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Europas Christentum im Kampf gegen die Zumutungen der Moderne. Der Auftritt der bürgerlichen Gesellschaft auf Europas Bühne brachte große Unruhe, das Christentum wollte Heilmittel gegen die Zumutungen der Moderne sein. Doch das umgehende Gespenst der Säkularisierung war aber nicht mehr zu bannen. Religion allgemein, das Christentum speziell wurde nun als vergänglich angesehen; sie musste sich neu bestimmen. Die Geschichte dieser weitreichenden Umwälzung schreibt der renommierte Neuzeithistoriker Rudolf Schlögl anschaulich und kompetent.
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Seitenzahl: 813
Rudolf Schlögl
Alter Glaube und moderne Welt
Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850
Fischer e-books
Zwischen 1750 und 1850 vollzog sich in den Gesellschaften Mittel- und Westeuropas ein tiefgreifender Umbruch, der nicht nur die Institutionen der politischen Ordnung betraf, sondern auch die Grundmuster im Prozess der Vergesellschaftung. In Amerika emanzipierten sich die britischen Kolonien und gaben sich eine Verfassung. Davon angestoßen, wurden in Europa in einer Revolution und weiteren zwei Jahrzehnten der Staatenkriege die institutionellen Gerüste des feudalen Ancien Régime in Trümmer geschlagen, damit eine neue »bürgerliche« Gesellschaft mit den ihr entsprechenden politischen und sozialen Einrichtungen an ihre Stelle treten konnte. Das europäische Christentum war in einem doppelten Sinn an diesem Umbruch und der nachfolgenden Suche nach neuen Ordnungsmustern beteiligt. Es unterlag in seinen sozialen Formen selbst einem tiefgreifenden Wandel, der sich aus der Umstellung der gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien ergab, und wirkte dabei wiederum zurück auf die Prozesse der Vergesellschaftung und ihre Institutionen. Von dieser Umgestaltung der sozialen Form des europäischen Christentums zwischen 1750 und 1850 handelt das vorliegende Buch.
Nicht die Geschichte der europäischen Christentümer ist Thema[1], sondern die Geschichte des europäischen Christentums als Religion der europäischen Gesellschaft am Beginn der Moderne. Darin liegt eine doppelte Festlegung: Es soll der Begriff der Gesellschaft jenseits eines bloßen Synonyms für staatlich gegliederte Sozialität ernst genommen und Religion als ein soziales Phänomen begriffen werden, das nur im Kontext von Gesellschaft als einer Struktur angemessen zu verstehen ist.
Die Forschung hält eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen zu den christlichen Kirchen, zur Frömmigkeitsgeschichte und auch zur Diskussion über Religion bereit, auf die hier zurückgegriffen werden konnte. Für das Konzept und die Ausarbeitung der Fragestellung bot diese Literatur allerdings kaum Hilfestellung.[2]
Die Kirchengeschichte und die Profangeschichte, soweit sie sich mit dem Thema Religion beschäftigt, haben bislang andere Perspektiven eingenommen. Die Kirchengeschichte konzentriert sich im Regelfall auf die institutionell-kirchliche Gestaltung – schon die Frömmigkeitsgeschichte wird meist abgespalten –, so dass Gesellschaft in ihren Darstellungen allenfalls noch als das andere von Religion vorkommt, das man dann thematisiert, wenn soziale Problemlagen in kirchlichen Institutionen bearbeitet werden oder Politik sich mit der Gestaltung des religiösen Lebens befasst. Kirchengeschichte bleibt darüber hinaus stets so weit Theologie, dass sie ihren Blickwinkel konfessionell verengt und die jeweils anderen Konfessionen gar nicht oder allenfalls in pauschalisierender Form vorkommen.[3] Die Profangeschichte tendiert umgekehrt auffälligerweise gerade dann, wenn sie Gesellschaftsgeschichte sein will, dazu, Religion ebenfalls als Teil der »kulturellen Entwicklung« zu thematisieren, sie also als Sondersphäre der sozialen Wirklichkeit, als »Provinz des Lebens« zu marginalisieren und zu isolieren.[4] Weit weniger hilfreich als erhofft für die methodische und konzeptionelle Gestaltung meines Vorhabens erwies sich auch die Religionswissenschaft. Ihre Forschungen sind nach wie vor geprägt durch die Anstrengung, sich einen von anderen gesellschaftlichen Phänomenen unterscheidbaren Gegenstand durch die vergleichende Betrachtung seiner Merkmale oder »Dimensionen« zu sichern. Seit ihren Gründungsvätern Max Miller und Edward B. Taylor entwirft die Religionswissenschaft deswegen Typologien von Religionen und religiösen Phänomenen, die entweder enthistorisiert und auf eine immanente Entwicklungslogik hin untersucht oder auf zivilisationsgeschichtliche Entwicklungsschemata bezogen und damit in ein normativ bestimmtes Raster eingeordnet werden. Religion wird auf diese Weise ebenfalls von den sie umgebenden gesellschaftlichen und historischen Kontexten abgegrenzt, statt sie aus ihnen heraus begreifen zu wollen. Religionswissenschaftler, die es vorziehen, einzelne Religionen in konkreten historischen Konstellationen zu untersuchen, verzichten entsprechend auf einen allgemeinen Begriff von Religion.[5]
Aus Gründen, die weit über das hinausgehen, was in dieser Einleitung zu erörtern ist, habe ich mich daher dafür entschieden, das Konzept auf einer kommunikations- und medientheoretischen Grundlage zu entwickeln, wie sie die Systemtheorie bietet. Mir scheint zur Zeit kein weiterer sozialtheoretischer Begriffsapparat von vergleichbarer Klarheit verfügbar, der sich dem Kernproblem der sozialen Welt stellt, ihre Ordnung über Differenzbildungen des Sinns selbst hervorzubringen und die Stabilität dieser Ordnungsmuster selbst zu garantieren. Die Systemtheorie rechnet mit der zirkulären Emergenz sozialer Phänomene. Sie entbindet damit von der schon bei kurzer Selbstbeobachtung unplausibel werdenden Notwendigkeit, gesellschaftliche Ordnungsmuster in ihrer Stabilität und Reproduktion auf die Motive und Aufmerksamkeitsressourcen von einzelnen Menschen zurückzuführen. Sie berücksichtigt andererseits, dass Individuen, Gruppen und Institutionen aller Art in der sozialen Welt nicht isoliert vorkommen, sondern in ihrer jeweiligen Eigenheit und ihren Handlungsmöglichkeiten bestimmt sind durch Beziehungen zu anderen Menschen, Gruppen und Einrichtungen. Diese relationalen Verhältnisse sind beschreibbar, und sie sind in einer bestimmten historischen Konstellation nicht beliebig. Daraus ergeben sich überzeugende Argumente, an einem substantiellen und theoretisch ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff festzuhalten.
Hinzu kommt, dass die Systemtheorie Wirklichkeit ausdrücklich als Resultat von Beobachtungen fasst. Niemand weiß zu sagen, wie die Welt jenseits unserer Beobachtungen beschaffen ist. Die wissenschaftliche Beobachtung von Welt macht dabei keine Ausnahme. Sie muss sich daher bewusst sein, dass ihr Gegenstand nicht einfach eine gegebene soziale Welt ist; vielmehr beobachtet Wissenschaft, wie diese soziale Wirklichkeit in Beobachtungen und Kommunikationen für die Beteiligten zur strukturierten Realität wird. In genau diesem Sinn will ich mich damit befassen, wie das Christentum als Religion der Gesellschaft hervorgebracht und »in Form gesetzt« wird. Dazu ist ein Begriffsinstrumentarium notwendig, das mit seinen Unterscheidungen auf die Hervorbringung einer sinnhaften, strukturierten sozialen Wirklichkeit zielt. Sinn, Kommunikation, Beobachtung, Medien, System, Umwelt, Semantik, Selbst- und Fremdbeschreibung, Differenzierung und Komplexität sind solche Begriffe. Meine Darstellung wird sich an den mit ihnen verbundenen Konzepten orientieren, ohne sich allerdings in ihrer umfänglichen Erörterung zu verlieren und sich die Freiheit der sprachlichen Variation nehmen zu lassen.[6]
In einem zweiten Schritt braucht eine Wissenschaft, die sich für die Konstitution und Geschichte sozialer Ordnungsmuster interessiert, Begriffe, die eine Vorstellung von den sozialen Gegenstandsbereichen vermitteln, um die es ihr zu tun ist. Sie müssen nicht mit denen identisch sein, mit denen die von Wissenschaftlern beobachteten Menschen ihre soziale Welt ordnen und strukturieren, können es gar nicht, weil – jedenfalls bei historischen Untersuchungen – sich die Welt inzwischen geändert hat, vor allem aber, weil die Beobachtungen erster und zweiter Ordnung mit jeweils unterschiedlichen Zielen verbunden sind. Für Akteure, die in sozialen Figurationen kommunizieren und beobachten und auf diese Weise die Figuration reproduzieren, geht es um den Erfolg von Handlungen und Kommunikationen. Erwartungen müssen erwartbar werden, und die Welt wird daher mit Unterscheidungen beobachtet, die dazu einen Beitrag leisten. Man schreibt deswegen beispielsweise Kausalitäten in den Lauf der Dinge ein und kreiert damit »Akteure«, wie sie Bruno Latour identifiziert. Den Wissenschaftler interessiert dann, auf welche Weise dies geschieht. Er fragt nach der semantischen Logik von Unterscheidungen und den semiotischen Strategien in Beobachtungen erster Ordnung.[7] Deswegen schlägt die Systemtheorie auch eine funktionale Analyse sozialer Konstellationen und Phänomene vor. Das tut sie gerade nicht, um, wie häufig unterstellt, soziale Ereignisse an Interessen zu binden, sondern weil sie damit rechnet, dass die Funktion nicht in Absichten und Interessen aufgeht, im Extremfall gar nicht dort in Erscheinung treten muss. Soziale Figurationen – von Paarbeziehungen angefangen, bis hin zu Gesellschaften – sind auch deswegen stabil, weil sie sich selbst als Ganzes und erst recht aus der Perspektive einzelner Beteiligter undurchsichtig bleiben. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Wissen darum in Sozialtheorien unter dem Stichwort »Ideologie« festgehalten.
