Altered Carbon - Das Unsterblichkeitsprogramm - Richard Morgan - E-Book
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Altered Carbon - Das Unsterblichkeitsprogramm E-Book

Richard Morgan

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Beschreibung

Welche Bedeutung hat der Tod in einer Welt der Unsterblichen?

Im fünfundzwanzigsten Jahrhundert ist die Wirklichkeit längst digital, und der menschliche Geist kann wie ein Programm in einen neuen Körper heruntergeladen werden. Als der ehemalige Elitesoldat Takeshi Kovacs nach fünfhundert Jahren wieder aufwacht, ist sein schlimmster Albtraum wahr geworden. Und jetzt muss er in einer Welt, in der Sterben eigentlich unmöglich ist, einen Mord aufklären…

Jetzt als Netflix-Serie groß verfilmt!

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Seitenzahl: 870

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Das Buch

In nicht allzu ferner Zukunft hat der Tod seinen unmittelbaren Schrecken verloren: Das menschliche Bewusstsein wird in einer Datenbank abgespeichert und kann je nach Bedarf in einen Körper zurücktransferiert werden. Diese Körper, »Sleeves« genannt, sind in aller Regel Klone, doch nur die Reichen können sich ihre eigenen Klone leisten – alle anderen müssen nach dem »Download« mit einem anderen Körper als ihrem vorherigen weiterleben. So wie Privatdetektiv Takeshi Kovacs, der sich nach seinem letzten Ableben plötzlich im Körper eines ehemaligen Polizisten wiederfindet. Allerdings hat er nicht allzu viel Zeit, sich in seiner neuen Umgebung zurechtzufinden – denn der Millionär Laurens Bancroft hat ihn für einen ganz besonderen Auftrag wieder zum Leben erweckt: Kovacs soll seinen, Bancrofts, Mörder ausfindig machen …

Ein atemberaubender Zukunftsthriller von einem der aufregendsten Science-Fiction-Schriftsteller Großbritanniens – ausgezeichnet mit dem Philip K. Dick Award für den besten Roman des Jahres und kongenial als Netflix-Serie mit Joel Kinnaman in der Hauptrolle inszeniert.

Der Autor

Richard Morgan wurde 1965 in Norwich geboren. Er studierte Englisch und Geschichte in Cambridge und arbeitete etliche Jahre als Englischlehrer im Ausland, bevor er sich entschloss, sein Geld als freier Schriftsteller zu verdienen. Sein Debütroman Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm wurde auf Anhieb ein großer Erfolg. Richard Morgan lebt mit seiner Familie in Glasgow. Im Wilhelm Heyne Verlag sind außerdem erschienen: Gefallene Engel, Heiliger Zorn, Skorpion und Profit.

Mehr zu Autor und Werk auf:

diezukunft.de

RICHARD MORGAN

ALTEREDCARBON

DAS UNSTERBLICHKEITSPROGRAMM

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Titel der englischen Originalausgabe ALTERED CARBON Deutsche Übersetzung von Bernhard Kempen
Copyright © 2001 by Richard Morgan Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München Satz: Schaber Datentechnik, Austria ISBN: 978-3-641-20991-9V003
www.diezukunft.de

Dieses Buch ist fürmeinen Vater und meine Mutter:

John

für seine eiserne Ausdauer undunentwegte Großzügigkeit des Geistesim Angesicht jeglicher Widrigkeiten

Margaret

für die heiße Glutdie im Mitgefühl brenntund die Weigerung, sich abzuwenden

INHALT

PROLOG

ERSTER TEIL

ANKUNFT

(Download)

ZWEITER TEIL

REAKTION

(Internkonflikt)

DRITTER TEIL

ALLIANZ

(Aktualisierung)

VIERTER TEIL

ÜBERZEUGUNG

(Virusbefall)

FÜNFTER TEIL

NEMESIS

(Systemcrash)

EPILOG

PROLOG

Zwei Stunden vor Sonnenaufgang saß ich in der Küche zwischen abblätternden Wänden und rauchte eine von Sarahs Zigaretten, während ich auf den Mahlstrom lauschte und wartete. Millsport hatte sich schon vor Langem schlafen gelegt, aber draußen im Reach zerrten immer noch die Strömungen an den Untiefen, und die Geräusche kamen an Land und durchstreiften die leeren Straßen. Vom Strudel trieb ein feiner Nebel heran, der sich wie Tücher aus Musselin auf die Stadt legte und die Küchenfenster beschlug.

Mit chemischer Aufmerksamkeit machte ich zum fünfzigsten Mal in dieser Nacht eine Inventur der Hardware auf dem zerkratzten Holztisch. Sarahs Nadelpistole von Heckler & Koch funkelte mich matt im schwachen Licht an. Der Kolben stand offen und wartete auf den Ladestreifen. Es war die Waffe eines Attentäters, kompakt und absolut leise. Gleich daneben lagen die Magazine. Sarah hatte Klebeband um jedes einzelne gewickelt, um die Munition unterscheiden zu können – grün für eine Dosis Schlaf, schwarz für eine Ladung Spinnengift. Die meisten Ladestreifen waren schwarz umwickelt. Sarah hatte in der vergangenen Nacht eine große Menge Grün für die Sicherheitswachen bei Gemini Biosys verbraucht.

Mein Beitrag zum Arsenal war weniger subtil. Die große silberne Smith & Wesson und die vier noch übrigen Halluzinogengranaten. Die dünnen roten Linien an jedem Behälter schienen leicht zu funkeln, als wollten sie sich vom Metall lösen und zu den Schnörkeln gesellen, in denen der Rauch meiner Zigarette emporstieg. Die Verschiebung und Veränderung der Signifikanten war eine Nebenwirkung des Tetrameth, das ich nachmittags am Hafen beschafft hatte. Normalerweise rauchte ich nicht, wenn ich nüchtern war, aber aus irgendeinem Grund löste das Tet jedes Mal dieses Bedürfnis aus.

Vor dem fernen Rauschen des Mahlstroms hörte ich es. Das hektische Wischen von Rotorblättern auf dem Gewebe der Nacht.

Ich drückte die Zigarette aus, kaum von mir selbst beeindruckt, und ging ins Schlafzimmer. Sarah schlief, eine Ansammlung von niederfrequenten Sinuskurven unter dem Bettlaken. Eine rabenschwarze Haarsträhne bedeckte ihr Gesicht, und eine Hand mit langen Fingern hing über die Bettkante. Als ich dastand und sie betrachtete, wurde draußen die Nacht aufgerissen. Einer der Orbitalwächter von Harlans Welt feuerte einen Probeschuss in den Reach ab. Donner aus dem erschütterten Himmel rollte heran und ließ die Fenster zittern. Die Frau im Bett rührte sich und wischte sich das Haar aus dem Gesicht. Der Flüssigkeitskristallblick fand mich und fixierte mich.

»Worauf starrst du?« Die Stimme heiser von den Rückständen des Schlafs.

Ich lächelte ein wenig.

»Hör auf mit dem Mist. Sag mir, warum du mich ansiehst.«

»Einfach so. Es ist Zeit zum Gehen.«

Sie hob den Kopf und bemerkte das Geräusch des Hubschraubers. Der Schlaf fiel von ihr ab, und sie setzte sich im Bett auf.

»Wo wär’ die ’ware?«

Das war ein alter Corps-Witz. Ich lächelte, so wie man es tat, wenn man einen alten Freund wiedersah, und zeigte auf den Koffer, der in der Ecke des Zimmers stand.

»Hol mir meine Waffe.«

»Sehr wohl, Ma’am. Schwarz oder grün?«

»Schwarz. Ich traue diesem Abschaum nicht weiter als einem Klebfilm-Kondom.«

In der Küche lud ich die Nadelpistole, warf einen Blick auf meine eigene Waffe und ließ sie dort liegen. Stattdessen nahm ich eine der H-Granaten in die andere Hand. Im Durchgang zum Schlafzimmer blieb ich stehen und wog die beiden Stücke Hardware in den Händen, als wollte ich entscheiden, welches schwerer war.

»Eine kleine Ergänzung Ihres Phallus-Ersatzes, Ma’am?«

Sarah blickte unter der Sichel aus schwarzem Haar auf, die ihr über die Stirn gefallen war. Sie war gerade dabei, sich lange Wollstrümpfe über die glänzenden Schenkel zu ziehen.

»Das Ding mit dem langen Lauf ist deins, Tak.«

»Größe spielt keine …«

Wir beide hörten es gleichzeitig. Ein zweifaches metallisches Klacken aus dem Korridor. Unsere Blicke trafen sich, und eine Viertelsekunde lang sah ich in ihren Augen eine Spiegelung meines eigenen Erschreckens. Dann warf ich ihr die geladene Nadelwaffe zu. Sarah fing sie in der Luft auf, im gleichen Moment, als eine ganze Schlafzimmerwand krachend in sich zusammenstürzte. Die Explosion warf mich rückwärts in eine Ecke und zu Boden.

Sie mussten uns mit Körperwärmesensoren im Apartment lokalisiert haben, bevor sie die gesamte Wand mit Haftminen präpariert hatten. Diesmal gingen sie kein Risiko ein. Der insektenäugige Kämpfer, der durch die zerstörte Wand eindrang, war untersetzt und trug eine volle Schutzmontur gegen Gasangriffe und eine schwere Kalaschnikow mit Stummellauf.

Ich lag noch am Boden, als ich die H-Granate auf ihn warf. Sie war ungesichert und auf jeden Fall nutzlos gegen seine Gasmaske, aber er hatte nicht genügend Zeit, um zu identifizieren, was auf ihn zuflog. Er kickte sie mit dem Verschluss der Kalaschnikow weg und wich stolpernd zurück, die Augen hinter den Glasscheiben der Maske weit aufgerissen.

