Die Fotografin - Die Stunde der Sehnsucht - Petra Durst-Benning - E-Book

Die Fotografin - Die Stunde der Sehnsucht E-Book

Petra Durst-Benning

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Beschreibung

In dunklen Zeiten leuchtet die Liebe am hellsten ...

Münsingen, 1914. Mimi und Anton sind inzwischen Geschäftspartner geworden, die sich erfolgreich auf der Schwäbischen Alb etabliert haben. Während auch Mimis Freunde Bernadette, Corinne und Alexander voller Tatendrang sind, verschärft sich das politische Klima in Deutschland zunehmend. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges zerstört jäh ihre Träume, und auf einmal ist nichts mehr, wie es war. Während die Männer an die Front ziehen müssen, ist in Münsingen die Stunde der Frauen gekommen, die das verwalten, was die Männer hinterlassen haben. So werden Corinne und Mimi gar zum einzigen Rettungsanker für ihr Dorf, und ein weiteres Mal ist der starke Zusammenhalt zwischen den Frauen gefragt. In dieser dunklen Zeit erkennt nicht nur Mimi, was zählt im Leben und für wen ihr Herz wirklich schlägt ...

Die SPIEGEL-Bestsellersaga um Fotografin Mimi bei Blanvalet:
1. Am Anfang des Weges
2. Zeit der Entscheidung
3. Die Welt von morgen
4. Die Stunde der Sehnsucht

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Buch

Münsingen, 1914. Mimi und Anton sind inzwischen Geschäftspartner geworden, die sich erfolgreich auf der Schwäbischen Alb etabliert haben. Während auch Mimis Freunde Bernadette, Corinne und Alexander voller Tatendrang sind, verschärft sich das politische Klima in Deutschland zunehmend. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zerstört jäh ihre Träume, und auf einmal ist nichts mehr, wie es war. Während die Männer an die Front ziehen müssen, ist in Münsingen die Stunde der Frauen gekommen, die das verwalten, was die Männer hinterlassen haben. So werden Mimi und ihre Freundinnen zum einzigen Rettungsanker für ihr Dorf, und ein weiteres Mal ist der starke Zusammenhalt zwischen den Frauen gefragt. In dieser dunklen Zeit erkennt nicht nur Mimi, was zählt im Leben und für wen ihr Herz wirklich schlägt …

Die SPIEGEL-Bestsellersaga um Fotografin Mimi bei Blanvalet:1. Am Anfang des Weges2. Zeit der Entscheidung3. Die Welt von morgen4. Die Stunde der Sehnsucht

Autorin

Petra Durst-Benning wurde 1965 in Baden-Württemberg geboren. Seit über zwanzig Jahren schreibt sie historische und zeitgenössische Romane. Fast all ihre Bücher sind SPIEGEL-Bestseller und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. In Amerika ist Petra Durst-Benning ebenfalls eine gefeierte Bestsellerautorin. Sie lebt und schreibt abwechselnd im Süden Deutschlands und in Südfrankreich.

Mehr Informationen zur Autorin und ihren Büchern finden Sie auf ihrer Homepage www.durst-benning.de oder in der App von Petra Durst-Benning.Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Band 4

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Abdruck des Zitats von Henri Cartier-Bresson auf folgender Seite mit freundlicher Genehmigung der Fondation Henri Cartier-Bresson, Paris.

© 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Gisela Klemt

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Jan Siebert/Shutterstock.com, kemai/Photocase.de und Richard Jenkins Photography

Die Bilder im Anhang stammen aus dem Privatarchiv von Petra Durst-Benning

JF · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22947-4V005www.blanvalet.de

»Man nähert sich auf leisen Sohlen, auch wenn es sich um ein Stillleben handelt. Auf Samtpfoten muss man gehen und ein scharfes Auge haben.«

Henri Cartier-Bresson (1908–2004)

1. Kapitel

Münsingen auf der Schwäbischen Alb, Neujahr 1914

»Ganz ehrlich? Als ich die Flammen durchs Dach der Druckerei lodern sah, dachte ich, alles wäre aus und vorbei!« Verflixt, wie ihre Stimme immer noch zitterte, dachte Mimi, wenn sie von dem Feuer, das binnen wenigen Minuten ihr komplettes Warenausgangslager zerstört hatte, erzählte! Dabei lag der Schrecken schon fast drei Monate zurück.

Josefine Neumann drückte mitfühlend Mimis Arm. »Mir blieb schon am Telefon fast das Herz stehen, ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es für dich war, dies hier vor Ort zu erleben. Und ausgerechnet an diesem Tag war auch noch Anton weg …«

Mimi nickte. Als Anton von seiner Verkaufsreise aus Stuttgart zurückgekommen war, hatte der hintere Anbau der Druckerei schon in Trümmern gelegen …

Jetzt war der Neujahrstag 1914, und Mimi und Anton hatten zu einem großen Empfang in der Lithografischen Anstalt Münsingen – von allen einfach nur »die Druckerei« genannt – eingeladen. Ein deftiges Büfett war mitten in der Werkshalle aufgebaut worden, es gab Sekt, Wein und Bier und für die Kinder der Angestellten Limonade. Ein Aspekt des Festes war, dass Mimi und Anton Kontakte zu den Menschen aus dem Ort knüpfen wollten – den Münsinger Bürgermeister Oskar Baumann und die Mitglieder des Gemeinderats hatten sie ebenso eingeladen wie diverse Geschäftsleute: den Inhaber der Brotfabrik, die Pensionswirtin, bei der Anton und Mimi in den ersten Wochen gelebt hatten, zwei weitere Hoteliers sowie den Inhaber der Limonadenfabrik.

Auch Mimis Freundin Bernadette Furtwängler, wegen der Abertausenden von Schafen, die ihr gehörten, von vielen nur »die Schafbaronin« genannt, war der Einladung zum Neujahrsempfang gefolgt. Kerzengerade und mit strenger Haarkrone stand sie da, ein Sektglas in der Hand. Immer in Bernadettes Nähe war Generalmajor Lutz Staigerwald vom nahe liegenden Soldatenlager. Das goldene Eichenlaub auf seiner Uniform glänzte wie poliert – was es wahrscheinlich auch war.

Von den Münsinger Honoratioren fehlte einzig Wolfram Weiß, Bernadettes Geschäftspartner in der Schäferei Furtwängler-Weiß. Während Bernadette sich dort um den Vertrieb von Fleisch, Wolle und Schaffellen kümmerte, war Wolfram fürs Wohl der Schafe zuständig. Derzeit befand er sich zusammen mit seiner neuen französischen Hirtin Corinne und einer riesigen Schafherde in Rheinhessen auf der Winterweide – hier droben auf der tief verschneiten Albhochfläche wären die Tiere den Winter über verhungert oder erfroren. Dies galt ganz besonders für die wertvollen Merinoschafe, die im vergangenen Herbst mit Corinne von Südfrankreich auf die Schwäbische Alb gekommen waren und die in den kommenden Jahren Bernadettes und Wolframs Herde mit ihrem Blut veredeln sollten.

Als Mimi gehört hatte, dass ihre neue Freundin Corinne der Einladung ebenfalls nicht folgen konnte, war sie fast ein wenig erleichtert gewesen, denn Bernadette hasste Corinne aus tiefstem Herzen, und womöglich wäre es sogar zu einem unschönen Wortwechsel gekommen, was der allgemeinen Stimmung sicher nicht gutgetan hätte.

Neben dem gesellschaftlichen Aspekt des Festes war es für Mimi zugleich wichtig gewesen, einen schönen Rahmen zu schaffen, in dem ihre Geschäftspartner Adrian und Josefine Neumann sich das Unternehmen anschauen konnten, in das sie im letzten September so vertrauensvoll investiert hatten.

Und nun, nach dem Brand, hatte der heutige Tag nochmals eine ganz andere Bedeutung bekommen: Mimi und Anton wollten damit vielen Menschen ein Dankeschön aussprechen.

Während nach und nach die letzten Gäste eintrudelten, nutzte Mimi die Zeit, um Josefine durch die Druckerei zu führen. Sie zeigte in das neu aufgebaute Warenausgangslager, in dem ein halbes Dutzend Aufträge darauf warteten, im neuen Jahr an die Kundschaft ausgeliefert zu werden. »Wie du siehst – alles ist nach dem Feuer wiederaufgebaut worden«, sagte sie stolz und glücklich zugleich. »Es war wirklich unglaublich, wie viel Solidarität Anton und ich erleben durften. Gleich am Tag danach, als die Feuerwehr uns erlaubte, ins Gebäude zu gehen, reiste der Mann von der Stuttgarter Versicherung an, bei der Otto Brauneisen damals die Druckerei versichert hatte, um den Schaden aufzunehmen. Dass die Versicherung so schnell reagiert und gezahlt hat, war natürlich unsere Rettung!« War es der Geruch der Druckerschwärze, der in ihrer Nase kitzelte, oder war es noch immer die Rührung über die erfahrene Hilfe – jedenfalls hatte Mimi einen gewaltigen Kloß im Hals.

