Altweibersommer - Martha Bull - E-Book

Altweibersommer E-Book

Martha Bull

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Beschreibung

Dörthe Petersen, Putzfrau, aber eigentlich leidenschaftliche Malerin, darf ihre Bilder gemeinsam mit Astrid Jordan und Charlotte Naumann in der Altweibersommer-Ausstellung präsentieren. Doch schon bei der Eröffnung kommt es zu einem Eklat, bei dem ein umstrittenes Bild fast zerstört wird. Mutwillig? Schnell zeigt sich, es steckt mehr dahinter, als nur eine Aktion von Extrem-Feministinnen oder Kunstgegnerinnen. Drahtzieherin scheint die erfolgreiche Galeristen Frau S. zu sein, die in Dörthes Traum als schwarze Witwe ihr Netz spinnt. Was steht in dem verschwundenen Dokument aus Frau D.s Arbeitszimmer? Und warum beginnt mit einem einfachen Kamerachip, Dörthe Petersens Leben plötzlich zu einem Versteckspiel zu werden? Dörthe und ihre Freund*innen stehen erneut vor einem Rätsel. Eines ist klar, wer einmal im Spinnennetz zappelt, kommt schwer wieder raus.

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Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de

Sämtliche Charaktere dieses Romans sind frei erfunden, zufällige Ähnlichkeiten mit realen Personen sind nicht beabsichtigt.

In diesem Roman habe ich etwas ausprobiert. Da es zum Thema passt und mir an einigen Stellen das Schreiben erleichtert, habe ich das *innen benutzt.

Ich glaube nicht, dass es das Lesen behindert. Bitte lassen Sie sich darauf ein, denn: »Schönheit kommt von *innen«.

Der Roman spielt im Jahr 2019.

»… eröffne ich hiermit die Ausstellung Altweibersommer von Astrid Jordan, Charlotte Naumann und Dörthe Petersen und wünsche uns einen erbaulichen Abend.«

Frau Sagebier klappt ihr Manuskript zusammen, lächelt noch einmal professionell in die Runde und lässt sich ein Glas Sekt reichen. Damit prostet sie uns zu und verlässt das Rednerpult. Die erstaunlich zahlreichen Besucherinnen und vereinzelten Besucher klatschen vehement Beifall. Bis auf eine kleine grauhaarige Frau, die gleich neben der Rednerin steht und mir darum unwillkürlich ins Auge fällt. Sie wendet sich mit hämischem Grinsen ihrer Begleiterin zu, einer hennaroten Matrone, und sagt ihr etwas ins Ohr. Beide werfen Frau Sagebier einen spöttischen Blick zu und drehen sich zur Seite. Nein, denen haben Frau Sagebiers Worte nicht gefallen. Oder die ganze Ausstellung nicht, keine Ahnung. Andere Menschen schieben sich davor. Sie verschwinden im Gedränge.

Und wenn schon, Dörthe. Es gibt immer Menschen, die sich bei solchen Ansprachen langweilen. Du selbst gehörst meistens auch dazu, sei ehrlich.

Meine Freundin Marlies stößt mich an und murmelt: »Dörthe, ich gebe zu, das war eine interessante Rede. Frau Galerie Tausendschön hat weniger herumgesülzt, als ich befürchtet habe. Stell dir vor, ich habe sogar fast alles verstanden. Ich glaube, eure Bilder haben ihr echt gefallen.«

»Das ist nicht Frau Galerie Tausendschön, du Banause«, schnaufe ich unwillig, knete dauernd nervös meine feuchten Hände. »Das ist die Kuratorin der größten Kunstgalerie Bremens, die sich herabbegeben hat in die Niederungen der unbekannten Malerei, die …«

»Du bist unfair«, unterbricht mich Charlotte. »Frau S. hat begeistert zugestimmt, hier die Eröffnung zu gestalten. Ich kenne sie seit Jahren. Sie weiß solche Künstlerinnen wie uns sehr zu schätzen. Dass wir nicht ganz oben mitmischen, dafür kann sie ja nichts.«

»Wieso? Sie könnte diese Ausstellung in ihren eigenen Räumen abhalten. Aber nein, dort hängen die oberen Tausend. Die Herren. Außerdem hat sie uns diese Astrid aufs Auge gedrückt. Wieso hat sie so viele Bilder hier hängen, dabei ist die Villa kultur zuerst an dich herangetreten. Du solltest entscheiden, das war die Absprache.«

»Dörthe, sei fair, alleine hätten wir den großen Raum nicht ausfüllen können. Du hast selbst gesagt, dass du keine weiteren Bilder zum Thema fertig hast. So wenig wie ich. Mir gefallen Astrids Collagen sehr gut. Sie geben dem Ganzen eine zusätzliche Note. Sie ist überhaupt eine feine Frau.«

»Astrid ist in Ordnung, das ist nicht mein Problem. Ich mag die Art der Sagebier nicht, wie sie ihren Liebling nach vorne schiebt.«

Dörthe, was ist los mit dir?, rufe ich mich zur Ordnung. Was nörgelst du an dieser Frau herum? Sie hat sich wirklich bemüht, unsere Bilder zu verstehen, sie richtig wertzuschätzen. Nicht nur Astrids, auch deine. Das hat man gemerkt, sie wollte es. Was sie an diesem Abend verdient, das kommt bei ihr in die Kaffeekasse. Was also meckerst du?