Die funktionsorientierte Beschreibung und Analyse sozialer Ereignisse und Figurationen hat den weiteren Vorteil, dass sie soziale Phänomene als Lösung von Problemlagen identifiziert und damit die Suche nach äquivalenten Lösungsmöglichkeiten anregt, um diese dann in ihren Folgen vergleichen zu können. Das macht die Varietät sozialer Phänomene verständlich und die unterschiedlichen Entwicklungslogiken, denen sie häufig bei gleichen Ausgangskonstellationen folgen. Im Unterschied zum normativ aufgeladenen Konzept der Ideologie befreit die funktionsbezogene Analyse von der Teleologie.
Religion erscheint zunächst als ein individuelles Phänomen. Das protestantische Christentum gestaltet seit der Reformation die Beziehung des einzelnen Menschen zu seinem Gott. Man kann mit Schleiermacher etwas allgemeiner formulieren und auf die Fähigkeit und die Bereitschaft abheben, dem irdischen Geschehen im Horizont des Unendlichen einen Sinn zu geben. Religiöse Sinnbildung begründet damit ein bestimmtes Welt- und Selbstverhältnis. Ethnologische Forschungen legen nahe, dass es in frühen Phasen sozialer Evolution darum ging, dem Unvertrauten, dem Überraschenden einen Sinn zu geben und es damit in die vertraute Welt zurückzuholen und einzuordnen. Man steht dann am zirkulären Grund sozialer Ordnung. Das Unerwartete setzt nichtenttäuschte Erwartungen voraus, und diese werden nur dann greifbar, wenn es auch enttäuschte gibt.[8] Religion wäre damit am Urgrund der Vergesellschaftung des Menschen verortet.
Man mag sich weiter vorstellen, dass sich dann in der Kommunikation einzelner Menschen oder Gruppen dieses Anfangsparadox in unterschiedlicher Weise entfaltet. Personifizierungen in Gestalt von Geistern, Dämonen und Göttern waren naheliegende Kandidaten. So weit könnten das immer noch Bewusstseinsphänomene, individuelle religiöse Erfahrungen bleiben. Auch Schleiermacher unterstellt deswegen das Bedürfnis, sich über die Erfahrung des Unendlichen auszutauschen, die Gegenwart des Göttlichen, der man gewahr wurde, mitzuteilen, allein um auf diese Weise sich Gewissheit zu verschaffen, dass man sich nicht getäuscht habe und man nicht allein sei mit solchen Wahrnehmungen.[9] Religion wird nicht erst in diesem Moment ein gesellschaftliches Phänomen, denn sie ist es schon im Moment der Sinnbildung. Sie wird aber damit zu einer Sonderform der Kommunikation und kann somit zur Institution ausdifferenziert werden. Virtuosen der religiösen Erfahrung mögen dabei eine wichtige Rolle gespielt haben. Wie immer soziale Evolution sich im Detail weiterhin gestaltet haben mag: Erst wenn und sobald die individuelle religiöse Sinnbildung in dieser Weise kommunikabel geworden ist, kann der Prozess sozialer Ausdifferenzierung anlaufen. Die Reproduktion der Differenz ist dann keinen weiteren Beschränkungen ausgesetzt, weil das Bezugsproblem weder räumlich eingrenzbar noch im Auftreten selten und zeitlich beschränkt gedacht werden muss. Die Differenz wird sich stabilisieren, wenn sich gesellschaftliche Problemlagen ebenfalls über die Entfaltung des Paradoxes von Immanenz und Transzendenz bearbeiten lassen.
Dieses Szenario hat Emile Durkheim in seiner Untersuchung der Religionen der Ureinwohner Amerikas und Australiens entfaltet. Darin identifiziert er als gesellschaftliche Funktion von Religion, über ein Totem Individuen in Verwandtschaftsgruppen einzuordnen, die mit natürlichen Verwandtschaftsbeziehungen nur bedingt etwas zu tun haben.[10] Die Religion dieser Gesellschaften bildet soziale Ordnungsmuster nicht ab, sondern ist an ihrer Hervorbringung beteiligt. Sie trägt dazu bei, dass Sozialität sich zu einer Gesellschaft ausfalten kann, die dann komplexer ist, als sie ohne Religion wäre. Das hat mit dem individuellen religiösen Erleben und dessen Funktionalität nur noch sehr vermittelt etwas zu tun. Es setzt dieses aber voraus, wie es das Erleben umgekehrt selbst formt. Die Reproduktion der Gesellschaft greift in struktureller Koppelung auf autonom laufende Bewusstseinsprozesse zurück.
Auf diese Weise erklärt sich, dass einzelne Individuen auf religiöse Sinnbildung verzichten können, während für Gesellschaften Sinnbildung im Horizont der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz und vor allem die darauf aufbauende Ausdifferenzierung von Handlungsmustern und Institutionen in den historischen Zeiträumen, die Wissenschaftler derzeit überblicken, als unverzichtbar erscheint. Zu vielfältig ist die einmal institutionalisierte Religion am gesellschaftlichen Selbstbezug beteiligt, an der Art und Weise, wie sich Gesellschaften ordnen und wie sie diese Ordnungsleistungen reflektieren. Das bringt Religion in die Nähe von Herrschaft und Macht, sobald Gesellschaft auch durch auf Dauer gestellte Gewaltfähigkeit geordnet wird, so dass beides sich häufig zum ununterscheidbaren Amalgam verbinden kann. Die Sprache der Macht hat von Anfang an einen religiösen Grund.[11] Daher lässt sich die soziale Form von Religion nicht ohne gesellschaftliche Strukturanalyse verstehen und die Semantik von Religion nicht ohne Blick auf die Selbstbeschreibung von Gesellschaft.
Für Religion hat diese gesellschaftliche Funktionsfestlegung weitreichende Folgen, die auch noch im Christentum des 19. Jahrhunderts zu fassen sind. Die Ausdifferenzierung gegenüber den Handlungsräumen der weltlichen Herrschaft wird zu einem Dauerproblem, das im westlichen Christentum weder durch Augustins Unterscheidung von civitas dei und civitas terrena noch durch Luthers Zweireichelehre zufriedenstellend gelöst wurde. Sie führt aber offenbar auch dazu, dass Religion stets mit Prozessen der Gruppenbildung und der gesellschaftlichen wie individuellen Identitätsbildung befasst blieb. Religion ist – seit sie eine gesellschaftliche Dimension ist und entsprechende Funktionen übernommen hat – zu einem Medium sozialer Inklusion bzw. Exklusion geworden.
Dies kompensiert unter Umständen das dritte Problem, das die Ausdifferenzierung von Religion dauerhaft begleitet. Religiöse Sinnbildung hat zwar zunächst ihren Sitz im Selbst- und Weltbezug des einzelnen Bewusstseins. Schon hier aber geht es nicht ohne Gesellschaft. Sinn setzt Kommunikation und damit Sozialität immer schon voraus. In gleicher Weise wird die Ausdifferenzierung zu einem sozialen Phänomen. Sobald die systemische Ausdifferenzierung von Religion als Handlungsgefüge in institutionellen Formen gerinnt, deren Stabilität auf die Häufigkeit und Regelmäßigkeit religiöser Akte durch ein gläubiges Publikum angewiesen ist, kann man sich auf das spontane Bedürfnis nach religiöser Sinnbildung bei Individuen nur noch bedingt verlassen. Das dürfte schon bei Kulten der Fall gewesen sein, weil die Bedeutung eines Gottes an die Attraktivität von Kultstätten und Tempeln gebunden war.[12] Erst recht wird dieser Punkt aber von Belang, wenn Kulte zur Religion werden oder es zur Kirchenbildung kommt. Dann fällt erst recht auf, dass die erfolgreiche Ausdifferenzierung und Evolution sozialer Institutionen an deren Fähigkeit gebunden ist, systemrelevante Handlungen und systemrelevantes Erleben immer wieder hervorzubringen. Das Christentum hat unter dem Dach des gnadenvermittelten Heils eine ganze Reihe solcher Incentives, die sich auf die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz gründen und somit originär religiöser Natur sind, entwickelt und kultiviert. Die Erbsünde, der Teufel, die Vorsehung und die Unsicherheit des Heils lieferten fortwährend Anlässe, um die Zirkulation der Gnadenmittel zu stimulieren und dem Erleben einen Sinn in Bezug auf die basale Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz zu geben. Dass man trotzdem seit der spätantiken Kirchenbildung in unterschiedlichen Formen eine Art Dauermission der Bevölkerung betrieb und die Gottesverehrung hauptsächlich als eine öffentliche begriff, die reguliert und damit vorgeschrieben werden konnte, verweist auf die nicht abnehmende Dringlichkeit des Problems. Religion mangelt es offenbar an einem symbiotischen Mechanismus, der religiöse Sinnbildung mit einer gewissen Zwangsläufigkeit motiviert, wie ihn etwa die Ökonomie aus dem Auseinanderklaffen von Bedürfnissen und der Knappheit der verfügbaren Güter zu deren Befriedigung mobilisieren kann. Zur Sinnbildung im Horizont des Religiösen gibt es stets auch Alternativen, die außerhalb von Religion liegen. Das europäische Mittelalter glaubte, sie als Narreteien neutralisieren zu können.[13]
Man kann sich daher vorstellen, in welche Zwangslagen es die christlichen Kirchen Europas seit der Mitte des 18. Jahrhunderts führte, als solche Generatoren religiöser Sinnbildung wegbrachen, weil sie wie die Erbsünde, die Prädestination und auch die Sorge um die armen Seelen in einer Welt des verantwortlichen Individuums theologisch wie alltagsweltlich rapide an Plausibilität verloren. Gleichzeitig wurden in einer gewaltsamen Säkularisierung die in die ökonomische und staatlich-politische Reproduktion der Gesellschaft hineingetriebenen Stützpfeiler eingerissen, die das Christentum als Religion institutionell ausdifferenziert hatte. Die Formengeschichte der kirchlichen Institutionen wie des religiösen Lebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die hier erzählt werden soll, hat genau dies zum Thema: wie die Ausdifferenzierung von Religion unter den neuen Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Ordnungsmuster weiterhin reproduziert werden konnte. Es brauchte einen tiefgreifenden institutionellen Umbau wie auch veränderte Anlassstrukturen, um weiterhin religiöse Sinnbildung hervorzubringen.