Josefine schauderte sichtlich. »Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn der Vorbesitzer sich das Geld für die Gebäudeversicherung gespart hätte! Und nicht auszudenken, wenn die Flammen auf die Fertigungshalle oder das Warenlager übergegriffen hätten …«

»Damit wären wir ruiniert gewesen«, stimmte Mimi ihr zu. »Es konnte bis heute nicht geklärt werden, wie der Brand entstand, aber dass er sich allein aufs Warenausgangslager beschränkte, war im Nachhinein Glück im Unglück.« Wie so vieles andere, dachte Mimi bewegt, dann fuhr sie mit ihrer Erzählung fort. »Der Mann von der Versicherung hatte seine Formulare noch nicht ganz wieder eingepackt, da standen schon unsere Mitarbeiter – und sogar ein paar ihrer Frauen – mit hochgekrempelten Ärmeln zum Aufräumen parat. Uns blieb ja nichts anderes übrig, als den ganzen Anbau abzureißen! Ein Freund unseres Bekannten Wolfram Weiß kam mit einer riesigen Fuhre Baumaterial an, und der Bürgermeister schickte einen Trupp freiwilliger Helfer, die unter Anleitung des örtlichen Zimmermanns sogleich begannen, alles wiederaufzubauen.«

Josefine sah Mimi beeindruckt an. »Ich bin mir nicht sicher, ob es so viel Hilfe auch bei uns in der Großstadt gegeben hätte …«

Mimi ließ ihren Blick dankbar über die immer größer werdende Gästeansammlung schweifen. Ja, hier in Münsingen war der Zusammenhalt wirklich sehr gut. »Aber als ob der Aufbau des Warenausganglagers nicht gereicht hätte, mussten wir kurz vor Jahresende auch noch schauen, wie wir an Papier und Farben kommen! Denn ausgerechnet zu dieser Zeit war unser Materiallager leer gefegt – alles war aufgebraucht. Ich finde es nach wie vor erstaunlich, welche Materialmengen man fürs Drucken benötigt.« Sie lachte.

Josefine öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen.

»Ja?«, ermunterte Mimi sie.

Doch Josefine winkte ab. »Eine Kleinigkeit. Adrian möchte wegen des Materiallagers nachher noch mit Anton sprechen. Überlassen wir das den Männern. Erzähl du lieber weiter!«

So beruhigend ihr Lächeln sicher wirken sollte, es hatte bei Mimi den gegenteiligen Effekt. Eine »Kleinigkeit« hätte Josefine erst gar nicht erwähnt. Was gab es also, was sie wissen sollte? Dennoch tat sie Josefine den Gefallen und nahm ihren Faden wieder auf: »Während das Auslieferungslager hinten noch gebaut wurde, leisteten unsere Mitarbeiter vorn in der Druckerei Doppelschichten – wir mussten schließlich sämtliche verbrannten Drucksachen nochmals produzieren! Die Kunden waren nicht gerade erfreut, dass wir nicht wie versprochen auslieferten – so manch einer machte uns böse Vorwürfe. Als ob wir etwas für das Feuer gekonnt hätten!«

Josefine verzog den Mund. »Die Kundschaft wird immer kompromissloser, das erleben wir in unserer Branche auch. Aber so ist das eben – wer das Geld hat, hat die Macht.«

»Und schließlich ist der Kunde immer König«, sagte Mimi ironisch. »Bis nachts um elf oder zwölf liefen die Druckerpressen. Und die Männer arbeiteten alle ohne Lohnausgleich! Das muss man sich mal vorstellen. Sicher, es ging auch um ihre Existenz, aber so viel Entgegenkommen hätte ich nie erwartet.«

Josefine drückte Mimis Arm erneut. »Was Anton, du und eure Leute hier geleistet habt, ist unbeschreiblich! Adrian und ich sind euch wirklich sehr dankbar. Als stille Teilhaber sind wir in solch einer Krise leider so gar keine Hilfe …«

Mimi, die aus den Augenwinkeln sah, wie Anton gerade seine aus Laichingen angereisten Eltern begrüßte, winkte ab. »Dass ihr uns weiterhin vertraut, ist hilfreich genug.«

»Anton …«, sagte Josefine, deren Augen Mimis Blick gefolgt waren. »Ich mag ihn! Und ich finde es wirklich erstaunlich und bewundernswert zugleich, wie viel Profil, Stärke und Durchsetzungsvermögen er immer wieder beweist. Schade, dass er nicht ein paar Jahre älter ist – ihr wärt ein schönes Paar.«

»Josefine!«, sagte Mimi halb lachend, halb entsetzt. Doch bevor sie zu einer weiteren Erwiderung ansetzen konnte, hörte sie hinter ihrem Rücken eine bekannte melodiöse Frauenstimme ihren Namen sagen.

»Clara Berg!«, riefen Mimi und Josefine wie aus einem Mund. Vergessen war der verheerende Brand, vergessen auch der Schreck, der ihnen immer noch ein wenig in den Knochen saß – zu groß war die Freude, die Unternehmerin und Freundin wiederzusehen.

»Führt ihr etwa Geschäftsgespräche? Ich dachte, heute wird gefeiert«, sagte Clara Berg übertrieben tadelnd, nachdem sie sich aus deren Umarmungen gelöst hatte. »Frau Reventlow, darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen – Laszlo Kovacz! Ich glaube, Sie kennen sich noch nicht.«

Wie viel Liebe in dem Blick lag, den Clara ihm schenkte, dachte Mimi und reichte dem attraktiven Mann lächelnd die Hand. »Es ist mir eine Ehre, dass Sie die weite und sehr winterliche Reise vom Bodensee hierher auf sich genommen haben.« Sie nickte in Richtung des aufgebauten Büfetts »Bestimmt seid ihr alle furchtbar durstig und hungrig. Wie wäre es mit einem Glas Sekt und einer Butterbrezel?«

Statt Mimis Wink zu folgen, blieb Clara jedoch stehen. »Liebe Frau Reventlow – Mimi –, wäre das neue Jahr nicht ein guter Zeitpunkt, um zum ›Du‹ überzugehen? Wenn Sie mögen – ich bin Clara!«

»Das ist mein schönstes Neujahrsgeschenk«, sagte Mimi mit belegter Stimme, und schon lagen sich die beiden Frauen erneut in den Armen.

»Bevor hier jemand vor lauter Rührung noch zu weinen anfängt – ab zum Büfett!«, rief Josefine und scheuchte Clara, Mimi und Lazlo wie drei trödelnde Kinder vor sich her.

»Ein imposantes Unternehmen habt ihr euch da zugelegt, Respekt! Ich bin mir sicher, die Druckerei wird unter eurer Führung ein großer Erfolg«, sagte Clara und prostete den anderen zu.

Mimi strahlte. Solche Worte aus dem Mund der großen Unternehmerin Clara Berg? »Und ohne Sie, äh, ohne dich würde es all das hier gar nicht geben! Hättest du mich letztes Jahr nicht mit Josefine bekannt gemacht …«

Doch Clara Berg winkte ab. »Das hat einfach so sein sollen. Und genauso selbstverständlich ist es, dass wir unseren nächsten Versandhandelskatalog bei euch drucken lassen, nicht wahr, Lazlo?«

Diesmal strahlten Mimi und Josefine um die Wette.

»Ihr müsst mich entschuldigen«, sagte Mimi nach dem ersten Glas Sekt bedauernd. »Ich möchte ein wenig die Runde machen, hier jemanden vorstellen, da die Stimmung ein wenig auflockern. Mein Gefühl sagt mir, dass die Drucker angesichts der vielen Fremden, die sich hier in ihren ›heiligen Hallen‹ versammelt haben, ein wenig fremdeln.« Sie wies unauffällig auf die Männer, die sich allesamt rund um ihre Maschinen aufhielten. Sie und ihre Familien besuchten sonst die Feste vom Schützenverein, manch einer kannte sich auch von der wöchentlichen Übungsstunde des Gesangvereins – doch das waren Zusammenkünfte, bei denen man immer dieselben Leute traf.

Sowohl Josefine als auch Clara entließen sie gern – beide schienen froh, an diesem Tag nur Gast und somit von den anstrengenden Aufgaben einer Gastgeberin entbunden zu sein.

Mimi ging mit dem Sektglas in der Hand von einem zum anderen. Sie stellte hier Gäste einander vor, holte da jemanden aus einer Ecke oder sorgte mit einem kleinen Scherz für etwas Auflockerung. Sie wollte sich gerade ein Glas Wasser holen, als sie ihre Mutter, die zusammen mit Mimis Vater am Vortag angereist war, hektisch winken sah.

»Schau, Kind, wer gekommen ist – Onkel Josefs Nachbarin Luise ist hier! Antons Eltern haben sie mitgebracht.«

Mimi stieß einen kleinen Freudenschrei aus. »Luise, dass Sie extra unseretwegen Ihren Neujahrsputz verschieben, hätte ich nicht gedacht!«, sagte sie lächelnd. Von Luise hatte sie einst die Haushaltsführung gelernt, damals, als sie ihren kranken Onkel Josef pflegte – Luises hohen Ansprüchen war sie jedoch trotz größter Anstrengung niemals gerecht geworden.

»Frech bist du also immer noch, Mädle«, sagte die alte Frau und drückte Mimi schmunzelnd so fest an ihren Busen, dass es ihr einen Moment lang die Luft abschnürte. »Ich muss doch gucken, wie es dir ergangen ist! Und liebe Grüße soll ich ausrichten, von Sonja und Berta.«

»Guten Tag, Frau Reventlow«, mischte sich Karolina Schaufler mit säuerlicher Miene ein. »Nur dass Sie es wissen – wir haben extra für diesen Anlass unser Gasthaus geschlossen! Den fehlenden Umsatz ersetzt uns niemand, aber was tut man nicht alles für seine Kinder.« Sie seufzte theatralisch auf.