Das ist die Aufregung, entschuldigt sich eine zweite Dörthe peinlich berührt. Ich habe seit Jahren keine Ausstellung mehr bestückt. Sechs meiner Bilder hängen hier. Neben den acht Bildern von meiner Freundin Charlotte und acht von Astrid. Es stimmt, mehr hatte ich gar nicht zu bieten. Was spricht demnach dagegen, dass Astrid ihre Kunst zeigt? Neid? Ich schnaufe erregt, schüttele unwillig den Kopf. Nein, Neid ist weniger ausgeprägt bei mir. Eigentlich. Ich mag es bloß nicht, übervorteilt zu werden.

Liebe Güte, Dörthe, es gibt keinen Grund zu jammern. Heute nicht. Dies ist keine Galerie, in die sich niemand freiwillig hineinwagt, hier werden auch Konzerte gegeben. Das bedeutet, Dörthe Petersen ist einmal, einmal wieder Malerin und nicht nur Putzfrau, die hin und wieder den Pinsel schwingt. Ich, Dörthe Petersen, darf wegen meiner Kunst bewundert werden. Herrje, das ist doch allemal ein Grund, um verrückt zu werden.

Aber keiner, die wohlgesinnte Kuratorin, die gerade ein Interview für die örtlichen Medien gibt, derart unsachlich zu kritisieren. Glaubst du, buten un binnen wäre gekommen, wenn du sie eingeladen hättest?

Schon gut, Dörthe eins, schon gut. Ich bin beschwipst, ich bin aufgeregt, ich bin einfach überglücklich.

So einfach ist das nicht, mischt sich eine dritte Dörthe ein. Du magst diese Frau S. nicht. Sie hat etwas Halbseidenes, Gewagtes, wenn man den Spatzen glauben soll, was sie so von den Kunstdächern pfeifen.

Quatsch, dann würde ihr niemand auch nur eine Kinderzeichnung anvertrauen und sicherlich keine großen Kunstwerke.

Aber es gibt diese Gerüchte.

Ich atme tief durch. Gewagtes kann sie wenn überhaupt in ihrer Galerie ausleben, ganz sicher nicht hier beim Altweibersommer. Zwar gab es im Vorfeld Gerede wegen des Titels,aberKunstschaffende sind eben eigen. Nur altbacksche Trutschen können diese Ausstellung gewagt nennen. Punkt. Dialog beendet.

Leo hat mir seinen Arm um die Schulter gelegt und drückt mich eng an sich.

»Du bist fantastisch«, flüstert er mir ins Ohr. »Ich bin stolz auf dich!«

»Danke, Leo, danke.« Ich küsse ihn flüchtig auf die Wange. Für Innigeres in aller Öffentlichkeit fehlt mir gerade der Mut.

Strahlend sehe ich mich um. All die Menschen hier sind wegen unserer Kunst gekommen.

Obwohl, ich muss mich berichtigen, einige hat die Loyalität hierhergebracht. Hermann, mein alter Vermieter zum Beispiel, bewundert zwar meine Bilder in meinem Atelier, seiner ehemaligen Schuhmacherwerkstatt in der Prangenstraße. Ich wette allerdings, dass er noch nie im Leben zu einer Vernissage gegangen ist. Ebenso Elvira, die über mir wohnt. Sie ist eine sehr umtriebige junge Frau, aber ich würde sie eher bei einem Punkkonzert suchen als in dieser schicken Altbremer Kaufmannsvilla.

Ab und zu weht ein Hauch von Parfüm zu mir herüber, mischt sich mit dem Duft von Kaffee. Mein Blick schweift über die Versammlung überwiegend älterer Menschen. Ich beobachte, wie sie von Bild zu Bild bummeln, manchmal stehen bleiben und sich etwas zuflüstern. Alle, alle sind gekommen. Ich kann es immer noch nicht fassen. So viele Jahre habe ich mir die Hände an Bewerbungen zu einer Ausstellung wundgeschrieben. Nun hat es endlich geklappt.

Astrid kommt zu mir herüber, drückt mich an sich.

»He, das ist märchenhaft hier. Danke, dass ihr mich eingeladen habt, mitzumachen. Ich dachte schon, das wird in diesem Leben nichts mehr mit Öffentlichkeit.«

Ob sie gar nicht weiß, dass die Sagebier dahintersteckt?, wundere ich mich, spreche es jedoch lieber nicht an. Womöglich hat Charlotte das ein bisschen übertrieben dargestellt? Ich habe mit Astrid nie viel geredet, sie ist mir erst beim Hängen der Bilder vor ein paar Tagen zum ersten Mal begegnet, da hatten wir wenig Zeit, miteinander vertraut zu werden. Charlotte hatte die Hauptarbeit der Organisation übernommen.

Spontan drücke ich Astrid meinerseits liebevoll.

»Deine Collagen sind großartig, echt. Wie du die unterschiedlichen Materialien mixt, das finde ich erstaunlich. Mir fällt immer bloß Farbe ein.« Ich lache ein bisschen verlegen, aber es stimmt, wenn ich solche Werke sehe, komme ich mir richtig einfallslos vor. Natürlich ist das Unsinn, aber meine Selbstzweifel werde ich wohl nie los, nicht einmal heute. »Du passt perfekt in diese Ausstellung. Immerhin hattest du bereits vorher eines deiner Werke Altweibersommer genannt. Schön, dass wir uns auf diese Weise kennenlernen. Bist du schon lange in der Kunstszene unterwegs?«

»Nicht in Bremen, hier wohne ich erst seit meiner Verrentung vor drei Jahren. Ich komme aus Hessen, vom Land. Dort hatte ich einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Aber hier gibt es einfach zu viele gute Künstlerinnen.«

Sie schaut sich beinahe scheu um.

