Mars Override - Richard Morgan - E-Book

Mars Override E-Book

Richard Morgan

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Beschreibung

Mit der Besiedelung des Mars haben dort auch Korruption, Machtgier und Gewalt Einzug gehalten. Einflussreiche Großkonzerne kämpfen um ihren Profit, die neugegründete Mars-Bewegung um ihre Unabhängigkeit von der Erde. Kein Wunder, dass Ex-Soldat Hakan Veil genug vom Roten Planeten hat und zurück auf die Erde möchte. Als Gegenleistung für sein Flugticket muss er noch einen einzigen Auftrag erfüllen: Er soll Special Agent Madison Madekwe bei ihren Ermittlungen im Fall eines verschwundenen Lotto-Millionärs unterstützen. Noch ahnt Veil nicht, dass ihn dieser Fall tiefer in die dunklen Geheimnisse des Mars führen wird, als er je zu befürchten wagte ...

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Seitenzahl: 891

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Das Buch

Die Zukunft. Die Menschheit hat das Sonnensystem erschlossen, und große interplanetare Konzerne haben den Markt für Rohstoffe und Transport unter sich aufgeteilt. Auch der Mars wurde besiedelt und terrageformt, aber mit den Pionieren und Glücksrittern haben auch Korruption, Machtgier und Gewalt auf dem roten Planeten Einzug gehalten. Einer dieser Glücksritter ist Hakan Veil, ein Overrider. Diese genetisch optimierten und technisch aufgerüsteten Elitesoldaten waren einst an Bord aller großen Raumschiffe stationiert. Doch die Zeit der Overrider ist vorbei, und so fristet Veil sein Dasein als Bodyguard und Killer im Gangstermilieu des Mariner Valley. Eigentlich will er nur noch eins: zurück zur Erde. Die strengen Transportbestimmungen der irdischen Aufsichtsbehörde machen das jedoch fast unmöglich, deswegen soll er als Gegenleistung für sein Flugticket die Spezialagentin Madison Madekwe von der Earth-Oversight-Behörde bei ihren Ermittlungen unterstützen. Ein Job, der sich schon bald zu einem Albtraum entwickelt, der Veil immer tiefer in die dunklen und tödlichen Geheimnisse des Mars führen wird …

Der Autor

Richard Morgan wurde 1965 in Norwich geboren. Er studierte Englisch und Geschichte in Cambridge und arbeitete viele Jahre als Lehrer im Ausland, bevor er sich entschloss, sein Geld als freier Schriftsteller zu verdienen. Sein Roman Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm, ausgezeichnet mit dem Philip K. Dick Award, wurde ein internationaler Bestseller. Morgan lebt und arbeitet in Glasgow.

Mehr zu Richard Morgan und seinen Romanen auf:

diezukunft.de

RICHARD MORGAN

MARS OVERRIDE

ROMAN

Aus dem Englischenvon Bernhard Kempen

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: THIN AIR

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 6/2019

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2018 by Richard Morgan

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabeund der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagabbildung: Christian McGrath,unter Verwendung eines Fotos von Taseda Knight

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung eines Designs vonDavid G. Stevenson und Susan Schultz

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-24395-1V002

diezukunft.de

Im Andenken an Gilbert Scott:

Musiker, Handwerker, Freund

Seine Dämonen zählten zu den schlimmsten, die ich je sah. Doch er bekämpfte sie lange und hart, die endlose Schlacht war für ihn selbstverständlich, und er verstand niemals die tiefen Gründe für die Stärke, den Mut und die Entschlossenheit, die er täglich aufbrachte.

In der Zeit und im Raum, die er in diesem Kampf gewann, fand er die Möglichkeit, wunderschöne Dinge zu erschaffen.

Ohne eine Frontier, an der sich neues Leben einatmen lässt, wird der Geist verblassen, der die fortschrittliche humanistische Kultur entstehen ließ, die Amerika während der vergangenen zwei Jahrhunderte verkörperte. Das Problem ist nicht nur ein nationaler Verlust – der menschliche Fortschritt braucht Vorreiter, und ein Ersatz ist nicht in Sicht.

Daher stellt sich die Erschaffung einer neuen Frontier als größtes soziales Bedürfnis von Amerika und der Menschheit dar …

Ich glaube, die neue Frontier der Menschheit kann nur auf dem Mars liegen.

Robert Zubrin, The Case for Mars

Ganz im Gegensatz zur heroischen und romantischen Heraldik, die für gewöhnlich benutzt wird, um die europäische Besiedlung der beiden Amerikas zu symbolisieren, wäre das Emblem, das am meisten mit der Realität übereinstimmt, eine Pyramide aus Totenschädeln.

David E. Stannard, American Holocaust

[E]ine erfundene Ordnung [läuft] ständig Gefahr, in sich zusammenzufallen wie ein Kartenhaus, weil sie auf Mythen gebaut ist, und weil Mythen verschwinden, wenn niemand mehr an sie glaubt.

Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit

1. TEIL

BLACK HATCH BLUES

Das Aufwachen wird für gewöhnlich von übereinstimmenden Empfindungen der Freude, der zwanghaften Konzentration, der Anspannung und einem leichten Schwindelgefühl begleitet. Diese Verfassung ist ein fester Bestandteil der Arbeit und muss auch als solcher behandelt werden. Du läufst heiß – gewöhn dich daran.

(Ein fester Bestandteil der Arbeit ist außerdem: Der Kontext, in dem du aufwachst, ist höchstwahrscheinlich schon komplett im Arsch oder wird es bald sein.)

Blond VaisutisEinführungshandbuch für Overriderhinzugefügter informeller Kommentar eines Veteranen

1

Es war früh am Abend, als ich den Mariner Strip erreichte, und oben in der Lamina versuchte man gerade wieder, Regen zu machen. Mit begrenztem Erfolg, würde ich sagen. Es war nicht mehr als ein dünnes, kaltes, unregelmäßiges Geniesel, das aus einem paprikafarbenen Himmel weinte.

Ich hatte keine Informationen darüber, dazu war ich zu beschäftigt gewesen. Ich hatte nur von irgendeiner neu geschriebenen Subroutine gehört, die man von dem flimmernden Rand des Industriezweigs hinzugeholt hatte, codiert und aufbereitet und losgelassen, irgendwo da oben inmitten der gewaltigen, sich verschiebenden hauchdünnen Schichten, die das Valley warmhalten. Es musste auch irgendein massiver Marketingeinfluss dahinterstehen, denn für einen Abend mitten in der Woche war es recht voll auf den Straßen. Als der Regen einsetzte, fühlte es sich an, als käme die ganze Stadt zum Stillstand, um zuzuschauen. Überall sah man Leute, die stehen blieben, den Hals reckten und glotzten.

Auch ich erübrigte einen mürrischen Blick zum Himmel, blieb jedoch nicht stehen. Stattdessen schob ich mich weiter, schritt unbeirrt durch die stockenden Gruppen aus Gaffern und Öko-Geeks hindurch, die Scheiße laberten. Jeder, der erwartete, von diesem Blödsinn tatsächlich nass zu werden, würde voraussichtlich eine ganze Weile warten müssen. In der aufdringlichen Verlockung des Marketings vergaßen die Leute oft, dass auf dem Mars nichts schnell fällt. Und ob der Code nun neu war oder nicht, dieser Versuch eines Wolkenbruchs würde auf gar keinen Fall irgendwelche Grundgesetze der Physik verletzen. Hauptsächlich schwebte und wehte der versprochene Regen einfach nur in der Luft herum, voller Verachtung für die halbherzige Schwerkraft, ein Sprühnebel, der von dem erlöschenden Licht blutrot getönt wurde.

Hübsch anzuschauen, ohne Zweifel. Aber manche von uns hatten nebenbei auch was zu erledigen.

Der Strip ragte um mich herum auf – fünfstöckige Fassaden aus der Siedlungszeit in vernarbtem antikem Nanobeton, nachdem die Wartungsverträge längst abgelaufen waren. Heutzutage sind die inaktiven Oberflächen durch jahrzehntelangen stürmischen Wind und Splitt aufgeschäumt, sodass sie eher wie ebene Korallenriffe bei Ebbe aussehen, und nicht wie etwas, das man als menschengemacht bezeichnen würde. In den frühen Tagen ging es den COLIN-Ingenieuren nur darum, sich niederzukauern – sie bauten entlang eines breiten Grabens, der zwischen den freiliegenden Fundamenten ausgehoben wurde, bis sich spiegelbildliche Gebäude zu beiden Seiten erhoben. Sechzig Meter breit ist dieser Kanal und drei Kilometer lang, dabei nur ein klein wenig verkrümmt, um eine existierende geologische Verwerfungslinie im Valley auszunutzen. Früher einmal beherbergte der Graben hydroponische Gärten und manikürte Erholungsflächen für die ursprünglichen Kolonisten, alles mit Glas überdacht. Parks, Velodrome, ein paar kleine Amphitheater und einen Sportplatz – und sogar, wie man mir sagte, einen Swimmingpool oder auch drei. Freier Zutritt für alle.

Muss man sich mal vorstellen.