Diesen neuen Rahmen setzte eine Gesellschaft, die sich in ihren modernen Strukturen von einem Ancien Régime abgrenzte, das in der Revolution untergegangen war. Sie begriff sich als eine »bürgerliche« Gesellschaft rechtsgleicher Individuen, in der die Verteilung von Reichtum durch weitgehend ungebremste Marktmechanismen geregelt, die verstörenden Resultate dieses Prozesses durch eine staatliche Garantie des Eigentums abgesichert und die politische Ordnung von Herrschaft auf partizipativ generierte und kontrollierte politische Macht umgestellt worden war. Seit Max Weber die Moderne durch das Nebeneinander von Wertsphären eigener Rationalität gekennzeichnet hat, ist man daran gewöhnt, diese Gesellschaft als polykontextuell, ohne ein identifizierbares Zentrum, zu kennzeichnen. Das Grundmuster, dem die Bildung sozialer Strukturen jetzt folgt, ist Funktion und nicht mehr Hierarchie.
Vor allem die neuen politischen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft, die anders als die Societas civilis des Ancien Régime ihre Ordnung nicht mehr durch eine ihr von außen gegenübertretende (monarchische) Herrschaft sichergestellt sah, sondern sie aus sich selbst hervorbringen musste, führten dazu, dass Massenmedien eine zunehmend wichtige Rolle für Prozesse gesellschaftlicher Integration und für die Reproduktion von Strukturmustern spielten. Diese neue Konfiguration wurde als Trennung von Staat und Gesellschaft beschrieben, weil jetzt auch die zur Politik gewordene Herrschaft ein Ausdifferenzierungsproblem hatte.[14] Als Chiffre für die Einheit der Differenz von Staat und Gesellschaft etablierte sich in der politischen Sprache wie in der Sozialtheorie die Nation. Sie trat an die Stelle der Societas civilis. Die semantische Verschiebung machte deutlich, dass die Umbrüche in den Ordnungsmustern der Gesellschaft von neuen Selbstbeschreibungen begleitet wurden, in denen der Wandel in den Prozessen der Vergesellschaftung reflektiert werden konnte. Man braucht gar nicht auf den entstehenden Konservativismus zu verweisen, um zu sehen, dass Gesellschaften und Sozialsysteme offenbar gerade in Phasen beschleunigten Umbruchs sich selbst weitgehend unverständlich bleiben. Das führte dazu, dass das Neue bevorzugt im Spiegel des Gewesenen wahrgenommen wurde.[15] Das war allerdings auch nicht einfach Ideologie, sondern entsprach insofern doch dem Gang der Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, als sich hier trotz Revolution ein Umbau bei laufendem Räderwerk sozialer Reproduktion vollzog, so dass die Möglichkeitsbedingungen jeder Neuerung und Veränderung durch die gerade noch in Gebrauch und Funktion befindlichen Teile und ihre Anordnung bestimmt wurden.
Diese Umgestaltung der europäischen Gesellschaften ist nicht im engeren Sinn Gegenstand meiner Untersuchungen. Sie interessiert als ein Rahmen und als Voraussetzung für die in ihr mitvollzogene Transformation der Religion der Gesellschaft. Dabei ist auch vorausgesetzt, dass es sich nicht um einseitige Determination oder ein Kausalverhältnis, sondern um Koevolution handelte, in der Wechselwirkungen zu beobachten sind.
Eine Geschichte des europäischen Christentums als Religion der Gesellschaft zu schreiben verlangt den Verzicht auf eine Geschichte von Ereignissen, die in irgendeiner Weise Vollständigkeit beanspruchen könnte. Der von mir gewählte Beobachtungsrahmen macht vielmehr Ereignisse und Konstellationen sichtbar und interessant, in denen das Christentum in seinen sozialen Formen als Religion der Gesellschaft hervortritt. Ähnlich verhält es sich mit der kirchlichen und konfessionellen Binnendifferenzierung des europäischen Christentums. Konfessionelle Unterschiede und Gegensätze sind nicht per se von Interesse, sondern umgekehrt wird der Blick darauf gelenkt, in welchen Konstellationen konfessionelle Unterschiede besonders akzentuiert wurden und welche Effekte sich daraus ergaben. Die Unterschiede zwischen den Konfessionen habe ich genutzt, um in Gegenüberstellungen und punktuellen Vergleichen der Frage nachzugehen, an welchen Stellen die Transformation durch konfessionelle und einzelkirchliche Vorgeschichten an Pfadabhängigkeiten gebunden und wann die Evolution mehr durch die übergreifende Problemkonstellation bestimmt war, so dass sich konfessionsinvariante Konstellationen und Verläufe ergaben.
Diese Vorgehensweise führte immer wieder vor Augen, dass die Gesellschaft als moderne bürgerliche Gesellschaft im Singular wie im Plural gleichermaßen soziale Realität war. Im Singular war sie Realität, weil die Zerstörung der Ordnung des Ancien Régime die Gesellschaften als Gesellschaften der europäischen Tradition überall vor ähnliche Anforderungen der Neugestaltung stellte und weil das Projekt der neuen Ordnung in den entscheidenden Grundzügen sich nicht nach Nationen unterschied. Gleichwohl vollzog sich die Umgestaltung dann im Konkreten in staatlich separierten Gesellschaften, denen wiederum entsprechend ihrer Vorgeschichten unterschiedliche Entwicklungshorizonte offenstanden. Auch hier konnte die Vollständigkeit von Nationalgeschichten des europäischen Christentums nicht angestrebt werden. Das hätte meine Arbeitskraft überstiegen und wäre dann als eine vergleichende Geschichte der Verflechtungen an den sehr disparaten Forschungsständen gescheitert. Ich habe mich daher auf einen mittel- und westeuropäischen Kernraum konzentriert, der durch das deutsche Sprachgebiet im Osten und Norden, die Mittelmeerküste im Süden und die Atlantikküste im Westen umschrieben ist. Weil es mir nicht um eine Christentumsgeschichte, sondern um eine Problemgeschichte von Religion ging, wurde auch hier selektiv verfahren. Nationale Christentumsgeschichten wurden jeweils nur dann berücksichtigt, wenn das Thema es nahelegte. Der Singular des Gesellschaftsbegriffes konnte nur eingeholt werden, indem die Empirie seines Plurals entlang der Vorgaben des Themas und der Forschungslage ausgewählt und aufeinander bezogen wurde.
Die zeitliche Begrenzung meiner Untersuchungen hat Orientierungscharakter. Weder 1750 noch 1850 markieren für mein Thema ereignishaft fassbare Schwellen. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war für diese Untersuchung von Interesse, weil in ihr der institutionelle Zustand des Christentums am Ende des Ancien Régime samt den sich bereits ankündigenden Umbrüchen zu erfassen war. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gestattete es, so viel von den Prozessen der Neugestaltung und des Neuarrangements im Verhältnis von Religion und Gesellschaft zu erfassen, dass eine Vorstellung davon zu gewinnen war, auf welchen dann schon sichtbaren Bahnen die Transformation der sozialen Form von Religion in der modernen westeuropäischen Gesellschaft weiterlaufen würde.
Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert. Das erste beschreibt die Kirchen des Christentums in ihrer Verflechtung mit der verstaatlichten Herrschaft einer hierarchisierten Gesellschaft und der Reproduktion einer Privilegien- und Adelsgesellschaft. Im Protestantismus wie im Katholizismus waren Religion und weltliche Sozialordnung nicht nur unvollständig gegeneinander ausdifferenziert, sondern sie stabilisierten sich in ihren Reproduktionsmechanismen gegenseitig. Zu deckungsgleichen Interessen- und Motivlagen hat dies nicht geführt. In der symbiotischen Konkurrenz zwischen Kirchen, die selbst als Herrschaftsträger auftraten, und der weltlichen Macht bauten sich seit den 1770er Jahren insbesondere in katholischen Regionen immer mehr Spannungen auf, die dann zu Reformanläufen führten, in denen die weltlichen Herrschaftsträger bereits tief in das Kirchenleben, die Kirchenstrukturen und auch die Frömmigkeit eingriffen. Eine zukunftsträchtige Lösung der strukturellen Gegensätze ergab sich daraus nicht.
Das zweite Kapitel verfolgt, wie das Christentum in seinen institutionellen Formen in den Rechtsraum der nachrevolutionären Bürgergesellschaft eingepasst wurde. Es beginnt mit einem Abschnitt über die Französische Revolution und ihr problematisches Verhältnis zur Religion. Die großen Säkularisationen, in denen den Kirchen alle Herrschaftsrechte und ein Großteil ihrer Besitzrechte genommen wurden, bildeten eine wichtige Voraussetzung, um die Konfessionskirchen in die partizipativen Bürgergesellschaften einzupassen und konfessionelle Pluralität möglich zu machen. In den anschließenden staats- und kirchenrechtlichen Neuregelungen wurde das Bekenntnis immer mehr zur Privatsache. Religion wurde als Medium sozialer Inklusion neutralisiert. Gerade deswegen spielte das Christentum in den umgestalteten politischen Räumen der Nationalgesellschaften eine wichtige Rolle. In den Sozialtheorien aller politischen Couleur wurde Religion als eine der Voraussetzungen für die moderne Vergesellschaftung imaginiert. Im politischen Raum selbst wurde das Christentum als Archiv der Symbole und Rituale wichtig, weil diese dazu taugten, der konstitutionellen Monarchie ein modernes Gesicht zu geben und die Nation als Erfahrungsraum zu gestalten.
Das dritte Kapitel befasst sich mit den Veränderungen der institutionellen Gestaltung und der Frömmigkeit, denen das Christentum in diesen Umbrüchen unterlag. Es zeigte sich, dass Organisation und soziale Bewegung in unterschiedlichsten Ausgestaltungen und Kombinationen – von der zentralistischen und hierarchisierten Weltkirche mit Ordensmission bis hin zur methodistischen Freikirche, translokalen Vereinsnetzwerken und Bruderschaften unterschiedlichster Zwecksetzung – eine passende Antwort auf die Sozialintegration der bürgerlichen Gesellschaft waren. Sie zogen aber zugleich eine öffentlich sichtbare Dramatisierung von Mitgliedschaft nach sich, die auf die Stile der Frömmigkeit Einfluss nahm. Spätestens an dieser Stelle wird Säkularisierung nicht als Gegenteil von Religion, sondern als konstitutiver Bestandteil der Formengeschichte von Religion in der Moderne greifbar. Frömmigkeit brauchte neue Anlässe und Anschlüsse an Prozesse sozialer Inklusion. Die Familie und die Gestaltung einer für die moderne Gesellschaft tauglichen Individualität wurden zu solchen Feldern. Diese neuen Formen der Frömmigkeit modellierten Übertragungsverhältnisse in der Kommunikation mit der Transzendenz so, dass sie dazu taugten, die medienvermittelte Sozialintegration der Gesellschaft zu reflektieren. Aus solchen Verschiebungen ergab sich auch die Feminisierung des europäischen Christentums. Sie vollzog sich als eine explosive und irritierende Verbindung von neuen Rollen, die Frauen in den Kirchen fanden einerseits, und einem aggressiven misogynen Diskurs über die Frömmigkeit der Frau andererseits.