»Das liegt vielleicht daran, dass ich keine Freundin der großen Bühne bin. Artikel schreiben im stillen Kämmerlein, das ja. Doch ich kann mich nicht gut verkaufen, verstehst du?«

Ich nicke. »Kenne ich, Astrid, kenne ich zu gut. Das lerne ich auch nicht mehr in diesem Leben, befürchte ich. Man gut, dass Charlotte meine Freundin ist. Sonst wäre ich jetzt nicht hier.«

Charlotte hat keine Berührungsängste mit der großen Bühne, sie steht im Mittelpunkt einer Gruppe von Gästen und erklärt ihre Gemälde mit ausschweifenden Bewegungen. Sie ist hier der Star. Das war schon immer so. Wir sind viele Jahre gemeinsam durch die Kunstszene getanzt, öfter gestolpert, Charlotte voran mit der Selbstsicherheit einer Gewinnerin, ich in ihrem Kielwasser. Trotzdem oder gerade darum waren wir stets ein gutes Team.

Ich bin von Haus aus schüchtern, auch wenn mir das niemand abnimmt. Am liebsten würde ich mich unsichtbar machen und alles aus dem Off beobachten.

So wie jetzt, wo Gertrud auf mich zustürmt. Sie ist eine Teilnehmerin meines Volkshochschulkurses Kreatives Zeichnen für Fortgeschrittene. Astrid verdrückt sich schnell, sie ahnt bestimmt, was jetzt kommt. Oder sie hatte bereits das zweifelhafte Vergnügen, mit Gertrud Bekanntschaft schließen zu dürfen.

Ich stöhne innerlich auf, denn Gertrud ist zwar eine sehr liebenswerte Frau, aber unersättlich in ihren Nachfragen und …

»Dörthe, Liebe, großartig. Du bist großartig!«, jubiliert sie und hält mir ihr Sektglas zum Anstoßen hin. Kling, Schluck, allmählich werde ich betrunken. Und wenn schon, heute ist das in Ordnung.

»Ich wusste immer, dass du eine große Künstlerin bist. Ich habe all meinen Freundinnen gesagt, dass sie kommen müssen, aber leider waren die meisten verhindert, du weißt ja, wie das ist. Aber ich werde sie alle herschleppen, keine Sorge, das müssen sie gesehen haben. Mit den Collagen kann ich wenig anfangen, denn ich liebe die Malerei, verstehst du? Nicht, dass es keine Kunst wäre, Gott bewahre. Frau Sagebier konnte mir den Wert dieser Bilder tatsächlich ein bisschen mehr eröffnen, aber nun ja, meine Liebe gilt nun einmal dem Pinsel, haha. Diese Charlotte ist mir ja zu direkt, weißt du. Ihre Patriarchin, wie die da sitzt, also gut, das geht ja noch. Keine Frau sitzt mehr wie in den Sechzigern, trotzdem ein bisschen, ach nein, du verstehst, Dörthe, ich bin da eher konservativ.« Sie lächelt verkniffen, senkt die Stimme zu einem raumfüllenden Flüstern: »Aber das daneben, diese Großmutterfreuden. Da musste ich schlucken, glaub mir, dabei bin ich bei Kunst wirklich tolerant. Doch gib es zu, Dörthe: Welche Frau möchte dergestalt abgebildet werden? Ich muss schon sagen, das ist mir zu äh … aggressiv. Das ist mir zu sehr Picasso nachempfunden, diese völlig zerfetzte Frau, verstehst du? Hier der Kopf, da ein Bein, ein widerlicher Schlabberbusen! Ich meine, äh … also. Mir fehlt da jedenfalls ein wenig die persönliche Note. Äh, aber gut, das ist selbstverständlich Geschmackssache. Ich meine, ich verstehe natürlich, wie sie das meint mit der Zerrissenheit, aber ich meine, äh … ist das nicht zu direkt? Also äh, da bist du auf jeden Fall vielschichtiger, deine Aussagen lassen viel mehr Spielraum zum Interpretieren. Darum geht es doch in der Kunst, oder sehe ich das falsch?«

»Doch, doch«, antworte ich, spüre Leos Hand, die meine Schulter drückt, damit ich nichts Falsches sage. Oder weil er sich so sehr das Lachen verkneifen muss? Kann auch sein. Verzweifelt sehe ich mich um, während Gertrud ohne Punkt und Komma weiter schwadroniert. Hat sie gerade »farbmächtig« gesagt? Aus welchem Magazin hat sie nur diese Worthülse her? Wer rettet mich vor dieser Frau?

Aua, mein Mund tut weh vom Dauerlächeln, mein Kiefer verspannt sich. Ich räuspere mich. »Du, das ist ganz interessant, Gertrud, ganz spannend, wie du das siehst, aber ich muss …«

»Oh danke, Dörthe, findest du? Dabei bin ich doch nur ein ganz kleines Licht, gemessen an deiner Kunst«, säuselt sie. »Dann lass mich dir noch eben sagen …«

Nein! Schreit es in mir. Nichts musst du mir mehr sagen! Leo knirscht mit den Zähnen vor Anstrengung und kann seinen Lachanfall mit Hus-ten kaschieren. Der Glückliche.

Doch da! Rettung naht!

Elvira stürmt geradewegs auf uns zu und redet sofort los:

»Dörthe, du Wunderwerk der Kunst, wenn das hier vorbei ist, gehen wir dann was essen? Mir hängt der Magen in den Kniekehlen,« Sie wirft Gertrud einen schnellen Blick zu, plappert ungeniert weiter. »Svantje hat in weiser Voraussicht einen Tisch reserviert, wie sieht es aus?«

Gertrud guckt verstohlen zu der fröhlichen Kunstbanausin hin. Sie lächelt bemüht, nickt mir noch einmal zu und schlendert würdevoll weiter zu einer Gruppe Frauen, von denen sie neugierig empfangen wird. Oha, der ganze Kurs ist geschlossen angetreten. Unwillkürlich ziehe ich die Schultern hoch, wenn ich an den nächsten Termin denke.