»In Deckung!«

Sarah war neben dem Bett zu Boden gegangen und hatte die Arme über den Kopf gelegt, um sich vor der Explosion zu schützen. Sie hörte den Ruf, und in den Sekunden, die wir durch diesen Bluff gewannen, kam sie wieder hoch und brachte die Nadelpistole in Anschlag. Hinter der Wand konnte ich Gestalten erkennen, die vor der Granate in Deckung gingen. Ich hörte das Moskitosummen monomolekularer Splitter, als Sarah drei Schüsse auf den Kämpfer abfeuerte. Sie durchschlugen unsichtbar den Kampfanzug und drangen in seinen Körper ein. Er gab ein Geräusch von sich, als würde er etwas Schweres anheben, während sich das Spinnengift in seinem Nervensystem festkrallte. Ich grinste und rappelte mich auf.

Sarah nahm die Gestalten hinter der Wand ins Visier, als der zweite Kämpfer im Durchgang zur Küche auftauchte und sie mit einer Salve aus seinem Sturmgewehr wegpustete.

Ich kauerte immer noch am Boden, als ich sie mit chemischer Klarheit sterben sah. Alles geschah so langsam, dass es wie ein Video in Zeitlupe aussah. Der Kämpfer drückte die Waffe nach unten, um sich vor dem Schnellfeuerrückstoß zu schützen, für den die Kalaschnikow berüchtigt war. Zuerst wurde das Bett getroffen, das in einer Explosion aus weißen Daunen und zerfetztem Stoff verging, dann Sarah, während sie sich umdrehte. Ich sah, wie sich ein Bein unterhalb des Knies in eine blutige Masse verwandelte, dann wurde ihr Rumpf getroffen. Faustgroße Brocken aus Gewebe wurden aus ihrer blassen Haut gerissen, während sie durch den Vorhang aus Feuer stürzte.

Ich kam wankend auf die Beine, als das Sturmgewehr stockend verstummte. Sarah hatte sich auf den Bauch gerollt, als wollte sie die Verletzungen verbergen, die ihr die Geschosse zugefügt hatten, aber ich hatte trotzdem alles durch einen roten Schleier gesehen. Ohne eine bewusste Entscheidung getroffen zu haben, kam ich aus der Ecke, und dem Kämpfer blieb nicht mehr genug Zeit, die Kalaschnikow herumzuschwenken. Ich rammte ihn auf Hüfthöhe, schlug die Waffe zur Seite und schleuderte ihn zurück in die Küche. Der Lauf des Gewehrs prallte gegen den Türpfosten, wodurch es ihm aus den Händen gerissen wurde. Ich hörte, wie die Waffe hinter mir zu Boden fiel, als wir auf dem Küchenfußboden landeten. Das Tetrameth verlieh mir die nötige Geschwindigkeit und Kraft, mich auf ihn zu werfen, seinen Arm zur Seite zu schlagen und seinen Kopf mit beiden Händen zu packen. Dann ließ ich ihn wie eine Kokosnuss auf die Kacheln krachen.

Sein Blick unter der Maske trübte sich plötzlich. Wieder nahm ich den Kopf und schlug ihn auf den Boden. Diesmal fühlte sich der Aufprall des Schädels schon etwas weicher an. Ich zerstampfte ihn wie in einem Mörser, immer wieder. In meinen Ohren war ein lautes Rauschen, das wie der Mahlstrom klang, und von Ferne hörte ich meine eigene Stimme, die wüste Beschimpfungen schrie. Ich wollte gerade zum vierten oder fünften Mal zuschlagen, als mich etwas zwischen den Schulterblättern traf und ich erstaunt sah, wie das Tischbein genau vor mir zersplitterte. Ich spürte das Stechen, als zwei Späne mein Gesicht trafen.

Aus irgendeinem Grund versiegte unvermittelt die Energie meiner Raserei. Ich ließ den Kopf des Kämpfers los, fast behutsam, und hob verwirrt die Hand, um nach dem Schmerz in meiner Wange zu tasten, als mir bewusst wurde, dass ich einen Schuss abbekommen hatte und dass die Kugel meinen Brustkorb durchschlagen haben musste, bevor sie das Tischbein zerfetzt hatte. Ich blickte an mir hinab und sah verdutzt den dunkelroten Fleck, der sich wie Tinte auf meinem Hemd ausbreitete. Es gab keinen Zweifel. Es war ein Austrittsloch, das groß genug war, um einen Golfball hineinschieben zu können.

Mit der Erkenntnis kam der Schmerz. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Pfeifenreiniger aus Stahlwolle mit einem Ruck durch meinen Brustkorb gezogen. Nachdenklich suchte ich nach dem Loch und steckte zwei Finger hinein. In der Wunde spürte ich die rauen Ränder zersplitterter Knochen und an der Seite eine pulsierende Membran. Die Kugel hatte mein Herz verfehlt. Ich grunzte und wollte aufstehen, aber das Grunzen wurde zu einem Husten, und ich schmeckte Blut auf der Zunge.

»Nicht bewegen, Arschloch!«

Der Schrei kam aus einer jungen Kehle und war vor Schock stark verzerrt. Ich kauerte mich über meiner Wunde zusammen und blickte mich über die Schulter um. Hinter mir in der Tür stand ein junger Mann in Polizeiuniform und hielt mit beiden Händen die Pistole, mit der er soeben auf mich geschossen hatte. Er zitterte sichtlich. Wieder hustete ich und wandte mich dem Tisch zu.

Die Smith & Wesson lag auf Augenhöhe, sie glänzte silbrig und war immer noch dort, wo ich sie vor weniger als zwei Minuten zurückgelassen hatte. Vielleicht war es das, was mich antrieb – die dürftigen Späne der Zeit, die abgehobelt worden waren, seit Sarah gelebt hatte und alles in Ordnung gewesen war. Vor weniger als zwei Minuten hätte ich die Waffe aufheben können, ich hatte sogar daran gedacht, es zu tun – warum sollte ich es jetzt also nicht tun? Ich knirschte mit den Zähnen, drückte die Finger fester ins Loch in meiner Brust und erhob mich auf wackligen Beinen. Blut lief warm meine Kehle hinunter. Ich hielt mich mit der freien Hand an der Tischkante fest und sammelte meine Kräfte, während ich mich zum Polizisten umschaute. Ich spürte, wie sich meine Lippen von den zusammengebissenen Zähnen zurückzogen und sich zu etwas verzerrten, das eher eine Grimasse als ein Grinsen war.

»Zwingen Sie mich nicht, es zu tun, Kovacs.«

Ich schob mich einen Schritt näher an den Tisch heran und stützte mich mit den Beinen daran ab. Mein Atem pfiff durch die Zähne und drang blubbernd durch die Kehle. Die Smith & Wesson glänzte wie Katzengold auf dem zerkratzten Holz. Draußen im Reach fuhr Energie von einem Orbital herab und tauchte die Küche in blaues Licht. Ich hörte, wie der Mahlstrom rief.

»Ich sagte …«

Ich schloss die Augen und griff nach der Waffe auf dem Tisch.

ERSTER TEIL

ANKUNFT

(Download)

1

Von den Toten zurückzukehren kann hart sein.

Beim Envoy Corps lernt man, dass man loslassen muss, bevor man eingelagert wird. Auf neutral schalten und sich treiben lassen. Das war die erste Lektion, die die Ausbilder einem von Tag eins an eintrichterten. Virginia Vidaura mit den harten Augen und dem Körper einer Tänzerin im formlosen Overall des Corps, wie sie im Einweisungsraum vor uns auf und ab ging. Macht euch wegen nichts Sorgen, sagte sie, dann werdet ihr auf alles vorbereitet sein. Ein Jahrzehnt später traf ich sie wieder, in einem Arrestbunker der Vollzugsanstalt New Kanagawa. Sie sollte für ein Jahrhundert auf achtzig gehen, wegen exzessiven bewaffneten Raubüberfalls mit organischen Defekten. Das Letzte, was sie zu mir sagte, als man sie aus der Zelle holte, war: »Mach dir keine Sorgen, Junge, sie speichern alles.« Dann beugte sie den Kopf, um sich eine Zigarette anzuzünden, sog den Rauch in Lungen, die ihr nun scheißegal geworden waren, und marschierte den Korridor entlang, als wäre sie zu einer langweiligen Besprechung unterwegs. Im schmalen Sichtfeld, das die Zellentür mir gestattete, beobachtete ich ihre stolze Haltung und sprach flüsternd ihre Worte wie ein Mantra nach.

Mach dir keine Sorgen, Junge, sie speichern alles. Ein wunderbar doppelsinniges Beispiel elementarer Weisheiten. Das trostlose Vertrauen in die Effizienz des Strafvollzugsystems und eine Anspielung auf den flüchtigen Geisteszustand, den man benötigt, um die Klippen der Psychose zu umschiffen. Ganz gleich, was du fühlst, was du denkst, was du bist, wenn du eingelagert wirst – genauso wirst du sein, wenn du wieder herauskommst. Bei Angstzuständen kann das zu einem Problem werden. Also lässt man los. Schaltet auf neutral. Entspannt sich und lässt sich treiben.

Wenn man die Zeit dazu findet.

Ich tauchte wild um mich schlagend aus dem Tank auf. Eine Hand klebte auf meiner Brust und suchte nach Verletzungen, die andere klammerte sich um eine nicht vorhandene Waffe. Die Schwerkraft war wie ein Hammerschlag und ließ mich platschend ins Schwimmgel zurückfallen. Ich schlug mit den Armen um mich, stieß mit einem Ellbogen gegen die Tankwand und keuchte vor Schmerz auf. Gelklumpen drangen mir in den Mund und in die Kehle. Ich schloss den Mund und bekam den Rand des Tanks zu fassen, aber das Zeug war einfach überall. Es brannte mir in den Augen, in der Nase und glitt mir schlüpfrig durch die Finger. Die Schwerkraft löste meinen Griff und drückte wie ein Hoch-G-Manöver auf meine Brust, sodass ich wieder im Gel versank. Mein Körper kämpfte verzweifelt gegen die Enge des Tanks. Schwimmgel? Ich ertrank!