Mimi zwinkerte Luise unauffällig zu, ehe sie sich an Antons Mutter wandte. »Dann freuen wir uns umso mehr über Ihr Kommen!«, sagte sie versöhnlich, doch im Stillen ärgerte sie sich. Warum konnte sich Frau Schaufler nicht einfach über die Einladung freuen, so wie alle anderen auch? Bestimmt hatte sie auch kein einziges Wort des Lobes für ihren Sohn übriggehabt, dachte sie, während Anton auf sie zukam. Gut sah er aus in seinem besten Anzug! Und beim Friseur war er allem Anschein nach auch extra gewesen. Sie selbst hatte sich ebenfalls trotz aller Widrigkeiten die Zeit genommen, nach Reutlingen zu fahren und sich etwas Neues schneidern zu lassen. In ihrem dunkelgrünen Seidenkleid, das wie angegossen passte, fühlte sie sich sehr wohl und hübsch. Wie hatte Josefine zuvor gesagt? »Ihr wärt ein schönes Paar!« Mimi musste unwillkürlich grinsen.

Anton nickte der kleinen Runde kurz zu, dann sagte er leise zu Mimi: »Bist du bereit?«

Mimi nickte. Und ob!

2. Kapitel

Wie bei ihrer Antrittsrede vor ein paar Monaten, als sie die Druckerei übernommen hatten, stiegen Mimi und Anton gemeinsam auf ein kleines Podest. Anton schlug mit einer Gabel gegen sein Weinglas, und dann warteten sie, bis sich ihnen alle Gäste aufmerksam zugewandt hatten.

»Verehrte Gäste, liebe Mitarbeiter, liebe Münsinger Bürger«, hob Anton an. »Ein aufregendes Jahr liegt hinter uns allen, ein hoffentlich gutes neues Jahr vor uns. Mimi Reventlow« – er bedachte sie mit einem kurzen Seitenblick – »und ich möchten uns an dieser Stelle bei allen bedanken, die uns nicht nur das Einleben in Münsingen leicht gemacht haben, sondern die uns auch nach dem Brand so spontan geholfen haben. Dabei gilt unser ganz besonderer Dank natürlich unseren Angestellten.« Anton ließ seinen Blick über die versammelte Menge schweifen. »Dank Ihres unglaublichen Einsatzes konnten wir nicht nur die verbrannten Kundenaufträge neu drucken, sondern auch noch unser erstes eigenes Druckprodukt!« Er hielt den Kalender mit den Schafmotiven in die Höhe, an dem Mimi bis kurz vor dem Druck noch gefeilt hatte. »Mimi Reventlow hat einen Kalender entworfen, der die Schönheit der Münsinger Alb wiedergibt. Denn nichts spiegelt die raue Schwäbische Alb so sehr wie die Schafherden, die hier oben grasen. Mit großer Freude darf ich verkünden, dass es mir gelungen ist, zehntausend Stück dieses Kalenders im Vorweihnachtsgeschäft an Kaufhäuser, Schreibwarengeschäfte und andere Geschäfte zu verkaufen. Mit ähnlichen Druckprodukten wollen wir zukünftig für unseren Erfolg arbeiten – doch zuerst einmal möchten wir Sie, unsere Mitarbeiter, an diesem ersten Erfolg teilhaben lassen …« Erwartungsvoll schaute er in Richtung der Drucker. »Und deshalb werden wir parallel mit dem Januargehalt einen kleinen Bonus auszahlen!«

Unruhe kam auf, die Drucker schauten sich ungläubig an. Einen Bonus? So etwas hatten sie ja noch nie gehört!

»Ist es gut, solche Interna vor den Gästen auszuplaudern?«, hatte Mimi Anton im Vorfeld unsicher gefragt. Doch als sie nun sah, wie die Drucker bei dem öffentlichen Lob vor Stolz die Schultern strafften, dachte sie: Gut gemacht!

»Auch Sie, unsere lieben Gäste, sollen später nicht mit leeren Händen davongehen«, fuhr Anton fort. »Bitte nehmen Sie sich an den Tischen dahinten jeder einen Kalender, unsere Drucker halten genügend Exemplare für Sie bereit. Der Kalender und natürlich Gottes Segen mögen Sie alle im neuen Jahr begleiten. Ond jetzetle …« – mit einem Grinsen verfiel Anton in breitestes Schwäbisch – »esset und trinket, bis dass der Ranzen spannt!«

Die versammelten Gäste lachten, applaudierten und atmeten erleichtert aus – der offizielle Teil des Abends war hiermit erledigt.

Gleich würden sich bestimmt alle auf das kalte Büfett stürzen, dachte Mimi, doch dann sah sie zu ihrer Verwunderung, wie die allermeisten Gäste zuerst auf die Tische mit den Schafkalendern zugingen.

»Ausgerechnet Schafe«, bemerkte Bernadette, die sich zu Mimi gesellt hatte, und wies mit dem Kopf abfällig in Richtung der Kalender. »Mimi, warum hast du nicht zwölf verschiedene Blumen fotografieren können? Oder zwölf Bäume?«

»Bäume und Blumen? Wer weiß – vielleicht schmücken die einen unserer nächsten Kalender«, erwiderte Mimi lachend. »Ich weiß, dass du für Schafe nichts übrighast, aber schau nur, wie die Leute sich an den Fotos erfreuen!«

Von den Tischen schallte es zu ihnen herüber: »Der Herr ist mein Hirte! Wie schön, dass auch Bibelsprüche bei den Fotos stehen …«

»Guck mal, die vielen neugeborenen Lämmchen, da geht einem ja das Herz auf!«

»Wo gibt’s die Kalender eigentlich zu kaufen? Ich möchte mindestens drei Stück verschenken.«

»Wer ist denn die hübsche Schäferin?«

»Das ist doch die Neue, die Französin, mit der Wolfram gerade auf der Winterweide ist!«

»Gratulation, liebe Frau Reventlow, da hatten Sie wirklich eine gute Idee«, hörte Mimi jemanden neben sich sagen. Es war Siegfried Hauser, einer ihrer ältesten Mitarbeiter.

»Und Sie haben den Kalender perfekt gedruckt«, erwiderte Mimi und prostete Siegfried Hauser zu. Er arbeitete schon seit über zwanzig Jahren in der Druckerei und konnte so ziemlich jede Maschine bedienen – und reparieren! –, die sie besaßen. Und auch er hatte sich nicht gescheut, die vielen Überstunden zu leisten.

Siegfried Hauser zeigte schmunzelnd auf das Blatt des Monats Juni. »Wolf und Schaf sollen beieinanderweiden – das ist ein wahrlich frommer Wunsch!«

Mimi hatte den Mund schon zu einer Erwiderung geöffnet, als an ihrer Stelle Lutz Staigerwald, der Kommandant des Soldatenlagers, der zu ihnen getreten war, antwortete: »Fragt sich nur, ob man die beiden immer auseinanderhalten kann. So mancher Wolf kommt nämlich im Schafspelz daher!« Seine stahlblauen Augen funkelten verschmitzt.

»Herr Staigerwald!« Wie bei all ihren bisherigen Begegnungen fühlte sich Mimi wieder ein wenig überwältigt angesichts des gut aussehenden Majors. Etwas steif reichte sie ihm die Hand, während Siegfried Hauser gen Büfett ging.

Der oberste Soldat schien Mimis Gehemmtheit nicht wahrzunehmen. »Ein wunderbares Fest haben Sie gestaltet, verehrte Frau Reventlow. Respekt, wie gut es Ihnen gelungen ist, die Menschen zusammenzubringen! In der heutigen Zeit ist es wichtiger denn je, dass wir alle gut zusammenarbeiten und uns gegenseitig beistehen.«

Mimi runzelte die Stirn. Täuschte sie sich, oder lag da eine leichte Besorgnis in der Stimme des Majors? Gab es Probleme zwischen dem Truppenübungsplatz und dem Ort? Von Bernadette wusste sie, dass es hin und wieder zu Reibereien kam. Oder war das eine Anspielung auf irgendeine politische Krise, von der sie wieder einmal nichts mitbekommen hatte? So wie damals, als Lutz Staigerwald Anton und ihr bei einem Abendessen erzählt hatte, welche Anstrengungen der Großmächte im letzten Jahr nötig gewesen seien, um einen kriegerischen Flächenbrand auf dem Balkan zu verhindern. Sie hatte damals betroffen geschwiegen. Ein Krieg auf dem Balkan? Davon wusste sie nichts. Aber Himmel noch mal – sie hatte schlicht keine Zeit zum Zeitunglesen!

Und heute wollte sie von solchen Dingen auch nichts hören, beschloss Mimi und entschied spontan, des Majors Bemerkung in Bezug auf das Private zu deuten. Denn es gab etwas, was ihr schon länger auf dem Herzen lag. »Apropos Beistand …«, sagte sie gedehnt.

»Kind, misch dich nicht ein!«, hatte sie auf einmal die Stimme ihres verstorbenen Onkels im Ohr. Sie einfach ignorierend, fuhr Mimi fort: »Bernadette würde jemand, der ihr ein wenig beisteht, auch guttun. Ich weiß, sie wirkt immer wie eine äußerst starke Frau, aber die Sache mit Wolfram im letzten Jahr hat sie sehr mitgenommen …« Schon spürte Mimi, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

»Ich dachte, bei der geplanten Hochzeit sei es eh nur um eine Art Vernunftehe gegangen«, sagte der Major stirnrunzelnd. »Und die Auflösung der Verlobung ging doch von beiden aus, oder nicht?«

Hast du eine Ahnung, dachte Mimi. Als Wolfram Bernadette gestanden hatte, dass er sich unsterblich in Corinne verliebt habe und deswegen sein Hochzeitsversprechen auflösen wolle, war für die Schafbaronin eine Welt zusammengebrochen. Doch das wusste nur sie, Mimi. In der Öffentlichkeit – und allem Anschein nach auch vor Lutz – hatte Bernadette ihre wahren Gefühle für sich behalten.