Dörthe, das gehört dazu. Du kannst nicht in die Öffentlichkeit gehen und dich verkriechen.

»Was nun?«, insistiert Elvira.

»Wir können nicht so schnell hier weg«, erkläre ich. »Eine halbe Stunde wird das hier noch dauern, schätze ich. Hast du Charlotte und Astrid gefragt?«

»Klar. Astrid kann nicht mit. Schade. Sie sagt, die Sagedingsbums – wie heißt die Frau? – hätte sie eingeladen. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass sie lieber mit uns mitgekommen wäre. Das kann aber auch nur meine Interpretation gewesen sein, weil, äh, die Astrid hat was, ich mag sie, verstehst du? Charlotte freut sich auf ein dickes Schnitzel, dabei sei sie Vegetarierin. Ihre Fans wollen alle mitkommen, das wird eine große Runde. Die ist toll, diese Charlotte, hättest eben hören sollen, wie sie die Ladies von buten un binnen an die Wand geredet hat. Musst du bei denen nicht auch deine Nase in die Kamera halten?«

»Nein, ich habe am Anfang bereits ein paar Worte gesagt. Mir liegt das nicht sonderlich. Es ist besser, dass Charlotte das macht.«

»So wirst du nie berühmt, Dörthe. Klappern gehört zum Handwerk.«

Ich zucke missmutig die Achseln. »Lass man, wenn sie wegen Charlotte kommen, sehen sie meine Sachen notgedrungen auch.«

Elvira nickt verständnisvoll und winkt Svantje zu. Doch meine Nachbarin und inzwischen gute Freundin achtet nicht auf die junge Frau. Sie steht vor Kraft, scheint tief versunken zu sein. Sie weiß, dass ich versucht habe, die uralte Frau Wischhusen auf die Leinwand zu bannen. Die alte Frau, die uns gegenüber wohnt, fasziniert mich schon lange. Sie ist stark, ungebunden, bodenständig und nie um ein Wort verlegen. Das wollte ich zeigen, als Gegensatz zur Grauen Dame Einsamkeit, die ich gleich daneben gehängt habe.

Plötzlich ist es mir wichtig, was Svantje von dem Bild hält. Viel wichtiger als die Meinung aller Kurator*innen der Welt.

Da dreht sie sich um, unsere Blicke treffen sich, und sie lächelt. Ich begreife. Sie hat Frau W. verstanden. Sie hebt kurz den Daumen, dann ist Elvira bei ihr. Unser kurzer wortloser Dialog bricht ab. Mit einem Mal wird mir klar, wie viele Menschen um mich sind, die mich mögen, die ich mag. Ich bin gut aufgehoben in dieser chaotischen Welt.

Marlies, meine Uralt-Freundin, unterbricht meinen Hang zur Melancholie. »Puh, wenn ich noch einen Schluck Sekt trinke, kannst du mich nach Hause tragen«, stöhnt sie. »Du siehst auch nicht mehr ganz standfest aus.« Lachend stupst sie mich in die Seite. »Aber du hast ja Leo zum Anlehnen.«

»He, pass auf! Das Bild!«, schreit jemand. Ich fahre herum. Charlotte zerrt heftig am Arm einer Frau. Ups, das ist doch die Grauhaarige, die vorhin so gegrinst hat. Die reißt sich los, ihr Sektglas rutscht ihr aus der Hand, fliegt gegen die Wand, gegen Charlottes Großmutterfreuden. Blitzschnell wirft sich eine Besucherin in die Wurfbahn, macht sich ganz breit. Sie lässt sich heldenhaft mit Sekt begießen, rettet das Gemälde. Das Glas zerspringt.

Alles ruft durcheinander. Schnell bilden die Menschen einen Ring um die streitenden Frauen. Die Begossene faucht wütend: »Was soll das? Sind Sie verrückt geworden?«

»Sorry, Entschuldigung«, murmelt die Grauhaarige. »Mir ist das Glas weggerutscht, weil die da«, sie weist anklagend auf Charlotte, »mich herumgezerrt hat.«

»Wie bitte? Ich höre wohl nicht recht? Sie haben zuerst mit dem Sekt herumgespritzt. Sie dachten, das sieht niemand. Sie wollten das Gemälde treffen.«

»Ich bitte Sie, das ist ein Irrtum. Ich bin eventuell etwas unvorsichtig mit dem Getränk umgegangen. Ich bin ein bisschen unsicher zu Fuß, da passiert mir das schon einmal, aber niemals, niemals, wollte ich …«, stammelt die Beschuldigte, wird knallrot. Ob vor Scham oder Wut kann ich nicht beurteilen. Aber ich glaube ihr nicht. Noch immer sehe ich ihr hämisches Gesicht vor mir.

Dörthe, spinn nicht, sie hatte wahrscheinlich einen Witz über Frau Sagebier gemacht, das heißt nicht, dass sie ein Gemälde beschädigen wollte. Du kannst nicht hellsehen. Halt deine Fantasie im Zaum, du tust dieser Frau sehr wahrscheinlich Unrecht.