Im vierten Kapitel wird Religion als Kultur zum Thema. Die Semantik von Religion, die in Selbst- und Fremdbeschreibungen zwischen etwa 1720 und 1850 nachgezeichnet wird, lässt tektonische Verschiebungen im Religionsbegriff, in den Mutmaßungen über ihre Ursprünge, in der Beschreibung ihrer möglichen und gewünschten Formen und schließlich in dem erkennen, was man als Funktion der Religion thematisierte. In dieser Semantik wurden die im Gefolge der europäischen Expansion nach Europa zurückströmenden Wissensbestände mit dem Selbstbild eines christlichen Europa und seines Christentums zusammengebracht und schließlich am Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem Kollektivsingular von Religion verdichtet. Das Christentum wurde zur Kultur, weil es im Raum der Universalgeschichte des Menschengeschlechts als Religion neben vielen anderen zu stehen kam. Dabei formte sich auch ein semantisches Konzept von Religion, das auf Offenbarung verzichten konnte und das Religion aus ihrer bisherigen Aufgabe, nämlich die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung zu gewährleisten, entließ. Stattdessen wurde Religion mehr und mehr als Voraussetzung und Resultat individueller Welt- und Selbstverhältnisse beschrieben, die sich aus der Fähigkeit des Menschen als eines Kulturwesens zur Symbolisierung und zur Sinnbildung ergaben. In Gott schaute der menschliche Geist sich selbst an. Feuerbach stellte dann die Frage nach der Pathologie von Selbstbildern, die in einen religiösen Sinnhorizont gestellt waren. Die Theologie nach Schleiermacher wich in weiten Teilen von diesen Konzepten nur wenig ab. Einen existierenden Gott als Voraussetzung der Welt zu denken, wie Schelling dies in seiner Philosophie der Offenbarung noch einmal entfaltete, wurde zu einem Unterfangen ohne systemische Resonanz, weil es dem Individuum seine Freiheit nahm. In allen diesen Themenfeldern wurden Religion und das Christentum schon im 18. Jahrhundert zu wichtigen Reflexionsfiguren und Reflexionsmedien, in denen die sich umgestaltende Gesellschaft über die Formen und Voraussetzungen ihrer Vergesellschaftung nachdachte.
In einem Schlussabschnitt werden die hauptsächlichen Erträge noch einmal im Hinblick auf das Konzept der Säkularisierung zusammengefasst. Das Ergebnis lautet: Säkularisierung gibt es.
Kein gekröntes Haupt Europas wollte im 18. Jahrhundert auf den Raum der Kirche zur Inszenierung und zur Legitimation seiner Herrschaft verzichten. Kaiser legten Wert darauf, Allerchristlichste Majestäten ebenso. Kaiserin Maria Theresia (1740–80) pflegte die von ihren Vorgängern seit dem 17. Jahrhundert ausgestaltete pietas austriaca mit besonderer Intensität. Nach Ausweis des Wiener Hofkalenders nahm sie allein im Jahr 1738 an 58 feierlichen Hochämtern in den Kirchen und Klöstern Wiens und seiner weiteren Umgebung teil, wertete 15 Prozessionen mit ihrer Anwesenheit zu Staatsaktionen auf. Sie unternahm zwei Wallfahrten, ordnete sieben Ausfahrten zur Mariensäule des Hofes an und ließ schließlich noch zwei Bruderschaftsfeste sowie zwei weitere Feste für die Damen des Sternkreuzordens arrangieren. Die Allerchristlichste Majestät Frankreichs stand dem nicht nach. Ludwig XVI. (1774–93) ließ sich am 11. Juni 1775 wie alle Könige der Monarchie vor ihm in Reims feierlich krönen. Bevor er die Salbung mit dem Öl aus der Heiligen Ampulle empfing, die der Abt von Saint Rémy mit prächtigem Gefolge in die Kathedrale getragen hatte, verpflichtete er sich in seinem Krönungseid auf den Schutz der Kirche, die Wahrung ihrer Privilegien und Rechte sowie die Verfolgung der von ihr benannten Ketzer. Zusammen mit den übrigen Bischöfen und Erzbischöfen der Gallikanischen Kirche überreichte ihm der Erzbischof von Reims nach der Salbung mit den anderen Insignien seiner Königswürde auch das Schwert als Zeichen seiner weltlichen Macht, das ihn als Quelle allen Rechts in der Monarchie auswies. Bis in die kleinsten Handreichungen hinein verwies dieses Ritual auf den ausschließlich göttlichen Ursprung der königlichen Herrschaft und band den Monarchen damit an die Kirche und ihre Priesterschaft. Thron und Altar stützten sich wechselseitig und sollten in der geheiligten Person des Königs miteinander verbunden bleiben. Im anschließenden Hochamt reichte man daher dem König das Sakrament in beiderlei Gestalt, wie es bei den Katholiken sonst nur dem Klerus zukam.[16]
Auch Friedrich II., dem die Philosophie der Aufklärung wichtiger geworden war als der Offenbarungsglaube, beharrte nicht nur auf seiner Bischofswürde, wenn er sich mit seinen Konsistorien auseinanderzusetzen hatte, sondern titulierte sich gelegentlich sogar als »vicarius Christi«, dem wegen seiner Macht zu binden und zu lösen besonders in Fragen der Ehegerichtsbarkeit das letzte Wort zustehe. Die derbe Ironie solcher Bemerkungen entsprang dem Bewusstsein, dass die Herrschaft des Staates sich jetzt besser auf das Naturrecht berief und Religion nun ebenfalls in ihrer gesellschaftlichen Gestaltung und ihren Konsequenzen für das soziale Zusammenleben an den naturrechtlichen Normen – das hieß dann auch: an den Bedürfnissen des Staates – zu messen und auszurichten war.
Frankreichs Juristen waren im 18. Jahrhundert ebenfalls längst dabei, den Schleier der mittelalterlichen Ordnung zu zerreißen. Sie erklärten den sacre in Reims zum erbaulichen Schauspiel für das Volk, das über die wirklichen Grundlagen der königlichen Macht nichts mehr aussage. Die Krönung führe nur vor Augen, dass der König sich in seinem Regierungshandeln an die Gebote gebunden fühlen solle, schrieb der Kanzler d’Aguesseau über die Krönung Ludwigs XVI. Die Enzyclopädie Diderots hielt fest, der König regiere allein aus der Macht der im salischen Recht gesicherten Geblütsfolge. In der Krönung werde das Volk durch ein eindrucksvolles Spektakel belehrt und der König als Person geheiligt, damit ihm später niemand nach dem Leben trachte. Solche Rationalisierung der sakralen Aura des Königs zeigte Wirkungen auch im königlichen Handeln selbst. Ludwig XV. (1715–74) hatte bereits darauf verzichtet, Skrofulöse zu heilen, und Ludwig XVI. unternahm der Überlieferung nach nur einen einzigen Versuch, auf diese Weise die magisch-religiöse Kraft seines Königsheils unter Beweis zu stellen. Auch Joseph II. interpretierte die Herrscherrolle an dieser Stelle neu. Er grenzte den Kreis der besuchten Kirchen stark ein und strich zwei Drittel der Ausfahrten zum öffentlichen Gottesdienst.[17]
Es ging dabei nicht nur um die Legitimation weltlicher Macht. Hier wurde kenntlich, dass die Religion der vormodernen Gesellschaft in feudalen Herrschaftsverbänden organisiert war und sie deswegen nicht nur in enger Verbindung zur staatlichen Herrschaft, sondern auch in stetiger Konkurrenz zu ihr stand. Der religiöse Raum, den die Kirche als verherrschaftete Institution umschrieb, und der Raum der weltlichen Herrschaft ließen sich für die Menschen seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts kaum mehr aufeinander abbilden. Sie traten auseinander mit der Folge, dass die sich konsolidierende Staatlichkeit keine Skrupel mehr empfand, den Raum der Kirche zu gestalten, bei Bedarf auch zu beschneiden. Umgekehrt hatte Religion sich in ihrer institutionellen und semantischen Erscheinung darauf einzustellen, dass sie inmitten einer Welt ohne Religion zu einer eigenen Lebensordnung und einem eigenständigen Sozialzusammenhang kondensierte, dessen Zwecke und Rationalitäten in der ü¼¼brigen Gesellschaft nicht mehr mit Selbstverständlichkeit akzeptiert waren.
Diese Umgestaltung verlief zwangsläufig als ein komplizierter und widersprüchlicher Prozess, der alle Ebenen sozialer Wirklichkeit vom direkten Verkehr der Menschen untereinander bis zur organisatorisch-institutionellen Ordnung einbezog. Wo Religion zu institutioneller Gestalt gefunden hatte, war sie stets kenntlich als Hervorbringung einer Gesellschaft, die sich sozial als Hierarchie von Ständen und ökonomisch als Agrargesellschaft mit wachsenden Enklaven der gewerblichen Produktion und des Handels ausbildete. In dieser Gesellschaft ließ Herrschaft sich nur auf Dauer herstellen, indem sie einerseits die Eigentumsrechte über Grund und Boden monopolisierte und andererseits damit direkte Verfügungsrechte über Menschen verband. Aus diesen Elementen hatte sich die Gesellschaft Alteuropas seit dem frühen Mittelalter als hierarchisierte Adelsgesellschaft entwickelt, in der seit Beginn der Neuzeit funktional bestimmte Strukturbildungsmuster immer mehr an Bedeutung gewannen, so dass seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Abschaffung adeliger Vorrechte überfällig und nur mehr eine Frage der Zeit schien. Soweit Religion noch als grundbesitzende Adelskirche in Erscheinung trat, musste sie davon ebenfalls elementar betroffen sein.