»Da haben Sie natürlich recht«, sagte sie so bestimmt wie möglich. »Aber was würden Sie davon halten, wenn wir einmal etwas gemeinsam unternähmen? Also, mein Geschäftspartner Anton, ich, Sie und Bernadette. Eine Schlittenfahrt über die Schwäbische Alb. Oder ein Abendessen zu viert … Ein bisschen Abwechslung wäre nicht nur für Bernadette schön, sondern für uns alle.« Mimi, du bist unverbesserlich!, dachte sie und musste fast über sich selbst grinsen.

Lutz Staigerwald schaute sie nachdenklich an. »Wie kommen Sie darauf, dass Bernadette Lust auf so etwas hätte? Ich hatte bisher immer den Eindruck, sie sieht in mir lediglich einen Geschäftspartner. Hat sie etwa diesbezüglich eine Äußerung von sich gegeben?« So sachlich er wohl klingen wollte, so hörte Mimi doch einen Hauch Hoffnung aus seiner Stimme heraus, mehr noch – aufkeimende Freude.

Sie zuckte lächelnd mit den Schultern. »Privat, geschäftlich – vermischt sich das nicht alles irgendwie?« Mehr sagte sie nicht, und sie verkniff sich auch einen vielsagenden Blick. Stattdessen ging sie davon. Verflixt, da organisierte der Mann ein Heereslager mit Tausenden von Soldaten, aber auf die Idee, die Frau, die er ganz offensichtlich nicht erst seit gestern verehrte, einmal auszuführen, kam er nicht?

*

Was Alexander wohl zu diesem Fest sagen würde?, fragte sich Anton, während er mit einer Bierflasche in der Hand einen kurzen Moment der Stille für sich allein genoss. Irgendwie konnte er sich seinen alten Freund hier nicht vorstellen. Auf Mimis Drängen hin hatten sie auch eine Einladung zu ihm nach Stuttgart geschickt. Doch schon im selben Augenblick hatte Anton gewusst, dass Alexander mit einer fadenscheinigen Ausrede absagen würde. Mimi und er waren dem »großen Künstler« wohl nicht mehr gut genug.

Aus den Augenwinkeln sah Anton, wie Adrian Neumann, ebenfalls mit einer Flasche Bier in der Hand, auf ihn zukam.

»Das trifft sich gut«, sagte er, als sein stiller Geldgeber bei ihm angelangt war. »Ich würde gern etwas mit dir besprechen.«

»Genau dasselbe wollte ich auch gerade sagen! Meinst du, die Festgesellschaft kann eine halbe Stunde auf uns verzichten?«

Anton nickte. »Drüben im Büro sind wir ungestört.« Kameradschaftlich einen Arm um die Schulter des anderen gelegt, gingen sie auf Mimis Haus zu. Doch vor der Haustür hielt Adrian zögerlich inne. »Ist es für Mimi in Ordnung, wenn wir einfach ihre Räume betreten?«

Anton winkte ab. »Hier befindet sich auch unser gemeinsames Büro.«

Nachdem er die Oberlichter eingeschaltet hatte, ging er zum Aktenschrank und holte einen Prospekt heraus. »Ich würde gern über eine Neuanschaffung mit dir reden. Es gibt ein neues Verfahren, mit dem man farbige Drucke herstellen kann. Eine Schweizer Firma hat sich die Technik vor ein paar Jahren schon patentieren lassen. Dieser sogenannte ›Photochromdruck‹ ist nicht ganz billig, aber ich denke, die Zukunft liegt in farbigen Drucken. Stell dir nur Mimis Kalender in sattem Grün und mit blauem Himmel vor! Ich würde mir von denen gern ein Angebot machen lassen, wenn du einverstanden bist.«

Adrian nickte und sagte grinsend: »Ihr seid die Chefs, wir nur die stillen Teilhaber. Gegen eine zukunftsträchtige Investition haben Josefine und ich nichts einzuwenden, auch wenn dies bedeutet, dass unser Gewinn dadurch erst einmal geschmälert wird.«

»Wenn du meinst …«, sagte Anton ein wenig verunsichert. Sosehr ihn Adrians Vertrauen schmeichelte – er wollte solche wichtigen Entscheidungen doch nicht gern allein treffen.

»Es gibt allerdings ein Problem, das wir besprechen sollten …« Adrian Neumann räusperte sich. »Das Ganze ist mir sehr unangenehm, und ich weiß auch nicht so recht, wie ich anfangen soll. Nun, kurz und gut: Ich glaube, mit euren Büchern stimmt etwas nicht.«

Anton hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand links und rechts gleichzeitig einen Wangenstreich verpasst. »Willst du damit sagen, wir … wir betrügen euch?« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, während die Gedanken in seinem Kopf im Kreis rasten.

»Um Gottes willen, nein!«, rief Adrian entsetzt aus. »Verzeih mir, wenn ich mich missverständlich ausgedrückt habe. Vielleicht kann ich mich nachvollziehbar machen, wenn ich dir zeige, womit ich mich in den letzten Wochen vergnügt habe …« Mit einem spöttischen Grinsen zog er mehrere Zettel aus der Tasche und bat Anton, sich zu ihm an den Tisch zu setzen.

»Das hier sind eure Aufträge aus dem letzten Quartal. Und das hier« – er zeigte auf ein zweites Blatt – »sind eure Materialkosten.«

»Ja und?«, fragte Anton stirnrunzelnd. Er selbst hatte Herrn Frenzen um diese Kopien gebeten und sie dann an Adrian weitergereicht. »Wir haben doch nach Abzug aller Kosten nicht nur den Brandschaden wieder wettgemacht, sondern sogar schon ein kleines Plus erzielt.«

Der Berliner Radhändler nickte. »Angesichts dieser erfreulichen Entwicklung ist man schnell geneigt zu glauben, alles sei in bester Ordnung. Und wenn man nicht ganz genau hinschaut, fällt einem auch nichts auf – die Rechnungen und Lieferscheine in sich stimmen alle. Wenn tausend Drucke von irgendetwas bestellt wurden, wurden auch tausend Drucke abgerechnet. Davon abgesehen gibt es einige Preisnachlässe, wo Drucke nicht perfekt geraten sind. Nicht besonders erfreulich, aber auch nicht weiter besorgniserregend.«

»Gott sei Dank!«, entfuhr es Anton. »Du hast unseren Buchhalter Karlheinz Frenzen selbst kennengelernt – ich glaube, es gibt kaum einen ehrenwerteren Mann als ihn. Aber wo liegt dann das Problem?«, fügte er hinzu. »Ich verstehe noch nicht, worauf du hinauswillst.«

Adrian Neumann schaute Anton über den Tisch hinweg an. »Worauf ich hinauswill, ist die Tatsache, dass eure Kosten für die Materialbeschaffung und die Herstellungskosten nicht übereinstimmen. Auf einen einfachen Nenner gebracht heißt das, dass ihr tausend Blatt Papier einkauft, nur siebenhundert bedruckt werden, aber die tausend Blatt dennoch weg sind.« Er zog einen kleinen Block aus seiner Jackeninnentasche. »Halte mich nicht für verrückt, aber vor einiger Zeit gab es in der Fabrik eines Bekannten einen ähnlichen Fall. Der kam mir ins Gedächtnis, als ich trotz der augenscheinlich so korrekten Zahlen ein seltsames Gefühl hatte. Also habe ich mir tatsächlich die Mühe gemacht auszurechnen, wie viele Bogen Papier ihr für eure ausgeführten Aufträge tatsächlich verwendet habt.« Er tippte auf eine seitenlange Zahlenkolonne. »Das Ergebnis klafft eklatant mit eurer Materialwirtschaft auseinander.«

»Was heißt das? Dass die Materialkosten einen großen Teil unserer Gewinne wieder auffressen, haben Mimi und ich auch schon festgestellt. Aber was willst du daran ändern?«

Adrian Neumanns Blick war ernst, als er sagte: »Ich kann es nicht beweisen – das zu tun wird deine Aufgabe sein, mein Freund –, aber ich befürchte, irgendjemand bei euch im Betrieb arbeitet auf eigene Rechnung.«

Anton glaubte, nicht richtig zu hören. »Du meinst … Bela Tibor? Oder doch Herr Frenzen?« Der überkorrekte Buchhalter oder der immer etwas schusselige, aber liebenswerte technische Leiter sollten sie übers Ohr hauen?