Jetzt ist das Dach demontiert, so wie alles andere auch. Abgerissen, ausgegraben, weggeräumt. Was man stehen gelassen hat, ist ein abgewetzter, vermüllter Boulevard mit einem Gewirr aus Karren und Verkaufsständen, die alle darum wetteifern, der Menge die billigsten Waren zu präsentieren. Holt es euch, solang es noch heiß ist, Leute, holt es euch jetzt! Herabgesetzte Codiernadeln der letzten Saison, halbintelligenter Schmuck, markengeschützte Marstech, gefälscht oder gestohlen – bei diesen Preisen konnte es das nur sein – und Fast Food, jede Menge, die in unzähligen unterschiedlichen Woks und Pfannen dampfte. Straßenchemiker hielten sich am Rand, pushten Zwanzig Maßgeschneiderte Methoden, um ganz schnell den Verstand zu verlieren, Straßenjungen und -mädchen standen an Ecken, boten einen simpleren Fluchtweg zum gleichen Ziel an. Vermutlich ließ sich behaupten, dass man sich hier auch heute noch auf einer Art von Erholungsfläche befand. Aber es war ein ziemlich karger und schriller Geist des Vergnügens, der sich in diesen Tagen auf dem Strip tummelte, und wenn man ihn versehentlich anrempelte, mochte man ihm nicht in die Augen blicken.

Diejenigen, die trotzdem zu diesem Geist streben, erreichen den Boden über lange Rolltreppentunnel, die auf unelegante Weise zielstrebig durch die ursprünglichen Bauten gehackt wurden – sie finden sich am Ende der meisten Querstraßen, wo sie auf die Gebäude aus der Siedlungszeit stoßen, zu beiden Seiten gesäumt von einer weniger geduckten und hermetischen Architektur, die für eine Generation entworfen wurde, die plötzlich nach draußen gehen konnte. Wo die Querstraßen enden, stößt die Neue Draußenzeit abrupt gegen die tristen, heruntergekommenen Rückseiten der Alten Siedlungszeit. Man tritt unter großen überwölbten Öffnungen in dem abgenutzten Nanobeton auf die Rolltreppe, und das endlose metallene Förderband trägt einen hindurch und hinauf.

Oder wenn Sie neu auf dem Mars sind, frisch aus dem Shuttle gestiegen, oder wenn Sie eher zu den Nostalgie-Freaks gehören, dann machen Sie es auf die laute Touristenart und fahren mit den riesigen antiken Lastenaufzügen an beiden Enden des Grabens. Die zwei Ladeplattformen von tausend Quadratmetern, die immer noch wie gewaltige Kolben hinauf- und hinuntergehen, wie langsam atmende Lungen, reibungslos wie an dem Tag, als sie in Betrieb genommen wurden. Mit diesen kitschigen pseudohistorischen Zurücktreten-Ansagen, die in einer Aufnahmeschleife aus Megafon-Lautsprechern entlang des Sicherheitsgeländers tönen. Rotierende gelbe Warnleuchten, das komplette Programm. Die ölverschmierte wuchtige Ingenieurskunst der alten High Frontier wurde konserviert, damit Sie sich abgestumpft daran ergötzen können.

Wie auch immer – ob auf einer Plattform oder einer sich endlos bewegenden überdachten Rolltreppe –, es löst so ziemlich die gleichen Empfindungen aus. Man wird langsam hinuntergelassen, versinkt im Bauch von etwas Riesigem, das die körperliche Gesundheit voraussichtlich gefährden wird.

Kein Problem für mich.

Ich hatte den Aufzug nach unten am Ende der Crane Alley genommen, der mich etwa einen Kilometer von meinem Ziel entfernt absetzte. Es ging ganz langsam, während die Wetterverrückten den Fluss hemmten. Und als ich unter der Ausgangswölbung hinaustrat, musste ich mich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz gegen einen richtigen Regen auf Straßenniveau behaupten. Er schlug mir ins Gesicht, während ich mich durch die Menge bewegte, und nässte meinen Kragen. Warf ungewohnte Perlen aus Feuchtigkeit auf meine Stirn und meine Handrücken. Es fühlte sich ziemlich gut an, was in diesem Moment allerdings auch für alles andere galt.

Drei Tage wach und heißlaufend.

Über meinem Kopf gingen erste Lichter hinter längst überflüssigen Sturmschlitzen in den oberen Ebenen der Gebäude an und wiesen auf die sinnlichen Mysterien hin, die sich dort befanden. Namen und Logos von Clubs klammerten sich wie eine Plage gigantischer leuchtender Käfer und Tausendfüßer an die antike Architektur. Und quer über den tröpfelnden Himmel breiteten die ersten Branengel ihre fast unsichtbaren Seifenblasenflügel aus. Silbriges Gestöber aus vorzeitiger Statik rieselte zitternd an ihren Oberflächen hinab, wie ein Husten, der die Kehle freimacht. Die Bilder klärten sich, und die Video-Zuhälterei der langen Nacht setzte ein.

Ich hatte gedacht, nachdem das Shuttle von der Erde erst an diesem Morgen angedockt war, gäbe es vielleicht ein paar Ultratripper-Montagen oder Standardwerbespots für Vector Red und Horkan Kumba Ultra. Doch an diesem Abend führte die Regenmacher-Publicity die Parade an – stimmungsvolle, intensive Aufnahmen von straffen jungen Körpern, die auf nächtlichen Straßen in einem Regenguss herumtollten, wie ihn hier niemand im Umkreis von 50 Millionen Kilometern jemals real erleben würde. Dünne, dunkle Kleidung, durchnässt und aufgerissen, eine Art von Favela-Chic, klebte an Kurven und Vorsprüngen, um aufgereizte Brustwarzen modelliert, umrahmten Aufschnitte und Scheiben aus wasserbeperltem Fleisch. Marketingtexte zogen sich wiederholt über die ran- und rausgezoomten Aufnahmen …

PARTICLE SLAM PLATSCHT! – LASS DICH NASS MACHEN! EIN GEMEINSCHAFTLICHES CODIERUNGSPROJEKT, PRÄSENTIERT VON PARTICLE SLAM IN MARKENPARTNERSCHAFT MIT DER COLONY INITIATIVE.

Ja, klar, COLIN schlug wieder zu – die allgegenwärtigen, allmächtigen, korporativen Hebammen der Menschheit im Weltraum. Vor einigen Jahrhunderten, als sie ihre Bestrebungen starteten, hätte man sie durchaus als spezialisiertes Keiretsu bezeichnen können. Heutzutage wäre das so, als würde man einem T-Rex ein Schild mit der Aufschrift Echse anheften. Es wird dem Ausmaß der Sache einfach nicht gerecht. Wenn irgendetwas mit dem menschlichen Footprint irgendwo im Sonnensystem oder mit transplanetaren Beförderungen oder Handelsbeziehungen zu tun hat, dann ist COLIN die Besitzerin, die Betreiberin oder die Sponsorin oder wird es bald sein. Ihr Kapitalfluss ist das Herzblut der Expansion, ihre Übernahme alter legaler Strukturen der Erde das übergreifende Gerüst, das alles aufrechterhält. Und ihre angebliche wettbewerbsfreundliche Marktdynamik ist genauso wenig real oder relevant wie die posierenden Tanzschritte und Konfrontationen der grazilen jungen Dinger in dem lustigen, freundlichen Regen der Branengel-Projektion.

In der Zwischenzeit hatte der Regen – der wirkliche Regen in der wirklichen Welt – ganz plötzlich aufgehört. Er verwehte zu nichts, hinterließ eine lange, schwangere Pause, dann setzte er wieder ein, langsam weinend. Schwer zu sagen, ob der neue Code gut funktionierte. Vielleicht ließ er diesen stotternden Strom als Teil eines Energiesparprotokolls laufen, oder es war nichts als Effekthascherei, oder das Ganze wimmelte einfach nur von Fehlern. Öko-Codier-Geeks standen überall auf dem Strip herum, blinzelten in den Himmel hinauf, diskutierten hin und her.

»Hab doch gesagt, dass sie es wieder hinkriegen. Particle Slam ist solide, Gusch! Eine ganz andere Truppe als diese Leute von Ninth Street. Spürst du es auf dem Gesicht?«

»Ja, gerade so. Fühlt sich für mich wie irgendeine Scheißstandard-Sickerung an.«

»Ach, fick dich! Eine Sickerung würde gar nicht bis nach hier unten durchkommen. Schau mal – es bildet schon Pfützen.«

Ich huschte an der Debatte vorbei, wich den Pfützen aus, speicherte die Details für später ab. Particle Slam – nie gehört. Aber ich bin so was gewohnt, wenn ich aufwache. Öko-Codierung ist sogar auf der Erde ein schnelles Spiel, und hier draußen mit abmontierten Bremsen und einem sanft herablächelnden Kommerz läuft es so verdammt darwinistisch ab, dass man schon müde wird, wenn man nur drüber nachdenkt. Hier kann eine Codierfirma schneller von der nächsten großen Sache zu Dinosaurierknochen zerfallen, als ein Shuttle für den langen Pendelflug braucht. Die Erkenntnis für heruntergekommene Ex-Overrider, die versuchen, sich durchs Leben zu schlagen: Wenn man während der letzten vier Monate für den Rest der Welt tot war, kann man eine ganze Menge verpassen.

Aber manche Dinge ändern sich nie.

Jeden Abend erwacht der Strip mit trägem Flackern zum Leben wie eine fehlerhafte Neonröhre, der man einen Stoß verpasst hat. Er blinkt und flimmert und fängt sich, schimmert schräg und konstant über dem Straßenraster des alten Bradbury-Viertels wie ein kryptisches Grinsen, wie ein Signal für begierige Motten. Ich hab es mal vom Marsorbit aus gesehen – ich bin dekantiert herangedriftet, zum Ende der Mission in einem gemeuterten Gürtel-Frachter, den ich lieber vergessen würde. Da gab es nichts Besseres zu tun, als auf den still gewordenen Decks herumzuschleichen und aus dem Fenster zu starren, während der Mars unten vorbeirollte. Wir holten den Terminator über Ganges und Eos ein, und als die Nacht anbrach, beobachtete ich, wie die Scharte immer näher herankam. Die brütenden Wände des Grabenbruchs versanken mehrere Tausend Meter tief in der marsianischen Kruste, kolossale Halden und Verwehungen aus tektonischem Schotter auf dem weiten, offenen Boden dazwischen. Hier und dort leuchtete eine matte, verstreute Siedlung, immer mehr von denen verdichteten und verflochten sich ineinander, je näher sie dem großen hellen Klecks von Bradbury kamen, weiter oben im Tal. Und genau dort, mitten ins Herz der alten Stadt geklatscht, war das riesige, krumme Grinsen, 3000 Meter lang.