Unvermittelt wurde mein Arm mit starkem Griff gepackt, und jemand zog mich in eine aufrechte Position. Ich hustete. Erst zu diesem Zeitpunkt stellte ich fest, dass meine Brust unverletzt war, dann wischte mir jemand mit einem Tuch das Gesicht ab, sodass ich wieder sehen konnte. Ich beschloss, mir dieses Vergnügen für später aufzuheben, und konzentrierte mich darauf, den Inhalt des Tanks aus Nase und Kehle zu befördern. Etwa eine halbe Minute lang blieb ich mit gesenktem Kopf sitzen, hustete das Gel aus und versuchte das Rätsel zu lösen, warum sich alles so extrem schwer anfühlte.

»So viel zum Sinn des Trainings.« Es war eine raue männliche Stimme, genau das, was man vom Personal einer Strafvollzugsanstalt erwarten würde. »Was hat man Ihnen bei den Envoys beigebracht, Kovacs?«

In diesem Moment wurde mir alles klar. Auf Harlans Welt war Kovacs ein durchaus geläufiger Name. Jeder wusste, wie man ihn aussprach. Dieser Kerl wusste es nicht. Er benutzte eine gedehntere Variante des Amenglischen, als sie auf Harlans Welt in Gebrauch war, trotzdem klang der Name entstellt, zumal der Schlusslaut ein hartes »ks« statt des slawischen »tsch« war.

Und alles war viel zu schwer.

Die Erkenntnis drang durch meine benebelte Wahrnehmung wie ein Ziegelstein, der durch eine reifbedeckte Fensterscheibe schlug.

Irgendwann im Verlauf der Geschichte hatte man Takeshi Kovacs (d. I.) auf einen anderen Planeten transferiert. Und da Harlans Welt die einzige bewohnbare Biosphäre im Glimmer-System darstellte, ergab sich daraus die Schlussfolgerung eines Needlecasts in stellaren Dimensionen …

Nur wohin?

Ich blickte auf. Von der Betondecke kam das grelle Licht darin eingelassener Neonröhren. Ich saß in einem aufgeklappten Zylinder aus mattem Metall und sah aus wie ein altertümlicher Flugzeugpilot, der vergessen hatte, sich etwas anzuziehen, bevor er in seinen Doppeldecker gestiegen war. Der Zylinder stand mit etwa zwanzig weiteren an der Wand aufgereiht, gegenüber einer schweren verschlossenen Stahltür. Die Luft war kühl, die Wände hatten keinen Anstrich. Auf Harlans Welt, das musste man den Leuten lassen, waren zumindest die Resleevingräume in beruhigenden Pastellfarben gehalten, und das Personal verhielt sich freundlich. Schließlich hatte man seine Schuld gegenüber der Gesellschaft beglichen. Das Mindeste, was man erwarten konnte, war ein netter Start in ein neues Leben.

»Nett« gehörte jedoch nicht zu den Attributen des Kerls, der vor mir stand. Er war etwa zwei Meter groß und machte den Eindruck, als hätte er seinen Lebensunterhalt damit verdient, gegen Sumpfpanther zu kämpfen, bevor er sich für eine andere Berufslaufbahn entschieden hatte. Die Muskulatur wölbte sich wie ein Hornpanzer über Brust und Arme, der Kopf war kahl rasiert, und eine lange Narbe zuckte wie ein Blitz über den Schädel und schlug in das linke Ohr ein. Er trug ein weites, schwarzes Gewand mit Schulterstücken und einem Disketten-Logo auf der Brust. Seine Augen passten zur Kleidung und beobachteten mich mit stählerner Ruhe. Nachdem er mir geholfen hatte, mich aufzusetzen, war er bis auf Griffweite zurückgewichen, als würde es exakt so in den Vorschriften stehen. Diesen Job machte er schon seit längerer Zeit.

Ich hielt mir ein Nasenloch zu und beförderte schnaubend die Reste des Gels aus dem anderen.

»Würden Sie mir verraten, wo ich bin? Mich über meine Rechte aufklären oder etwas in der Art?«

»Kovacs, im Augenblick haben Sie überhaupt keine Rechte.«

Ich blickte auf und sah, dass sich sein Gesicht zu einem grimmigen Lächeln verzogen hatte. Ich reagierte mit einem Achselzucken und säuberte die rechte Nasenhöhle.

»Würden Sie mir trotzdem verraten, wo ich bin?«

Er zögerte einen Moment, blickte zur Neonstaffel in der Decke auf, als müsste er sich noch einmal der Informationen vergewissern, bevor er sie weitergab, dann erwiderte er mein Schulterzucken.

»Klar. Warum nicht? Sie sind in Bay City, Kumpel. Bay City auf der Erde.« Dann stellte sich wieder sein Grimassenlächeln ein. »Der Heimat der Menschheit. Genießen Sie Ihren Aufenthalt auf der ältesten aller zivilisierten Welten. Tätä-räh!«

»An Ihnen ist ein Entertainer verloren gegangen«, sagte ich mit völlig ernster Miene.

Die Ärztin führte mich durch einen langen weißen Korridor, dessen Fußboden die Spuren vieler gummibereifter Rollbahren trugen. Sie legte ein ziemliches Tempo vor, und ich musste mich anstrengen, um Schritt zu halten. Immerhin trug ich nicht mehr als ein schlichtes graues Handtuch am Leib und war immer noch klitschnass vom Gel. Sie bemühte sich um ein entspanntes Arzt-Patient-Verhältnis, obwohl ihre Art etwas Gehetztes hatte. Sie hatte sich ein Bündel Unterlagen in Form sich wellender Ausdrucke unter den Arm geklemmt und schien noch weitere Termine zu haben. Ich fragte mich, wie viele Sleevings sie täglich zu betreuen hatte.

»Sie sollten sich in den nächsten ein oder zwei Tagen möglichst viel Ruhe gönnen«, sagte sie auf. »Wenn Sie stellenweise leichte Schmerzen verspüren, ist das kein Grund zur Beunruhigung. Durch viel Schlaf lösen sich diese Probleme von ganz allein. Falls Sie dauerhafte Beschwerden …«

»Ich weiß. Ich bin nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation.«

Dieses Gespräch machte auf mich kaum den Eindruck einer zwischenmenschlichen Interaktion. Ich hatte mich gerade an Sarah erinnert.

Wir blieben vor einer Tür stehen, auf dessen Milchglasscheibe das Wort Dusche gedruckt war. Die Ärztin dirigierte mich hinein und sah mich einen Moment lang an.

»Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich eine Dusche benutze«, versicherte ich ihr.

Sie nickte. »Wenn Sie fertig sind, nehmen Sie den Aufzug am Ende dieses Korridors. Ein Stockwerk höher werden die Entlassungsformalitäten geregelt. Vorher würde sich die … äh … die Polizei gerne mit Ihnen unterhalten.«

In den Vorschriften hieß es, dass man es unterlassen sollte, frisch gesleevte Individuen stärkeren nervlichen Belastungen auszusetzen. Vermutlich hatte sie meine Akten gelesen und betrachtete es angesichts meines Lebensstils nicht als außergewöhnliches Ereignis, mit der Polizei zu tun zu haben. Ich versuchte es genauso zu sehen.

»Worüber?«

»Man zog es vor, mich darüber nicht in Kenntnis zu setzen.« Ihre Worte verrieten, dass sie deswegen leicht verärgert war – eine Regung, die sie mir eigentlich nicht hätte offenbaren dürfen. »Vielleicht ist Ihnen Ihr Ruf vorausgeeilt.«

»Vielleicht.« Ich folgte einem spontanen Drang und verzog mein neues Gesicht zu einem Lächeln. »Doktor, ich bin noch nie hier gewesen. Auf der Erde, meine ich. Ich hatte noch nie mit Ihrer Polizei zu tun. Sollte ich mir deswegen Sorgen machen?«

Als sie mich ansah, erkannte ich die aufwallenden Gefühle in ihren Augen, die Mischung aus Furcht, Erstaunen und Verachtung, wie sie typisch für jemanden war, der die Menschen verbessern wollte und damit gescheitert war.

»Wenn es um einen Mann wie Sie geht«, brachte sie schließlich heraus, »hätte ich gedacht, dass es die Polizei ist, die sich Sorgen machen sollte.«

»Stimmt«, sagte ich leise.

Sie zögerte kurz, dann zeigte sie nach hinten. »Im Ankleideraum gibt es einen Spiegel«, sagte sie und ging. Ich drehte mich um und warf einen Blick in die Richtung, aber ich war mir noch nicht sicher, ob ich schon für den Spiegel bereit war.

