Frau Friese und die finstere Verwandtschaft - Martha Bull - E-Book

Frau Friese und die finstere Verwandtschaft E-Book

Martha Bull

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Beschreibung

Waltraud Friese, Rentnerin aus dem Bremer Peterswerder, erlebt unerwarteten Familienzuwachs: Eines Tages meldet sich ihre jüngere Halbschwester bei ihr, von deren Existenz sie bislang nichts ahnte. Sieglinde, in der ehemaligen DDR aufgewachsen, konfrontiert Frau Friese mit Umständen ihrer Familiengeschichte, die unbekannt waren und bis in die Jahre des Zweiten Weltkrieges zurückreichen. Darüber hinaus treiben organisierte Verbrecherbanden im Peterswerder ihr Unwesen, um mit dem ›Enkel-Trick‹ ahnungslosen älteren Menschen das Geld abzunehmen. Auch sie selbst und ihre Freundinnen geraten dabei ins Visier. Doch Frau Friese nimmt mit dem ihr eigenen Spürsinn und der gewohnten Rüstigkeit diese Herausforderung an und beweist, dass sie auf keinen Fall zum ›Alten Eisen‹ gehört. Als ein Mord in der Braunschweiger Straße erfolgt, muss Frau Friese alles riskieren, um ihre Nachbarschaft und sich selbst zu schützen. Wird es erneut ein Happy End für Frau Friese geben?

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Martha Bull

Frau Friese und die finstere Verwandtschaft

Band 4

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 2016 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 BremenTel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat & Satz: KellnerVerlag

Umschlag: Designbüro Möhlenkamp & Schuldtunter Verwendung zweier Fotos von Rainer Sturm, pixelio.de

ISBN 978-3-95651-100-4

Die Autorin

Martha Bull wurde 1949 in Bonn geboren, hat dort auch ihr Abitur gemacht. Nach dem Studium der Fächer Geschichte, Politik und Deutsch für das Lehramt in Bonn und Marburg schloss sie in Berlin ihr Referendariat ab. Seit 1979 lebt sie in Bremen. Hier hat sie lange in der Erwachsenen-bildung gearbeitet, unter anderem in einer freien Modellschule. Seit 1997 ist sie in der Kinderbibliothek im Viertel beschäftigt. Dort arbeitet sie auch über ihren Renteneintritt 2015 hinaus.

Veröffentlichungen:

• Hanseatisch cool – Beitrag in: Witte, Katharina (Hg.): Jetzt kommse übern Deich – 20 Jahre Bremer Karneval, Edition Temmen 2005

• Die Videobotschaft, Langlhofer Verlag 2007, ISBN 978-3-938487-24-2

• Frau Friese und der Fenstersturz, Edition Temmen 2013

• Frau Friese und das Bunkergrab, Edition Temmen 2014

• Frau Friese und die tödliche Einladung,KellnerVerlag 2015

• Frau Friese und die finstere Verwandtschaft,KellnerVerlag 2016

1.

So, Kartoffeln sind aufgesetzt, jetzt noch …

Ring, Ring

Oh, Telefon. Wer ruft denn jetzt an? Rita vielleicht? Muss sie unser Kaffeetrinken absagen? Das wäre schade.

Nein, Waltraud, spinn nicht rum, wir haben uns gerade erst verabredet. Sicherlich wieder irgendwelche Werbeleute, die etwas verkaufen wollen. Oder jemand fragt mir ein Loch in den Bauch nach Sachen, die mich überhaupt nicht interessieren. Wie sie wohl immer an meine Telefonnummer kommen?

Rätsel nicht rum, Waltraud, nimm einfach den Hörer ab. Dann weißt du, wer dran ist.

Ring, Ring

Ja, ja, ich komme ja schon, ist ja gut.

»Friese.«

»Hallo, Waltraud, bist du es? Schön dass ich dich sofort erreiche«, schnurrt mir da eine Männerstimme ins Ohr.

Wer ist das? Kommt mir nicht bekannt vor. »Wer sind Sie?«, frage ich misstrauisch.