Die eigentliche geschichtliche Dynamik im Verhältnis von geistlicher und profaner Welt in der Vormoderne resultierte freilich nicht aus der Identität, sondern aus der Verbindung von Identität und Gegensatz. Im lateinischen Christentum wirkte das jüdisch-frühchristliche Erbe eines vollkommen transzendenten Gottes fort, der die Welt zwar geschaffen hatte, sie aber nicht mehr bewohnte. Die Religion des lateinischen Christentums konnte sich deswegen in Gegensatz zum Diesseits und seiner jeweiligen Ordnung bringen, und sie bildete als Quelle der Weltverneinung ein Widerlager für die Kritik der Welt und derer, die sie als Herrscher hauptsächlich gestalteten. Indem das Christentum eine Sphäre des Heiligen von der des Profanen (auch in der Welt) schied, wirkte es mit an der »Entzauberung der Welt«. Zweitens wurde für die Geschichte Europas (wie für die Entwicklung des Christentums selbst) bedeutsam, dass dieser eine Gott, der die Welt beobachtete, in der unsterblichen Seele des Menschen eine Referenz bekam, mit der jedem einzelnen Menschen seinerseits eine Teilhabe am Göttlichen oder wenigstens ein Zugang zu ihm zugesprochen war. Der Mensch war in die Transzendenz einbezogen, wie es im Gottmenschentum Jesu Symbol geworden war. In der europäischen Geschichte hat sich dies auf der profanen Seite als Individualismus und als Begründung unverfügbarer Rechte des Menschen entfaltet; für die Religion des Christentums hatte diese Dualität von Gott und göttlicher Seele zur Folge, dass der Mensch für sein Heil verantwortlich wurde und mit der Sünde auch die Frage unabweisbar im Raum stand, warum Gott das Böse zuließ und wie über das Heil der Seele Gewissheit zu erlangen sei. Die Geschichte von Theologie und Frömmigkeit des europäischen Christentums ist von dieser Problematik bis in die Moderne getrieben.
Das weltliche Erscheinungsbild des lateinischen Christentums wurde geprägt in der Gemeinschaft mit dem Imperium Romanum, in die das Christentum seine Distanz zur Welt einbrachte und doch akzeptieren musste, dass die Rolle als Staatsreligion den Gehorsam gegen die weltliche Herrschaft in profanen Angelegenheiten zur Voraussetzung hatte. Dies beförderte die Ausgestaltung des Christentums zu einer Kirche, die einerseits als vom Recht getragene und verherrschaftete Hierarchie den Raum des Imperiums durchdrang und andererseits den Vollzug des Glaubens wie in den frühchristlichen Anfängen weiterhin als Gemeindekirche praktizierte. Über beide Pole war die Kirche des lateinischen Christentums an die soziale Welt angebunden: über die Hierarchie der Bischofskirche an die Herrschenden und über die Gemeinde an die Lebensordnung der Beherrschten.
Als vom Recht geformter, hierarchisch gegliederter Herrschaftsverband, der über die von den Mönchen weitergetragene Schriftlichkeit verfügte, besaß die römische Kirche gegenüber den fragilen, gewaltfundierten Clan- und Gefolgschaftsverbänden des Mittelalters zunächst einen weiten Vorsprung in der Organisation von Herrschaft. Ein klarer Trennstrich zur Clanstruktur der mittelalterlichen Gesellschaft wurde von der Kirche im Zweiten Laterankonzil (1139) gezogen, als sie den Zölibat für alle Inhaber höherer Weihen zur Pflicht machte. Der umfängliche Besitz, den die Kirche als materielle Basis ihrer Herrschaft hatte akkumulieren können, sollte aus den Zirkulationskreisläufen der Verwandtschaftsverbände herausgenommen werden. Mit ihrer Hierarchie gestaltete sie ihre Institution als europaweit zusammenhängendes Netz von Entscheidungsvorgängen, für die es im römisch-rechtlich orientierten Codex Juris Canonici eine verbindliche Grundlage gab. Die von ihr gepflegte Schriftlichkeit machte die Kirche zudem zur Herrin über die Zeit der Gesellschaft, ihr Wissen und ihre Erinnerung.[18]
Innerhalb des kirchlichen Rechts- und Herrschaftsraumes erschienen diese Besitztitel und Ertrag abwerfenden Rechte dann hauptsächlich in viererlei Gestalt: als Klosterbesitz bildeten sie die materielle Grundlage der Vielzahl von Ordensgemeinschaften; in der Form von Benefizien dienten sie als Pfründe und Amtsausstattung geistlicher Funktionsträger vom Vikar in der Pfarrei bis hinauf zu Bischöfen und Papst; als Vermögen frommer Stiftungen (von Laien oder auch von Klerikern selbst veranstaltet) wurden ihre Erträge je nach Willen des oder der Stifter zu den unterschiedlichsten frommen Zwecken verwandt: der Ertrag einer Stiftung konnte einem Pfründner ebenso zugute kommen wie sich davon eine regelmäßige Almosenspende bestreiten oder eine Anzahl von Messen zugunsten der »armen Seelen« lesen ließ; die Kirchenfabriken schließlich – im Regelfall von den Laien verwaltet – sicherten hauptsächlich den Gebäudebestand der Kirche in den Gemeinden.
Über diesem Fundament der Temporalien, die entsprechend der sozialen Ordnung weltliche Herrschaftsrechte immer schon mit einschlossen, hatte die römische Kirche sich als Pyramidenbau des Klerus organisiert, der im Vollzug des Kultes, der Verwaltung der Sakramente und durch die Verkündigung des Gotteswortes in der Predigt als Mittler zwischen Gott und die Laien trat. Der Klerus übte damit auch eine geistliche Herrschaft und Lenkungsbefugnis über die Laien als den minderen Gliedern der Kirche aus – oder beanspruchte sie mindestens. Diese Mittlerrolle realisierte sich als rechtlich geregeltes Zusammenwirken einer klerikalen Hierarchie, die im Papst als Vicarius Dei ein Zentrum mit höchster Hirtengewalt (postestas jurisdictionis) und oberster Verwaltungskompetenz besaß, das für sich die umfassende Entscheidungsgewalt (plenitudo potestas) in geistlichen und weltlichen Angelegenheiten der Kirche in Anspruch nahm. Unumstritten war diese Vorrangstellung des Papstes allerdings nur hinsichtlich der Jurisdiktions- und Verwaltungsbefugnisse, denn in seiner Weihekompetenz blieb er den Bischöfen gleichgestellt, die als Verwalter der Spiritualia wie der Temporalia in den zu Kirchenprovinzen (Erzbistümern) zusammengefassten Bistümern wirkten. Diese Selbständigkeit bildete die Basis für die von den Bischöfen immer wieder, aber seit dem 15. Jahrhundert mit abnehmendem Erfolg gegenüber dem Papst geltend gemachten konziliaren Mitspracherechte. Den Bischöfen wiederum waren die Pfarrer zum Vollzug der Seelsorge und der Verwaltung der Sakramente zu- und eindeutig untergeordnet, wie das Konzil von Trient (1545–63) in seinen Canones mehrmals betonte. Um ihre Amtspflichten zu bewältigen, waren dem Papst wie den Bischöfen weitere Amtsträger und Behörden beigeordnet – im Falle der römischen Kurie ein fest gegliederter Behördenapparat, in dem Kanzlei (cancellaria apostolica), Finanzverwaltung (camera apostolica) sowie Gerichts- und Strafbefugnisse schon früh klar getrennt waren. Den Bischöfen stand seit dem hohen Mittelalter ein sich selbst verwaltendes Kollegium von bepfründeten Domkapitularen gegenüber, das die Rechte der Bischofswahl für sich in Anspruch nahm und die Bischöfe dabei in Wahlkapitulationen auf die Wahrung ihrer eigenen und der kirchlichen Interessen verpflichtete. Archidiakone vertraten die bischöfliche Disziplinargewalt gegenüber dem Pfarrklerus, sprachen Recht und führten Visitationen durch. Schon im Spätmittelalter suchten die Bischöfe ihre Gerichts- und Disziplinarkompetenz sowie andere Verwaltungsaufgaben einem Offizial oder Generalvikar zu übertragen. Im Gegensatz zum Archidiakon, dessen Amtskompetenzen mit seiner im Domkapitel verankerten Pfründe verbunden waren, amteten Offiziale und Generalvikare als Beauftragte des Bischofs und konnten deswegen nach Eignung ausgewählt und auch ihrer Funktion wieder entsetzt werden. Um den Kontakt mit dem Pfarrklerus zu intensivieren, waren die Diözesen in Dekanate eingeteilt, denen jeweils aus den Reihen der Pfarrerschaft bestellte Dekane mit Aufsichtsrechten gegenüber dem Klerus und Berichtspflicht gegenüber dem Bischof vorstanden. Durchbrochen wurde die bischöfliche Aufsichts- und Verwaltungskompetenz über kirchliches Vermögen und Geistlichkeit durch die verschiedenen Orden. Die Klöster der Mönchsorden und die Konvente der Bettelorden unterstanden über ihre Provinzen und Ordensoberen direkt oder indirekt dem Papst und konnten deswegen weitgehende oder wie im Fall der Bettel- und der Ritterorden völlige Exemtion gegenüber den Bischöfen beanspruchen. Für Organisation und Gestaltung der Seelsorge durch die Bischöfe erwuchsen daraus erhebliche Probleme.[19]
Zusammengehalten wurde dieser europaweit ausgreifende Bau der römischen Kirche durch das Sonderrecht des Codex Juris Canonici und dadurch, dass es dem Klerus gelungen war, sich durch Tonsur, Zölibat und Weihen – vier niedere und drei höhere – als klar umrissene Sondergruppe auszuzeichnen, die in der Kirche den Kult für sich reserviert hatte und in der Welt als erster Stand mit gesicherten Vorrechten sowie – idealerweise – auch besonderer Lebensführung ausgewiesen war. Die Rekrutierung verlief bemerkenswert offen: nur illegitim Geborene und Männer mit schweren körperlichen Gebrechen waren von der Aufnahme in den Klerus ausgeschlossen. Verlangt wurde aber der freie Entschluss zum Eintritt, der durch Eid und Gelübde belegte Vorsatz, sich der Hierarchie einzuordnen und den Oberen Gehorsam zu leisten, sowie schließlich Bereitschaft und Fähigkeit zum Erwerb von Bildung. Die Zugangsvoraussetzungen für die Ämter in der Hierarchie waren ebenfalls formal und rational nach geistlicher Qualifikation (Weihen) und Eignung (erworbener Bildung) bestimmt. Selbstverständlich gingen dabei von den Lebens- und Machtverhältnissen der alteuropäischen Agrargesellschaft tiefgreifende Beschränkungen aus, da insbesondere den ländlichen Unterschichten kaum überwindbare Hürden den Zugang zur Bildung verstellten und der Adel die höheren Ämter und Pfründen für sich zu reservieren suchte. Mit einer Vielzahl von Dispensen, die gegen Gebühr in Rom erworben werden konnten, war es vor allem dem Adel möglich, die häufig grobe Differenz zwischen Qualifikation und Norm zu überbrücken. Das seit dem späten Mittelalter sich verbreitende Amt des Weihbischofs verdankte seine Existenz hauptsächlich dem Umstand, dass bei vielen Bischöfen auch durch Dispense die Hürden für den Empfang der höheren Weihen nicht aus dem Weg zu räumen waren. Immerhin aber machte die Kirche als organisationsförmige Institution durch diese Prinzipien verzweigte Karrieren möglich und wurde deswegen zu einem wichtigen Mobilitätskanal in einer Gesellschaft, die sich ansonsten durch die Normierung von Geburtsständen soziale Stabilität zu geben suchte. Die Ächtung der Vergabe von Ämtern an Verwandte (Nepotismus) und das strenge Verbot der Vergabe von Temporalien und Spiritualien gegen Geld (Simonie) sind deswegen wiederum Zeichen der Absicht, sich gegen die sozialen Strukturmuster der Gesellschaft als eigener Sozialraum abzugrenzen, wie sie auch gleichermaßen schon für die Vergeblichkeit des Unterfangens stehen.[20]