»Die hat das mit Absicht gemacht«, behauptet nun aber ein anderer Besucher selbstsicher. »Ich habe es gesehen.«

»Unverschämt!«, erbost sich nun die Angegriffene und stemmt die Arme in die Seite. »Ich lasse mich nicht verurteilen. Ich habe mich entschuldigt, ich habe Ihnen meine Notlage beschrieben. Falls Sie Ihr Kleid in die Reinigung geben müssen wegen des Sektes, erstatte ich Ihnen selbstverständlich die Kosten. Bitte geben Sie mir Ihre Adresse.«

Die Begossene guckt an sich herunter, zuckt mit den Achseln »Lassen Sie man gut sein, das geht bei der Wäsche raus.« Dann lächelt sie freundlich. »Trotzdem Danke für Ihr Angebot.«

Einen Moment stehen alle stumm beieinander, niemand weiß so recht, wie es weitergehen soll. Die kleine Grauhaarige atmet tief durch und erklärt pikiert: »Ich glaube, ich gehe besser. Ich weiß, wann ich unerwünscht bin.«

Die Sagebier, die sich bisher herausgehalten hat, zieht nun die Augenbrauen hoch und näselt unglaublich arrogant:

»Wir können Ihnen gern ein Taxi bestellen, Gnädigste, wo Sie doch schlecht zu Fuß sind. Nicht, dass Sie sich auf dem Heimweg versehren.«

Jetzt lächelt sie derart falsch, dass es mich schmerzt.

Die Angesprochene sieht an ihr rauf und runter, als besichtige sie ein übles Insekt und schnurrt: »Verausgaben Sie sich nicht, Teuerste. Nicht, dass Sie demnächst am Hungertuch nagen müssen.«

Ich schnappe nach Luft. Was läuft da ab zwischen denen? Das ist kein Zickenkrieg mehr, das ist ein Atomkrieg. Das ist purer Hass.

Manchmal bedauere ich es, dass Frauen sich nicht einfach eine reinhauen, um damit eine Situation zu bereinigen.

Erhobenen Hauptes humpelt die Frau aus dem Raum hinaus in den großen Garten. Wir schauen ihr stumm hinterher.

Charlotte prüft ihr Gemälde gründlich auf eventuelle Schäden.

»Gut gegangen, zum Glück. Ich wette, das war Absicht, die kann mir viel erzählen, die blöde Ziege. Kennst du die?«, fragt sie mich leise.

»Nein, müsste ich?«

»Die eher nicht«, erklärt Marlies, die dazugekommen ist. »Aber ihre Begleiterin, die große kräftige mit den roten Haaren. Das ist die Rote Behnke, auch die Alice Schwarzer von Bremen genannt.«

»Echt? Die war das? Die kenne ich bloß von Fotos, bin weniger in der Feministinnenszene unterwegs.« Ich scanne den Raum, aber die Behnke ist bereits fort.

»Meinst du, die haben das geplant?«, fragt Elvira mit leuchtenden Augen. Sieht sie etwa bereits einen neuen Fall für das Detektivbüro Petersen-Martinez? Bitte nicht, Elvira, denke ich belustigt.

»Warum soll die Rote Behnke etwas gegen eine Ausstellung über alte Frauen haben?« Marlies schüttelt unwillig den Kopf. »Falls die Frau von eben tatsächlich behindert ist, war das ziemlich beschämend.«

Leo räuspert sich mehrmals, setzt zu einer Bemerkung an, schluckt sie dann jedoch herunter.

»Spuck’s aus, Junge«, fordere ich ihn mit einem leicht genervten Rippenstoß auf.

»Ich kenne die Frau. Bettina äh … nein, den Nachnamen weiß ich nicht mehr«, erklärt er schließlich. »Sie ist eine gute Freundin von Elisabeth.«

Oh, die! Leos Ex-Frau. So nennt er sie zumindest. Ich bin mir nicht sicher, wie Ex sie wirklich ist. Sie finden immerzu einen Vorwand, sich zu verabreden. Das allein ist albern, sie können sich doch einfach so treffen. Das ist hier im Viertel eh unvermeidlich, man läuft sich sowieso ständig vor die Füße, sei es im Mini-Shop oder im Café. Angeblich leidet Elisabeth nach wie vor unter ihrem schweren Unfall vom Sommer. Glaube ich das? Muss ich wohl schon um des lieben Friedens willen. Denn wehe, ich frage nach, dann klappt Leo zu wie eine Auster. Sofort fürchtet er um seine Freiheit. Manchmal ist es kompliziert mit ihm.

Dörthe, er hat es mit dir auch nicht leicht. Wir sind eben zwei misstrauische alte Krähen mit unschöner Vergangenheit.

Verdammte Eifersucht, ich kann sie nicht ablegen. Dachte ich vorhin, dass ich wenig Last mit Neid habe? Das stimmt bei der Kunst, jedoch nicht Leo gegenüber. Wie oft muss er mir sagen, dass ich seine Nummer eins bin? Ich verkrampfe mich allein bei der Nennung des Namens Elisabeth. Zu auffällig ist, dass Leo jedes Mal verändert von ihr zurückkommt. Als ob ich ihn mir neu erobern müsste.

Ich seufze ernüchtert. Dörthe, mach dir nicht den wunderschönen Tag kaputt mit dummen Gedankenspielen. Jetzt ist jetzt, und jetzt ist Leo hier bei mir.

Ich atme tief durch, gib Frieden, Dörthe, gib heute Frieden. Immerhin ist sie heute nicht hergekommen.

Ob Leo meinen Stimmungsumschwung mitbekommen hat? Er spricht ruhig weiter: »Bettina ist eine eher stille Person, so habe ich sie zumindest in Erinnerung. Ganz bestimmt keine aggressive Frauenrechtlerin. Nur weil sie mit Veronica, äh, mit Frau Behnke befreundet ist, muss sie nicht mit ihren Thesen übereinstimmen.«

»Du meinst, sie ist keine, die mit Sektgläsern gegen Bilder wirft?«, fragt Charlotte zweifelnd.