»Hallo, Waltraud, seid wann sind wir per Sie? Erkennst du meine Stimme nicht?«

Er lacht herzlich. Angenehme Stimme, er spricht mit einem leichten Singsang, wie Frau Ahrens aus dem dritten Stock, die kommt aus Mainz. Ob er wegen ihr anruft?

»Wollen Sie Frau Ahrens sprechen?«, frage ich.

Blödsinn, Waltraud, dann hätte er oben angerufen, du bist manchmal zu tüdelig. Darf ich sein als alte Frau. Das ist das Vorrecht des Alters.

»Nein, nein, Waltraud, dich will ich sprechen, aber gut, dass du Frau Ahrens erwähnst. Sie hat mir ja deine Nummer gegeben, die hatte ich nämlich verloren. Ich bin umgezogen, erinnerst du dich nicht?«

Wovon redet dieser Mensch? Woher kennt der mich? Wieso stellt er sich nicht vor? Gehört sich nicht, einfach so loszureden, ohne seinen Namen zu nennen. Selbst, wenn wir uns schon mal begegnet sind. Junge Leute, die haben alle kein Benehmen mehr.

»Ich kenne Sie nicht, wer sind Sie?«

»Ach, Waltraud, bist du inzwischen so zerstreut? Ich bin dein Enkel. Wir haben uns eine Weile nicht gesehen, ich gebe zu, das war nicht nett von mir«, schwatzt er weiter, schmeichelt mir etwas ins Ohr. Ich höre nur noch halb zu.

Enkel? Wieso Enkel? Ich habe gar keine Kinder. Wie kann ich da Enkel haben?

Der einzige, der mir einfällt, ist der kleine Hugo von schräg gegenüber. »Schokoladenenkel«, sage ich heimlich zu ihm, weil er rabenschwarz ist. Allerdings ist er kein richtiger Enkel. Da gehe ich manchmal zum Babysitten hin. Für ihn bin ich die »Bagga-Oma«. Kommt von Bagger, das kann er noch nicht aussprechen, er ist ’n kleiner Pöks. Beinahe lache ich laut auf, stelle mir Hugo am Telefon vor. Inzwischen plaudert dieser Mensch munter weiter.

»Hugo, genau der bin ich, Oma. Na endlich, nun hast du mich erkannt«, frohlockt er jetzt. Habe ich etwa laut gedacht?

Waltraud, Waltraud, pass man auf, sonst landest du noch in Bremen-Ost.

Da schrecke ich auf, höre wieder richtig zu. Was sagt der da? 50.000 Euro? Wie 50.000 Euro? Wofür? Die soll ich ihm geben? Ja, spinnt der denn? Für wen hält der mich? Ob er doch Frau Ahrens meint?

Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Das ist so ein Betrüger, der den sogenannten »Enkeltrick« bei mir probieren will. So ein Verbrecher, der alte Leute um sein Geld bringen will. Na warte, du Mistkerl!

Da zischt es aus der Küche. Liebe Güte, die Kartoffeln! Warum habe ich immer noch kein schnurloses Telefon? Ich muss das Gas runterdrehen!

»Wann kann ich meinen Freund vorbeischicken, Oma, hörst du mich?«, fragt der Kerl gerade.

»Gar nicht! Und Oma-en Sie mich gefälligst nicht! Impertinente Person!«, fauche ich, knalle den Hörer auf und haste in die Küche.

Oje, das Wasser sprudelt aus dem Topf auf den Herd. Gas runter, Puh. Nichts ist angebrannt, Glück gehabt.

Einen Moment stehe ich vor meinem Herd und weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. In meinem Kopf ist nur Watte. Da klappert etwas. Verwirrt sehe ich auf meine Hände, die unbewusst nach dem Schälmesser gegriffen haben. Das Messer schlägt gegen den Küchentisch, weil meine Hände so zittern. Wie kalt mir plötzlich wird.

Setz dich hin, sonst fällst du noch um.

Ich plumpse auf den Küchenstuhl, starre auf den Topf, ohne etwas zu sehen. Was war das eben? Muss ich die Polizei anrufen? War das mit Sicherheit ein Fremder? Dieser freundliche Mensch?

Ich atme langsam aus, fühle wieder etwas Leben in meinen Körper strömen. Ich spüre, wie fest meine Hand den Messergriff umklammert. Mühsam löse ich die verkrampften Finger.