Überall in der Stadt lassen Firmenlogos und COLIN-Werbeflächen die Skyline in flüssigem Kristallfeuer funkeln, tragen ihren Teil dazu bei, die anrückende außerirdische Dunkelheit zurückzuhalten. Aber die Markenloyalität und -zugehörigkeit, die man gegen diese Dunkelheit kaufen kann, ist begrenzt, und die Mächte in einem wissen das. Tief drinnen, wo das menschliche Getriebe läuft, läuft auch die Uhr – sie dreht ihre grellen Ziffern herum wie die Karten eines Verliererblatts. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man sich dessen bewusst wird. Und wenn es passiert, haucht einem die Erkenntnis kalt ins Genick.

Früher oder später wird man nähertrudeln und sich gegen die Verlockungen des Strips werfen, genauso wie all die anderen Motten.

Früher dachte ich, ich wäre anders.

Dachten wir das nicht alle?

Ein fadendünnes Wimmern an meinem Ohr, und dann der unvermeidliche Nadelstich. Gedankenverloren schlug ich an meinen Hals – ein sinnloser Reizungsreflex; die Codierfliege war da und wieder fort, wie geplant. Selbst in Erdstandardschwerkraft sind die kleinen Scheißer erheblich schneller als die Moskitos aus Fleisch und Blut, nach denen ihr Grundchassis gestaltet ist, und hier, wo sie an die herrschenden Umweltbedingungen angepasst wurden, sind sie wie kleine, stechende Spritzer aus Quecksilber im Wind. Berühren, stechen, Nutzlast abgeliefert. Man ist gebissen.

Nicht dass ich deswegen verbittert wäre. Ich meine, wenn man hier draußen lebt, muss man sich beißen lassen. Es geht gar nicht anders. Das hier ist die High Frontier, Gusch, und man selbst ist nur ein kleiner Teil des gigantischen rollenden Upgrades, das die Menschheit der High Frontier bildet.

Das Problem ist, wenn man vier Monate im Verzug ist, hat man so viele Upgrades verpasst, dass einen jede Codierfliege in der Umgebung ins böse, kleine postorganische Visier nimmt. Drei Tage wieder draußen, und man ist ein verdammtes menschliches Nadelkissen. Von den Injektionseinstichen juckt die Haut an dutzend verschiedenen Stellen. Neue Gasaustauschturbos für die Lungen, Melatoninwiederaufnahme Version 8.11.4, Auffrischungspatches für die aktuellsten – und unzuverlässigsten – Osteopeniehemmer, Hornhautverstärker 9.1. Und so weiter.

Für einen Teil von diesem Scheiß hat man bezahlt, damit es einem zugefügt wird, sobald die neuen Modifikationen hereinkommen, andere Sachen werden einem von COLIN geschenkt, aus der reinen Güte ihres effizienzorientierten kleinen Herzens. Doch alles muss ausbalanciert und leistungsmäßig verbessert und optimiert werden, um dann aufs Neue optimiert zu werden, Version für Version, Upgrade für Upgrade, Biss für Biss.

Und damit gerät man in eine Abhängigkeit, die man nie mehr aufgibt, solange man anderswo als auf der Erde lebt.

Nicht dass ich deswegen verbittert wäre.

Vallez Girlz war genau da, wo ich es vor vier Monaten verlassen hatte. Dieselbe ermüdete alte Fassade gleich hinter dem Ausfluss des Aufzugs am Friedman Boulevard, und dort blinkten immer noch dieselben alten anreizenden Aufnahmen in der Wiederholungsschleife auf fünf Meter hohen Displaytafeln beiderseits der Tür. Derselbe anrüchige Fuktronica-Backbeat und Infraschall aus versteckten Lautsprechern. Der rechte Screen war immer noch eingedellt und gesplittert, wo man während des Kampfes meinen Kopf dagegengeschlagen hatte, und irgendetwas schien mit dem Feed nicht zu stimmen – die Bilder der Tänzerinnen wurden immer wieder zu einem geairbrushten Konfetti aus Haut und Haar geschreddert, verflochten mit hüpfenden körperlosen langwimprigen Augen, die wie Tränen in Null-G schwebten.

Oder vielleicht sollte es auch einfach so aussehen.

Bewegst dich zu schnell, Gusch. Wo ist das Druckventil?

Heißlaufend.

Ich drückte mein Tempo auf das eines dahinschlendernden Gaffers herunter. Gebeugt, die Hände in den Hosentaschen, die Kapuze gegen den unregelmäßigen Regen hochgezogen. Das verschaffte mir genügend Zeit, die Frontseite des Clubs auszukundschaften. Eine verstreute Menge aus Hoffnungsvollen, die anstanden, um hineinzukommen, bewegte sich leicht in dem hörbaren und unhörbaren Fuktronica-Geplätscher. Zwei abgestumpfte Typen an der Tür in altehrwürdiger Mode, als Headgear die übliche Rundum-Sonnenbrille. Und derselbe veraltete Scanner von der Hafenverwaltung, der mit ausgebreiteten Flügeln am Türsturz hing, so wie eine prähistorische Fledermaus, die jeden Moment losfliegen wird. Geizhals Sal Quiroga, so wie immer – er hat diesen Scanner vor neun Jahren bei einem Räumungsausverkauf ausgemusterter Technik erworben, und selbst damals sagte man, er hätte jemanden von der Hafenverwaltung unter Druck gesetzt, um einen besseren Preis zu bekommen. Druck machen, sagte er mir einmal, ist hier der Schlüssel zum Ganzen. Wenn du keinen Druck machst, kannst du auch gleich zur Erde zurückkehren.

Hohles Lachen – für die meisten Langzeitbewohner der Scharte waren ziemlich heftige Druckmittel die einzige Möglichkeit, jemals zur Erde zurückzukehren. Abgesehen von der Heimflug-Lotterie – Fünfzig Fabelhafte Heimkehr-Gewinner jedes Jahr! Diesmal könntest du es sein! Aber du musst spielen, um zu gewinnen! –, ist es keinesfalls so, dass sie die Tickets kostenlos verteilen. Niemand auf dem Mars kann eine Heimkehr erwarten, wenn er nicht wahnsinnig viel Glück oder Geld hat oder von COLIN vertragsverpflichtet wurde.

Ich muss es wissen. Ich stecke hier schon lange genug fest, obwohl ich es versucht habe.

Zu Ehren dieser fabelhaften Gewinner machte ich eine Runde von vielleicht fünfzig Metern, kehrte dann um und driftete zurück. Nahm meine Kapuze ab, während ich die kurze Treppe zur Tür hinaufging. Es hätte keinen Sinn, sich zu verbergen. Wenn man den Türsteherjob macht – und ich selbst war im Laufe der Jahre ein- oder zweimal dazu gezwungen, so etwas zu tun –, gibt es nichts, was den inneren Alarm eher auslöst als ein Kunde, der versucht, seine Gesichtszüge zu verhüllen. O nein, Kumpel, du nicht. Genau damit hast du mich aufgeweckt.

Ich wollte diese Leute nicht schon jetzt aufwecken. Erst musste ich näher ran. Also ließ ich meinen Gesichtsausdruck auf den eines von Fuktronica angeregten Konsumwilligen runtergeschaltet und erwiderte den leeren Sonnenbrillenblick des Türstehers auf der rechten Seite. Ich kannte ihn nicht – und ich erinnere mich gut an Männer, die mir in der Vergangenheit was auf die Fresse gegeben haben –, also konnte er auch mich nicht kennen. Aber heutzutage zählt das nicht allzu viel. Hinter dem Headgear checkte er zweifellos seine Liste. Gesichtserkennungssysteme – der Fluch anständiger ungebetener Gäste überall auf der Ekliptik.

Ich bemerkte die Anspannung, die seinen Körper durchlief, als mich die Software markierte. Dann die Lockerung, als er die Daten verdaute.

Ich sah, wie er die Lippen schürzte.

»Dom?« Seine Aufmerksamkeit wanderte zur Seite, wo sein Kollege damit beschäftigt war, ein paar spärlich bekleidete Kurven zu mustern, die Zutritt wünschten. Er berührte sein Headgear am Ohr, machte irgendwas mit den Fuktronica, regelte die Umgebungslautstärke herunter. »Hey, Dom. Erinnerst du dich an diesen armseligen Hib-Arsch, den ihr, Rico und du, vor ein paar Monaten rausgeschmissen habt?«

Dom blickte sichtlich irritiert zu uns herüber.

»Hib? Was für ein verdammter Hib? Meinst du diesen Kerl, der …?« Seine Stimme verklang, als er mich sah. Ein breites Grinsen erstrahlte auf seinem Gesicht. »Dieser Kerl.«

»Anscheinend lernen manche Leute nie dazu, oder?«

»Ich bin hier, um mit Sal zu sprechen«, sagte ich ruhig.

»Aha?« Müßig spannte Dom die rechte Hand an und betrachtete sie, als wäre sie irgendein Werkzeug, das er vielleicht kaufen wollte. »Hm, aber er will nicht mit dir sprechen. Schon beim letzten Mal wollte er nicht mit dir sprechen. Erinnerst du dich, wie das für dich ausging?«

»Diesmal will er mich sprechen.«

Sie tauschten einen Blick aus – ein Glitzern unfreundlicher Heiterkeit, hin und zurück, da und wieder weg. Doms Kumpan seufzte.

