich glaube, für dich gibt es wirklich nichts Schöneres auf der Welt …«

Fabienne glaubte, nicht nur Amüsement, sondern einen Hauch Ärger in seiner Stimme zu hören. Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Irgendwie fühlte sie sich nicht nur ertappt, sondern auch bemüßigt, etwas zu sagen wie: »Das Schönste ist natürlich, eine gute Mutter zu sein.« Oder: »Das Schönste ist es, eine gute Ehefrau zu sein.« Aber in beidem war sie schon kläglich gescheitert – das wusste niemand so gut wie Yves. Es war sinnlos, ihm etwas vormachen zu wollen, von daher sagte sie nur leise: »Ja.«

»Du hast doch schon immer das getan, was du wolltest. Tief drinnen hast du längst beschlossen, dieses Kochbuch zu schreiben. Warum fragst du mich dann überhaupt noch nach meiner Meinung?«

Da war er schon wieder, dachte Fabienne, dieser leicht ärgerliche Unterton. Warum war es einer Frau nicht erlaubt, zu tun, was sie wollte? Warum war sie dadurch unwillkürlich jemand, den man für seltsam, wenn nicht gar verrückt hielt?

»Mir ist deine Meinung nun mal wichtig!«, sagte sie und klang nun selbst ein wenig ungehalten. »Und auf deinen guten Rat lege ich auch viel Wert. Im Gegensatz zu mir bist du weit gereist, hast als Kellner schon viel mit hochgestellten Persönlichkeiten zu tun gehabt. Mir hingegen wird jetzt schon schlecht vor Angst, wenn ich daran denke, dass ich eines Tages mit meinem Manuskript in der Hand bei einem Pariser Verleger vorsprechen muss. Aber bitte – wenn es dir lästig ist, dann mache ich halt alles mit mir selbst aus.« Sie wollte sich gerade beleidigt wegdrehen, als Yves mit einem Sprung vom Baum hüpfte und neben ihr stand. Bevor sie etwas dagegen tun konnte, fasste er sie an den Schultern.

»Ich will, dass du glücklich bist, Fabienne. Und ich habe deinem Glück noch nie im Weg gestanden, das weißt du ganz genau!« Er schaute sie durchdringend an.

Verflixt, warum musste er sie gerade jetzt an ihre Affäre mit Noé erinnern? »Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen«, hatte er auch damals gesagt, dann war er gegangen …

Peinlich berührt kickte sie wie ein trotziges Kind mit der Schuhspitze ein kleines Steinchen weg. »Tagsüber würde ich natürlich weiterhin auf dem Hof mitarbeiten wie bisher auch, für euch würde sich also nichts ändern. Lediglich abends würde ich mich an das Kochbuch setzen und in den Wintermonaten, wenn es eh ruhig ist auf dem Hof«, sagte sie und konnte nichts gegen den flehentlichen Ton in ihrer Stimme tun. Es war ihr wichtig, dass Yves ihr seinen Segen gab, das spürte sie. Ein Ehepaar waren sie zwar nur noch auf dem Papier – aber dafür war Yves ihr bester Freund!

»Dann wäre doch alles besprochen«, sagte er leichthin und drückte ihr einen leeren Korb in die Hand. »Du fängst an, und wenn ich dich irgendwie unterstützen kann, sagst du Bescheid, in Ordnung?«

Fabienne nickte dankbar. So war Yves … immer hilfsbereit und gutherzig.

Er war schon ein paar Schritte in Richtung des nächsten Kirschbaumes gegangen, als er sich noch mal zu ihr umdrehte. »Nur eins muss klar sein!«, sagte er streng.

»Ja?«, sagte Fabienne zögerlich.

»Nach Paris komme ich mit! Ich lasse mir doch nicht die Gelegenheit entgehen, mal wieder ins Moulin Rouge zu gehen! Und wenn du lieb bittest, nehme ich dich sogar mit.« Er grinste sie verschmitzt an.