»Nein. Ich glaube, das war eben ein Missverständnis. Zwar weiß ich nichts von einer Behinderung, allerdings habe ich sie eine ganze Weile nicht mehr getroffen.«

Ich sehe nachdenklich hinaus in den Garten, wo die Frau inzwischen am Fahrradständer ihr Rad aufschließt.

»Sollte man Rad fahren, wenn man unsicher auf den Beinen ist?«, wundere ich mich laut, immer noch misstrauisch.

Charlotte schaut ebenfalls hinaus. »Kommt vielleicht drauf an, warum man unsicher ist«, knurrt sie einlenkend.

»Und jetzt?«, frage ich.

»Und jetzt gehen wir zu Gianni Pizza essen. Ich glaube, deine Freundin Svantje hat das ganze Lokal gemietet.«

»Wer ist eigentlich auf den bescheuerten Titel der Ausstellung gekommen?«, fragt Elvira, als wir endlich beim Essen zusammensitzen.

»Wieso bescheuert?«, blafft Charlotte aggressiv. Der Altweibersommer war nämlich vor allem ihre Idee.

»Na ja, welche Frau möchte als altes Weib bezeichnet werden? Das ist immerhin ein Schimpfwort. Dachte ich zumindest.« Elvira fuchtelt mit den Händen durch die Luft, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Gut, ich bin eventuell zu jung, um das beurteilen zu können, … äh …« Sie wirft mir einen unglücklichen Blick zu. Sie scheint zu merken, dass sie gerade in einen riesigen Fettnapf getreten ist. Kunst ist wirklich nicht ihr Metier, es sei denn, sie wäre mit einem PC verbunden. ›Hilf mir‹, schreit sie ohne Worte.

»Wir haben gedacht, dass wir den Begriff umdeuten können«, versuche ich ihr zu erklären. »So, wie es Menschen mit Behinderungen gibt, die sich selbst ›Krüppel‹ nennen, versteht ihr, damit die diskriminierende Bedeutung rausgenommen wird.«

»Momang Deern, das verstehe ich nicht«, murmelt Hermann.

»Aaaalso …«, hebt Charlotte an.

Ich verdrehe die Augen. Jetzt kommt ihr Lieblingsvortrag.

Selbst schuld, ihr hättet ja einen anderen Titel wählen können.

Dass ich nicht lache! Gegen Charlottes eisernen Willen etwas durchsetzen? Eher wird Frau Wischhusens Hund Bimbo Vegetarier.

»Das ist doch ganz einfach«, stürmt Charlotte vor. »Der Altweibersommer ist eine der schönsten Jahreszeiten. Demzufolge ist ›Altes Weib‹ in dem Zusammenhang etwas Positives. Darum …«

»Ich dachte, Altweibersommer kommt von Weben und hat mit Weibern gar nichts zu tun«, unterbricht Marlies. Als Charlotte hörbar genervt aufstöhnt, winkt sie ab. »Sorry, schon gut, rede weiter.«

Ich versuche, die Situation zu beruhigen, ehe die Stimmung kippt. Wer will schon Streit nach so einer tollen Ausstellungseröffnung? »Mal langsam«, brumme ich daher und tätschele mit rechts Hermanns und mit links Marlies’ Hand. Sieht wohl ziemlich blöd aus, denn alle brüllen gleich los vor Lachen.

Svantje blickt unter den Tisch und fragt kichernd: »Was machst du mit deinen Füßen?«

»Da trete ich Elvira vors Schienbein, damit sie brav ist«, antworte ich in dem Versuch, schlagfertig zu sein.

»Ob du mich nun trittst oder nicht«, wehrt sich die Angesprochene. »Ich will es wirklich wissen.«

Hermann nickt. »Ja, bitte.«

Elvira bietet Charlotte ihre offene Hand als Versöhnungsgeste an und bittet: »Erzähl weiter, das mit dem Umkehren interessiert mich.«

Auch Charlotte hat sich gefangen. »Sorry, eine Ausstellung bringt mich stets an den Rand des Nervenzusammenbruchs, da werde ich hinterher schnell dünnhäutig«, entschuldigt sie sich. »Wie gesagt, der späte Sommer beziehungsweise der frühe Herbst ist eine der beliebtesten Zeiten im Jahr, also ist der Begriff positiv besetzt. Auf die Weise bekommt auch das alte Weib, ob es nun ursprünglich gemeint war oder nicht, eine positive Bedeutung. Weil wir Bilder von alten Frauen ausgestellt haben, wollten wir zeigen, dass der Herbst des Frauenlebens auch golden sein kann. Ich betone: kann. Ich meine, die GraueDame Einsamkeit von Dörthe stellt wirklich keinen schönen Zustand dar. Aber ein ›Altes Weib‹ sein muss nicht so negativ besetzt sein, wie es auf den ersten Blick oder besser Ton klingt. Versteht ihr?«

Svantje nickt heftig. »Ja, ja, ich weiß, was ihr meint. Wenn Frauen zu Omis gemacht werden. Damit spreche ich die traurige Tatsache an, dass alte Frauen unsichtbar für ihre Mitmenschen sind. Sie fallen aus dem Beuteschema der Männer heraus und sind darum auch für andere Frauen als vermeintliche Konkurrenz uninteressant. Ihnen weist man die Rolle der ein bisschen dümmlich dreinschauenden, meist etwas tüdeligen Omi zu. Während alte Männer im Allgemeinen als weise gelten, egal, wie verknöchert sie daherkommen mögen. Die von euch, die alt genug sind, werden das kennen.«

»Das hat auch was Entspannendes«, bemerke ich und knabbere an einem restlichen Salatblatt herum. »Ich muss nicht ständig darüber nachdenken, ob ich schön genug bin oder äh …« Unsicher sehe ich Leo an. Klar, für ihn möchte ich jederzeit die Schönste bleiben, trotzdem hat sich etwas geändert.