»Hör mal, Gusch – heute ist eine ruhige Nacht, okay? Tu uns allen einen Gefallen. Verpiss dich, bevor wir dir was Strukturelles antun müssen.«

Unwillkürlich musste ich grinsen. Heißlaufend. »Das geht nicht, Jungs.«

Dom schnaufte. Griff nach mir …

Ich packte ihn am Handgelenk, sehr schnell. Man muss schnell sein – bei einer Gravitation von knapp unter 0,4 Erdstandard bekommt man mit Masse und Bewegungsimpuls nur mickrige Ergebnisse. Jeder starke Schlag kann nur mit genügend Geschwindigkeit erzielt werden. Ich brach ihm den kleinen und den Ringfinger an der Basis, bog beide mit brutaler Gewalt zurück. Es gab ein knackendes Geräusch, und ich fixierte den Arm. Zwang ihn mit dem plötzlichen Schock und den Schmerzen auf die Knie hinunter. Trat ihm kräftig in den Bauch, als er sich beugte.

Ließ ihn los, ließ ihn zu Boden fallen.

So kommt man normalerweise nicht an den Türstehern auf dem Strip vorbei. Sie sind abgebrühte Leute, hauptsächlich ehemalige Sicherheitskräfte der Hochland-Arbeitstrupps, die nicht mehr mit der dünnen Luft klarkommen und sich die neueren Turbo-Add-ons nicht leisten können, um den Unterschied auszugleichen. Also schlittern sie wieder hinunter ins Valley und in den Dampfkessel von Bradbury und suchen sich eine Muskelarbeit, zu der sie imstande sind. Als jemand, der selbst einen Karriereabsturz erlebt hat, kann ich es ihnen nicht verübeln. Sie machen einen Job, der gemacht werden muss, einen Job, den ich selbst gelegentlich machen musste, und größtenteils machen sie ihn auch ziemlich gut.

Aber diese beiden waren mir im Weg. Und alles, was ihre vergangenen Erfahrungen und die Software über mich sagte, war falsch.

Sie hatten nicht die geringste Chance.

Der andere Typ griff hinter seinen Rücken nach dem Holster mit der Schockpistole. Falsche Bewegung und zu spät – ich war schon zu nah, und er war viel zu langsam. Wahrscheinlich war er auch ein bisschen verwundert, denn so etwas sollte eigentlich gar nicht passieren. Ich trat heran, blockierte seine Hand, bevor er die Waffe herausziehen konnte, schlug ihm hart gegen die Kehle. Brachte ihn zum Stolpern, während er zurücktaumelte, half ihm mit einem kräftigen Handballenstoß gegen die Brust auf dem Weg nach unten. Selbst bei 0,4 von einem G reicht das aus. Er fiel mit dem Rücken auf den Boden, würgte und schlug um sich.

Ich bückte mich und nahm ihm die Schockpistole ab.

Drehte sie um und schoss damit auf ihn.

Ein stumpfes Knistern und Zischen wie von heißem Öl, das man aus einer Pfanne gießt, und ich sah, wie sich sein Hemd wellte, wo die gesplitterte Kristallladung hindurchging. Seine Augen verdrehten sich nach oben, sein Körper bäumte sich unter der Wucht des Krampfes auf. Plötzlich ein erdiger Gestank von sich entleerenden Eingeweiden, ein mahlendes, reibendes Geräusch aus der Tiefe seiner Kehle. Schäumende Spucke auf verzerrten Lippen. Eine starr gespreizte Hand schlug hektisch auf seine Brust, immer wieder, wie der Flügel eines gefangenen Vogels.

Neben mir sprang Dom vom Boden auf, um sich auf mich zu stürzen. Ich schoss auch auf ihn.

Dann trat ich behutsam zwischen den zwei verkrampften Körpern hindurch und ging unter dem Fledermausflügelscanner durch die Tür nach drinnen.

2

Im Club war alles standardmäßig schummrig und zwielichtblau. Ich schlüpfte durch ein loses Gedränge aus Gestalten und geisterhaften Gesichtern, wich den hellen Strahlen der Verfolgerscheinwerfersysteme aus, wo sie durch die submarine Düsternis schnitten, um die Tänzerinnen zu illuminieren. Hier und da flammten unter dem Gewölbe subtilere Lichtspots von Rauminsekten mit Glühwürmchenchassis auf, die darauf eingestimmt waren, die pheromongetränkten Körper der Vallez-Mädchen zu umschwärmen und die Gäste diskret in Ruhe zu lassen. Beats in langsamem Tempo und eine wabernde Klanglandschaft wallten von den Wänden – irgendwelche Archivschnipsel von dem Remix irgendeines Kryopop-Hits, an den ich mich vage von vor einigen Jahren erinnerte. »Sleeper’s Long Fall« oder ein ähnlich rührseliger Scheiß. Aber sieh es mal von der angenehmen Seite, Gusch – keine Sirenen, kein Alarm und kein Break im Rhythmus, den die Tänzerinnen woben. Die Schockpistole in meiner Tasche war Hauseigentum und würde keinen Waffenscanner quäken lassen, während ich damit die Tanzfläche überquerte. Und ich war mir ziemlich sicher, dass ich weder Dom noch seinem Kumpel genug Zeit gegeben hatte, irgendwelche Panikschalter zu drücken, bevor sie zu Boden gingen.

Zwei Minuten, höchstens drei – damit rechnete ich, bis das Chaos, das ich an der Tür hinterlassen hatte, überkochte und mir nach drinnen folgte. Ich drängte mich weiter zum Herzen des Clubs vor, bewegte mich flüssig und unaufdringlich. Hier ist gar nichts, Jungs, behaltet lieber das Warenangebot im Blick. Achtet nicht auf den großen Kerl mit dem Spielverderbergesicht, er ist nicht euer Problem, und ihr wollt auch nicht zu seinem werden.

Ich entdeckte Sal oben auf der weiten Galerie im Zwischengeschoss, wo er einige nüchtern wirkende Hellas-Typen bewirtete. Keine große Überraschung, zumindest nicht für mich. Es gibt einen merklichen Mangel an offizieller Kooperation zwischen COLIN und den Kraterchinesen, etwas, das beide Parteien voll und ganz von ihren jeweiligen elterlichen Machtblöcken der Erde geerbt haben. Doch während althergebrachte geopolitische Feindseligkeiten auf der Erde jede Verbrüderung verhindern, findet der sanfte Kommerz auf dem Mars immer einen Weg. Bereits seit Jahrzehnten sickerte Kratergeld durch die Hintertür in die Scharte, und wie es schien, nippte Salvador Quiroga genauso davon wie alle anderen.

Ohne Eile stieg ich die breite Wendeltreppe hinauf, die man in die Rückwand des Clubs geschnitten hatte, und gelangte auf das Zwischengeschoss. Hier oben war die Musik gedämpfter, mischte sich mit der Brandung von Stimmen in lauter Unterhaltung. Ich fädelte mich zwischen Tanzplattformen hindurch und steuerte Sal am Tisch auf der Galerie an. Als ich näher kam, stand eine Chinesin im Anzug auf und entschuldigte sich, drehte sich um und machte sich auf den Weg zu den Toiletten. Wir gingen nah genug aneinander vorbei für eine Berührung. Keine Ahnung, ob sie mich ansah oder nicht – im schwachen Licht waren die Linsen ihres Headgears undurchdringlich schwarz.

Am Tisch sah ich vier weitere, die genauso waren wie sie, mit Anzug und Headgear als Uniform, die alle individuellen Unterschiede verwischte. Drei männlich, eine weiblich, soweit ich erkennen konnte, und alle verströmten die gleiche stille, leidenschaftslose Macht. Ein todernstes Publikum, ausgerichtet auf die krächzende Stimme von Sal Quiroga, der ganz in seinem Element war. Spanisch und Quechua beherrschte er fließend, doch aus Respekt vor seinen Gästen sprach er an diesem Abend Englisch. Allerdings klang es, als wäre der Sprachwechsel auch schon alles an Respekt, den er ihnen entgegenbringen würde.

»… und falls Sie, meine Freunde, glauben, ich würde mich mit solchen Scheißprozentsätzen zufriedengeben, dann sind Sie in den falschen Club gekommen. Dazu haben Sie einfach nicht die nötigen Druckmittel. Vergessen Sie nicht, wer Ihnen hier unten die Tür geöffnet hat. Ich werde auf gar keinen Fall …«

Ich ließ mich in den frei gewordenen Sessel fallen. »Hallo, Sal.«

Eine kurze Welle panischer Bewegungen rund um den Tisch. Einer der Kraterkriecher griff nach etwas unter seiner Jacke und ließ dann wieder locker, als ein Kamerad ihm behutsam eine Hand auf den Arm legte. Hinter Sal lief das gleiche Zucken durch seinen Sicherheitstrupp – zwei Einheimische mit harten Gesichtern in lockerer Kleidung, die kaum die Masse ihrer Panzerwesten darunter erkennen ließ. Ich sah, wie die Frau auf der rechten Seite in ihre Kom-Halskette subvokalisierte, und vermutete, dass sie versuchte, mit der Tür zu sprechen.

Viel Glück damit!