»Oder beide zusammen«, sagte Adrian Neumann nüchtern. »Jedenfalls kann es nur so sein, dass nebenher Druckaufträge laufen, von denen Mimi und du nichts wisst.«

Anton war fassungslos. »Du willst damit sagen, jemand druckt auf unseren Maschinen irgendwelche Waren und stellt dann eigene Rechnungen dafür aus? Das wäre ja ein großer Betrug!« Er schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein, Adrian. Für Frenzen und Tibor lege ich beide Hände ins Feuer!«

Adrian sah ihn mitleidig an. »Dann ist es gut möglich, dass du dir mindestens eine Hand schon verbrannt hast.«

3. Kapitel

Es war der 6. Januar 1914 – Dreikönigstag –, und es schneite so heftig, dass man außer weißem Gewirbel kaum etwas vor dem Fenster sah. Mimi beschloss, ausnahmsweise den Gottesdienstbesuch ausfallen zu lassen und stattdessen ihre weihnachtliche Dekoration fortzuräumen. Viel zu tun gab es dabei nicht, denn aufgrund der hohen Arbeitsbelastung hatte sie dieses Mal nicht viel Zeit gehabt, es sich für die Adventszeit heimelig zu machen. Mit einem traurigen Lächeln sammelte sie die Tannenzweige ein, die sie auf allen Fensterbrettern ausgelegt hatte. Bei jeder Bewegung rieselten die Nadeln wie Schnee auf den Boden. Eilig trug Mimi die Tannenzweige hinaus auf die Terrasse. Vielleicht würden sich die Mutterschafe im Stall von Bernadette darüber freuen, auch wenn alles schon etwas vertrocknet war?, fragte sie sich. Doch um den Schafen das Nadelgrün zu bringen, hätte sie erst einmal nach vorn auf die Straße gelangen müssen. Ihre Haustür war so zugeschneit, dass sie ohne Schneeschippen nicht hinauskam. Dass Anton dies noch nicht gemacht hatte … wunderte sie sich nicht zum ersten Mal. Andererseits – was ging ihn ihre verschneite Tür an? Er hatte vor dem Eingang seiner eigenen kleinen Wohnung genug zu schippen. Selbst war die Frau!, beschloss Mimi, zog sich eine Jacke an und ergriff die Schneeschaufel.

Anton … Ein Schatten legte sich auf ihr frohes Gemüt, während sie den pappigen, schweren Schnee zur Seite räumte. Sie wusste nicht, warum – konnte es weder an Gesten noch irgendeiner Aussage festmachen –, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Anton ihr etwas verheimlichte. Ging es um das Gespräch, das er mit Adrian Neumann geführt hatte, als sie am Neujahrsempfang so lange weg gewesen waren? Oder bedrückte ihn etwas Privates? Wenn sie ihn fragte, antwortete er stets, dass alles in Ordnung sei und sie sich etwas einbilden würde.

Mimi runzelte die Stirn. Sie kannte Anton zu gut, um nicht zu wissen, dass da etwas im Busch war! Aber bitte, wenn er es vorzog zu schweigen … Sie waren schließlich nicht verheiratet, und er war ihr über das Geschäftliche hinaus keine Rechenschaft schuldig.

Nach einer halben Stunde war sie verschwitzt und durchgefroren zugleich. Ihre Arme zitterten, ihre Füße waren eiskalt. Aber immerhin war ein schmaler Weg von ihrem Haus bis zur Straße frei – das musste reichen. Zum Glück hatten es all ihre Neujahrsgäste noch vor den neuen Schneefällen nach Hause geschafft.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, begann sie, die hölzernen Krippenfiguren wegzupacken, die ihr jugendlicher Freund Fritz Klein ihr aus Laichingen geschickt hatte. Sobald diese in ihrem Karton lagen, würde von Weihnachten nichts mehr zu sehen sein.

Schade eigentlich, dachte Mimi, während sie das kunstvoll geschnitzte Ochs- und Eselspaar in der Hand drehte. Jedes Jahr freute man sich so sehr auf Weihnachten, und jedes Mal war es so schnell wieder vorbei. Elf Monate würden vergehen, ehe die frohe Zeit des Advents erneut begann.

Der Lauf der Zeit, der immer wiederkehrende Rhythmus der Jahreszeiten, die Gewissheit, dass sich der Kreis jedes Jahr aufs Neue schließen würde – genau das spiegelte auch ein Kalender wider. Unwillkürlich wanderte ihr Blick hinüber zu der Wand, an der sie ihren Schafkalender aufgehängt hatte. Ihr allererstes selbst entworfenes Druckprodukt. Gedruckt auf ihren eigenen Pressen. Sie war so stolz darauf! Nach all den Wochen, in denen die Inspiration sie im Stich gelassen hatte, war ihr die Idee mit den Schafmotiven wortwörtlich zwischen Tür und Angel gekommen. Und ausgerechnet ihre Mutter, die zu dieser Zeit bei Mimi zu Besuch gewesen war, war nicht ganz unschuldig daran …

Beim Gedanken an ihre Mutter durchströmte Mimi ein Gefühl der Dankbarkeit. Amelie Reventlow war es auch gewesen, die ihr die Liebe zur Adventszeit vermittelt hatte. Mimi konnte sich noch gut daran erinnern, wie aufregend und spannend der Dezember für sie als Kind gewesen war. »Wann ist denn endlich Heiligabend?«, hatte sie die Mutter immer und immer wieder gefragt. Am Ende der ersten Adventswoche hatte Amelie, die an diesen Tagen immer besonders viel Wohltätiges zu tun und keine Zeit für allzu viele Kinderfragen hatte, Mimi an der Hand genommen und ins Kinderzimmer geführt. Mit einem Stück Kreide hatte die Mutter dann vierundzwanzig Striche an den Holzrahmen der Tür gemalt. »Das sind die vierundzwanzig Tage bis zum Heiligen Abend. Du darfst nun jeden Tag einen der Striche durchstreichen, sodass ein Kreuz entsteht. Schau, so wie ich es bei den ersten Tagen, die schon vorbei sind, mache.« Nachdem sie die ersten sieben Striche durchkreuzt hatte, hatte Amelie die Kreide ihrer Tochter gegeben. »Jeden Tag nur ein Strich, Kind! Wenn du am letzten Strich angekommen bist, ist Weihnachten.«

Mimi war selig gewesen. Und ihre Fragerei, wann denn endlich Weihnachten sei, hatte ein Ende gehabt.

Ihr persönlicher Adventskalender aus Kreide … Erst mit fünfzehn oder sechzehn hatte sie sich von dieser Tradition trennen können. Mimi lächelte, doch im nächsten Moment erstarb das Lächeln wieder. Sie runzelte die Stirn.

Ihr Blick wanderte zwischen dem Kalender an der Wand und ihrer verpackten Adventsdekoration hin und her. Advent … Kalender … Adventskalender …

Ihr Herz schlug auf einmal heftig. Hektisch sprang sie auf, nahm den Kalender von der Wand, strich darüber, als erhoffte sie sich dadurch eine Art Erleuchtung. Oder hatte sie diese gerade bereits gehabt?

O mein Gott. Sie lachte nervös auf.

Ein Adventskalender! Nicht nur ein Blatt, sondern einen, den man an die Wand hängen konnte wie einen normalen Kalender, mit vierundzwanzig Blättern Papier, liebevoll und detailreich mit weihnachtlichen Motiven bemalt! Und jeden Tag durften die Kinder ein Blatt abreißen und sich an etwas anderem erfreuen. An einem glänzenden Engel. An gemalten Krippenfiguren oder einem Weihnachtsbaum. Eine Knecht-Ruprecht-Abbildung am 6. Dezember. Oder … Schluss! Sie hatte so viele Ideen, dass vierundzwanzig Tage gar nicht reichen würden.

Ein gedruckter Adventskalender für die Adventszeit 1914. Mit dieser Idee würde sie Abertausende von Kindern glücklich machen.

Du liebes bisschen, wenn sie das Anton erzählte …

*

Morgen begann nach den Weihnachtsferien wieder der Betrieb in der Druckerei, und er hatte immer noch keinen Plan, dachte Anton verärgert, während er mit einem Lappen die Zündkerzen seines Mercedes Phaeton reinigte. Dabei grübelte er seit dem Gespräch mit Adrian Neumann über nichts anderes mehr als darüber, wie er den Betrüger in den eigenen Reihen überführen konnte.

Frustriert warf er den Lappen zu Boden und baute gerade die Zündkerzen wieder ein, als er Mimi über den verschneiten Hof schlittern sah.

Mimi … Noch so ein ungelöster Fall, zumindest was seine Gefühle ihr gegenüber anging. War sie nur seine Geschäftspartnerin? Oder war er womöglich doch in sie verliebt? Es gab Momente, da traf das eine zu. Und dann gab es auch die anderen Momente …

Als er nun ihre vor Aufregung roten Wangen sah und das Feuer in ihren Augen, dachte er: Sie ist so schön … Und so lebendig wie keine andere Frau!

»Anton, du glaubst nicht, was für eine Idee ich gerade hatte! Sie ist einfach …« Mimi fuchtelte hektisch mit beiden Händen in der Luft herum. »Grandios! Aber das kann ich dir nicht hier erzählen, dafür musst du mit ins Büro kommen!«

Er kannte auch keine andere Frau, die sich so sehr für etwas begeistern konnte. Grinsend wischte er sich beide Hände an einem frischen Tuch ab und folgte ihr ins Haus. »So, dann mal raus mit der Sprache«, sagte er, kaum dass sie in ihrem Büro am großen Besprechungstisch saßen.

»Kalender …«, hauchte Mimi. »Jeder Mensch liebt Kalender. Und wenn es dann noch ein so schöner ist wie unser Schafkalender …«

Anton runzelte die Stirn. »Du willst noch mal einen mit Fotos von Schafen auflegen?« War das nicht zu viel des Guten?

»Blödsinn!«, wischte sie seinen Einwand leicht verärgert beiseite. »Ich habe etwas ganz anderes vor.« Atemlos erzählte sie ihm von ihrer Idee mit den Adventskalendern. Ihre Wangen röteten sich bei jedem Satz mehr, ihre Augen glänzten fast fiebrig, sodass er einen Moment lang Sorge in sich aufkommen spürte. War es lediglich ihre Begeisterung, die hier ihren Ausdruck fand? Oder wurde Mimi etwa krank? In der letzten Woche hatte es einige Leute böse erwischt, eine Grippe, nicht ungefährlich, ging herum. Im nächsten Moment rief er sich selbst zur Raison. Langsam schnappte er wohl über vor lauter Fürsorge um Mimi.