Leo lacht laut, tätschelt nun seinerseits meine Hand und raunt betont schmachtend: »Für mich bist du immer die Schönste, egal, wie du aussiehst.«

Allgemeines Lachen und Juchzen.

Charlotte ist immer noch nicht fertig mit dem Thema. Ich stutze. Wieso sind alte Frauen eigentlich für sie derart wichtig? Darüber habe ich trotz aller Diskussionen über das Ausstellungsthema nie nachgedacht. Sie ist zwar bereits Großmutter, aber fast zehn Jahre jünger als ich, gerade mal Mitte fünfzig. Ob sie Angst davor hat, irgendwann keine begehrte Frau mehr zu sein? Malt sie sich die Zukunft schön, weil sie insgeheim einen Altweiberwinter fürchtet? Ich schaue schnell zu ihrem Mann Gerhard hin, der sie liebevoll anlächelt. Dieser Mann steht zu ihr. Obwohl ich ihn kaum kenne, bin ich mir dieser Sache sicher.

»Mit alten Weibern verbindet man oft auch Tatkraft, eine alte Hexe zum Beispiel ist sehr mächtig. Vor so einer haben die Menschen Angst. Um mächtige Frauen abzuwerten, wird der Begriff abgewertet. Darum ging es uns auch bei der Wahl des Titels.«

»Ist das denn nach wie vor so schlimm? Wir haben doch schon einiges erreicht«, wagt nun eine von Charlottes Begleiterinnen einen kritischen Einwand.

»Es wird besser bei den jungen Frauen«, gibt Svantje zu. »Vor allem in Städten wie Bremen. Aber guck in die Zeitung oder ins Fernsehen, wo gibt es taffe, mächtige alte Frauen? Die nicht heimlich die Fäden ziehen, sondern offen und anerkannt. Für Frauen ab Fünfzig gibt es immer noch herzlich wenige interessante Rollen in Spielfilmen. Und das ist das Entscheidende: ohne dass es jedes Mal extra erwähnt werden muss und ein Etikett bekommt.«

»Nun mal halblang, Frau Kooke, wir haben Frau Merkel als Kanzlerin«, erinnert Hermann mutig. »Die zieht nicht heimlich die Strippen.«

»Haben wir«, höhnt Charlotte. »Sie muss dauernd herhalten dafür, wie emanzipiert wir doch sind. ›Ihr habt eure Kanzlerin, wollt ihr etwa mehr?‹ Oh ja, Hermann, wir wollen mehr als nur eine Alibifrau.«

Der arme Hermann guckt verlegen, solche Debatten ist er nicht gewöhnt. Er ist ein Kavalier der alten Schule, der Frauen grundsätzlich siezt und keine Scheu hat, ihnen die Tür aufzuhalten. Ich mag das, denn es kommt bei ihm von Herzen.

»Glaubt ihr, dass die Leute das kapiert haben?«, fragt Marlies nachdenklich. »Ihr setzt schon einige Drehungen im Kopf voraus.«

»Es gab ein paar kritische Anmerkungen«, räumt Charlotte ein, »aber wir haben das versucht zu erklären.«

»Aber das eben mit dem Sekt?«, widerspricht Charlottes Freundin Almut.

»Ach nee, ich glaube inzwischen auch, dass das ein Unfall war. Wie gesagt, an so einem Abend bin ich empfindlich.«

Das erklärt jedoch nicht den offensichtlichen Hass zwischen dieser Bettina und der Kuratorin, denke ich. Aber das muss im Moment erst mal außen vor bleiben. Ich merke, wie sich meine innere Anspannung löst, und ich langsam aber sicher müde werde, todmüde.

»Immerhin waren mehr als dreißig Leute da, selbst buten un binnen ist gekommen, demnach kann es nicht so abschreckend gewesen sein«, wiegele ich in der Hoffnung ab, die Diskussion damit abschließen zu können.

»Die sind doch nur wegen der Sagebier gekommen«, mischt sich erstmals Gerhard ins Gespräch ein.

»Na und? Das ist mir schietegal. Werbung ist das allemal.«

»Habt ihr schon was verkauft?«, erkundigt Svantje sich vorsichtig.

»Aber hallo!« Ich richte mich stolz auf. »Mein Ruhiger Blick aus dem Fenster ist verkauft.«

Erschöpft, wie ich bin, finde ich dennoch keinen Schlaf. Ich werfe mich von einer Seite auf die andere. Es hilft nichts, mein Erregungspegel ist immer noch viel zu hoch. Leo knurrt unwillig: »Gib Ruhe, lass mich schlafen. Ich muss morgen früh hoch.«

»Wie bitte?«, quietsche ich. »Morgen ist Sonnabend. Wo musst du hin? Was hast du denn wieder vor?«

Falsche Frage, falscher Zungenschlag, ich begreife es, ehe ich zu Ende gesprochen habe.