Quiroga nahm seine Brille ab, um mich über den Tisch hinweg besser finster anstarren zu können. »Wer zum Henker sind Sie?«

»Jetzt verletzt du meine Gefühle.«

»Aha?« Er blickte zum gepanzerten Schläger zu seiner Linken auf. »Tupac wird noch viel mehr als nur Ihre Gefühle verletzen, wenn Sie mir nicht sagen, wer zum Henker Sie sind und was Sie an diesem Tisch machen.«

Die Frau beugte sich herab und murmelte etwas in sein Ohr. Zweifellos hatte sie die Gesichtserkennung laufen lassen, genauso wie die Typen draußen vor dem Laden. Ein schneller Treffer und alles weitere, was sie über mich hatten. Mindestens meinen Namen und meine jüngere Vergangenheit.

Allmählich dämmerte der Ausdruck des Wiedererkennens auf Quirogas Gesicht.

»Du hast abgenommen?«, fragte er mich neugierig.

»Ich bin vor drei Tagen aus dem Tank gekommen, Sal. Hatte noch nicht viel Smalltalk.« Als Tupac sich vorbeugte, hob ich gelassen die Schockpistole in seine Richtung. »Nicht.«

Er erstarrte. Nicht tödlich ist eine gerade noch zutreffende Beschreibung für die Wirkung der standardmäßigen Schockpistole, abgesehen von älteren Personen und solchen mit schwachem Herzen. Denn sie verschweigt, wie sehr es absolut keinen Spaß macht, eine Serie von epileptischen Anfällen zu erleben, als würde man durch mehrere Glasscheiben geworfen. Das Gefühl von Tausendfüßern mit Säure an den Stiefeln, die an den Nervenfasern hinauf- und hinuntermarschieren und sich durch das zentrale Nervensystem winden, während man sich in die Hose scheißt und pisst und hilflos in wiederholten Krämpfen daliegt, den Gestank in der Nase, bis die Schockwirkung endlich nachlässt.

Wenn man einmal von einem solchen Ding getroffen wurde, gibt man sich alle Mühe, ein nochmaliges Erlebnis zu vermeiden.

Ich nickte Tupac zu – kluger Mann, bleiben wir entspannt – und ließ die Waffe zurück auf meinen Schoß sinken. An Sals anderer Flanke wirkte die Frau völlig reglos, aber sie beobachtete mich ruhig mit tödlichen Augen durch ihre Linsen. Suchte nach einer Öffnung, nach dem winzigsten Ansatz.

Unterdessen schien sich Sal daran zu erinnern, dass er Gäste hatte.

»Hör mal, ich bin hier in einem verdammten Gespräch«, blaffte er. »Egal, über welchen Scheiß du reden willst, Veil, es kann …«

»Synthia.«

»Syn…« Er starrte mich mit offenem Mund an. Stellte die Verbindung her. Bellte ein kurzes verblüfftes Lachen. »Scheiße, nein! Sag mir, bitte sag mir, dass du nicht deswegen hier hereinspaziert bist. Du Vollidiot. Hast du die Message beim letzten Mal nicht mitbekommen?«

»Klar. Ich hab die Message bekommen, dass du dich nicht an unseren Deal gehalten und sie trotzdem kaltgemacht hast.«

»Die verfickte Schlampe hat mich beklaut!«

»Sie hat einen blöden Fehler begangen, und sie wusste es. Deshalb ist sie zu mir gekommen. Es tat ihr leid.«

Er grinste. »Am Ende bestimmt, klar.«

»Wir hatten einen Deal.« Ich kurbelte meinen Tonfall wieder auf leidenschaftslos herunter. »Du bekommst deine Ware zurück, und sie kann gehen. Du hast deine Ware schon zurückbekommen.«

Er seufzte. Vielleicht wollte er seinen Gästen damit etwas vorspielen – hört mal, wir sind hier alle vernünftige Leute, es geht nur ums Geschäft. »Glaubst du wirklich, ich könnte es mir leisten, dass eine meiner Tänzerinnen eine solche Scheiße durchzieht und ich es ihr einfach durchgehen lasse? Meinst du, so etwas würde sich nicht herumsprechen?«

»Ich meine, wir hatten einen Deal, und du hast dich nicht daran gehalten.«

»Hör mal …«

»Und als ich versuchte, hier reinzukommen und mit dir darüber zu sprechen, hast du mich von deinen Vorzimmerschlägern verprügeln lassen, bevor sie mich zurück auf den Strip warfen.«

»Ich habe ihnen gesagt, dass sie dir nichts brechen sollen. Ich habe ihnen befohlen, dich nicht zu töten.«

»Ja, das war dein zweiter Fehler.«

Wie das Klicken von Eis, das in einem Glas schmilzt. Unter der sanften Beharrlichkeit des Club-Backbeats drückte eine kalte Ruhe von oben herab. Quiroga sah mich eine Weile an, dann zuckte etwas in seinem Gesicht. Er setzte ein mulmiges Lächeln auf.

»Du hast sie gefickt. Richtig?«

Ich sagte nichts.

»Ich meine – wie sonst könnte sie dich für so etwas bezahlen? Es muss schon mindestens ein ziemlich feuchter Blowjob gewesen sein – oder zwei.«

»Du kommst vom Thema ab.«

»Du weißt, dass sie eigentlich überhaupt keine sie war, nicht wahr? Unsere Synthia.«

Ich beugte mich vor. »Ich kann dir sagen, was sie war, Sal. Sie war eine Klientin.«

Wieder das Zucken in seinem Gesicht. Die Frau rechts von ihm machte einen sehr kleinen Schritt zur Seite. Ich suchte ihren Blick, schüttelte fast unmerklich den Kopf.

Die Kraterkriecher verfolgten das Geschehen ohne ein Wort.

Quiroga schnaufte. »Klientin. Du bist kein verdammter Black Hatch Man mehr, Veil.«

»Das spielt keine Rolle. Sie ist zu mir gekommen, weil sie Schutz brauchte, und das war der Job, den ich übernommen habe.« Ich sah ihn wieder an. »Meinst du, so was würde sich nicht herumsprechen?«

Diesmal hielt die Stille länger an. Dann hörte ich es schwach durch den Hintergrund aus Musik und Stimmen – panisches Geplapper, und zwar unten in der Nähe der Tür. Meine Gnadenfrist lief ab – es wurde Zeit, diese Sache zu beenden. Ich hob meine freie Hand, offen und locker, als wollte ich mich zu Wort melden.

»Du verstehst, dass wir dieses Problem irgendwie lösen müssen. Und damit wir das tun können, habe ich etwas dabei, das du dir anschauen musst. Genau hier in meiner Tasche.« Ich klopfte auf meine linke Brustseite. »Entspann dich, Sal, ich werde nicht auf dich schießen. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

Sehr langsam, den Blick weiterhin auf seine Sicherheitsleute und ihren angespannten Gesichtsausdruck gerichtet, griff ich in meine Jacke und zog das Ding hervor, das ich bei mir trug. Ich sah, wie sich das Gesicht der Frau ein klein wenig entspannte, als sie erkannte, dass es keine Waffe war. Tupac starrte mich nach wie vor an, als wollte er mich in der Luft zerreißen und die Stücke essen. Doch dann wechselte sein Blick zu dem Gegenstand in meiner Hand, während ich ihn auf dem Tisch ablegte. Ich sah, wie er die Stirn runzelte.

Ein klobiger kleiner Zylinder, zehn Zentimeter lang, wie eine schlanke Getränkedose, gesprenkelte graue Metalllackierung, Öffnungen an der Basis, wo es sich mit etwas anderem verbinden lässt, ein winziger leerer Touchscreen auf der Oberseite. Möglicherweise hätten die Jungs an der Tür Sal erklären können, womit er es zu tun hatte, doch Tupac und die Frau waren eine völlig andere Preisklasse – originär urbane Schläger, die ihre Karriere wahrscheinlich bei einem Firmensicherheitsdienst oder bei der Polizei von Bradbury begonnen hatten, die in ihrem ganzen Leben niemals ein Arbeitslager im Hochland von innen gesehen hatten.

Allerdings würden sie den Gegenstand von ihrem Headgear scannen lassen …

»Was zum Henker soll das sein?« Hörbare Erleichterung schwang in Sals Stimme mit. »Ich bin nicht in Stimmung für Scherze, Veil. Du solltest lieber …«

Die Notsignalgranate feuerte ihm genau ins Gesicht.

Grelles weißes Feuer tobte sich in alle Richtungen auf dem Zwischengeschoss aus. Es ließ die Tänzerinnen auf den Plattformen erstarren, entriss ihnen die Schatten, als würde es ihre dunklen Seelen rauben. Es löschte alles aus. Es bleichte den ganzen Raum.

Im Hochland benutzt man eine modifizierte Drachenstartrakete, um das gesamte Paket tausend Meter hoch in die Luft zu schießen, wo es die Landschaft in der näheren Umgebung in plötzliches Licht taucht. Ein Fallschirm wird ausgelöst, dann schwebt es sanft herab und strahlt wie eine Miniatursonne. Selbst bei dieser Höhe wird man geblendet, wenn man den Blick darauf richtet. Sal Quiroga bekam die gleiche Ladung aus weniger als einem halben Meter Entfernung ab, und sie schaltete schlagartig sein Sehvermögen aus. Ich wusste nicht, ob genug UV in der Mischung enthalten war, um auch seine Netzhaut zu verbrennen, aber er schrie auf jeden Fall, als wäre es so.

Er schlug sich die Hände vors Gesicht, versuchte aufzustehen, immer noch schreiend. Stolperte zurück gegen den Sessel und stürzte hin.