Einen Enkel, denke ich plötzlich wehmütig. Einer mit so einer liebenswerten Stimme. Einer, der anruft, ›»Hallo Waltraud, wie schön!« sagt und es auch so meint. Einer, der hilft, wenn ich ihn brauche, einer … Ich fange an, mich wegzuträumen.

Da knallt die Haustür zu. Ich schrecke hoch. Ist das Angelika Ahrens, die von der Arbeit kommt?

Oh ja, schon so spät.

Enkel, Waltraud, was heulst du? Dieser Kerl am Telefon war einer, der alte Leute abzockt und betrügt mit seiner ach so freundlichen Samtstimme. Spinnst du? Du wolltest nie Kinder, also weine nun nicht einem Traum von Enkeln nach. Wo sind denn bei deinen Freundinnen die ständig hilfsbereiten Enkelkinder? Bei Rita? Fehlanzeige. Bei Ilse? Keine Ahnung. Bei Elsbeth? Hat die überhaupt Kinder? Lebt doch mit einer Frau zusammen, wie soll das gehen? Ihre Sache, Waltraud. Also bleib auf dem Teppich. Setz endlich das Gemüse auf, sonst hast du matschige Kartoffeln, und das Gemüse ist noch hart. Oder du bist noch beim Mittagessen, wenn Rita nachher zum Kaffeekränzchen kommt.

2.

»Wie? Natürlich war der freundlich, Waltraud«, bemerkt Rita irritiert, rührt den Zucker in den Kaffee. »Der wollte schließlich was von dir, soll er dich da anschnauzen? Verstehst du, wie ich das meine?«

Wie sie da auf meinem Sofa sitzt, adrett mit Blümchenbluse und Faltenrock, die weißen Löckchen frisch aufgedreht, ist sie ein einziges Fragezeichen. Sieht mich an, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte.

Jetzt hält sie inne, hebt den Löffel.»Was hast du denn erwartet?«, schiebt sie nach. »Geld her oder Leben? So etwas?« Jetzt lacht sie fröhlich, zielt mit dem Zeigefinger wie mit einer Pistole auf mich. »Am Telefon, Waltraud? Jaha, wenn der vor der Tür gestanden hätte, dann eventuell, könnte ich mir zumindest denken, weißt du?«

Ich nicke verstört. »Das weiß ich alles, Rita, trotz-dem. Wie soll ich es erklären? Da liest man ständig in der Zeitung von Enkeltrick-Verbrechern, nur, wenn es einen selbst trifft, ist man völlig überrumpelt.« Ich fuchtele mit der Gabel herum. Prompt fällt mir ein Stück Kuchen auf den Boden. Hexe, Ritas kleiner Hund, hebt neugierig den Kopf von den Pfoten. Schnell schnappt er sich den Brocken, guckt mich erwartungsvoll an. Gibt es mehr?

»Platz, Hexe!« Rita benutzt ihre Befehlsstimme, es funktioniert.

»Ich habe es mir manchmal ausgemalt, Rita, wenn ich davon gelesen habe, wie ich reagieren würde. Ich wollte diese Gangster einladen, sich das Geld abzuholen, dann schnell die Polizei rufen, damit die diesem Unwesen ein Ende bereiten. Doch der hat mich richtig eingelullt, so ein Charmeur, weißt du. Da habe ich einfach nicht schnell genug geschaltet.«

»Ja, ja, würde und hätte und könnte«, unterbricht mich Rita heftig. »Ich bin froh, dass du einen solchen Unsinn gar nicht versucht hast, wenn ich das mal so sagen darf. Stell dir vor, die Polizei würde zu spät kommen, oder dieser Kerl wäre bewaffnet. Hast du in letzter Zeit nicht genug Ärger mit Verbrechern gehabt, Waltraud, dass du dir welche herbeiwünschen musst?«

Ich schlucke schwer. Schaudernd ziehe ich die Schultern hoch, sehe mich in meinem Zimmer um. Vor ein paar Wochen erst wäre ich hier beinahe ums Leben gekommen, weil ich zu vertrauensselig war.