Unter der Dusche vertrieb ich meine Unruhe durch unmelodisches Pfeifen, während ich meinen neuen Körper mit Händen und Seife säuberte. Mein Sleeve war Anfang vierzig, Protektoratsstandard, mit der Figur eines Schwimmers, und das Nervensystem schien auf militärische Anforderungen zugeschnitten zu sein. Wahrscheinlich durch ein neurochemisches Upgrade. Dem hatte ich mich selber schon einmal unterzogen. Die Lungen wiesen eine gewisse Kurzatmigkeit auf, die auf Nikotinabhängigkeit hindeutete, und der Unterarm wurde von prächtigen Narben geziert. Doch davon abgesehen stellte ich nichts fest, worüber ich mich hätte beschweren können. Die kleineren Mängel und Schwächen fielen einem erst im Laufe der Zeit auf, und wenn man klug war, lernte man einfach damit zu leben. Jeder Sleeve hatte eine Geschichte. Wer sich daran störte, sollte sich in die Schlangen vor Syntheta oder Fabrikon einreihen. Ich hatte schon mehrere synthetische Sleeves getragen. Sie wurden häufig bei Bewährungsverhandlungen benutzt. Sie waren billig, aber man hatte meistens den Eindruck, allein in einem zugigen Haus zu leben, und anscheinend schafften sie es nie, die Schaltkreise für die Geschmacksnerven richtig zu verdrahten. Alles, was man aß, schmeckte letztlich wie gewürzte Sägespäne.

In der Umkleidekabine lag ein ordentlich zusammengefalteter Sommeranzug auf der Bank, und in die Wand war ein Spiegel eingelassen. Auf der Kleidung hatte man eine einfache Armbanduhr aus Stahl und einen weißen Umschlag deponiert, auf dem mein Name geschrieben stand. Ich atmete tief durch und stellte mich dem, was der Spiegel mir zeigen würde.

Das war jedes Mal der schwierigste Moment. Obwohl ich es schon seit zwei Jahrzehnten machte, versetzte es mir immer wieder einen Schock, wenn ich plötzlich das Gesicht eines Fremden erblickte. Es war, als würde man ein Bild aus den Tiefen eines Autostereogramms hervorziehen. In den ersten Momenten sah man nur jemanden, der in einem Fensterrahmen stand und einen betrachtete. Dann verschob sich die Wahrnehmung und man spürte, wie man den Raum hinter der Maske ausfüllte und an die Innenseite gepresst wurde, was ein beinahe körperlich spürbares Schockerlebnis war. Als hätte jemand eine Nabelschnur zerschnitten, nur dass nicht zwei Menschen voneinander getrennt wurden; es war die Andersartigkeit, die abgeschnitten wurde, bis man erkannte, dass man sein eigenes Spiegelbild betrachtete.

Ich stand vor dem Spiegel und rieb mich mit dem Handtuch trocken, während ich mich an das Gesicht zu gewöhnen versuchte. Der Körper hatte weiße Hautfarbe, was für mich etwas Neues war, und mein nachhaltigster Eindruck war der, dass dieser Sleeve niemals den Weg des geringsten Widerstands gegangen war. Selbst mit der charakteristischen Blässe eines längeren Aufenthalts im Tank wirkten die Gesichtszüge wettergegerbt. Überall waren Falten. Das dicke, kurz geschnittene Haar war schwarz mit grauen Einsprengseln. Die Augen hatten einen nachdenklichen Blauton, und über dem linken war eine schwache gezackte Narbe. Ich hob den linken Unterarm und betrachtete die Geschichte, die darauf niedergeschrieben war. Ob beide etwas miteinander zu tun hatten?

Der Umschlag unter der Armbanduhr enthielt ein einzelnes Blatt bedruckten Papiers. Handsigniert. Sehr originell.

Tja, du bist jetzt auf der Erde. Der ältesten aller zivilisierten Welten. Ich zuckte die Achseln und überflog den Brief, dann zog ich mich an und steckte ihn zusammengefaltet in die Jacke meines neuen Anzugs. Mit einem letzten Blick in den Spiegel legte ich die Armbanduhr an und machte mich auf den Weg zur Polizei.

Es war vier Uhr fünfzehn Ortszeit.

Die Ärztin erwartete mich bereits. Sie saß hinter einem langen gekrümmten Empfangstisch und füllte am Monitor Formulare aus. Ein hagerer, ernst wirkender, in Schwarz gekleideter Mann stand neben ihr. Sonst befand sich niemand in diesem Raum.

Ich schaute mich um und sah dann wieder den Mann an.

»Sind Sie von der Polizei?«

»Draußen.« Er deutete auf die Tür. »Hier hat sie keine Jurisdiktion. Sie kommt nur auf speziellen Antrag rein. Wir haben unsere eigenen Sicherheitskräfte.«

»Und Sie sind …?«

Er sah mich mit der gleichen Mischung verschiedener Gefühle an, die die Ärztin mir ein Stockwerk tiefer entgegengebracht hatte. »Direktor Sullivan, der Leiter von Bay City Central, der Einrichtung, die Sie in Kürze verlassen werden.«

»Das klingt nicht so, als wären sie froh, mich endlich loszuwerden.«

Sullivan bedachte mich mit einem durchdringenden Blick. »Sie sind ein Rückfälliger, Kovacs. Ich habe noch nie eingesehen, warum man gutes Fleisch und Blut für Leute wie Sie verschwenden sollte.«

Ich legte die Hand auf den Brief in der Brusttasche meiner Jacke. »Also kann ich von Glück reden, dass Mr. Bancroft nicht Ihrer Meinung ist. Er wollte mir einen Wagen schicken. Wartet der ebenfalls draußen?«

»Ich habe nicht nachgesehen.«

Vom Empfangstisch war ein Protokollsignal zu hören. Die Ärztin war mit der Dateneingabe fertig. Sie riss den Ausdruck ab, initialisierte ihn an mehreren Stellen und reichte ihn an Sullivan weiter. Der Direktor beugte sich über das Dokument, überflog es mit leicht zusammengekniffenen Augen und kritzelte schließlich seine Unterschrift darauf, bevor er es mir gab.

»Takeshi Lev Kovacs«, sagte er und sprach meinen Namen genauso falsch aus wie sein Untergebener im Tankraum. »Kraft der mir durch das UN-Justizabkommen verliehenen Macht entlasse ich Sie in die Bewährung und die Obhut von Laurens J. Bancroft. Die Leasingdauer beträgt maximal sechs Wochen. Danach wird neu über Ihren Bewährungsstatus verhandelt. Bitte unterschreiben Sie hier.«

Ich nahm den Stift und setzte meinen Namen in fremder Handschrift neben den Finger des Direktors. Sullivan trennte das Original vom Durchschlag und reichte mir die rosafarbene Kopie. Dann gab die Ärztin ihm ein zweites Dokument.

»Dies ist die ärztliche Bescheinigung, dass Takeshi Kovacs (d. I.) intakt von der Justizverwaltung von Harlans Welt übernommen und anschließend in einen neuen Körper gesleevt wurde. Bezeugt durch mich und die interne Überwachung. Eine Kopie der Daten, die Übertragung und Tankverwahrung betreffend, befindet sich auf der beigefügten Disk. Bitte unterschreiben Sie die Erklärung.«

Ich blickte auf und suchte vergeblich nach Hinweisen auf die Existenz von Kameras. Aber es hatte keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Also unterschrieb ich ein zweites Mal.

»Das hier ist eine Kopie der Leasingvereinbarungen, denen Sie unterworfen sind. Bitte lesen Sie sie aufmerksam durch. Falls Sie eine der Bestimmungen verletzen, können Sie unverzüglich wieder eingelagert werden, worauf Sie die volle Dauer Ihrer Strafe entweder hier oder in einer anderen Anstalt verbüßen werden. Haben Sie die Bestimmungen verstanden, und verpflichten Sie sich, ihnen Folge zu leisten?«

Ich überflog die Papiere. Es war der übliche Sermon. Eine leicht modifizierte Variante der Bewährungsbestimmungen, die ich auf Harlans Welt schon ein halbes Dutzend Mal unterschrieben hatte. Die Formulierungen waren etwas steifer, aber der Inhalt war identisch. Der gleiche Blödsinn mit anderem Namen. Ich unterschrieb, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Gut.« Sullivan schien nun etwas von seiner Härte verloren zu haben. »Sie haben großes Glück gehabt, Kovacs. Nutzen Sie diese Gelegenheit.«

Kam es diesen Leuten nicht irgendwann zu blöd vor, so etwas zu sagen?

Ohne ein Wort faltete ich meine Papiere zusammen und steckte sie zum Brief in die Jackentasche. Ich wollte mich gerade zum Gehen wenden, als die Ärztin aufstand und mir eine kleine weiße Karte reichte.

»Mr. Kovacs.«

Ich hielt inne.

»Es sind keine größeren Anpassungsschwierigkeiten zu erwarten«, sagte sie. »Es ist ein gesunder Körper, und Sie sind an diese Prozedur gewöhnt. Falls es doch zu Problemen kommen sollte, wählen Sie diese Nummer.«

Ich streckte den Arm aus und nahm ihr das kleine Rechteck aus Pappe mit maschinenhafter Präzision aus der Hand. Diese Eigenschaft meines Körpers war mir zuvor noch gar nicht aufgefallen. Das Neurachem tat seine Wirkung. Meine Hand deponierte die Karte in der gleichen Tasche, die auch die übrigen Papiere enthielt. Dann ging ich, ohne ein weiteres Wort, durchquerte den Empfangsraum und stieß die Tür auf. Es mochte vielleicht etwas undankbar erscheinen, aber ich war der Ansicht, dass sich in diesem Gebäude noch niemand meine Dankbarkeit verdient hatte.

Sie haben großes Glück gehabt, Kovacs. Klar doch. Einhundertachtzig Lichtjahre von zu Hause entfernt, im Körper eines Fremden, den ich auf der Basis eines sechswöchigen Pachtvertrages nutzen konnte. Angefordert, um einen Auftrag zu erledigen, den die hiesige Polizei nicht einmal mit einem Knüppel berühren wollte. Im Fall des Scheiterns sofortige Rückkehr in die Anstalt. Ich hatte so großes Glück gehabt, dass ich am liebsten vor Freude gesungen hätte, als ich durch die Tür nach draußen trat.