In meinen Augen schlossen sich seitwärts die BV-patentierten Nickhaut-Membranen und schirmten mich vor dem weißen Feuer ab. Durch das getrübte gelbliche Sichtfeld, das sie mir ließen, sah ich Sals Sicherheitsleute geblendet herumtorkeln, während sie nach ihren Waffen griffen und klarzukommen versuchten. Ich schoss beide mit der Schockpistole nieder – der Kristallsplitterhagel zwischen uns blieb in dem panischen Geschrei und den Backbeats des Clubs unhörbar. Die Ladung ging durch die Panzerung, die sie vermutlich trugen, gleichermaßen durch Kleidung und Haut, riss all ihre Nervenleitungen aus den Buchsen, schloss sie von Kopf bis Fuß kurz. Ich sah, wie sie zuckend umfielen.

Die Luft füllte sich mit misstönenden Schreien.

Vom Sessel aufspringen, mit einem Satz über den Tisch hinweg, auf der anderen Seite landen. Sal Quiroga wand sich vor mir auf dem Boden, die Hände immer noch fest auf die Augen gepresst, während er Obszönitäten und Aufforderungen brüllte, mich zu töten. Durch meinen Anstoß kippte die Notsignalgranate um und rollte vom Tisch, immer noch brennend. Sie fiel zu Boden und rollte weiter. Wellen aus wirren Schatten jagten über die Wände und die Decke und ließen es aussehen, als würde der gesamte Club unter der Wucht eines Erdbebens erzittern. Der weiße Feuersturm tobte weiter, überschüttete uns, begrub uns in seinem Herzen.

Ich ließ die Schockpistole fallen, um die Hände frei zu haben. Trat Quiroga hart in die Rippen. Er verkrampfte sich und rollte sich zusammen, umklammerte sich im Schmerz. Ich hockte mich auf ihn und drehte ihn ganz auf den Bauch herum. Kauerte mich nieder und fixierte ihn mit einem Arm um die Kehle. Drückte ein Knie in sein Kreuz.

»Das wird dir gefallen, Sal«, zischte ich ihm ins Ohr. »Es geht nur darum, an der richtigen Stelle Druck zu machen.«

3

Die Polizei von Bradbury fand mich ein paar Stunden später in einem Lokal namens Uchu’s oben am Ferrite Drive. Ziemlich schnelle Arbeit, aber ich hatte mich auch nicht unbedingt versteckt. Ich hatte eine Sitzecke am Fenster für mich allein und saß dort so, dass mich alle sehen konnten. Ein Teller mit Essen vor mir auf dem Tisch, kaum angerührt – wenn man heißläuft, weiß man, dass man etwas essen sollte, aber einem ist einfach nicht danach –, und ein leeres Shotglas in Reichweite. Neben dem Glas die Flasche, mit ein paar Fingern weniger als zum Zeitpunkt meines Eintreffens. Man kennt mich im Uchu’s. Vor einigen Jahren hatte ich dem Besitzer gelegentlich einen Gefallen getan, und jetzt hält er hinter der Theke einen Liter mit Mark on Mars mit meinem Namen darauf bereit. Es muss ihn eine Menge kosten, die Flasche immer wieder nachzufüllen, aber was ich für ihn getan hatte, war auch nicht gerade billig.

Ein schlanker schwarzer BMW-Crawler hielt auf der anderen Seite der regenbeperlten Fensterscheibe an. Ohne Kennzeichnung, und niemand, der ausstieg, war in Uniform, aber das war auch gar nicht nötig, um zu erkennen, wer sie waren. Sie überholten den Crawler, kamen an meinem Teil der Fensterfront vorbei und liefen zur Tür. Ich hörte, wie sie hinter mir aufglitt. Ein Windstoß kalter Straßenluft kam mit den Neuankömmlingen herein und legte mir eine kühle Hand in den Nacken. Ich spürte, wie sie sich mir näherten, und kurz darauf glitt sie auf den Sitz mir gegenüber.

»Hallo, Veil.«

»Nikki.«

Sie sah gut aus, aber so sah sie eigentlich immer aus. Andine Wangenknochen, die Haut café con leche, die Augen ein unwahrscheinliches Kobaltblau hinter den klaren Linsen ihres Gears. Eine dichte, schulterlange Wolke aus Mestizinnenhaar, um das alles hervorzuheben, pechschwarz und von wirren Korkenziehersträhnen in Grau durchzogen.

»Kann ich etwas für dich tun?«, fragte ich.

Sie drehte den Kopf, strich sich mit der Handkante etwas Particle-Slam-Regen aus dem Haar. Es besprenkelte die Tischplatte und meinen Teller mit dem kaum angerührten Essen. »Ob du etwas für mich tun kannst? Nun, du könntest zum Beispiel damit aufhören, organisierte Kleinkriminelle in meinem Zuständigkeitsbereich zu ermorden.«

»Das war vor drei Jahren, Lieutenant. In alten Zeiten. Seit wann hegst du so lange einen Groll?«

Sie bedachte mich mit einem starren Lächeln. Trat mir unter dem Tisch brutal gegen das Schienbein. Polizeistiefel mit Stahlkappen. Ich stöhnte, versuchte mich unter dem Schmerz nicht zusammenzukrümmen.

»Verarsch mich nicht, Veil.«

»Würde mir nicht im Traum einfallen«, stieß ich gepresst hervor.

»Vor zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten bist du in Salvador Quirogas Club am Strip spaziert. Du schaltest seine Türsteher aus, gehst direkt zu seinem Tisch im Zwischengeschoss, als wüsstest du, dass er dort sein wird. Du setzt dich, redest mit ihm. All das wurde von der Überwachung aufgezeichnet, und wir haben die Daten. Zwei Minuten später ist Quiroga an gebrochenem Rückgrat gestorben. Also.« Mit den Fingerspitzen wischte sie einige der Wasserflecken vom Tisch. »Hättest du Lust, mir zu erklären, was passiert ist?«

»Was sagen die Aufzeichnungen dazu?«

Sie nickte einmal mit unfreundlicher Miene, und der Polizist hinter mir stürzte sich wie eine Steinlawine auf meinen Nacken und meine Schultern. Der Teller und das Besteck rasselten unter dem Aufschlag, das Shotglas hüpfte und kippte um. Nikki Chakana fing die wankende Flasche auf, damit mit ihr nicht dasselbe passierte. Der Polizist drückte mich auf den Tisch, drehte meinen Kopf zur Seite, sodass ich seine Chefin sah.

Chakana hob die Flasche und musterte das Etikett. »Es überrascht mich, dass du dir dieses Zeug leisten kannst. Es gibt keine verfickte Aufzeichnung, Veil. Die Notsignalgranate, die du gezündet hast, hat die internen Systeme des Zwischengeschosses für diesen Zeitraum geblendet. Überrascht dich das?«

»Mhmf.« Es war nicht die bequemste Position, um ein Gespräch zu führen, wenn einem das halbe Gesicht in die Tischplatte gepresst wurde. »Daran … hatte ich nicht gedacht.«

»Nein, ich bin davon überzeugt, dass du nicht daran gedacht hast. Was wolltest du von Quiroga?«

»Er schuldete mir Geld.«

Der Polizist auf meinem Rücken gab einen kehligen Laut von sich. »Also hast du ihn deswegen einfach ermordet?«

Ich grinste in den Tisch. »Du musst neu sein. Einem Toten kann man kein Geld mehr abnötigen, Gusch. Elementare Biologie – hat der Lieutenant dir das noch nicht erklärt?«

Der Arm in der Jacke um meinen Kopf presste mich noch fester nach unten. Dünne Splitter aus Schmerz stachen in meine Schläfen. Ich wuchtete mich hoch und holte, so gut ich konnte, mit der linken Hand aus, wollte seine Eier packen. Schlecht gezielt, ich streifte kaum sein Bein – aber er zuckte unter der Berührung zurück und ließ locker. Ich stieß in die Lücke, ging mit den Fingern der anderen Hand auf seine Augen los. Er schrie auf, und die übrigen Polizisten setzten nach, mindestens zwei weitere. Jemand packte meinen Arm und verbog ihn bis wenige Millimeter vor einem Knochenbruch. Ich knurrte und schlug mit einem Fuß aus. Jemand anders zog irgendeine Waffe und rammte mir die Mündung unter das Kinn. Eine harte weibliche Stimme in meinem Ohr.

»Wenn du noch einmal trittst, mach ich dich fertig!«

Ich bäumte mich auf und schaffte es, die Waffe abzuschütteln. Sie furchte schmerzhaft an meiner Kopfseite hinauf. »Na los, dann jammer nicht rum, sondern tu es!«

Ich hörte, wie Chakana tadelnd schnalzte, und genauso plötzlich zogen sie sich von mir zurück.

Aber nicht allzu weit, und ich sah viele gebleckte Zähne in den Gesichtern, die mich umringten. Die Polizistin mit der Waffe richtete sie immer noch recht entschlossen auf mich – eine fies aussehende Glock Sandman, Polizei-Standardmodell. Sie hätte mir den Kopf weggepustet, hätte sie abgedrückt.

Atempause. Wir alle rückten unsere Kleidung ein wenig zurecht.

Auf der anderen Seite des Tisches musterte mich Nikki Chakana mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Wie lange bist du schon aus dem Tank raus, Veil?«

»Seit drei Tagen.«

»Oh, verdammte Scheiße.« Sie blickte auf den unangerührten Teller, während sie weiterhin die Flasche mit Mark in der Hand hielt. »Wie konnte mir das entgehen? Also gut, nehmt ihn mit. Bringt ihn in den Crawler. Wir fahren zum Police Plaza zurück.«

Auf irgendein vereinbartes Zeichen hin, das mir entgangen war, verzichteten sie auf den Gefangenenkäfig im Heck des Crawlers und drängten mich stattdessen auf einen Sitz in der zweiten Reihe, eingequetscht zwischen dem Polizisten, der mir sein Gewicht aufgebürdet hatte, und der anderen, die mir ihre Pistole in die Kehle gedrückt hatte. Hinter mir drang trotzdem ein schwacher gemischter Hauch aus Desinfektionsmittel und Antiadrenalin durch das Gitter in der Wand.