»Das ist genial!«, rief er, schob abrupt seinen Stuhl nach hinten und stand auf. »Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene werden diesen Adventskalender lieben. Ich bin ja nicht so kreativ wie du, aber was mir spontan dazu einfällt, ist ein Blatt, aus dem man einen Stern falten kann. Oder einen Papierflieger!« Damit würden sie reiche Leute werden, dachte er.

»Anton, das ist genial!«, sagte Mimi begeistert. »Ich freue mich so, dass dir meine Idee auch gefällt. Wenn ich ehrlich bin, sehe ich unseren Kalender schon in jedem Haus hängen.«

Er lachte. »Dir ist aber klar, dass wir damit gleich das nächste Riesenprojekt vor uns haben, oder? Wenn die Kalender ab November im Handel verfügbar sein sollen, müssen wir schnellstens loslegen. Vierundzwanzig schöne Tagesblätter müssen gestaltet werden, und wir brauchen dafür stabiles Papier, das auch Kinderhänden standhält. Und dann müssen wir auch noch unseren Vertrieb ausweiten. Am besten schauen wir uns gleich nach ein, zwei weiteren Handelsvertretern um, die ich persönlich schulen werde. Denn wenn wir diese Kalender in großem Stil vertreiben wollen, schaffe ich allein das nicht.«

Mimi nickte. »Dann übernehme ich den Brief an Alexander, einverstanden? Wenn ich ihn freundlich frage, malt er uns bestimmt die allerschönsten Kalenderblätter. Gegen Bezahlung natürlich!«

»Alexander?«, sagte Anton alarmiert. Seine gute Laune bekam schlagartig einen Dämpfer, wenn er an das letzte Treffen mit seinem alten Freund dachte. Er, der arme Webersohn aus Laichingen, nannte sich jetzt affektiert »Paon«, was auf Deutsch wohl Pfau hieß. Ein Künstlername, pfff! Ihm, Anton, gegenüber war er aggressiv und ablehnend gewesen. Dass er nun Inhaber einer Druckerei war, hatte Alex nur mit der abfälligen Bemerkung quittiert, er habe wohl lediglich ein Dorf gegen das andere ausgetauscht. Er hingegen habe sich zum Glück von seinem Heimatort Laichingen sowie allen Personen, die damit zu tun hatten, gelöst.

Gelöst – so konnte man das auch nennen, dachte Anton verächtlich, während Mimi ihn noch immer wartend anschaute. In seinen Augen hatte Alexander alles verraten, was ihnen einst heilig gewesen war: Freundschaft, Familie, Loyalität. Und dass es Mimi Reventlow war, der er seine »Karriere« als Maler zu verdanken hatte, hatte Alex auch vergessen und stattdessen eine abfällige Bemerkung über die Fotografin gemacht. An dieser Stelle war es ihm, Anton, zu bunt geworden. Barsch wies er seinen Freund zurecht, dass er so etwas nicht hören wolle. In diesem Moment hatte er gespürt, dass es zwischen ihnen nie mehr so sein würde wie früher …

»Anton?«, sagte Mimi stirnrunzelnd.

»Mir wäre es lieber, wenn wir dieses Projekt ohne Alexander verwirklichen«, sagte er so neutral wie möglich, aber auch ohne weitere Erklärungen. »Außerdem – wozu haben wir einen Illustrator eingestellt? Am besten fahren wir in den nächsten Tagen nach Ulm und sprechen mit Steffen Hilpert. Wenn du ihm genau sagst, was dir vorschwebt, kann er zeigen, was in ihm steckt.«

»Da hast du recht«, stimmte Mimi ihm zu seiner Erleichterung zu. »Dann lass uns gleich morgen früh mit Bela Tibor sprechen. Er kann uns sagen, ob wir bei den Entwürfen auf irgendetwas wie besondere Randzugaben oder Abstände achten müssen.«

Anton verdrehte innerlich die Augen. Vom Regen in die Traufe, nannte man das wohl, dachte er sarkastisch.

»Bela Tibor …«, begann er gedehnt. »Ehrlich gesagt sollte er von unserer neuen Geschäftsidee auch nichts erfahren. Es ist nämlich so …« Stockend und mit schwerem Herzen berichtete er schließlich von Adrians und seinem Verdacht. »Dass einer aus unseren Reihen betrügt, steht fest. Nach einigem Hin und Her denke ich inzwischen, dass es nicht Karlheinz Frenzen ist, sondern Tibor.«

Wie erwartet war Mimi fassungslos. »Das kann nicht sein! Nicht Bela Tibor …«, flüsterte sie.

»Mir fiel es anfangs auch schwer, das zu glauben. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Kleinigkeiten fallen mir ein, die … die dazu passen. Hast du es beispielsweise nicht schon immer seltsam gefunden, dass Bela Tibor so vehement darauf besteht, allein mit den Lieferanten zu verhandeln?«

Mimi, deren Röte einer unnatürlichen Blässe gewichen war, schaute Anton stumm an.

»Und dann, im letzten Oktober … Ein Herr Maustobel, Inhaber einer Malerwerkstatt, kam auf den Hof. Ich wollte den Herrn begrüßen, doch Bela schickte mich nach wenigen Worten regelrecht davon. Er allein wollte Herrn Maustobel bedienen!« Anton schnaubte. »Keine Ahnung, welche Geschäfte am offiziellen Kassenbuch vorbei die beiden damals getätigt haben. Vielleicht hätte ich schon da hellhörig werden sollen. Aber mir ging es wie dir – der nette, etwa tollpatschige Tibor war über jeden Zweifel erhaben!«, endete er ironisch. So blauäugig würde er nie mehr im Leben sein, schwor er sich im selben Moment.

Mimi schüttelte den Kopf. »Ich fass es einfach nicht. Wieso hast du nicht gleich mit mir gesprochen, nachdem Adrian dir seinen Verdacht offenbart hat? Traust du mir nicht? Ich dachte, wir sind Partner hier in der Druckerei!«

Das hatte ja kommen müssen … »Als ob ich dir nicht vertrauen würde!«, fuhr Anton auf. »Ich wollte lediglich, dass du unbefangen weiterarbeitest. Alles soll harmlos und normal wirken, sonst riecht Bela Lunte, noch bevor ich einen Plan habe, wie ich ihn auf frischer Tat ertappen kann.« Sanfter fügte er hinzu: »Und jetzt mach dir keine allzu großen Gedanken, wir schaffen das! Wer, wenn nicht wir?«

*

Wir schaffen das?, wiederholte Mimi stumm, als Anton wieder gegangen war. Als wäre die menschliche Enttäuschung nicht schlimm genug, war Tibor in der Druckerei quasi unentbehrlich! Er hatte nicht nur die ganze Technik unter sich, sondern auch den Wareneinkauf. Er plante jeden Tag, er führte die Drucklisten, er sorgte für Papiernachschub und so weiter. Wenn man es genau betrachtete, leitete er den ganzen Betrieb! Einen Glücksfall hatten Anton und sie ihn genannt und waren froh gewesen, den fähigen und fleißigen Bela zu haben. Wenn wirklich er ein betrügerischer Gauner war – wie und durch wen sollten sie ihn ersetzen?

Auf wackligen Beinen verließ Mimi ihr Büro, setzte sich in die gute Stube und starrte gedankenverloren vor sich hin. Ausgerechnet Tibor … Der sie immer ein wenig an einen zerstreuten Herrn Professor erinnerte, der ihr eine absurde Idee nach der anderen präsentierte, den sie als Freund ansah. Konnte man denn heutzutage niemandem mehr trauen?

Sie wankte in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Doch als sie vor dem Herd stand, war allein die Vorstellung, jetzt ein Feuer zu machen und Wasser zu kochen, zu viel. Sie wollte einfach nur ins Bett und den Tag hinter sich lassen.

Normalerweise verspürte sie, wenn sie verzweifelt war, trotz allem ein tiefes Gottvertrauen, doch heute fühlte sie stattdessen nur ein Frösteln. Warum war ihr nur so kalt? War es der Schock? Oder war sie draußen zu lange mit dem Schnee beschäftigt gewesen?

Vor ein paar Stunden noch war sie so glücklich über ihre Idee mit den Adventskalendern! Und jetzt fühlte sie sich elend wie schon lange nicht mehr.

Mimi wankte in ihr Bett und zog sich die Decke über den Kopf.

*

Nach einer äußerst schlechten Nacht hatte Anton am nächsten Morgen einen Entschluss gefasst: Er würde allein nach Ulm fahren und mit Frenzen sprechen. Heute war der 7. Januar, also der erste Arbeitstag im neuen Jahr. An diesem Tag würde ihr Buchhalter sicher keinen Besuch von ihm erwarten – das Überraschungsmoment war somit auf seiner, Antons, Seite. Wenn er Frenzen mit seinem Verdacht konfrontierte, würde er seine Reaktion genau betrachten. Falls Frenzen außen vor war – wovon Anton im Augenblick ausging –, würde er sich auf Tibor fixieren. Aber auch wirklich erst dann. Denn beschuldigte er Tibor fälschlicherweise, wäre in der Druckerei die Hölle los. Die Leute würden sich von ihm abwenden, vielleicht sogar kündigen, und er würde es ihnen nicht verdenken können.