2

Die Eingangshalle war riesig, aber praktisch menschenleer. Kein Vergleich mit dem Bahnhof von Millsport. Unter dem schrägen Dach aus langen transparenten Platten schimmerte der Glasboden bernsteingelb im nachmittäglichen Sonnenlicht. Ein paar Kinder spielten mit den Automatiktüren am Ausgang, und ein einsamer Reinigungsroboter fuhr schnuppernd an einer Wand entlang. Sonst bewegte sich nichts. Wie Gestrandete des Lichtmeeres saßen vereinzelte Menschen auf Bänken aus altem Holz und warteten schweigend auf Freunde oder Angehörige, die aus dem Carboneogenexil zurückkehren sollten.

Im Download-Bahnhof.

Diese Menschen würden ihre Bekannten oder Verwandten in den neuen Sleeves nicht wiedererkennen. Nur für die Heimkehrenden hätte das Wiedersehen etwas Vertrautes, während die Wiedersehensfreude für jene, die auf sie warteten, von kalter Furcht gedämpft wurde, weil sie nicht wussten, welchen neuen Gesichtern und Körpern sie Zuneigung entgegenbringen mussten. Vielleicht entstammten sie auch ganz neuen Generationen, die auf Verwandte warteten, die für sie nicht mehr als eine vage Kindheitserinnerung oder gar eine Familienlegende waren. Im Corps hatte ich einen Mann kennengelernt, Murakami, dem die Freilassung seines Urgroßvaters bevorstand, der vor über Hundert Jahren eingelagert worden war. Er wollte sich mit einem Liter Whisky und einem Billardkö als Willkommensgeschenk in Newpest einfinden. Er war mit Geschichten aufgewachsen, wie sein Urgroßvater seine Zeit in den Billardsalons von Kanagawa verbracht hatte. Der Mann wurde eingeliefert, lange bevor Murakami geboren war.

Ich entdeckte mein Empfangskomitee, als ich die Stufen zur Halle hinunterschritt. Drei hohe Silhouetten hatten sich um eine Sitzbank versammelt, bewegten sich unruhig im schräg einfallenden Sonnenlicht und erzeugten Wirbel im Staub, der in der Luft schwebte. Eine vierte Gestalt saß auf der Bank, die Arme verschränkt, die Beine ausgestreckt. Alle vier trugen Reflexsonnenbrillen, die ihren Gesichtern aus einiger Entfernung das Aussehen identischer Masken verliehen.

Da ich bereits Kurs auf die Tür gesetzt hatte, verzichtete ich darauf, mich in ihre Richtung zu bewegen, und das schien ihnen erst aufzufallen, als ich die Halle bereits zur Hälfte durchquert hatte. Zwei aus der Gruppe liefen los, um mich abzufangen, mit der Gelassenheit großer Raubkatzen, die man vor Kurzem gefüttert hatte. Sie waren kräftig gebaut und hatten gepflegte rote Mohikanerfrisuren. Ein paar Meter voraus versperrten sie mir den Weg, sodass ich gezwungen war, entweder stehen zu bleiben oder einen abrupten Richtungswechsel zu vollführen, um ihnen auszuweichen. Ich blieb stehen. Wer als Neuankömmling in einem neuen Sleeve auftrat, sollte es tunlichst unterlassen, sich mit den einheimischen Gesetzeshütern anzulegen. Ich bemühte mich, mein zweites Lächeln dieses Tages zuwege zu bringen.

»Kann ich etwas für Sie tun?«

Der Ältere der beiden zeigte mir flüchtig eine Dienstmarke und steckte sie sofort wieder ein, als könnte sie an der Luft Rost ansetzen.

»Polizei von Bay City. Der Lieutenant möchte sich mit Ihnen unterhalten.« Der Satz klang wie abgeschnitten, als müsste er seinen Drang unterdrücken, ihn mit einem beleidigenden Zusatz abzuschließen. Ich versuchte den Eindruck zu erwecken, als würde ich ernsthaft darüber nachdenken, ob ich diesem Wunsch Folge leisten sollte oder nicht, aber sie wussten genauso gut wie ich, dass ich keine Wahl hatte. Wenn man erst vor einer Stunde den Tank verlassen hatte, kannte man seinen neuen Körper noch nicht gut genug, um sich auf eine Schlägerei einlassen zu können. Ich verdrängte die Bilder, wie Sarah gestorben war, und ließ mich von ihnen zum Kollegen auf der Bank führen.

Der Lieutenant war eine Frau in den Dreißigern. Unter den goldenen Scheiben ihrer Sonnenbrille wölbten sich Wangenknochen, die sie einem indianischen Vorfahren zu verdanken hatte, und Lippen, die zu einem süffisanten Ausdruck auseinander gezogen waren. Die Sonnenbrille wurde von einer Nase getragen, mit der man Konservendosen hätte öffnen können. Kurzes, unordentliches Haar rahmte das Gesicht ein und stand über der Stirn in Spitzen ab. Sie hatte sich in eine übergroße Kampfjacke gehüllt, aber die langen Beine in den schwarzen Leggings, die darunter hervorragten, verrieten eindeutig, dass ihr Körper recht zierlich gebaut war. Die Arme über der Brust verschränkt blickte sie fast eine Minute lang zu mir auf, bevor sie sagte: »Es heißt Kovacs, nicht wahr?«

»Ja.«

»Takeshi Kovacs?« Ihre Aussprache war tadellos. »Von Harlans Welt? Von Millsport über die Kanagawa-Vollzugsanstalt eingetroffen?«

»Erzählen Sie einfach weiter. Ich unterbreche Sie, wenn irgendein Punkt nicht stimmt.«

Die spiegelnden Linsen hielten eine Weile inne. Dann zog sie langsam eine Hand aus der Verschränkung hervor und musterte die Finger.

»Haben Sie eine Genehmigung für diese Art von Humor, Kovacs?«

»Tut mir Leid. Hab sie zu Hause liegen gelassen.«

»Und was führt Sie zur Erde?«

Ich vollführte eine ungeduldige Geste. »Das wissen Sie doch längst. Sonst wären Sie gar nicht hier. Haben Sie mir etwas Substanzielles zu sagen, oder haben Sie diese Jungs hier nur zu Ausbildungszwecken mitgebracht?«

Ich spürte, wie sich eine Hand um meinen Oberarm legte, und spannte mich an. Der Lieutenant reagierte mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung, worauf der Polizist, der hinter mir stand, mich wieder losließ.

»Beruhigen Sie sich, Kovacs. Ich möchte nur ein wenig mit Ihnen plaudern. Ja, ich weiß, dass Laurens Bancroft Sie rausgeholt hat. Ich bin sogar hier, um Ihnen eine Mitfahrgelegenheit zum Bancroft-Anwesen anzubieten.« Plötzlich beugte sie sich vor und stand auf. Ich stellte fest, dass sie fast genauso groß wie mein neuer Sleeve war. »Ich bin Kristin Ortega. Von der Abteilung für Organische Defekte. Bancroft war mein Fall.«

»War?«

Sie nickte. »Der Fall ist abgeschlossen, Kovacs.«

»Soll das eine Warnung sein?«

»Nein, nur eine Tatsachenfeststellung. Ein klarer Fall von Selbstmord.«

»Bancroft scheint anderer Meinung zu sein. Er behauptet, ermordet worden zu sein.«

»Ja, das ist mir zu Ohren gekommen.« Ortega zuckte die Achseln. »Das ist immerhin verständlich. Für einen Mann wie ihn dürfte es schwer zu glauben sein, dass er sich den eigenen Kopf weggepustet hat.«

»Ein Mann wie wer?«

»Ich bitte Sie!« Doch dann zeigte sie ein schwaches Lächeln. »Entschuldigung, ich vergesse es ständig.«

»Was vergessen Sie?«

Wieder hielt sie inne, doch es schien das erste Mal während der kurzen Dauer unserer Bekanntschaft zu sein, dass Kristin Ortega leicht aus dem Gleichgewicht geriet. Ihr Tonfall klang zögernd und schleppend, als sie wieder sprach. »Dass Sie nicht von hier sind.«

»Und?«

»Und jeder, der von hier ist, weiß, was für ein Mann Laurens Bancroft ist. Das ist alles.«

Es faszinierte mich, warum sie sich so ungeschickt anstellte, einen völlig Fremden anzulügen, also versuchte ich sie wieder zu beruhigen. »Ein reicher Mann«, riet ich. »Ein mächtiger Mann.«

Sie lächelte dünn. »Sie werden schon sehen. Was ist nun, möchten Sie die Mitfahrgelegenheit nutzen oder nicht?«

Im Brief in meiner Tasche stand, dass draußen vor der Halle ein Chauffeur auf mich warten würde. Von der Polizei hatte Bancroft nichts erwähnt. Ich hob die Schultern.

»Ich habe noch nie eine kostenlose Mitfahrgelegenheit abgelehnt.«

»Gut. Dann können wir ja gehen.«

Sie eskortierten mich zur Tür und benahmen sich wie Bodyguards, als wir nach draußen traten, den Kopf erhoben und mit wachsamen Linsenaugen. Ortega und ich schritten gleichzeitig durch die Tür, dann schlugen mir die Wärme und das Sonnenlicht ins Gesicht. In der Helligkeit kniff ich die neuen Augen zusammen und erkannte eckige Gebäude hinter echten Drahtzäunen auf der gegenüberliegenden Seite eines schlecht gepflegten Landeplatzes. Sterile, schmutzig weiße Bauten, die möglicherweise noch aus dem Prämillenium stammten. Zwischen den merkwürdig monochromen Wänden sah ich Teile einer grauen Eisenbrücke, die sich hoch erhob und an einer nicht zu erkennenden Stelle landete. Eine ähnlich triste Ansammlung von Luft- und Bodenfahrzeugen stand in unordentlichen Reihen herum. Der Wind frischte unvermittelt auf, und ich nahm den schwachen Duft eines blühenden Krauts wahr, das in den Ritzen des Landeplatzes wuchs. Aus der Ferne war das vertraute Summen des Verkehrs zu hören, aber alles andere wirkte wie die Kulisse für ein historisches Drama.