Chakana stieg vorn ein, setzte sich neben den Fahrer.

»Nehmen Sie die Eighteenth und dann die Soyuz«, sagte sie zu ihm. »Wir würden eine ganze Stunde oder länger im Stau festsitzen, wenn wir jetzt versuchen, durchs Zentrum zu fahren. Verfickte Regenparaden.«

Sanftes Licht in der gemütlichen Dunkelheit, als die Instrumentenkonsolen erwachten. Der Magdrive des BMW räusperte sich, der Crawler hob sich auf die Metallschenkel, und wir schlichen uns in den Verkehr hinaus. Ich sah, wie Chakana ein tiefes Gähnen unterdrückte.

»Du hättest uns sagen können, dass du erst seit drei Tagen wach bist«, sagte sie, ohne sich zu mir umzublicken.

»Du hättest mich fragen können.«

Sie sackte auf dem Sitz zusammen und stellte einen Fuß auf die Konsole. »Hab gefragt. Kann mich dran erinnern.«

»Früher. Du hättest mich früher fragen können.« Ich blickte auf meine flankierenden Begleiter, wurde von beiden aber steinern ignoriert. »Hätte uns vielleicht einigen Ärger erspart.«

Der Fahrer lachte spöttisch. »Glaubst immer noch, du wärst etwas anderes, was, Drecksack?«

»Er ist etwas anderes«, erwiderte Chakana ermattet. »Das ist das Problem. Als würde man in den Ring steigen und versuchen, Corky Svoboda nach der zweiten Runde zu verhaften. Mein Fehler, Leute. Mein Patzer. Post-Shuttle-Blues. Bin jetzt seit fast dreißig verfickten Stunden auf den Beinen, nach Mulholland-Zeit.«

»Ich hätte gedacht, so was wäre Sakarians Job«, sinnierte ich. »Für die Erdleute alles blitzblank und kolonial machen. Den Anschein wahren, wenn die neue Lieferung Qualpros ihren ersten Spaziergang macht.«

»Halt die Klappe. Du wirst nicht über solche Sachen reden.«

»Hatte den Eindruck, du wolltest mich zum Reden bringen.«

»Nein.« Chakana streckte auf dem engen Sitz den Rücken. Ich konnte fast ihre Wirbelsäule knirschen hören, als sich die Spannung lockerte. »Ich wollte ein Geständnis von dir. Aber keine Sorge. Das holen wir nach.«

»Kann es kaum erwarten.«

»Aber du musst noch etwas warten. Du wirst für ein oder zwei Wochen in der Zelle sitzen, Veil. Im Moment habe ich noch eine Menge anderen Scheiß zu tun, wichtigen Scheiß, weißt du? Das heißt, solange sich deine Körperchemie nicht auf ein etwas kooperativeres Level eingepegelt hat, werde ich nicht noch mehr Zeit mit dir verschwenden. Oh, was zum Teufel ist das?«

Die Halogenstrahler des Crawlers zeigten auf eine Gruppe von Gestalten auf der Straße vor uns. Ein wogendes Gewirr aus steifen Figuren entlang einer Frontlinie, auf und ab, Branengel-Plakate neigten sich trunken in der regnerischen Luft, als ihre Rucksack-Dirigenten im Tumult herumgeschubst wurden. Etliche Uniformen im Durcheinander, Bradbury-Polizei und ein paar andere, die ich nicht sofort einsortieren konnte. Auf dem Nanobeton lagen einige Körper, auf denen herumgetrampelt wurde.

Der Fahrer grunzte. »Eine Pablito-Demo, wie es aussieht.«

Er bremste, brachte uns sanft zum Stehen, zwanzig Meter vor dem brandenden Chaos, das uns den Weg versperrte. Der männliche Polizist rechts von mir stand auf und drängte sich nach vorn, um über Nikki Chakanas Schulter zu blicken.

»Schon wieder Pablito? Ich dachte, dieser Scheiß wäre schon vor Monaten abgeklungen.«

»Sie wissen, dass das Shuttle gerade reingekommen ist.« Chakana deutete geradeaus. »Schaut euch die Brels an. Roter Planet, Rote Hände. Keine Gerechtigkeit auf dem Mars. Die Chance, einen großen Eindruck auf die Erdleute zu machen. O Scheiße, wem hat man denn hier das Kommando gegeben?«

»Das sind nicht eure Leute, Nikki. Das da hinten sind MG4-Uniformen, also ist es ein privater Job. Eure Leute verteilen nur die Tanzkartennummern.«

»Hatte ich dir nicht gesagt, dass du die Klappe halten sollst?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Okay. Wer ist Pablito?«

Keine Antwort. Alle starrten auf das Getümmel. Chakana wurde nervös, kämpfte gegen den Drang an, hinauszugehen und selbst das Kommando zu übernehmen. Sakarians Hände waren sauberer gewesen, als er damals ihren Job gemacht hatte, andererseits hatte er allgemein nicht viel mit den Händen gearbeitet. Die Leitung der Metro-Mordkommission war ein Zwischenstopp für ihn gewesen, während er mit dem Lift vom Erdgeschoss hinauffuhr und es mit der Souveränität eines Karrieristen anging. Er führte die Abteilung bürokratisch und von oben nach unten, und er machte alles nach Vorschrift. Man sah ihn nur draußen auf der Straße, wenn etwas schiefgegangen war und er sich vor den Feeds kurz und knapp um Schadensbegrenzung für seinen Laden bemüht hatte. Im Gegensatz dazu hielt sich Nikki Chakana prinzipiell von Nachrichtenreportern fern und überließ diesen Job den PR-Bots der Abteilung. Ich bezweifle, dass es im gesamten Mars-Archiv mehr als einhundert Sekunden öffentlicher Aufnahmen von ihr gibt. Die Öffentlichkeit weiß kaum, dass sie existiert. Doch immer wenn ihre Polizisten irgendwo auf der Straße aktiv werden mussten, ob offen oder verdeckt, würde man wahrscheinlich auch sie irgendwo in der Menge finden.

»Ich könnte zurücksetzen und die Eleventh nehmen«, schlug der Fahrer zögernd vor. »Und schauen, ob …«

»Verdammte Scheiße! Wir bleiben hier.« Chakana kramte in ihrer Jacke nach einem Energieschlagring und schnallte ihn um ihre rechte Hand. Ein rasantes, eskalierendes Heulen, als die Ladung aufgebaut wurde. Sie schlug auf den Türöffner, drehte sich auf ihrem Sitz herum, als die Tür nach oben aufschwenkte, und starrte mich an. »Du rührst dich nicht von der Stelle, Veil. Und ihr beiden – passt auf ihn auf! Er läuft heiß, sein gesamter Metabolismus sucht nach einem Vorwand, brutal werden zu können. Wenn er euch irgendwelche Schwierigkeiten macht, haltet euch nicht zurück. Brecht ihm irgendwas.«

Dann war sie weg, duckte sich unter der immer noch aufgehenden Tür hinaus, stapfte durch den Regen auf den Tumult zu. Ich sah, wie sie eine der MG4-Uniformen am Kragen packte, nicht allzu freundlich, wie es aussah. Sie brüllte ihn an, doch in der wütenden Brandung der Menge war es unverständlich. Der Fahrer machte grad irgendwas auf der Konsole, und die Tür fuhr wieder herunter, sperrte den Regen und den Lärm aus.

»Also, wer ist Pablito?«, versuchte ich es ein zweites Mal.

Die Polizistin links von mir, die mir die Waffe in die Kehle gerammt hatte, schnaufte. »Was ist mit deinem Headgear passiert, Teufelskerl?«

»Es liegt zu Hause und erstickt an Upgrades.« Das stimmte zwar, aber ein wichtigerer Faktor für die Entscheidung, es zurückzulassen, war die Tatsache gewesen, dass sich die Systemdaten abrufen ließen und als Beweismittel zugänglich gewesen wären. »Ich war seit Ende Tauro im hibernoiden Koma und hab es in der Zwischenzeit nicht viel benutzt.«

»Du bist wirklich ein Hib, was?«, fragte der Polizist recht neugierig. »Muss ziemlich beschissen sein, damit zu leben. Hätte nicht gedacht, dass man immer noch Kerle wie dich züchtet.«

»Ich bin ein Gespenst aus der Vergangenheit. Also – wer ist Pablito?«

»Irgendein Arbeitertrottel hatte im Vrishika in der Lotterie gewonnen.« Mr. Muskelmann schien mir unsere Rauferei im Uchu’s verziehen zu haben. »Verschwand gleich danach vom Radar, und niemand konnte ihn wiederfinden, also verpasste er seinen Flug nach Hause. Die Gewerkschaften witterten Mord und Korruption und riefen in den Wochen danach den Klassenkampf aus. Die Sacranisten mischten auch mit. Bescherten uns immer wieder Unruhen auf dem Hochland, sodass die Marshals einschreiten und ein paar Köpfe einschlagen mussten. Auch hier unten kam es zu Hintergrundrauschen, bis Sakarian am Ende aktiv wurde und eine große Vermisstenfahndung anlaufen ließ.«

Vrishika – der letzte volle Monat des Marswinters, und fast siebzehn Monate waren vergangen. Damals hatte ich mich bereits schlafen gelegt, zu meinem vorletzten hibernoiden Koma in diesem Marsjahr, und offensichtlich hatte ich das alles verpasst. Aber man gewöhnt sich daran. Vier von zwölf Monaten schlafen, während sich der Rest der Welt weiterdreht, und neben den zahllosen Insiderwitzen und Modetrends entgeht einem eine Menge Tratsch zu aktuellen Themen.