Deswegen war es wichtig, dass Kirche für Klerus wie für Laien als Rechtssphäre identifizierbar blieb. Geistliche Herrschaft manifestierte sich in einer auch in den Bereich des Weltlichen eingreifenden Rechtsprechungskompetenz, die in einem klaren Instanzenzug der Gerichte umgesetzt wurde. Gegenüber Laien beanspruchte die Kirche das Eherecht und Bereiche des Vermögensrechts, soweit sie mit Ehe, Wucher und Benefizialangelegenheiten in Zusammenhang zu bringen waren. Selbstverständlich wurden auch alle Vergehen gegen den Glauben (Ketzerei, Apostasie), dann Meineid und Vergehen gegen die Ordnung der Geschlechter (Ehebruch, Bigamie, Schändung) vor geistliche Gerichte gebracht. Der Klerus war den Kirchengerichten in allen seinen Angelegenheiten unterworfen. Zivilprozesse vor Kirchengerichten wurden immer schriftlich geführt. Im Strafprozess unterschied man das Akkusationsverfahren, das eines Klägers bedurfte, vom Inquisitionsverfahren, das ex offizio bei hinreichendem Verdacht von den Kirchenbehörden eingeleitet werden konnte. Schriftlichkeit der Prozessführung und Inquisitionsprozess erwiesen sich als bedeutende und folgenreiche Neuerungen in der europäischen Geschichte der Rechts- und Herrschaftsorganisation. Auch wenn die Kirche keine Blutstrafen verhängte, sondern Schwerverbrecher dem brachium saeculare übergab, blieben die geistlichen Gerichte Herrschaftsinstrumente, von denen für die sich organisierende weltliche Herrschaft spürbare Beschränkungen ausgingen.[21]
Geistliche und weltliche Herrschaft hatten sich zu einer symbiotischen Konkurrenz verbunden, die sich in den Temporalien materialisierte und aus ihnen ihre ausgreifende Dynamik erhielt. Die Scheidung zwischen Spiritualien und Temporalien auf der materiellen Ebene sowie die zwischen Klerus und Laien im personalen Bereich, mit der die Kirche sich selbst als geistliche Institution in weltlicher Erscheinung Form und Grenzen gab, erwies sich immer als Formelkompromiss, der die zugrundeliegende Paradoxie zwar verdeckte, mit dem jedoch die sich im Verhältnis von Kirche und Welt ergebenden Spannungslagen nicht hinreichend zu bearbeiten waren. Durch ihren weltlichen Besitz kam die Kirche neben der geistlichen zu weltlicher Herrschaft in beträchtlichen Ausmaßen. Dadurch war sie Konkurrenz für die sich bildende Staatlichkeit der Vormoderne. Weltliche Herrschaft war umgekehrt über die Temporalien im Raum der Kirche präsent.
Seit dem Mittelalter verfügte die Kirche mit ihren Zehntrechten über ein nahezu generelles Besteuerungsrecht gegenüber allen Laien. Andere Formen der indirekten Besteuerung kamen gelegentlich hinzu. In ihren Grundherrschaften nahm die Kirche selbstverständlich nicht nur die mit der Herrschaft über Grund und Boden verbundenen ökonomischen Verfügungsrechte wahr, sondern im Regelfall ebenfalls die niederen Gerichtsrechte, wenngleich nicht mit Selbstverständlichkeit, weil die Kirche das weltliche Schwert erklärtermaßen nicht führte und ihre Besitzungen daher von weltlichen Machtträgern bevogtet waren. Durch Kauf, Schenkungen und gelegentlich auch Usurpation verfügten Bischöfe, Klöster und andere geistliche Pfründeninhaber aber meist auch über diese Rechte, zumal sie von den entstehenden weltlichen Herrschaftsgebilden nie vollständig absorbiert werden konnten. Soweit es sich um grundherrschaftliches Eigen handelte, unterschied sich deswegen Kirchenbesitz in nichts von dem des Adels. Die besonderen verfassungsrechtlichen Bedingungen im Lehensverband des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hatten es sogar ermöglicht, dass geistlicher Besitz, wenn er in direkter lehensrechtlicher Verbindung zum König stand, selbst die Grundlage für fürstliche Landesherrschaft abgeben konnte. Man trennte dann zwischen der direkten geistlichen Amtsausstattung des kirchlichen Funktionsträgers (mensa) und dem zugehörigen Reichslehen, aber als Bischöfe, Äbte und Prälaten der Reichskirche hatten diese Amtsträger der Kirche mit ihren hochstiftischen Fürstbistümern und Reichsabteien direkt Anteil am Staatsbildungsprozess und waren deswegen auch in dieser Hinsicht dem Fürstenadel gleichgestellt.[22]
Die definitive Befreiung des Kirchengutes und der kirchlichen Ämter aus dem Zugriff der weltlichen Herrschaft, wie sie Papst Gregor VII. im Investiturstreit anstrebte, war der römischen Kirche misslungen. Die Temporalien blieben das Einfallstor in die organisatorische Autonomie der Kirche. Alle geistlichen Ämter ruhten auf Pfründen. Daher ließ sich für Laien allgemein und für weltliche Herrschaft im besonderen Einfluss auf die Kirche wesentlich über die Vergabe der ämterfundierenden Benefizien nehmen. Entsprechend ausgeprägt war die Konfliktbereitschaft auf beiden Seiten. Im Falle des aus Sicht der Fürstenherrschaft besonders wichtigen Bischofsamtes hatte dies seit den Kompromissen, die den Investiturstreit beilegten, dazu geführt, dass Domkapitel den Bischof wählten, der zuständige Erzbischof und der Papst ihn in sein geistliches Amt investierten, der König aber die entsprechenden weltlichen Güter verlieh. Wo es sich durchsetzen ließ, suchten die weltlichen Herren Europas seit dem Spätmittelalter die eigenen Nominationsrechte auszuweiten. Obwohl die Kirche sich generell bei Verleihung von Ämtern und der Vergabe von Pfründen die letzte Entscheidung vorbehielt, konnten Laien darüber hinaus dann Einfluss nehmen, wenn ihnen das Patronat über eine Stelle zustand. Sie schlugen einen Kandidaten vor (Präsentation), der dann vom Collator der Stelle – im Regelfall der Bischof – bestätigt (Konfirmation) und in sein Amt eingewiesen (Investitur) wurde. Insbesondere bei Pfarrstellen spielte das Laienpatronat eine wichtige Rolle.[23]
Der Verlauf des Investiturstreits signalisierte, dass auch weltliche Herrschaft zwar noch nicht viel an organisatorischer Struktur, aber an gestaltender Kraft gewonnen hatte. Erst die langsam sich zur Staatlichkeit verdichtende Fürstenherrschaft des Spätmittelalters überzog Europa mit neuen Raummustern, die sich mit den Strukturen, wie sie die Herrschaftsorganisation der Kirche in Sozialordnung und Geographie eingeschrieben hatte, nicht mehr zur Deckung bringen ließen.
Am deutlichsten geriet die neue Geographie der weltlichen Herrschaft mit der älteren kirchlichen Raumordnung der Bischofssprengel in Konflikt. Die Anpassung von Bistumsgrenzen an die Gliederung des weltlichen Herrschaftsraumes durch die Schaffung von Landesbistümern blieb deswegen bis zum Ende des Ancien Régime auf der politischen Agenda Europas. Es musste als besonders inakzeptabel erscheinen, dass über die Bischofshierarchie auch der Papst als Kirchenoberhaupt im eigenen Herrschaftsraum präsent war. Seit dem 14. Jahrhundert setzte die Fürstenherrschaft für gewöhnlich gegenüber Bischöfen und Papst das Placet durch, das die Wirksamkeit und im Regelfall schon die Verkündung von Weisungen aus der kirchlichen Hierarchie im eigenen Herrschaftsraum von expliziter Genehmigung abhängig machte. Klerus und Kirchenbesitz im Inneren der sich festigenden fürstlichen Herrschaftsräume beanspruchten zunächst unter Verweis auf die Scheidung von Klerus und Laien bzw. Spiritualien und Temporalien Exemtion aus dem Fürstenrecht und der sich ebenfalls schnell entfaltenden herrschaftlichen Steuerhoheit. Mit dem recursus ab abusu wurde der kirchliche Rechtsraum aufgebrochen, indem man dem Klerus die Möglichkeit einräumte, gegen geistliche Gerichte vor weltliche Instanzen zur Berufung zu ziehen. Die Besteuerung des Klerus und seines Vermögens ließ sich über die Beteiligung des geistlichen Standes an den Ständekollegien meist ebenfalls seit dem 15. Jahrhundert durchsetzen. In den Konkordaten und erteilten Privilegien des 15. und 16. Jahrhunderts schrieb das vom Schisma und in den Reformkonzilien geschwächte Papsttum diese Überlagerung der zunächst kirchlich dominierten Raumstrukturen im Herrschafts-, Rechts- und Besitzgefüge Europas durch den Herrschaftsraum des entstehenden Staates fest.[24]
Erst die Reformation eröffnete dann völlig neue Optionen für die soziale Gestaltung von Religion und geistlicher Herrschaft in der vormodernen Gesellschaft. Zwei tragende Pfeiler der kirchlichen Organisationskompetenz wurden eingerissen. Die Idee des allgemeinen Priestertums entzog den Klerikern ihren Sonderstatus als geweihte Mittler zwischen Gott und den Menschen und ließ nur noch sogenannte ordinierte Kirchendiener zurück. Indem die reformierenden städtischen und fürstlichen Obrigkeiten den Kirchenbesitz mit Ausnahme der Kirchenfabriken zur Disposition stellten, sofort säkularisierten oder ihn wenigstens in weltliche Verwaltung zogen, hofften sie mit der bisherigen materiellen Basis der Kirchenorganisation gleichzeitig auch die Grundlage der symbiotischen Konkurrenz zu beseitigen. Beides zusammen, die Neudefinition des geistlichen Amtes und die Säkularisation des Kirchengutes, stellte die überkommene Bischofshierarchie in Frage und setzte das Prinzip der Gemeindekirche wieder frei. Da allerdings Kirche als Institution auch künftig nicht völlig ohne Kompetenzhierarchie auskommen konnte, kam es jetzt darauf an, wer diese Befugnisse übernahm. Da die Fürsten hier in der Regel schnell zur Stelle waren, bescherte die Reformation der Fürstenherrschaft einen entscheidenden Vorsprung an Organisationsfähigkeit gegenüber dem Christentum und verschob insgesamt die Gewichte in dieser Konkurrenz nachhaltig zugunsten der weltlichen Seite.