»… und ich sage euch, es gibt nur einen Richter! Glaubt nicht an die Menschen der Wissenschaft, wenn sie euch sagen …«

Das Krächzen der billigen Megafonbox erreichte uns, als wir die Stufen zum Landeplatz hinuntergingen. Ich schaute mich um und sah, dass sich eine Menschenmenge um einen in Schwarz gekleideten Mann versammelt hatte, der auf einer Kiste stand. Holografische Transparente schwebten zitternd über den Zuhörern in der Luft. NEIN ZUR RESOLUTION 653!!! – NUR GOTT KANN MENSCHEN WIEDERAUFERSTEHEN LASSEN!!! Jubel übertönte den Sprecher.

»Was sind das für Leute?«

»Katholiken«, sagte Ortega mit verzogener Oberlippe. »Eine altertümliche religiöse Sekte.«

»Aha? Noch nie davon gehört.«

»Das erstaunt mich nicht. Sie glauben, dass man einen Menschen nicht digitalisieren kann, ohne dass die Seele verloren geht.«

»Also kein besonders weit verbreiteter Glaube.«

»Es gibt sie nur auf der Erde«, sagte sie verdrießlich. »Ich habe auch gehört, dass der Vatikan – die Zentrale ihrer Kirche – einige Kryoschiffe finanziert hat, die nach Starfall und Latimer gestartet sind …«

»Ich war auf Latimer, aber dort ist mir so etwas nie aufgefallen.«

»Die Schiffe sind um die letzte Jahrhundertwende abgeflogen, Kovacs. Sie werden ihr Ziel erst in einigen Jahrzehnten erreichen.«

Wir machten einen weiten Bogen um die Menschenansammlung, aber eine junge Frau, die ihr Haar straff zurückgebunden hatte, trat mir entgegen, um mir ein Flugblatt zu überreichen. Ihre Bewegung war so abrupt, dass die Reflexe meines Sleeves angeregt wurden und ich abwehrend den Arm hochriss, bevor ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Die Frau sah mich misstrauisch an und hielt mir das Flugblatt hin, das ich mit einem besänftigenden Lächeln annahm.

»Sie haben kein Recht dazu«, sagte sie.

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung …«

»Nur der Herr, unser Gott, kann unsere Seelen retten.«

»Ich …« Aber nun drängte Kristin Ortega mich mit entschiedenem Griff weg. Die Art, wie sie meinen Oberarm packte, verriet, dass sie Übung darin hatte. Ich schüttelte sie behutsam, aber ähnlich energisch ab.

»Haben wir es irgendwie eilig?«

»Ja, denn ich glaube, dass wir beide Wichtigeres zu tun haben«, sagte sie gepresst und schaute sich zu ihren Kollegen um, die nun ihrerseits die angebotenen Flugblätter abwehren mussten.

»Vielleicht hätte ich mich gerne mit ihr unterhalten.«

»Aha? Ich hatte eher den Eindruck, dass sie ihr einen Handkantenschlag gegen den Kehlkopf versetzen wollten.«

»Das war nur der Sleeve. Ich glaube, er wurde irgendeiner Neurachem-Konditionierung unterzogen, die diese Frau ausgelöst hat. Die meisten Leute legen sich nach dem Download für ein paar Stunden hin. Ich bin vielleicht noch etwas überreizt.«

Ich starrte auf das Flugblatt in meiner Hand. KANN EINE MASCHINE DEINE SEELE RETTEN?, fragte es mich. Das Wort »Maschine« war in einer Schrift gedruckt, die einer altertümlichen Bildschirmdarstellung entsprechen sollte, und »Seele« in schwebenden holografischen Lettern, die über die ganze Seite tanzten. Ich drehte das Blatt um, auf dessen Rückseite ich die Antwort fand.

NEIN!!!

»Also ist die kryogene Suspension okay, aber nicht der Transfer digitalisierter Individuen. Interessant.« Ich schaute nachdenklich zu den leuchtenden Transparenten zurück. »Was ist die Resolution 653?«

»Ein Testfall, der vor dem UN-Gerichtshof verhandelt wird«, erklärte Ortega knapp. »Die Staatsanwaltschaft von Bay City will einen eingelagerten Katholiken als Zeugen vorladen. Der Vatikan sagt, dass er bereits tot und in den Händen Gottes ist, und bezeichnet die Angelegenheit als Blasphemie.«

»Ich verstehe. Also ist Ihre Loyalität in dieser Sache recht ungeteilt.«

Sie blieb stehen und drehte sich zu mir um.

»Kovacs, ich hasse diese gottverdammten Freaks. Sie haben uns gute zweieinhalbtausend Jahre lang unter der Knute gehalten. Sie waren für mehr Leid verantwortlich als jede andere Organisation der Geschichte. Vielleicht haben Sie davon gehört, dass ihre Anhänger nicht einmal Geburtenkontrolle praktizieren dürfen. Sie haben sich jedem maßgeblichen medizinischen Fortschritt der letzten fünfhundert Jahre verweigert. So ziemlich das Einzige, was zu ihren Gunsten spricht, ist die Tatsache, dass diese DigIn-Sache sie daran gehindert hat, sich mit dem Rest der Menschheit auszubreiten.«

Das Fahrzeug erwies sich als ramponierter, aber unzweifelhaft schnittig designter Lockheed-Mitoma-Transporter, dessen Anstrich wahrscheinlich die Farben der Polizei repräsentierte. Auf Sharya war ich schon mit Lock-Mits geflogen, aber dort waren alle in stumpfem Schwarz als Radarschutz lackiert gewesen. Die roten und weißen Streifen an diesem Fahrzeug wirkten dagegen knallbunt. Ein Pilot mit Sonnenbrille, ganz im Stil von Ortegas kleiner Truppe, saß regungslos im Cockpit. Die Einstiegsluke des Kreuzers war bereits hochgeklappt. Ortega schlug mit der Hand gegen den Rumpf, als wir in den Bauch des Gefährts stiegen, worauf die Turbinen flüsternd zum Leben erwachten.

Ich half einem der Mohikaner, die Luke zuzuziehen, hielt mich fest, als sich der Kreuzer in Bewegung setzte und suchte mir einen Sitzplatz am Fenster. Als wir emporstiegen, reckte ich den Hals, um einen Blick auf die Menschenansammlung zu werfen. Der Transporter hielt in ungefähr einhundert Metern Höhe an und senkte leicht die Nase. Ich ließ mich vom Autoformsitz umarmen und stellte fest, dass Ortega mich beobachtete.

»Immer noch neugierig, was?«, fragte sie.

»Ich komme mir vor wie ein Tourist. Würden Sie mir eine Frage beantworten?«

»Wenn es in meiner Macht steht.«

»Wenn diese Leute Geburtenkontrolle ablehnen, müsste es eigentlich ziemlich viele von ihnen geben. Und die Erdbewohner sind heutzutage nicht besonders aktiv, was das betrifft … Wie kommt es also, dass sie keinen größeren Einfluss haben?«

Ortega und ihre Männer sahen sich gegenseitig mit unbehaglichem Lächeln an. »Einlagerung«, sagte der Mohikaner links von mir.

Ich schlug mir mit der Hand ins Genick, dann fragte ich mich, ob diese Geste hier überhaupt in Gebrauch war. Schließlich war das die übliche Stelle für einen kortikalen Stack, aber solche Dinge waren sehr von kulturellen Eigenarten abhängig.

»Einlagerung. Natürlich.« Ich schaute nacheinander in die Gesichter. »Also gibt es für diese Leute keine gesonderte Befreiung?«

»Nein.« Aus irgendeinem Grund schien uns dieses kleine Gespräch plötzlich zu dicken Kumpels gemacht zu haben. Sie entspannten sich nun. Der Mohikaner führte den Punkt weiter aus. »Zehn Jahre oder drei Monate, für sie spielt es keine Rolle. Es ist jedes Mal ein Todesurteil. Sie kommen nie mehr aus dem Stack raus. Nett, nicht wahr?«

Ich nickte. »Was geschieht mit den Körpern?«

Der Mann, der mir gegenübersaß, machte eine wegwerfende Geste. »Verkauft oder für Transplantate ausgeschlachtet. Je nach dem, was die Familie will.«

Ich wandte den Blick ab und schaute aus dem Fenster.

»Was ist los, Kovacs?«

Ich drehte mich wieder zu Ortega um, während sich ein frisches Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Es fühlte sich an, als würde ich es allmählich richtig gut hinbekommen.

»Nichts. Ich habe nur an etwas gedacht. Hier ist es wie auf einem fremden Planeten.«

Damit war das Eis gebrochen.

Suntouch House,

2. Oktober

Takeshi-san,

wenn Sie diesen Brief erhalten, werden Sie zweifellos ein wenig desorientiert sein. Dafür möchte ich mich aufrichtig entschuldigen. Mir wurde jedoch versichert, dass Ihr Training beim Envoy Corps Sie in die Lage versetzen sollte, mit einer solchen Situation zurechtzukommen. Gleichermaßen möchte ich Ihnen versichern, dass ich Sie niemals einer derartigen Situation ausgesetzt hätte, wenn meine Lage nicht so verzweifelt wäre.