»Ich habe ja aufgelegt«, beschwichtige ich Rita. »Bestimmt ruft dieser Mensch aus Polen oder München an oder von wo auch immer, der muss nicht in Bremen sein. Der wird jetzt niemanden mehr hier in die Braunschweiger Straße schicken.«

Wen beruhige ich eigentlich, Rita oder mich?

Meine Freundin nickt kauend. »Dir wird er nichts tun, das haben die gar nicht nötig. Der versucht es einfach bei anderen alten Leuten. Schlimm genug, aber die finden leider immer wen.« Sie ereifert sich, kriegt richtig rote Wangen. »Manchmal wünsche ich mir die Zeiten zurück, als es einen Pranger gab. Da müsste man diese Schweine hinstellen, mitten auf den Marktplatz, und wir holen uns vom Markt die faulen Tomaten und bewerfen sie damit – das wäre was, kannst du dir das vorstellen, Waltraud? Da würde sogar ich mit meinen steifen Armen noch mitwerfen. Diese Schweinehunde machen mich rasend vor Wut. Alte, hilflose Menschen abzocken, die sich ihr Leben lang abgerackert haben, verstehst du, wie ich das meine?«

He, Frau Gebhard! So aufgebracht habe ich sie selten erlebt. Hexe springt irritiert auf und bellt wütend.

»Ruhe, Hund«, blafft sie, immer noch erregt. Das arme Tier verzieht sich winselnd unter den Tisch. Da stutzt Rita, bückt sich kurz und krault Hexe hinterm Ohr.

»Entschuldige, es regt mich einfach auf, verstehst du?« Sie atmet laut aus.

Zeit für unser übliches Glas Grappa, das seit unserer ersten Begegnung bei keinem Kaffeekränzchen fehlen darf. Ist eine Art Ritual geworden. Normalerweise bleibt es bei einem, wir wissen uns zu mäßigen.

»Hast du wenigstens die Polizei angerufen?«, fragt sie nach dem ersten Schluck, nun etwas ruhiger.

»Ich habe darüber nachgedacht, aber es ist nichts passiert, ich habe immerhin aufgelegt. Wozu die Polizei?«

»Ich weiß nicht, Waltraud, ich dachte nur, die sollten besser wissen, dass diese Gangster hier herumschleichen.«

Unwillkürlich schaue ich aus dem Fenster, als ob da ein angeblicher Enkel stehen würde, bereit, mich zu überfallen. Ich bin ein bisschen schreckhaft geworden nach den Erlebnissen der letzten Monate. Ich kann es immer noch nicht fassen, wie schnell aus freundlichen Nachbarn wie Frau Petersen anonyme Drohbriefschreiber und miese Verleumder wurden.

Lass es, Waltraud, es ist vorbei.

Rita unterbricht mein Grübeln.

»Man gut, Waltraud, dass du keine Kinder hast. Du wärst dem glatt auf den Leim gegangen, wie ich das so sehe. Verstehe ich eigentlich nicht, du bist doch eine plietsche Frau. Was ist los mit dir?«

»Ich verrate nie meine Kontonummer am Telefon«, erkläre ich leicht eingeschnappt. Was denkt sie von mir?

»Na, irgendwie hat er’s dir angetan«, widerspricht Rita. Plötzlich grinst sie. »Dabei dachte ich, Otto Holthusen hätte ein Auge auf dich geworfen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Och, der«, brummele ich verlegen, aber dann stimme ich in Ritas Gelächter ein.

»Lass man, Waltraud, der ist nicht verkehrt, du weißt, wie ich das meine. Den täte ich auch noch nehmen, galant, wie er ist. Leider bist du ja seine ›Deern‹, da habe ich keine Chance.«

Es stimmt, dass Otto Holthusen mir ein klitzekleines bisschen Avancen gemacht hat. Ist ein richtiger Herr, zuvorkommend und liebenswürdig, ein bisschen alt mit seinen 84. Eigentlich hatte ich mir nach der trostlosen Ehe mit Hans-Georg geschworen, dass mir kein Mann mehr über die Schwelle kommt.

Nun mal langsam, Waltraud, ein gemeinsames Tässchen Kaffee ist noch kein Eheversprechen. Verflixt, werde ich etwa rot?