Aus der Symbiose entstanden einseitige Abhängigkeitsverhältnisse – freilich nicht überall und in der gleichen Weise. Für ihre Ausgestaltung fand die Experimentierfreude des reformatorischen Umbruches ein Spektrum an Varianten.
Sehr schnell an den Rand gedrängt und unter Häresieverdacht gestellt wurde die Option einer entkirchlichten Religion, wie sie der intellektuelle Humanismus in der neuplatonisch-gnostischen Interpretation des Christentums diskutierte. Die Philosophia perennis ging damit nicht unter, aber die weiteren Jahrhunderte der Vormoderne blieb sie als Hermetik eine Angelegenheit von kleinen Zirkeln Gebildeter mit nur eingeschränktem Organisationspotential – wenngleich von nachhaltiger Bedeutung für Theologie und Frömmigkeit der christlichen Konfessionen und für die Entstehung der modernen Wissenskultur.[25]
Das andere Extrem findet sich in den katholischen Teilen und Staaten Europas. Das römische Christentum konnte hier weitgehend seinen Besitz behalten und war deswegen zunächst nicht gezwungen, seinen sozialen und institutionellen Bau in den Fundamenten umzugestalten. Erst in der Konfessionalisierung musste sich die katholische Kirche als Anstalt und in der Frömmigkeit an die Pluralität der Bekenntnisse anpassen. Die Bischofshierarchie blieb unangetastet. Deswegen setzte sich hier die symbiotische Konkurrenz geistlicher und weltlicher Herrschaft ungebrochen fort. Da der Fürstenstaat jetzt allerdings mit erheblichem Übergewicht agierte, konnte er sich das römische Christentum je nach eigener Kraft und Stärke zur Landes- oder Nationalkirche formen. Die Gallikanische Kirche Frankreichs steht für eine starke Variante, die Kirchenherrschaft katholischer Territorialstaaten des Reiches für eine eher milde und gebremste Version. Diese soziale Gestaltung von Religion blieb nicht auf die altgläubige Welt Europas beschränkt. Auf den Britischen Inseln verband sie sich mit einer calvinistischen Theologie zur Church of England. In allen diesen Fällen musste Religion freilich bedeutende Einbußen auf dem Feld weltlicher Herrschaft akzeptieren. Staatliche Qualität konnte Religion vom 16. bis zum 18. Jahrhundert außerhalb des Kirchenstaates nur mehr im Gefüge des Heiligen Römischen Reiches behaupten.[26]
Die Reformation hatte im Täufertum eine radikale Version der Gemeindekirche entbunden, die allerdings schnell marginalisiert und schließlich häretisiert wurde, weil die Verbindung von Gemeindeprinzip und spirituell abgesicherter Heilsgewissheit eine soziale Sprengkraft entfaltete, die insbesondere für die kommunalen Sozialzusammenhänge in Stadt und Land bedrohlich war.[27]
Wo das protestantische Christentum seinen weltlichen Besitz an den Fürstenstaat verloren hatte und man daran festhielt, Religion auch weiterhin als geistliche Herrschaft zu institutionalisieren, ergab es sich beinahe von selbst, Kirchlichkeit in enger Anlehnung an die Einrichtungen der territorialen Staatlichkeit zu entwickeln. Es war deswegen insbesondere für die lutherischen Theologen schwierig, das Verhältnis und die Grenzen zwischen Kirche und Staat zu bestimmen. Auch in dieser Konstellation markierte die Konfession allerdings eine nur wenig ausgeprägte Differenz. Reformierte Landeskirchen unterschieden sich schließlich trotz der presbyterialen Grundidee, die sie in sich trugen, nur geringfügig von den lutherischen.
Als Gemeindekirche, die sich in den Presbyterien selbst regierte und durch Synoden zu überlokalen Verbänden zusammenschloss, formte sich im Konfessionalisierungsprozess der Calvinismus nur dort, wo der Staat einer nicht mehr auf Temporalien gebauten Kirche als subsidiäres Organisationsgerüst nicht verfügbar war. Das war in der katholischen Monarchie Frankreichs der Fall, die den Hugenotten im Edikt von Nantes (1598) zwar Schutz gewährte, wo aber darüber hinaus die Grundlagen für Konkurrenz wie für Symbiose zwischen Calvinismus und weltlicher Herrschaft nicht gegeben waren. Wo Staatlichkeit sich seit dem 16. Jahrhundert als kommunalistisch-föderaler Ständeverbund mit gering ausgeprägtem Zentralismus verwirklichte, ergab sich, wie in den Vereinigten Niederlanden oder der Eidgenossenschaft, eine ähnliche Konstellation, die zusätzlich durch Mehrkonfessionalität gekennzeichnet war. Die calvinistischen Kirchen der eidgenössischen Kantone und die Öffentlichkeitskirche der Niederlande bauten auf dem Prinzip der presbyterialen Gemeindekirche auf und stellten damit das zweite institutionelle Prinzip in den Vordergrund, das im Christentum angelegt war.[28]
Die Kirchen und das christliche Leben Europas im 18. Jahrhundert waren von diesen Strukturmustern, die seit der Reformation im Verhältnis von Christentum und Welt, von geistlicher Herrschaft und Staatlichkeit wirkten, immer noch bestimmt. Insbesondere die Staatswesen aber hatten eine dynamische Entwicklung durchgemacht, die gegen Ende des Aufklärungsjahrhunderts dazu drängen sollte, nach neuen sozialen Formen für Religion zu suchen.
Wo christliche Religion in Europa als Kirche der Bischöfe ausgestaltet war, verfügte sie über beträchtlichen Besitz. Teilhabe an weltlicher Herrschaft, kirchlicher Reichtum und Bischofsorganisation traten zusammen auf.
Ein Extremfall war gewiss ein katholisches Reichsterritorium wie Bayern, in dem der Kirche am Ende des 18. Jahrhunderts rund 52 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen gehörten – ein geschätztes Drittel davon allein den Klöstern. In anderen katholischen Regionen Westeuropas schwankte der kirchliche Grundbesitz zwischen zehn und etwa 35 Prozent. In Frankreich besaß die Kirche auf den Gesamtraum der Monarchie bezogen etwa ein Zehntel der nutzbaren Flächen, allerdings mit starken regionalen Unterschieden. Das scheint nicht übermäßig, aber den Zeitgenossen fiel der Reichtum der Gallikanischen Kirche so sehr ins Auge, dass sie mutmaßten, die Kirche kontrolliere ein Drittel der Monarchie. Tatsächlich bezog die Gallikanische Kirche am Vorabend der Revolution insgesamt Einkünfte in Höhe der Taille, der ertragsstärksten Steuer des Landes. Zu den Einnahmen aus den landwirtschaftlich genutzten Flächen kamen in erheblichem Umfang immer Gefälle, die in grund- und gerichtsherrlichen Rechten gründeten, und dann vor allem der Zehnt, der im Regelfall etwa ein Drittel des bäuerlichen Wirtschaftsertrages in die Kassen der Kirche spülte. Der Bischof von Quimper rechnete im Jahr 1782 mit rund 4000 Livre aus seinen Gütern, 1000 Livre erbrachten seine Bannrechte, und mehr als diese beiden Posten zusammen betrug mit 8000 Livre der dem Bischof verfügbare Zehnt der Diözese. Auch am Immobilienmarkt der Städte war die Kirche durch ihre Rechte auf Besitzwechselgebühren in zum Teil erheblichem Umfang beteiligt. Dem Bischof von Paris gehörten 500 Straßen, von denen er Abgaben bei Verkauf oder Vererbung bezog. Sie summierten sich auf etwa ein Drittel seiner Gesamteinkünfte. Auf der iberischen Halbinsel lag der Anteil des landwirtschaftlichen Eigentums der Kirche etwas höher als in Frankreich, doch die Einkünfte aus sonstigen Rechten und Herrschaftstiteln für die Kirche Spaniens flossen nicht so üppig. In Kastilien besaß sie rund 15 Prozent des Landes, wobei auch hier regional große Schwankungen zu verzeichnen waren. Galizien im Norden wies nur fünf Prozent Kirchenbesitz auf, die Provinzen Sevilla und Toledo rund 20 Prozent. Kirchlicher Landbesitz wurde meist in Parzellen zerteilt verpachtet, große geistliche Latifundienwirtschaften waren selten. Dazu kamen in beträchtlicher Höhe Einnahmen aus Zehntrechten und aus dem kirchlichen Geldverleih, so dass die Kirche in Kastilien deutlich mehr als ein Fünftel, vermutlich sogar mehr als ein Viertel der gesamten landwirtschaftlichen und gewerblichen Einkommen erwirtschaftete und abschöpfte. Die Kirche Italiens war im Süden reicher als im Norden. Ihre Anteile am Grundbesitz schwankten zwischen zehn und 35 Prozent. Städtischer Besitz kam nur in geringem Unfang hinzu, wohl aber war der Zehnt ebenfalls eine der wichtigsten kirchlichen Einnahmequellen.