Ein Schritt nach dem anderen, das aber konsequent und ohne weiteres Zögern, dachte Anton und zog sich vor dem Spiegel den Kragen seines Hemdes glatt.

Er ging in die Druckerei, drehte eine Runde, begrüßte jeden der Männer und wünschte ihnen einen guten Start ins neue Arbeitsjahr. Dann betrat er das Büro, wo er Bela Tibor vertieft in die wöchentliche Druckliste vorfand.

»Ich fahre geschäftlich nach Ulm, werde dort auch übernachten«, sagte Anton anstelle einer Begrüßung.

»Aber sicher, gnädiger Herr, fahren Sie nur. Geben Sie acht auf sich, die Straßen sind bei dem Wetter gewiss nicht ganz ungefährlich«, antwortete der Druckereileiter und schaute gütig drein wie der Weihnachtsmann persönlich.

Warum war ihm nicht schon früher aufgefallen, dass Tibors überfreundliches Getue etwas Unnatürliches hatte?, fragte sich Anton. Laut sagte er: »Haben Sie Frau Reventlow heute schon gesehen?« Normalerweise schaute Mimi ebenfalls frühmorgens in der Druckerei vorbei, um allen einen guten Tag zu wünschen.

Der Druckereileiter schüttelte den Kopf. »Ich hoffe sehr, dass die gnädige Frau bei diesen winterlichen Verhältnissen im Haus bleibt und ihre schönen Fotografien sortiert.«

… und dich in Ruhe agieren lässt, fügte Anton stumm hinzu. Er nickte. »Gut, dann gehe ich noch kurz bei Mimi vorbei und sage ihr Bescheid, dass ich weg bin!«

Anton klopfte ein Mal, klopfte zwei Mal, klopfte ein drittes Mal. Im Haus rührte sich nichts. Was um alles in der Welt machte die Frau, dass sie nichts hörte? Anton ging leicht verärgert in seine Wohnung, um den Hausschlüssel zu holen, den er für den Notfall von Mimi bekommen hatte.

Sein Groll verflog, als er Mimi in ihrem Bett vorfand, schweißnass, fiebrig und mit geschlossenen Augen. Ihre Atmung ging schnell, und als er ihren Namen rief, reagierte sie nur mit einem schwachen Flattern ihrer Augenlider.

Er legte eine Hand auf ihre Stirn. Sie war kochend heiß.

»Mimi …«, flüsterte er erschrocken.

»Anton … Mir ist so elend …« Ihr Brustkorb hob und senkte sich schwer, als wäre jedes Wort ein Kampf für sie. Ihr Kopf kippte zur Seite weg, Anton wusste nicht, ob sie schlief oder ohnmächtig geworden war.

Vergessen war Ulm, vergessen war auch Bela Tibor, während er sich angstvoll fragte, ob er gleich zum Arzt laufen oder Mimi zuerst frische Kleidung anziehen sollte. Letzteres, beschloss er und trat an den Schrank, um Unterwäsche und Nachthemd herauszuholen.

Es war die Grippe. Diese ginge gerade in der ganzen Gegend herum, bemerkte der Arzt, der eine Stunde später an Mimis Krankenbett saß. Es konnte gut sein, dass sie sich beim Neujahrsfest angesteckt hatte. Aber die Fotografin sei ja Gott sei Dank von robuster Natur.

»Was kann ich tun?«, fragte Anton flehentlich, dessen Herz gerade für einen Schlag ausgesetzt hatte.

»Frau Reventlow braucht vor allem Ruhe und viel heißen Tee – Lindenblüte und Holunder wäre am besten. Machen Sie kalte Wadenwickel, bis das Fieber heruntergeht. Leichte Speisen sind dienlich, Gemüse- oder Hühnersuppe. Und lüften Sie den Raum mehrmals täglich. Was ganz wichtig ist: Sorgen Sie dafür, dass die Kranke viel trinkt! Die Gefahr einer Dehydrierung bei derartig hohem Fieber ist nicht zu unterschätzen.« Der Arzt packte sein Hörrohr und das Fieberthermometer ein und klappte die Tasche zu. »Sollte sich ihr Zustand verschlechtern, geben Sie mir sofort Bescheid.«

Anton nickte. Er würde für Mimi sterben, wenn es half.

4. Kapitel

Bernadette war mit der Buchhaltung beschäftigt, als es an ihrer Haustür klopfte. Sie hob erstaunt die Brauen. Wem war es heute, bei minus zehn Grad, so wichtig, bei ihr vorbeizuschauen?

Es war der Münsinger Bürgermeister, der ihr nach einem geknurrten »Guten Morgen« verkündete, dass ein paar ihrer Schafe auf einem der Nachbarhöfe in einer vereisten Schneewehe steckten und sich von selbst nicht befreien konnten. »Jetzt ist das neue Jahr gerade mal neun Tage alt, und schon geht der Ärger mit euren Schafen wieder los! Sag dem Wolfram, er soll seine Hirten besser schulen. Kümmert der Mann sich denn um gar nichts mehr?«, endete Oskar Baumann laut.

Das fragte sie sich auch manchmal, dachte Bernadette grimmig. Gepresst erwiderte sie: »Sind wahrscheinlich ein paar der französischen Schafe. Als Wolfram zur Winterweide aufbrach, waren sie nicht ganz gesund, deshalb musste er sie im Stall zurücklassen. Sie kennen den Schnee nicht, sind noch unerfahren.« Wenn Wolfram erfuhr, dass seine heiß geliebten französischen Merino d’Arles in Gefahr waren … Am liebsten hätte sie die Viecher verrecken lassen, nur um ihn zu ärgern. »Ich habe keine Ahnung, warum die blöden Viecher ständig aus dem Stall ausbrechen. Wahrscheinlich sind sie genauso dumm wie die französische Schlampe, die sie hergebracht hat!«

Corinne! Die Vorstellung, dass Wolfram mit seiner »großen Liebe« im gemütlichen Schäferkarren kuschelte, ließ Bernadette fast verrückt werden.

»Bernadette!«, sagte der Bürgermeister streng. »Euer Streit interessiert mich nicht. Und ich habe keine Lust, mir ständig Beschwerden über eure Schafe anzuhören. Regle das! Und du wirst ja wohl auch nicht wollen, dass die Tiere im Schnee umkommen.«

»Natürlich regle ich das, lieber Oskar, sofort! Du kennst mich doch«, sagte sie übertrieben pflichtschuldig.

War es nicht wieder einmal typisch?, dachte sie, nachdem der Bürgermeister fort war. Während Wolfram sich unten im Tal einen schönen Lenz machte, konnte sie schauen, dass sie hier oben auf der Schwäbischen Alb alles organisiert bekam.

Ihr Blick fiel auf ihren übervollen Schreibtisch. Eigentlich hatte sie den eisig kalten Tag nutzen wollen, um mit dem Jahresabschluss des Vorjahres zu beginnen. Bei einem Betrieb, der mehr als ein Dutzend Leute beschäftigte – Hirten, Knechte – und dazu Abertausende von Schafen und ausgedehnte Ländereien umfasste, würde sie etliche Tage, wenn nicht Wochen dafür brauchen. Stattdessen konnte sie jetzt erstmals zusehen, wie sie die Schafe zurück in den Stall brachte. Die Weide, auf der sie standen, lag ein gutes Stück entfernt. Alle Wege waren zugeschneit. Außer Wolfram waren ihre vier besten Hirten auf der Winterweide, alle würden frühestens Ende März zurückkommen. Daheimgeblieben waren bloß die jungen, unerfahrenen Schäfer und Wolframs alter Vater.

Und wieder einmal war sie allein, schoss es Bernadette durch den Kopf, während sie ihren Mantel anzog. Wäre Corinne nicht aufgetaucht, wären Wolfram und sie längst glücklich verheiratet so wie alle Leute in ihrem Alter im Dorf. Aber dank der französischen Schlange, die sie so hinterlistig ausgebootet hatte, war sie weiterhin die einzige alte Jungfer. Ob beim Bäcker oder beim Metzger, ob in der Post oder in der Bank – sie spürte, wie hinter ihrem Rücken getuschelt und gelästert wurde. Kein Wunder, welche Frau wurde schon zwei Mal hintereinander vor dem Traualter stehen gelassen?

Ein Wehlaut kroch aus Bernadettes Kehle, es war eine Mischung aus einem Schluchzer und einem hasserfüllten Schrei. Sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass es wehtat, dann marschierte sie los.

*

»Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend. Wenn dann das Fieber nicht sinkt … Machen Sie alles weiter wie bisher, junger Mann! Mehr können wir nicht tun. Der Rest ist Sache vom lieben Gott«, sagte der Arzt am Ende seines nächsten Besuchs, während er Anton zum Abschied die Hand schüttelte. Kurz darauf war er wieder fort.

Anton schaute ihm aufgelöst hinterher. Alles weiter wie bisher?, dachte er, während er zurück ans Krankenbett ging. Seit Mittwoch wechselte er Mimis verschwitzte Kleidung und die Laken, flößte ihr Suppe oder Tee ein und betete. Bisher war weder Mimis Fieber gesunken, noch hatte sie sich auch nur ein bisschen erholt. Und heute war schon Freitag!

Sorgenvoll betupfte Anton Mimis Stirn mit einem feuchten Lappen, dann kühlte er mit einem zweiten Lappen ihre Beine, so wie er es jede Stunde tat.