Rita kichert immer noch wie ein Schulmädchen beim ersten Flirt. »Warum nicht?«, werfe ich da schnippisch ein. »Ich bin seit 13 Jahren verwitwet. Außerdem ist da nichts zwischen uns, gar nichts.«

Wütend breche ich ein zu großes Stück Kuchen ab, verschlucke mich fast, bekomme einen Hustenanfall. Diese Rita mit ihren Andeutungen. Also wirklich.

Deren Gedanken sind inzwischen offenbar andere Wege gegangen.

»Weißt du«, beginnt sie zögernd, »du könntest unter Umständen doch Enkel haben. Oder sollte ich sagen Halbenkel? Nein, stimmt genauso wenig. Ach egal, also, was ich meine, woher weißt du, dass Hans-Georg dir immer treu war? Es ist immerhin möglich, also nur theoretisch natürlich, verstehst du, also ich wollte sagen …«

Rita bricht ab, weil ich vor Lachen wieder losplatze. »Hans-Georg?«, schnaufe ich. »Einen Seitensprung? Nee, Rita. Ich kann mir keine andere Frau vorstellen, die so blöde wäre, auf diesen Langweiler hereinzufallen. Außerdem war der viel zu geizig für eine Geliebte.«

3.

Regen, Regen, Regen. Morgen gehen die Tiere paarweise. Ich seufze, schleppe mich müde vom Mini-Shop nach Hause. Mein Arm mit der Tasche wird länger von Schritt zu Schritt. Und wegen diesem dämlichen Schirm kann ich so schlecht die Hand wechseln. Dabei habe ich gar nicht so viel eingekauft. Sicherlich die Milch. Was soll ich eigentlich mit einem Liter? Schütte ich doch die Hälfte immer weg. Nur, kleine Mengen gibt es schon ewig nicht mehr. Frechheit. Ob ich meinen Kaffee mal schwarz trinke?

»Schaff dir so einen Hackenporsche an, wie ich einen habe«, hat Rita mir letzten Herbst vorgeschlagen. »Dass du so eitel bist, Waltraud. Das ist mir einerlei, wie ich aussehe, solange ich mir damit eine Erleichterung verschaffen kann, verstehst du?«

»Ist mir zu unpraktisch auf den schmalen Fußwegen hier im Peterswerder, steht man ständig wem im Weg«, habe ich geantwortet. »Dazu noch Gottfried an der Leine, meistens nehme ich ja den Hund mit.«

Dabei hat Rita auch einen Hund. Darum geht es eigentlich gar nicht, mit so einem Gefährt würde ich zugeben, dass ich alt bin.

Nun, Waltraud, 74 ist nicht gerade frisch geschlüpft. Nur, es beleidigt mein Selbstwertgefühl, dass ich so vieles nicht mehr kann. Natürlich weiß ich, dass das normal ist. Wer will denn alt werden? Zumindest bei so einer ekligen nassen Kälte? Die kriecht einem bis auf die Knochen, aua, jede Bewegung ziept und reißt.

Mürrisch biege ich in die Braunschweiger Straße ein.

Lass gut sein, Waltraud. Komm, die paar Meter schaffst du auch noch. Da – hoppla – reißt mir eine Bö fast den Schirm aus der Hand. Er klappt um, und im Nu stehe ich im strömenden Guss. Oh nein, und das, wo ich gestern erst beim Frisör war. Da ist die schöne Frisur gleich wieder hin. Was ist nur los heute? Ich stelle die Tasche ab und versuche, den Schirm wieder zurechtzubiegen. Ich kann gar nicht aufhören, herumzuschimpfen, muss wohl mit dem falschen Bein aufgestanden sein.

Vielleicht vermisst du den Hund, Waltraud. So lästig das ist mit so einem Tier, jeden Tag rausgehen, auch bei Sintfluten wie heute. Dazu all die Dosen Hundefutter, wäre die Tasche noch schwerer. Trotzdem, Gottfried fehlt mir. Ich hatte mich daran gewöhnt, ihn nach dem Tod meiner Freundin Grete Tietjen bei mir zu haben. Immer war er um mich, so ein liebes Tier war das. Gab mir das gute Gefühl, gebraucht zu werden. Aber dann, brr, ich mag nicht daran denken, der tapfere kleine Kerl hat mir das Leben gerettet. Klingt wie aus einem Groschenroman, aber so war es doch. Ob ich mir wieder einen zulegen soll? Schaffe ich das noch? Oder bin ich selbst dazu zu alt?