Ein rundes Fünftel des Grundbesitzes, so lässt sich schätzen, war in diesen Gebieten Mittel- und Westeuropas in kirchlicher Hand, und etwa ein Viertel der Roheinkommen dürften aufgrund kirchlicher Wirtschaftstätigkeit, vor allem aber infolge ihrer Abschöpfungsrechte und Privilegien als Herrschaftsstand auf dem Kontinent, in die Kassen der Kirchen geflossen sein. Vergleichsweise arm erschien dagegen die Anglikanische Kirche. Sie blieb zwar auch nach der Glorious Revolution als feudaler Besitzkomplex bestehen, hatte aber bereits während der Reformation durch die Aufhebung der Klöster etwa 40 Prozent ihrer Besitzungen verloren.
Zwei Eigenheiten kennzeichneten die kirchliche Vermögensverteilung und damit auch die innere Struktur der Kirchen: Hoher und niederer Klerus hatten in extrem ungleicher Weise Anteil an diesen kirchlichen Reichtümern, und auch innerhalb dieser beiden Gruppen gab es nochmals starke Unterschiede. Kanoniker in französischen Adelsstiften hatten zwischen 3000 und 10000 Livre zur Verfügung, die rund 750 Äbte der Monarchie waren mit Amtsausstattungen versehen, die durchschnittlich ebenfalls etwa 10000 Livre betrugen. Die größten Einnahmen waren mit den Bischofssitzen verbunden. Die Diözesen Cambrai und Paris lagen mit 200000 Livre an der Spitze, Rouen und Toulouse wurden auf 90000 bis 100000 veranschlagt; rund 35000 Livre brachten Bistümer wie Besançon oder Vienne ein. Auch wenn hiervon der gesamte Verwaltungsapparat einer Diözese zu finanzieren war, zeigen diese Summen, dass demjenigen, der über die Vergabe der Pfründen für den hohen Klerus gebot, beträchtliche Machtmittel an die Hand gegeben waren.[29]
In der Reichskirche war das spätmittelalterliche Erscheinungsbild geistlicher Herrschaft mit der besonderen Form von geschichteter Staatlichkeit, die sich im Reich seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert herausbildete, verschmolzen und dann trotz aller Auseinandersetzungen um geistliche Besitzstände einer schleichenden Versteinerung überlassen worden. Das Kaisertum in seiner Katholizität und die katholische Kirche stützten sich gegenseitig. Deswegen hatte die Kirche in ihren Reichsständen Anteil an dieser Reichs-Staatlichkeit. Wiewohl es sich um eine in den Lehensverband des Reiches eingebundene Souveränität handelte, kam den Erzbischöfen, Bischöfen, Äbten und Prälaten, die in der Reichsmatrikel verzeichnet waren und auf dem Reichstag Sitz und Stimme hatten, die Landeshoheit zu, der mit dem Westfälischen Frieden sogar das äußere Bündnisrecht zugesprochen worden war. Rund 15 Prozent der Fläche des Reiches machten die sogenannten Geistlichen Wahlstaaten aus. In ihrer staatlichen Substanz betrachtet, erschienen sie in der Mitte des 18. Jahrhunderts als eine nach Prestige und Macht sehr uneinheitliche Gruppe. Unter den fünf Erzstiften auf der Fürstenbank des Reiches war mit dreien (Trier, Mainz, Köln) seit der Goldenen Bulle (1356) das Recht der Königswahl verbunden, die Erzbischöfe von Salzburg und Besançon führten neben 20 Bischöfen den Fürstentitel des Reiches. Mit ihnen nahmen zwölf weitere Äbte, deren Reichslehen den Aufstieg von der Prälatur durch Privilegien bewerkstelligt hatten, samt den Generalen der großen Ritterorden auf der Fürstenbank des Reichstages Platz. In der Hierarchie des Reiches noch vor den Grafen und Herren schließlich rangierten die Äbte und Pröpste auf der Prälatenbank.
In etwa entsprach dieser geschichteten Einordnung in die Prestige- und Rechtshierarchie der Reichsheerschildordnung auch das unterschiedliche politische Gewicht der territorialen Staatlichkeit, über das die geistlichen Fürsten geboten. Zwar konnte keiner der geistlichen Staaten mit konsolidierten Territorien, wie Bayern oder auch Sachsen, in ernsthafte Machtkonkurrenz treten, und erst recht waren sie gegenüber den im 18. Jahrhundert immer schneller wuchernden territorialen Herrschaftsagglomerationen der Habsburger und der Hohenzollern weit ins Hintertreffen geraten. Gegenüber den vielen kleinen Herrschaften der niederrheinischen Reichsgrafen beispielsweise aber nahm sich das Territorium des Kurfürstentums Köln samt dem zugehörigen Herzogtum Westfalen sehr kräftig aus. Und dies galt auch, wenn man die geistlichen Kurstaaten wiederum in Vergleich setzte zum Territorium eines Fürstabtes von Kempten oder dem Kloster Weingarten, das trotz beharrlicher Anstrengungen seiner Äbte seit dem 16. Jahrhundert kaum zur Territorialherrschaft konsolidiert worden war.
Für die kirchliche wie die politische Raumstruktur des Reiches wichtiger als solche Abschichtungen, die ja unter den weltlichen Herrschaftsträgern ebenfalls zu finden waren, wurde jedoch der Umstand, dass sich mit diesen Herrschaftsbezirken ein zweiter, geistlicher Organisations- und Rechtskreis verband. Ihre Einbindung in eine kirchliche Hierarchie und in die gefestigten Gefüge der großen europäischen Orden gab diesen geistlichen Herrschaftsverbänden einen ganz besonderen Charakter, der sie von der konsolidierten weltlichen Staatlichkeit abhob und ihnen damit eine Sonderrolle im Reichsgefüge aufdrängte. Sie konnten sich weder in das Reich noch neben seinen Strukturen integrieren. Ihre geistliche Herrschaft blockierte die Integration in das Reich, ihre Weltlichkeit den Zusammenschluss zum nationalen Kirchenverband. Zwar waren die Bistümer auf dem Gebiet des Reiches in insgesamt neun Kirchenprovinzen zusammengefasst, aber als organisatorische Einheit war die Reichskirche trotzdem nicht greifbar. Ihr Zusammenhang ergab sich allein über die politischen Strukturen des Reiches, und dies führte dann mit einer gewissen Notwendigkeit dazu, dass Bischöfe und Erzbischöfe auch in Kirchenfragen als weltliche Herren handelten. Das Scheitern der Febronianischen Reformen in den 1770er Jahren sollte dies mit Deutlichkeit zeigen. Eine Bischofssynode oder ein Nationalkonzil konnte unter diesen Umständen nicht zustande kommen.
Aus dem gleichen Grund taugte die Reichskirchlichkeit den Bischöfen dann umgekehrt weder als Schutzwall gegen den kurialen Absolutismus Roms noch gegen die staatskirchlichen Bestrebungen der Territorialherren. Rom war mit drei Nuntiaturen im Reich präsent (Wien, Köln und Graz), der Nuntius in Luzern war für die Eidgenossenschaft und der in Brüssel für die Niederlande zuständig. Diese missi cum potestate legati a latere hatten seit ihrer Installation im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts nicht nur als diplomatische Vertreter des Papsttums gewirkt, sondern im Lauf der Zeit in einem beträchtlichen Umfang jurisdiktionelle und spirituelle Kompetenzen an sich gezogen, mit denen sie in die ordentliche bischöfliche Jurisdiktion eingriffen. Nuntien waren deswegen weit mehr als Mittler zwischen Papst und Bischöfen. Da sie zusätzlich alle exemten kirchlichen Anstalten kommissarisch überwachten, wirkten sie als effiziente Organe des päpstlichen Zentralismus. Das änderte aber insgesamt nichts daran, dass die Staatlichkeit der Reichskirche ihrer kirchlichen Organisationsautonomie entgegenlief.[30]
In Frankreich hatte der monarchisch zentrierte Staatsbildungsvorgang die katholische Kirche zu einer von Rom weitgehend unabhängigen, auf das monarchische Zentrum der weltlichen Herrschaft hin ausgerichteten Bischofskirche geformt. Das Konkordat von Bologna hatte dieses Regime 1516 kodifiziert, indem es die kanonische Bischofswahl opferte und der Allerchristlichsten Majestät das Besetzungsrecht für sämtliche Bischofsstühle und die großen Abteien der Monarchie zusprach. Der König schlug vor (nominatio), und der Papst setzte ein (institutio), wobei ihm allerdings eine Prüfung des Kandidaten auf seine Eignung für das Amt und damit ein Veto vorbehalten blieb (Idoneität). Auch die Position der Bischöfe war gestärkt worden. In neun Monaten des Jahres nahmen sie das Patronatsrecht über alle niederen Kirchenämter in ihren Sprengeln wahr. Als Gegenleistung hatte Franz I. (1515–47) auf Bestimmungen in der Pragmatischen Sanktion von Bourges, die seit 1437 die Beziehungen zwischen König, Bischöfen und Papst regelte, verzichtet. Für Rom war insbesondere wichtig gewesen, dass 1516 nicht mehr von der Superiorität der Konzilien und ihrem regelmäßigen Zusammentreten die Rede war. Beibehalten wurde aber, dass die Bullen des Papstes nur mit königlicher Zustimmung in der Monarchie publiziert werden durften. Auf dieser Grundlage konnte sich eine Gallikanische Kirche formen, in der die Autorität des Papstes selbst in geistlichen Dingen allenfalls noch vermittelt wirksam war, die aber umgekehrt die Machtposition des Königs nachhaltig stärkte, da sie ihm ein Reservoir von über 800 gutdotierten Pfründen an die Hand gab. Er nutzte es, um den Adel an die Monarchie zu binden. Der feuille des benefices, in dem diese kirchlichen Stellen aufgelistet waren, nahm sich daher aus wie ein Grundbuch der königlichen Adelsklientel. Für die Kirche war darin festgehalten, dass sie als Adelskirche zur nationalen Institution aufgestiegen war.[31]
Ludwig XIV. (1643–1715) hatte gegen Ende des 17. Jahrhunderts seine Position noch einmal zu verbessern gesucht, indem er für den König bei der Vakanz eines Bischofsstuhles bis zur Wiederbesetzung nicht allein die weltlichen Einkünfte in Anspruch nahm, sondern zusätzlich auch noch die bischöflichen Patronatsrechte an sich zog. In der nachfolgenden Auseinandersetzung mit Innozenz XI. (1676–89) kam es auf Initiative des Königs zu einer Versammlung von Vertretern des hohen und niederen Klerus, die 1684