Am Mittwoch hatte Mimi noch helle Momente gehabt und ihn mit krächzender Stimme um einen Schluck Wasser gebeten oder darum, dass er sie zur Toilette brachte. Wie hatte er sich gefreut, als sie ein paar klein geschnittene Apfelstücke aß! Doch dann, in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, war sie in eine Art Delirium verfallen. Sie war nicht mehr ansprechbar, jammerte nur leise vor sich hin. Am schlimmsten jedoch waren die Augenblicke, wenn sie ganz still wurde und er erschrocken ein Ohr an ihre Brust hielt. Jedes Mal, wenn er ihre rasselnde Atmung vernahm, fielen ihm riesige Wackersteine vom Herzen. Noch lebte sie.

»Mimi, Mimi, bitte lass mich nicht allein«, murmelte er vor sich hin, während er ihre heiße Hand in der seinen hielt. Eine Antwort bekam er nicht. Mimi hatte die Augen geschlossen und dämmerte vor sich hin.

Als es kurze Zeit später an der Tür klopfte, lief Anton so schnell hin, als hinge sein Leben davon ab. War dem Arzt doch noch etwas eingefallen, womit sie Mimi helfen konnten?

*

»Anton, wie gut, dass ich dich treffe!«, sagte Bernadette atemlos. »In der Druckerei sagten sie mir, dass du hier bist. Ein paar unserer Schafe sind in Gefahr, und ich wollte dich bitten, dass du Wolframs Vater und mich mit deinem Automobil zu ihnen fährst. Dadurch würden wir kostbare Zeit sparen. Wärst du so lieb?« Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Bei der Eiseskälte würde sie sich den langen Fußweg zu den blöden Viechern wirklich gern sparen.

»Schafe?« Anton schaute sie feindselig an. »Tut mir leid, aber ich kann Mimi wirklich nicht allein lassen!«

Bernadette stutzte. »Was ist mit ihr?«

»Sie hat die Grippe. Seit Mittwoch versuche ich, ihr Fieber zu senken, bisher vergeblich. Gerade war der Arzt da, er sagt, wir müssen beten …«

Hätten Antons Worte nicht gereicht, sie bis ins Mark zu erschrecken, so hätte dies seine Stimme getan, dunkel von Angst und Entmutigung. Anton – den Tränen nahe? Sofort wurde es Bernadette selbst auch ganz mulmig.

»Warum weiß ich nichts davon? Ich hätte dir doch geholfen!«, fuhr sie ihn an.

Er verzog das Gesicht. »Tut mir leid, irgendwie habe ich nicht daran gedacht, jemanden um Hilfe zu bitten. Und dann die Ansteckungsgefahr …«

»Ob ich mich dieser Gefahr aussetzen möchte oder nicht, entscheide immer noch ich«, sagte sie barsch. »Mimi ist meine beste Freundin, für sie tue ich alles!« Sie dachte kurz nach. »Pass auf, wir machen es so: Ich laufe zu Wolframs Eltern raus, gebe Bescheid wegen der Schafe. Von da an muss Wilhelm sich allein kümmern. In einer Stunde bin ich wieder hier, und dann pflegen wir Mimi gemeinsam.«

Anton nickte nur kläglich.

Ihren Schal gegen die Eiseskälte eng um ihr Gesicht geschlungen, kämpfte sich Bernadette durch die schlecht geräumten Straßen des Ortes, schlitterte hier, rutschte da aus. Hoffentlich war Wolframs Vater zu Hause, dachte sie, als sie schweißnass auf dem Hof ankam.

Das Glück war auf ihrer Seite, denn schon von Weitem sah sie Wilhelm Weiß mit einer Hacke den zugefrorenen Brunnen in der Mitte des Hofes frei pickeln.

Ohne unnötige Vorreden klärte sie ihn über die feststeckenden Schafe auf. »Und noch was!«, sagte sie, während er sich schon für die Rettung der Schafe fertigmachte. »Du braust doch in deiner Küche immer alle möglichen Heilmittel für die Schafe zusammen – hast du auch etwas gegen Fieber, das nicht sinken will?«

Er schaute sie an. »Ich nicht«, sagte er. »Aber Corinne hat für den Hof verschiedene Kräuterauszüge hergestellt, bevor sie mit Wolfram zur Winterweide ins Rheinhessische aufgebrochen ist.«

*

Anton konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so dankbar gewesen war wie in dem Moment, als Bernadette zurückkehrte und das Regiment übernahm. Es war nicht so, als wäre ihm die Arbeit zu viel, Gott behüte! Es war seine verdammte Hilflosigkeit, die ihm die Kraft aus den Adern saugte.

Bernadette krempelte ihre Ärmel hoch und verkündete, Mimis Beine nun mit kühlendem Kampfer einzureiben. Eine besondere Teemischung hatte sie ebenfalls mitgebracht, Anton solle gleich mal Wasser kochen! Ihre Magd Heidi würde außerdem gegen Abend einen Topf Suppe vorbeibringen – nährende Rinderkraftbrühe mit viel Gemüse, das Mimi gewiss guttat. Dann kramte Bernadette in ihrer Tasche und hielt Anton eine dickwandige Flasche mit einer zähflüssigen dunkelbraunen Flüssigkeit hin.

»Die Medizin ist von Corinne, der Französin. Wolframs Vater sagt, sie kenne sich noch besser mit Heilkräutern aus als er. Von diesem Saft sollen wir Mimi drei Mal am Tag einen Löffel einflößen.« Bernadette biss sich auf die Unterlippe. »Du weißt ja, dass ich nichts für Corinne übrighabe. Aber dass sie eine gute Kräuterfrau ist, das glaub ich sofort! Bist du einverstanden, dass wir es mit diesem Mittel wagen?«

Der Inhalt der Flasche wurde sonst vermutlich einem kranken Schaf oder Pferd eingeflößt, dachte Anton argwöhnisch. Und davon sollte Mimi etwas nehmen? Andererseits – der Arzt war mit seinem Latein am Ende. Und er war es auch …

Er nickte dumpf. »Was bleibt uns anderes übrig?«

Mimis Fieber sank schon am selben Abend. Auch war sie einige Zeit wach und bat um eine Tasse Tee. War es Corinnes Zaubertrank oder der normale Verlauf der Krankheit – Anton wusste es nicht. Aber er wusste, dass er noch nie in seinem Leben so erleichtert gewesen war. Mimi war über den Berg. Die lebensbedrohliche Krise war vorbei, ihre Genesung war nur noch eine Frage der Zeit.

Das ganze Wochenende über teilten sich Anton und Bernadette die Pflege. Am Montagmorgen, während Bernadette an Mimis Bett saß und ihr Schluck für Schluck Tee einflößte, sagte Anton jedoch: »Wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich auf einen Sprung in die Druckerei rübergehen.«

Die Schafbaronin winkte ihn davon. Er solle ruhig gehen!

Es war schon erstaunlich, wie sehr sich die Prioritäten verschoben, wenn ein geliebter Mensch auf einmal schwer krank war, dachte Anton, während er die Haustür hinter sich zuzog. Nichts von dem, was bis zu diesem Zeitpunkt wichtig gewesen war, zählte mehr. Weder geschäftliche Dinge noch private Vergnügungen – nur noch der geliebte kranke Mensch war wichtig.

Dennoch war es höchste Zeit, dass er in der Druckerei nach dem rechten sah! Seit er Bela Tibor verkündet hatte, dass Mimi krank sei und er nun doch nicht nach Ulm fahre, hatte er sich nicht mehr blicken lassen – er hatte Mimi keine fünf Minuten allein lassen wollen. Aber nun musste sich das wieder ändern.

Anton nahm aus den Augenwinkeln einen Wagen wahr, der am hinteren Eingang des Lagers geparkt hatte. Kundschaft? Eine Auslieferung?

»Morgen, Männer!«, rief er über den Lärm der Druckerpressen hinweg in den Raum hinein, und die Arbeiter nickten oder grüßten zurück.

Wenn er jetzt noch von Bela Tibor hörte, dass alles gut lief, konnte er für heute bald wieder zu Mimi hinüber, dachte Anton und ging in Richtung Tibors Büro.

Bela Tibor war nicht allein. Vor seinem vollgestopften Schreibtisch stand ein Herr, den Anton nicht kannte. Tibor hingegen schien den Mann umso besser zu kennen.

»… hier sind die Einladungen zu Ihrem alljährlichen Maskenball!« Von Anton durch einen schmalen Türspalt beobachtet, tippte der Druckereileiter auf einen hohen Papierstapel. »Und das sind die Einladungen für die zwei Fastnachtfeiern Ihrer Lokale. Und der kleine Stapel da sind Ihre neuen Visitenkarten, Hochglanz wie beim letzten Mal. Wie immer erledigen wir das auf dem kleinen Dienstweg, somit wird es dreißig Prozent günstiger, sehr verehrter Herr Schwendi. Unsere Chefs müssen ja nicht alles wissen …« Er lachte komplizenhaft, und Herr Schwendi stimmte in das Lachen ein.

Das gibt’s doch nicht!, dachte Anton. Auf frischer Tat ertappt. Und das ganz ohne Plan.

Er stieß die Tür auf, trat ein und sagte: »Das Lachen wird Ihnen gleich vergehen, Sie elender Ganove! Wie hundsgemein ist es, mein Vertrauen derart zu missbrauchen!« Es hätte nicht viel gefehlt, und Anton hätte vor den beiden Männern auf den Boden gespuckt.

»Herr Schaufler … Es ist nicht so, wie Sie meinen …« Eilig raffte Tibor irgendwelche Unterlagen zusammen, dann sprang er auf. »Es handelt sich hier um Fehldrucke und …«