Mein Name ist Laurens Bancroft. Da Sie aus den Kolonien stammen, dürfte er Ihnen nichts sagen. Ich möchte mich auf die Erwähnung beschränken, dass ich hier auf der Erde sehr reich und mächtig bin und mir infolgedessen viele Feinde gemacht habe. Vor sechs Wochen wurde ich ermordet, doch die Polizei betrachtet diese Tat aus mir unerfindlichen Gründen als Selbstmord. Da die Mörder letztlich mit ihrem Vorhaben scheiterten, kann ich nur davon ausgehen, dass sie es erneut versuchen werden, und in Anbetracht dessen, wie sich die Polizei zu diesem Fall verhält, steht es diesmal recht gut um ihre Erfolgschancen.

Bestimmt fragen Sie sich jetzt, was all das mit Ihnen zu tun hat und warum Sie einhundertsechsundachtzig Lichtjahre weit aus der Einlagerung herbeigeschafft wurden, um sich mit einer so provinziellen Angelegenheit zu befassen. Meine Anwälte haben mir geraten, einen Privatdetektiv zu engagieren, doch aufgrund meiner prominenten Stellung innerhalb der globalen Gesellschaft kann ich niemandem vertrauen, der hier auf der Erde tätig ist. Ihr Name wurde mir von Reileen Kawahara genannt, für die Sie offenbar vor acht Jahren auf New Beijing gearbeitet haben. Das Envoy Corps war in der Lage, Sie zwei Tage nach meiner Anfrage in Kanagawa ausfindig zu machen, doch in Anbetracht Ihrer Entlassung und nachfolgenden Aktivitäten konnte man mir keine Zusicherung geben, dass Sie zu einer Zusammenarbeit bereit sein würden. Ich verstehe die Situation so, dass Sie ein freier Mann sind.

Die Bedingungen, unter denen Sie freigelassen wurden, lauten wie folgt:

Sie sind die vertragliche Verpflichtung eingegangen, für die Dauer von sechs Wochen für mich zu arbeiten, wobei ich die Option habe, den Vertrag zu verlängern, falls ich es am Ende der sechs Wochen für nötig erachte, Sie weiterhin zu beschäftigen. Während dieser Zeit werde ich für alle notwendigen Ausgaben aufkommen, die im Zusammenhang mit Ihren Ermittlungen stehen. Weiterhin übernehme ich die Kosten für die Miete des Sleeves während dieses Zeitraums. Für den Fall, dass Sie die Ermittlungen erfolgreich abschließen, wird der Rest Ihrer verhängten Einlagerungszeit in Kanagawa – einhundertsiebzehn Jahre und vier Monate – annulliert, worauf man Sie zurück zu Harlans Welt transferiert, wo Sie unverzüglich in einem Sleeve Ihrer Wahl freigelassen werden. Alternativ würde ich es übernehmen, die restliche Hypothek Ihres gegenwärtigen Sleeves auf der Erde zu begleichen, worauf Sie zu einem UN-Staatsbürger werden könnten. In jedem Fall wird Ihnen die Summe von einhunderttausend UN-Dollar oder ein äquivalenter Betrag gutgeschrieben.

Ich denke, dass diese Bedingungen recht großzügig sind, aber ich sollte vielleicht hinzufügen, dass ich in dieser Hinsicht keinen Spaß verstehe. Falls Sie mit den Ermittlungen scheitern und ich getötet werde oder falls Sie auf irgendeine Weise versuchen sollten, die vertraglichen Bedingungen zu verletzen, wird das Leasingverhältnis für den Sleeve unverzüglich aufgehoben, und Sie werden erneut eingelagert, um den Rest Ihrer Strafe auf der Erde zu verbüßen. Falls Sie weitere Straftaten begehen, werden sie der Gesamtdauer Ihrer Strafe zugeschlagen. Sollten Sie grundsätzlich nicht gewillt sein, die vertraglichen Vereinbarungen zu akzeptieren, werden Sie ebenfalls unverzüglich wieder eingelagert, obwohl ich in diesem Fall nicht bereit wäre, die Kosten für den Rücktransfer zu Harlans Welt zu übernehmen.

Ich bin guter Hoffnung, dass Sie dieses Angebot als günstige Gelegenheit betrachten und einverstanden sind, für mich zu arbeiten. Da ich fest damit rechne, schicke ich Ihnen einen Fahrer, der Sie aus der Einlagerungsanstalt abholen wird. Sein Name ist Curtis, er ist einer meiner vertrauenswürdigsten Angestellten. Er wird in der Eingangshalle auf Sie warten.

Ich freue mich darauf, Sie im Suntouch House begrüßen zu dürfen.

Hochachtungsvoll,

Laurens J. Bancroft

3

Der Name des Suntouch House war passend gewählt. Von Bay City aus flogen wir etwa eine halbe Stunde in südlicher Richtung die Küste entlang, bis die Veränderung der Tonlage des Motors mich vorwarnte, dass wir uns unserem Ziel näherten. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Licht, das durch die Fenster auf der rechten Seite hereinfiel, einen warmen Goldton angenommen, während die Sonne zum Meereshorizont hinabstieg. Ich blickte hinaus, als wir sanken, auf die Wellen aus geschmolzenem Kupfer und die Luft aus reinem Bernstein. Es war, als würden wir in einem Glas Honig landen.

Der Transporter flog eine Kurve und erlaubte mir einen Blick auf das Anwesen der Bancrofts. Es schien aus dem Meer aufzusteigen und zog sich in gepflegten Sand- und Grüntönen an Land, wo es ein weitläufiges Haus mit Dachziegeln umgab, das groß genug war, um eine kleine Armee zu beherbergen. Die Wände waren weiß, das Dach korallenrot und die Armee, sofern sie existierte, nicht zu sehen. Die Sicherheitssysteme, die Bancroft zweifellos installiert hatte, waren sehr unauffällig. Als wir tiefer gingen, erkannte ich den schwachen Schimmer eines Energiezauns an einer Grundstücksbegrenzung. Damit der Blick vom Haus nicht gestört wurde. Nett.

Ungefähr zehn Meter über einem tadellosen Rasenstück trat der Pilot auf die Landebremse, und zwar unnötig heftig, wie mir schien. Der gesamte Transporter zitterte, als wir mit einem spürbaren Ruck aufsetzten und Brocken aus der Grasnarbe hochgeschleudert wurden.

Ich warf Ortega einen vorwurfsvollen Blick zu, den sie ignorierte. Sie drückte die Luke nach oben auf und stieg aus. Kurz darauf trat ich an ihrer Seite auf den beschädigten Rasen. Ich stieß mit dem Fuß gegen eine herausgerissene Grassode und schrie, um den Lärm der Turbinen zu übertönen. »Was sollte das? Sind Sie sauer auf Bancroft, weil er Ihnen die Selbstmordgeschichte nicht glaubt?«

»Nein.« Ortega musterte das Haus, als würde sie überlegen, ob sie sich hineintrauen durfte. »Nein, das ist nicht der Grund, warum wir sauer auf Mr. Bancroft sind.«

»Würden Sie mir den wahren Grund verraten?«

»Sie sind der Detektiv.«

Eine junge Frau tauchte neben dem Haus auf, mit einem Tennisschläger in der Hand, und kam über den Rasen auf uns zu. Als sie noch etwa zwanzig Meter entfernt war, blieb sie stehen, klemmte sich den Schläger unter den Arm und bildete mit den Händen einen Schalltrichter.

»Sind Sie Kovacs?«

Ihre Schönheit hatte etwas von Sonne, Meer und Strand und die sportlichen Shorts und das Trikot verstärkten diesen Effekt. Goldenes Haar strich über ihre Schultern, wenn sie sich bewegte, und ihr Ruf entblößte eine Reihe milchweißer Zähne. Sie trug Schweißbänder um den Kopf und an den Handgelenken, und die Tautropfen auf der Stirn verrieten, dass sie keineswegs nur Showzwecken dienten. Die Muskulatur ihrer Beine hatte eine perfekt ausgewogene Spannung, und als sie die Arme hob, zeichneten sich ausgeprägte Bizepse ab. Volle Brüste spannten den Stoff ihres Trikots. Unwillkürlich fragte ich mich, ob es ihr eigener Körper war.

»Ja«, rief ich zurück. »Takeshi Kovacs. Ich wurde heute Nachmittag entlassen.«

»Sie sollten von der Einlagerungsanstalt abgeholt werden.« Es klang wie eine Anschuldigung. Ich breitete die Hände aus.

»Ich wurde abgeholt.«

»Aber doch nicht von der Polizei!« Sie kam näher und sah die meiste Zeit Ortega an. »Ich kenne Sie.«

»Lieutenant Ortega«, stellte Ortega sich vor, als wäre sie zu Gast auf einer Gartenparty. »Bay City, Abteilung für Organische Defekte.«

»Ja, jetzt erinnere ich mich.« Ihr Tonfall war hörbar feindseliger geworden. »Ich vermute, Sie waren dafür verantwortlich, dass unser Chauffeur unter dem Vorwand eines Emissionsvergehens von einer Verkehrskontrolle aufgehalten wurde.«

»Nein, dafür wäre die Verkehrspolizei zuständig«, sagte die Polizistin höflich. »In solchen Angelegenheiten besitze ich keine Jurisdiktion.«

Die junge Frau schnaufte verächtlich.

»Oh, davon bin ich überzeugt, Lieutenant. Und ich bin genauso davon überzeugt, dass das auch für Ihre Freunde hier gilt.« Ihre Stimme nahm einen herablassenden Tonfall an. »Sie wissen, dass wir seine Freilassung erwirkt haben werden, bevor die Sonne untergegangen ist.«

Ich warf Ortega einen Seitenblick zu, doch sie zeigte keine Reaktion. Ihr Adlerprofil blieb völlig ausdruckslos. Doch am meisten irritierte mich die überhebliche Art der jungen Frau. Dieser Gesichtsausdruck wirkte hässlich und hätte eher zu einem wesentlich älteren Gesicht gepasst.