»Abgemacht, wir fahren gemeinsam.« Fabienne lachte laut auf. »Aber in diesen Sündentempel komme ich nur mit, wenn es dort auch etwas Gutes zu essen gibt!«

Kapitel 4

Château Angleterre bei Narbonne, Juni 1892

»Biarritz ist im Mai einfach unmöglich! Dieser schreckliche Wind! Abgesehen davon, dass er einem wirklich jede Frisur zerstört, habe ich fürchterliche Ohrenschmerzen bekommen. Der Wind war der Grund, warum ich frühzeitig wieder abgereist bin.« Noch während sie sprach, schaute Stéphanie sich unauffällig um. Ihre Mutter schien aus Château Angleterre, das sie nach dem Tod ihrer Eltern geerbt hatte, ein wahres Prunkstück gemacht zu haben! Aus ihrer Kindheit hatte sie das Familienanwesen als dunkles, bedrückendes Gebäude in Erinnerung, in dem alles irgendwie freudlos wirkte. Heute war das ganz anders. In jedem Raum, den sie durchschritten hatten, hatte Stéphanie üppige Blumensträuße gesehen. Große bunte Glaspokale standen auf den Fensterbrettern und leuchteten im hereinfallenden Sonnenlicht in strahlendem Rot, Grün und Blau. Das alles erinnerte Stéphanie an eine Italienreise, die sie mit ihren Eltern als Kind einmal gemacht hatte. Dass ihre Mutter den italienischen Stil derart schätzte, hatte sie nicht gewusst. Doch genau der setzte sich auch in dem Wintergarten fort, wo sie gerade saßen. Die hintere Wand war mit weißem Marmor verkleidet, der Boden aus Abertausenden kleiner Marmorstücke in einem komplizierten Mosaikmuster verlegt worden – sie stellten das Familienwappen dar.

»Wer fährt denn auch an den Atlantik zum Kuren?«, sagte Delphine und stellte mit einer gezierten Bewegung ihre Kaffeetasse ab. »Bei uns am Mittelmeer gibt es inzwischen auch ausgezeichnete Kurbäder. Bevor César starb, waren wir in Balaruc-les-Bains am Étang de Thau, die Thermalbäder waren so wohltuend!«

Genutzt hat es trotzdem nichts, sonst wäre dein César jetzt nicht tot, dachte Stéphanie bissig. Schon nach wenigen Minuten hatte sie gespürt, wie sich in ihrem Innern Stacheln aufstellten, wie immer, wenn sie in Delphines Gesellschaft war. Dass sie ihre Mutter trotzdem hin und wieder besuchte, hatte einzig mit der Tatsache zu tun, dass Delphine stets bestens informiert war über alles, was in der feinen Gesellschaft vor sich ging. Und dieses Wissen war für sie, Stéphanie, wichtig, wenn sie die richtigen Entscheidungen treffen wollte.

Während ihre Mutter von einem Dinner bei Freunden erzählte, zu dem sie letzte Woche eingeladen gewesen war, ließ Stéphanie ihren Blick durch die Glasfront hinausschweifen. Die Rosen, die blütenberankten Pavillons im parkähnlichen Garten, der schneeweiße Kies der Auffahrt, von keinem Ästchen, keinem Blatt verunreinigt – wie viele Gärtner beschäftigte ihre Mutter eigentlich? Sie warf dem Dienstmädchen, das an der Tür zum Wintergarten auf einen Wink ihrer Herrin lauerte, einen Blick zu. Scheinbar konnte Delphine sich von dem Geld, das ihr zweiter Mann César, der Kaffee-Importeur, ihr hinterlassen hatte, so viel Personal leisten, wie sie wollte.

»Wie fühlt es sich eigentlich an, wieder da zu leben, wo du deine Kindheit verbracht hast?«, fragte Stéphanie unvermittelt und spürte dabei so etwas wie Neid in sich aufkommen. Sie würde den Ort, an dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, einmal nicht erben! Denn Château Morel gehörte ihrer Familie schon lange nicht mehr.