Ich zog mit großem Aufwand eine Augenbraue hoch. »Vor siebzehn Monaten? Und man hat ihn immer noch nicht gefunden? Nicht mal einzelne Stücke?«

Ein mürrisches Nicken nach vorn auf die Szene hinter der Windschutzscheibe des BMW, auf das zunehmende Chaos der Demonstration. »Was glaubst du?«

»Vielleicht hat man ihn gefunden«, warf der Fahrer ein. »Das würde alles noch einmal lostreten.«

Links von mir schüttelte Ballermädchen den Kopf. »Davon hätten wir gehört. Außerdem hätte Sakarian diesen Platz schottendicht abgeriegelt, sobald sich die Neuigkeit verbreitet hätte.«

Diesen Platz – langsam dämmerte mir, dass die Fassade, vor der die Demonstranten standen, das neue Gebäude von Horkan Kumba Ultra sein musste. Man hatte die Baustelle vorbereitet, als ich im Tauro abgetaucht war, aber damals gab es oberhalb der Fundamente noch nicht viel zu sehen. Das ist normal bei einer Nanotech-Fabrikation – wochenlang nichts außer Schichtpräparaten, das leise siedende Zischen der Protokollsohlen, und dann wacht man eines Morgens auf, und dort steht ein turmhohes Monument der unternehmerischen Profitmarge und der kolonialen Synergie. Vector Red Haulage, das Raumfahrttochterunternehmen von HKU, gewann zu Beginn des Jahres das erneuerte Franchise für Shuttledienste, also konnten sie ihre Lizenz zum Gelddrucken für weitere drei Jahrzehnte sichern, und wie es schien, musste man all das Geld dann auch für irgendwas ausgeben.

»Und was ist die wahrscheinlichste Theorie?«, sondierte ich. »Unfalltod oder ein neidischer Konkurrent?«

»Es muss ein neidischer Konkurrent sein«, sagte Ballermädchen düster. »Bei einem Unfalltod hätte man ihn gefunden.«

»Kommt drauf an, wie gründlich man gesucht hat. Wer hat den Fall bekommen, der alte Titten-hoch-Tomayro?«

Plötzlich eisiges Schweigen, als alle im Crawler nach draußen auf etwas von großem Interesse starrten.

»Schön und gut. Und wie hat sich Pebble Rodriguez dieses Jahr an Wall 101 gemacht?«

Sie rührten sich etwas, es wurde wieder still, doch nun war das Ganze etwas weniger unterkühlt, dachte ich.

»Sie wurde Zweite«, sagte der Muskelmann widerwillig. »Hatte immer noch dieses Sehnenproblem, das ihr bei langen Steigungen zu schaffen macht.«

»Wirklich? Ich dachte, das hätte man schon damals im Frühling in Ordnung gebracht.«

Ballermädchen schnaufte. »Es hatte nichts mit dem Sehnenaufbau zu tun, Frank. Das waren diese verdammten Turbos von Osmotech, mit denen sie sich herumärgern musste. Sie hätte nie bei diesen Arschlöchern unterschreiben sollen.«

»Hey, es war eine Menge Geld«, sagte der Fahrer.

»Ja, und jetzt kannst du zuschauen, wie man sie zu einem Versuchskaninchen für jedes unausgegorene Upgrade macht, das gerade reinkommt. Osmotech interessiert sich einen Dreck für den Sport, der Laden will nur …«

»Sie kommt zurück.«

»Glaube ich nicht, Mann. Nicht mit den kaputten Sehnen und …«

»Nein, sie kommt zurück.« Der Fahrer zeigte durch die Windschutzscheibe auf die sich nähernde Gestalt von Nikki Chakana. Er drückte auf den Türöffner. »Wie es scheint, werden wir abmarschieren.«

»Ja, oder Köpfe einschlagen«, sagte Muskelmann. »Sie sieht ziemlich angepisst aus, finde ich.«

Stumm stimmte ich zu. Mit ihrem mürrischen Gesichtsausdruck hätte Chakana Medaillen gewinnen können. Sie erreichte den Crawler, duckte sich halbwegs hinein.

»Also, Leute, ich kann euch nur sagen, dass es ein verdammtes Fiasko ist. Ich muss hierbleiben, oder diese MG4-Schwachköpfe werden dafür sorgen, dass die Sache zu einem Volksaufstand eskaliert. Der verfickte Superintendent könnte nicht mal den Olympus Mons finden, wenn er ein Furunkel an seinem eigenen Arsch wäre. Frank, ich kann dich gut als Rückendeckung gebrauchen. Kommt ihr beide klar, wenn ihr unseren Kumpel allein abliefern sollt?«

»Du wirst schon sehen«, sagte Ballermädchen, und der Fahrer antwortete mit einem lakonischen Nicken.

»Gut.« Chakana wandte mir ihre angepisste Miene zu. »Veil, du weißt, wie es abläuft. Sei nett, und du wirst einen angenehmen Zellenaufenthalt haben. Mach Stress, und du kannst die nächste Woche in der Kiste verbringen.«

»Qualität, Auswahl, Freiheit«, ätzte ich. »Freut mich, dass die Grundrechte in Ehren gehalten werden.«

Das brachte mir ein dünnes Lächeln ein. Aber sie sah mich weiterhin mit festem Blick an, während sie auf den eigentlichen Punkt kam. »Ich warne dich, Veil – denk nicht mal im Traum daran, mich zu zwingen, dich noch einmal auf diese Weise ausfindig zu machen.«

Ich konnte das Gesicht des Fahrers nicht genau erkennen, aber ich bemerkte durchaus Ballermädchens Reaktion. Jetzt setzte sie eine genauso mürrische Miene auf, was ich ihr nicht verübeln konnte, denn Chakanas Subtext war etwa genauso subtil wie eine Werbung von Particle Slam.

Veil, hatte sie gesagt, ich weiß, in welchem Zustand du im Moment bist und dass du diese beiden hier wahrscheinlich leichter auseinandernehmen und dich absetzen könntest, als Pebble Rodriguez eine Leiter hinaufsteigt. Aber wenn du das tust, dann mögen dir Pachamama und all ihre leidenden Heiligen helfen, wenn wir dich ein weiteres Mal schnappen, weil ich dir dann den Arsch bis zur Nasenspitze aufreißen werde.

»Lieutenant, wir haben verstanden«, sagte Ballermädchen beleidigt.

Chakana sah mich immer noch an. Ich nickte ihr zu. »Das haben sie, Nikki. Sie haben mich.«

»Also gut. Naima, lass ihn registrieren und einschließen, dann melde dich von der Station aus bei mir. Ich werde dir sagen, ob wir Verstärkung brauchen. Frank, gehen wir.«

Muskelmann drückte den Öffner der Tür auf seiner Seite und stieg aus. Wir beobachteten, wie sich die beiden ins Getümmel entfernten, Ballermädchen mit einer gewissen Wehmut, wie mir schien. Dann startete der Fahrer den Motor, und der Crawler erwachte zum Leben. Er blickte sich über die Schulter zu mir um, als er mit dem BMW zurücksetzte.

»Mach uns keinen Ärger«, knurrte er. »Du weißt, was gut für dich ist.«

Ich hacke Naima mit einem Ellbogen ins Gesicht und breche ihr die Nase. Knall sie auf den Sitz, nehme ihr die Glock ab. Ramme sie ihr unter die Rippen, drücke ab – zwei schnelle Schüsse, um ganz sicher zu sein. Dann richte ich die Pistole auf den Fahrer, bevor er irgendwie reagieren kann – sehe, wie sich sein Mund zu einem Schrei verzerrt, der es nie aus seiner Kehle hinausschafft – zerschieße ihm den Kopf, der sich über die regenbesprenkelte Windschutzscheibe und die sanft schimmernden Anzeigen der Konsole verteilt …

Heißlaufend.

Ich blickte auf meine Hände, die reglos auf meinen Knien ruhten.

»Kein Ärger«, sagte ich leise. »Nichts würde mir ferner liegen.«

4

Hätte nicht gedacht, dass man immer noch Kerle wie dich züchtet.

Aha? Dann bist du dümmer, als du aussiehst.

Was, du glaubst, nach Jacobsen hätten sich alle beruhigt und erklärt, jetzt nett zu sein? Ein sanftmütiger schwedischer Gentech-Spezialist mit schütterem Haar schreibt einen Bericht für die UN, hebt streng den Zeigefinger, und plötzlich soll alles vorbei sein? Rund um den Planeten Erde erkennen Staatsbehörden und hochkarätige Geschäftspartner ihren Irrtum an, werfen ihr Werkzeug fort und weinen? Scheißarme Frauen machen nicht damit weiter, ihre künftigen Kinder zu verkaufen, die sich in ihren Eierstöcken bereithalten, damit sie die tatsächlich hier und jetzt existierenden Kinder ernähren können, die sie bereits bekommen haben? Kluge junge Köpfe in innovativen Genlabors machen nicht damit weiter, das Rohmaterial kiloweise einzukaufen? Finanzschwache Regionalverwaltungen, deren letzte verbliebene Haupteinnahmequelle abgelegene und öde Grundstücke sind, werden keine weiteren Landverkäufe an »Forschungseinrichtungen« absegnen, wie sie ausweichend bezeichnet werden, ohne Fragen zu stellen? Regierungssprecher und PR-Abteilungen von Konzernen werden in diesem Punkt nicht mehr lügen, und geheime Ermittlungsbehörden haben keine Arbeit mehr damit, das alles zu vertuschen?

Von welchem Scheißplaneten stammst du?