Leo richtet sich halb auf, zieht verärgert die Stirn zusammen und doziert mit seiner Therapeutenstimme sanft, aber bestimmt: »Dörthe, bitte, nicht in diesem Ton. Wir haben abgemacht, dass wir uns nicht rechtfertigen müssen für unser Tun und Lassen. Ich fühle mich durch dein Nachforschen verletzt. Hast du so wenig Vertrauen? Das macht mich …«

»Nun mach mal halblang«, unterbreche ich wütend. »Ich schnüffele nicht hinter dir her, ich wundere mich lediglich, wieso du morgen früh loswillst. Warum hast du vorhin nichts gesagt? Ich habe dir mitgeteilt, dass Ausstellungseröffnungen im Allgemeinen zu einer langen Nacht führen. Wieso planst du so etwas? Schließlich habe ich auch meine Wünsche. Gelten die nichts? Vielleicht hätte ich ja gerne mit dir gefrühstückt, nur mal als Beispiel. Oder klammere ich jetzt wieder?«

Stop it, Dörthe, schreit es in mir. Nicht wieder diese unselige Diskussion. Ich höre selbst, wie schrill meine Stimme wird, wie anklagend. Oh nein, wenn du Leo unbedingt aus der Wohnung treiben willst, dann so. Der Mann hat höllische Angst, eingeengt zu werden, das hast du oft genug erlebt. Halt den Mund, um Himmels Willen.

Zu spät.

Stumm, mit beleidigter Miene, steigt Leo aus dem Bett und zieht sich betont langsam an.

Wartet der Blödmann darauf, dass ich einlenke? Mal wieder ich? Wieso eigentlich immer ich?

Habe ich zu heftig reagiert? Ich raufe mir die Haare, sehe Leo wortlos bei seinem Manöver zu. Ich habe es vermasselt, mal wieder. Ich bin aufs Neue in die bekannte Falle getappt. Schuldgefühle steigen in mir hoch, schnüren mir die Kehle zu. Ich bringe kein Wort mehr heraus, sehe Leos Abgang nur hilflos zu. Dabei ist mir bei all meinem Gefühlschaos klar, dass sein Auszug diesmal endgültig sein wird.

»Tu was!«, rufe ich mir mit einem Anflug von Verzweiflung zu. Du kannst ihn zurückhalten. Gib nach, die Klügere gibt nach. Doch plötzlich kocht Wut in mir hoch. Rote, heiße Wut. Schluss, Leo, ich bin es Leid!

Ich bin keine Puppe, mit der du deine Show abziehen kannst. Ich bin Dörthe Petersen, vierundsechzig Jahre alt, anerkannte Malerin. Eine selbstständige Frau.

Nein, ich bin nicht schuld an seinem gestörten Ego. Was bildet der sich ein? Verdammt. Wieso soll ich einlenken? Diesmal nicht.

Ich habe eine völlig normale Frage gestellt. Findet er sie zu unerträglich, weil er eigentlich etwas Geheimnisvolles vorhat? Will er eine Bank überfallen oder was?

»Du solltest einen Therapeuten aufsuchen. Junge, du hast da ein Problem«, muffele ich.

»Werde nicht komisch.«

Mit diesen Worten verlässt er still und scheinbar völlig beherrscht die Wohnung. Er knallt nicht einmal die Tür zu. Nein, er ist ganz der Therapeut, der über den Dingen steht und die richtige Entscheidung zu unser aller Wohl trifft. Dabei weiß ich, dass er innerlich kocht, dazu kenne ich ihn inzwischen gut genug.

»Was bildet der Affe sich ein?«, fluche ich, traue mich jedoch meinerseits nicht, laut zu werden. Hellhörig, wie diese Häuser sind, würde ich nicht nur Hermann und Elvira aufwecken, auch Annie von nebenan hört viel zu viel von mir. Neugierig, wie sie ist, weiß morgen die ganze Straße, dass Leo und ich uns erneut gestritten haben.

Dabei war der Abend so schön. Wieso begreift der Herr Seelenversteher nicht, dass ich eingebunden werden möchte in seine Pläne? Das ist schließlich keine unzulässige Forderung.

Dörthe, du redest schon genauso verschwurbelt wie er. Sprich Klartext: Der Kerl lässt mich einfach am langen Arm verhungern. Ich soll für ihn jederzeit bereitstehen, aber er kommt und geht, wie er Bock hat. Ja, spinne ich denn?

Ich werfe mich zurück aufs Bett und starre an die Decke. Soll es das etwa gewesen sein?

War alles gelogen heute? Ich war so glücklich, ihn bei mir zu haben, den Erfolg der Ausstellung mit ihm zu teilen. Er schien sich so sehr mit mir zu freuen. Alles gelogen? Dieses »Du bist fantastisch.«, dieses: »Ich bin stolz auf dich!«

Ich kann es nicht glauben, er ist ein schlechter Schauspieler. Was ist bloß los mit dem Kerl?

Wie kann er derart stur aus der Wohnung gehen, nachts um viertel vor drei? Wegen einer unbedachten Frage?

Falls er morgen früh einfach nur hätte alleine sein wollen, hätte er weniger heftig reagiert. Der Mann hat was vor, was ich nicht wissen soll. Mein Misstrauen ist berechtigt. Ich nicke mir zu, anders ist sein Verhalten nicht zu erklären.

Jetzt wird er zu Hause auf seinen Klangschalen herumhämmern und auf Entspannung hoffen. Manchmal denke ich, ein Sandsack wäre hilfreicher.

Irgendwann heule ich mich in den Schlaf.

Ich sitze im Theater. Auf der Bühne tanzen lauter splitternackte uralte Frauen herum, begießen sich mit Sekt und kreischen unflätiges Zeug. Das sind Hexen, denn sie schämen sich nicht. Jedes Kind weiß, dass man daran Hexen erkennt. Wie können sie es wagen, sich vor aller Welt derart aufzuführen? Ich springe von meinem Sitz hoch und schreie: »Versteckt euch, buten un binnen ist da und filmt euch! Heimlich müsst ihr wirken, heimlich!«