Weiter hinten am Haus standen zwei große Männer mit geschulterten automatischen Waffen. Seit unserer Ankunft hatten sie sich im Schatten des Dachvorsprungs aufgehalten, doch nun traten sie ins Licht und kamen langsam auf uns zu. Als sich die Augen der jungen Frau leicht weiteten, vermutete ich, dass sie sie mit einem internen Mikro gerufen hatte. Gerissen. Auf Harlans Welt hatten die Menschen immer noch eine gewisse Abneigung, sich mit Hardware voll zu stopfen, aber wie es schien, herrschten auf der Erde andere Ansichten.

»Sie sind hier nicht willkommen, Lieutenant«, sagte die junge Frau mit eiskalter Stimme.

»Wir wollten sowieso gerade gehen, Ma’am«, sagte Ortega gedehnt. Sie klopfte mir überraschend auf die Schulter und kehrte ohne Eile zum Transporter zurück. Auf halbem Wege blieb sie unvermittelt stehen und drehte sich noch einmal um.

»Ich habe noch etwas für Sie, Kovacs. Hätte ich fast vergessen. Die werden Sie brauchen.«

Sie zog ein kleines Päckchen aus der Brusttasche und warf es mir zu. Ich fing es instinktiv auf und betrachtete es. Zigaretten.

»Wir sehen uns.«

Sie kletterte in den Transporter und zog die Luke zu. Durch die Scheibe konnte ich sehen, wie sie mich beobachtete. Das Gefährt startete mit Vollgas und riss eine lange Furche in den Rasen, als es westwärts Richtung Meer abflog. Wir schauten ihm nach, bis es außer Sichtweite war.

»Charmant«, sagte die Frau neben mir, aber es klang eher nach einem Selbstgespräch.

»Mrs. Bancroft?«

Sie drehte sich zu mir um. Ihrem Gesichtsausdruck entnahm ich, dass ich hier kaum willkommener war als der Lieutenant. Sie hatte Ortegas kameradschaftliche Geste gesehen und sie mit einem missbilligenden Zucken der Lippen quittiert.

»Mein Mann hat Ihnen einen Wagen geschickt, Mr. Kovacs. Warum haben Sie nicht darauf gewartet?«

Ich zog Bancrofts Brief aus der Tasche. »Hier steht, dass der Chauffeur auf mich warten würde. Aber es war niemand da.«

Sie wollte mir den Brief abnehmen, aber ich ließ es nicht zu. Sie stand vor mir, mit geröteten Wangen und Brüsten, die sich irritierend hoben und senkten. Wenn man einen Körper in den Tank steckte, produzierte er weiterhin Hormone, fast genauso intensiv wie im Schlaf. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich einen Ständer hatte, prall wie ein gefüllter Feuerwehrschlauch.

»Sie hätten warten sollen.«

Auf Harlans Welt, erinnerte ich mich zusammenhanglos, herrschte eine Gravitation von zirka 0,8 g. Mit einem Mal fühlte ich mich wieder ungewohnt schwer. Ich stieß gepresst den Atem aus.

»Mrs. Bancroft, wenn ich gewartet hätte, würde ich immer noch in der Anstalt herumsitzen. Können wir jetzt hineingehen?«

Ihre Augen weiteten sich ein wenig, und nun erkannte ich darin, wie alt sie wirklich war. Dann nahm sie ihren durchdringenden Blick zurück und riss sich wieder zusammen. Als sie erneut sprach, klang ihre Stimme wesentlich sanfter.

»Ich muss mich entschuldigen, Mr. Kovacs. Meine Reaktion war unangemessen. Wie Sie gesehen haben, hat sich die Polizei nicht sehr verständnisvoll verhalten. Die letzte Zeit war recht schwierig für uns, und wir sind immer noch ein wenig gereizt. Vielleicht können Sie sich vorstellen …«

»Sie sind mir keine Erklärung schuldig.«

»Aber es tut mir wirklich sehr leid. Normalerweise bin ich nicht so. Keiner von uns.« Sie deutete in die Runde, als wollte sie damit andeuten, dass die zwei bewaffneten Männer hinter ihr normalerweise mit Blumenkränzen im Haar herumliefen. »Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an.«

»Selbstverständlich.«

»Mein Mann erwartet Sie in der Meereslounge. Ich werde Sie sofort zu ihm führen.«

Im Innern des Hauses war es hell und luftig. Eine Angestellte empfing uns an der Verandatür und nahm Mrs. Bancroft ohne ein Wort den Tennisschläger ab. Wir gingen durch einen mit Marmor verkleideten Korridor, der von Kunstwerken gesäumt wurde, die auf mein ungeschultes Auge sehr alt wirkten. Zeichnungen von Gagarin und Armstrong, empathistische Wiedergaben von Konrad Harlan und Angin Chandra. Am Ende dieser Galerie stand auf einem Sockel etwas, das wie ein schlanker Baum aus bröckeligem rotem Stein aussah. Ich blieb davor stehen und zwang Mrs. Bancroft, ein Stück zurückzugehen, nachdem sie bereits nach links abgebogen war.

»Gefällt es Ihnen?«, fragte sie.

»Sehr. Es stammt vom Mars, nicht wahr?«

Ihre Miene veränderte sich, wie ich aus dem Augenwinkel bemerkte. Sie revidierte ihre ersten Eindrücke. Ich drehte mich um, damit ich ihr Gesicht genauer mustern konnte.

»Ich bin beeindruckt«, sagte sie.

»So geht es manchen Menschen. Vor allem, wenn ich einen Handstand mache.«

Sie sah mich zwischen verengten Augenlidern an. »Wissen Sie wirklich, was das hier ist?«

»Offen gesagt, nein. Ich habe mich mal für strukturelle Kunst interessiert. Ich kenne solche Steine von Bildern, aber …«

»Es ist eine Singzinne.« Sie trat an mir vorbei und strich mit den Fingern an einem der aufrechten Äste entlang. Ein leises Seufzen ging von dem Ding aus, und ein Duft wie von Kirschen und Senf erfüllte die Luft.

»Lebt es?«

»Das weiß niemand.« Plötzlich war ein Enthusiasmus in ihrer Stimme, der mir wesentlich besser an ihr gefiel. »Auf dem Mars wachsen sie bis zu hundert Metern hoch, und an der Basis sind sie manchmal so mächtig wie dieses Haus. Man kann ihren Gesang viele Kilometer weit hören. Auch der Duft verbreitet sich über große Entfernungen. Aufgrund der Erosionsmuster vermuten wir, dass die meisten mindestens zehntausend Jahre alt sind. Diese Zinne entstand wahrscheinlich erst zur Zeit der Gründung des Römischen Imperiums.«

»Muss recht teuer gewesen sein. Es zur Erde zu transportieren, meine ich.«

»Geld spielte dabei keine Rolle, Mr. Kovacs.« Die Maske saß wieder fest auf dem Gesicht. Zeit zum Weitergehen.

Wir durchquerten den nach links abbiegenden Korridor in Rekordzeit, möglicherweise um die Zeit aufzuholen, die wir durch den unplanmäßigen Zwischenhalt verloren hatten. Mit jedem Schritt hüpften Mrs. Bancrofts Brüste unter dem dünnen Stoff des Trikots, und ich lenkte mich mit den Kunstwerken auf der anderen Seite des Gangs ab. Weitere Vertreter des Empathismus, Angin Chandra, deren schlanke Hand auf dem mächtigen Phallus einer Rakete ruhte. Also auch keine Hilfe.

Die Meereslounge war ein Anbau am Ende des Westflügels. Mrs. Bancroft führte mich durch eine unauffällige Holztür hinein, und sobald wir eingetreten waren, stach uns die Sonne in die Augen.

»Laurens, das ist Mr. Kovacs.«

Ich hob eine Hand, um meine Augen zu beschatten, und sah, dass sich auf der oberen Ebene der Meereslounge Schiebetüren aus Glas befanden, die auf einen Balkon hinausführten. Gegen das Balkongeländer gelehnt stand ein Mann. Er musste unser Eintreten gehört haben – andererseits musste er auch die Ankunft des Polizeikreuzers gehört und seine Schlussfolgerungen gezogen haben. Trotzdem rührte er sich nicht von der Stelle, sondern starrte weiter aufs Meer hinaus. So ging es einem manchmal, wenn man von den Toten zurückgekehrt war. Vielleicht war es auch nur Arroganz. Mrs. Bancroft forderte mich mit einem Nicken zum Weitergehen auf, und wir stiegen ein paar Stufen hinauf, die aus dem gleichen Holz wie die Tür bestanden. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass die Wände des Raums von oben bis unten mit Bücherregalen zugestellt waren. Die Sonne legte einen gleichmäßigen Schimmer aus orangefarbenem Licht über die Buchrücken.

Als wir auf den Balkon traten, drehte sich Bancroft zu uns um. In der Hand hielt er ein Buch, das er mit einem Finger zwischen den Seiten zugeklappt hatte.

»Mr. Kovacs.« Er übernahm das Buch mit der Linken, damit er mir die Hand schütteln konnte. »Es freut mich, dass wir uns endlich begegnen. Wie finden Sie Ihren neuen Sleeve?«

»Ganz in Ordnung. Komfortabel.«

»Ja, ich habe mich zwar nicht allzu sehr in die Details eingemischt, aber ich gab meinen Anwälten den Auftrag, etwas … Passendes auszusuchen.« Er blickte sich um, als wollte er am Horizont nach Ortegas Kreuzer Ausschau halten. »Ich hoffe, die Polizei war nicht zu dienstbeflissen.«

»Bisher noch nicht.«