»Wie soll es sich schon anfühlen? Davon abgesehen, dass ich César natürlich sehr vermisse, geht es mir gut.« Sie begann, die Vorzüge ihres Lebens an den Fingern ihrer manikürten rechten Hand aufzuzählen. »Ich bin die ehrwürdige Witwe von César Maure und niemandem für irgendetwas Rechenschaft schuldig. Ich kann tun und lassen, was ich will. Ich habe so viel Geld, dass ich es in diesem Leben nicht auszugeben vermag. Und ich habe einen ehrbaren Freundeskreis – hinter meinem Rücken tuscheln die Leute nicht«, erwiderte Delphine und zog dabei bedeutungsvoll die rechte Augenbraue hoch.

Stéphanie verzog den Mund. Das hatte ja kommen müssen! Ihre Mutter ließ keine Gelegenheit verstreichen, sie an den Finanzskandal zu erinnern, in den Jules und sie verwickelt gewesen waren.

»Die Justiz konnte mir keine Mitwisserschaft nachweisen, das weißt du ganz genau! Mein Gewissen ist so rein wie eine weiße Weste. Wenn die Leute noch immer über mich tuscheln, dann ist das einzig ihr Problem«, zischte sie.

»Du und eine weiße Weste!« Delphine schnaubte undamenhaft. »Schon der Verdacht von Betrug ist wie Teer – an wem er einmal haftet, bleibt er für immer kleben.« Sie griff wieder zu ihrer hauchdünnen Tasse, aus der sie starken Kaffee tranken. »Ich weiß, du willst das nicht hören, Kind, aber du kannst nicht ewig wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte fliegen. Du bist einunddreißig Jahre alt! In diesem Alter sollte man langsam wissen, was man aus seinem Leben zu machen gedenkt. Und falls du wirklich in Erwägung ziehst, wieder hierherzuziehen, dann sollten wir dringend darüber nachdenken, wie du zuallererst deinen guten Ruf wiederherstellen kannst.«

Stéphanie glaubte nicht richtig zu hören. »Damit habe ich doch längst begonnen! Ich habe die letzten eineinhalb Jahre sehr erfolgreich ein Bistro geführt – ist das etwa nicht ehrenvoll?«

»Ein Bistro! Dass es nach Jules noch schlimmer kommen konnte, vermochte ich mir nicht vorzustellen. Aber man lernt wohl immer dazu. Du mit einer Servierschürze …« Delphines Blick streifte Stéphanie von oben bis unten. »Gott sei Dank hat von unseren hiesigen Freunden niemand etwas von deinem letzten Abenteuer mitbekommen, jedenfalls hat man mir gegenüber noch keine entsprechende Bemerkung gemacht. Wer fährt schon freiwillig nach Marseille? Dennoch – wenn du deinen Ruf nicht vollends ruinieren möchtest, erwähnst du dieses … dumme Bistro mit keinem Wort!«

Stéphanie funkelte Delphine über den weiß gedeckten Kaffeetisch hinweg an. »Über Jules darf ich nicht reden, das Bistro ist auch tabu – soll ich bei gesellschaftlichen Treffen dasitzen wie ein stummer Fisch?«

»Wenn es sein muss, dann rede über das Wetter! Mach Komplimente! Lass deinen Charme spielen, oder hast du das etwa auch verlernt? Von mir aus rede auch über deinen Vater«, sagte Delphine. Sie beugte sich leicht über den Tisch zu Stéphanie. »Stell dir vor, der alte Trottel hat doch tatsächlich mit seinem Château-Morel-Wein einen wichtigen Preis gewonnen! Und natürlich ist es wie immer – jetzt, wo er als Winzer erfolgreich ist, scharen sich die alten Bekannten wieder um ihn. Es sind genau diejenigen, die damals, als wir in größter Not waren, nichts mehr von uns wissen wollten.« Der bittere Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Papa hat also doch Erfolg mit seinem Weinbau?« Stéphanie horchte auf. Im Château Morel hatte sie ihre Jugend verbracht, eine Jugend mit vielen Bällen und anderen gesellschaftlichen Unternehmungen. Doch dann hatte ihr Vater das Château durch seine Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, in den finanziellen Ruin getrieben. Ausgerechnet Oscar de Carneval, Stéphanies früherer Verlobter, hatte es dann aufgekauft.