»Verdammt, verdammt«, schimpfe ich laut, sollen mich ruhig alle hören.

Wer soll dich hören, Waltraud, hier ist kein Mensch auf der Straße bei dem Schietwetter. Unsicher schaue ich mich um. Guck da, Jamal steht am Fenster, Hugo auf dem Arm, und winkt freundlich zu mir heraus. Seine weißen Zähne blitzen in dem schwarzen Gesicht.

Nimm dir ein Beispiel, Waltraud. Der hat Schlimmeres erlebt als du, musste fliehen aus seiner Heimat Uganda oder so, dabei bleibt er immer fröhlich.

Ich quäle mir ein Lächeln ab und winke zurück, aber als Hugo seine Patschhändchen hebt und lacht, da wird ein echtes Lächeln draus. Na bitte, Waltraud, geht doch.

Ich will gerade meine Tasche aufheben, da kommt vorne bei Baumanns einer aus dem Haus gestürmt. Er läuft gerade auf mich zu, ein junger Mann mit Kapuzenpullover und Lederjacke. Hat der es aber eilig. Will bestimmt ins Trockene.

»Festhalten«, schreit eine zittrige Männerstimme. In der Tür erscheint der alte Baumann. »Festhalten«, kreischt er wieder. »Ein Dieb! Ein Dieb! Hilfe! Polizei!«

Erschrocken starre ich dem Jungen entgegen. Ein Dieb? Festhalten? Den? Wie soll ich das denn machen? Jetzt spurtet er mir entgegen. Nimmt den ganzen Fußweg ein. Will der mich umrennen? Ist hier viel zu schmal für zwei, wo überall Autos parken und am Gartenzaun die Fahrräder. Wohin soll ich ausweichen?

Da ist er schon! Stößt mich mit brutaler Gewalt gegen das Auto, aua! – will vorbei. Dabei stolpert er über meine Tasche, die noch mitten auf dem Bürgersteig steht, stürzt der Länge nach hin. Ich taumele gegen das Blech, versuche, mein Gleichgewicht zu halten. Dabei fuhrwerke ich mit dem Schirm durch die Luft.

Stütz dich ab, Waltraud, nicht, dass du fällst! Verzweifelt stoße ich den Schirm gegen den Boden, treffe dabei den Kopf des Mannes, der sich gerade wieder aufrappeln will. Da ist plötzlich Jamal über ihm – wo kommt der so schnell her? –, wirft sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Burschen. Der will sich befreien. Hilfe, das kann nicht gutgehen. Es gelingt mir, ein paar Schritte weiterzuhasten, den wilden Tritten und Schlägen der Kämpfenden auszuweichen. Immer noch schreit Herr Baumann um Hilfe.

Waltraud, dein Handy, das hat eine Nottaste zur Polizei, nun mach endlich. Wie lange kann Jamal den Kerl festhalten?

Plötzlich ist die Straße nicht mehr leer. Aus mehreren Häusern stürzen jetzt Menschen. Mit vereinten Kräften gelingt es ihnen, den Fremden festzuhalten. Er blutet aus der Nase. Muss sich beim Sturz verletzt haben. Oder Jamal hat ihm eine verpasst. Junge, ist der wütend. Was habe ich eben gesagt, immer fröhlich?

»Lassen Sie mich los!«, presst der Mann hervor. »Ich habe nichts getan.«

»Warum rennen Sie dann weg?«, fragt Herr Petersen höhnisch.

Herr Baumann trippelt hastig näher, den Regen scheint er nicht zu spüren. Er trägt Hausschuhe, braunkarierte Hauschuhe, wie mein Vater sie immer trug.

Waltraud, im Ernst, geht es dich etwas an? Der arme Mann. Sollte er sich erst umziehen, ehe er um Hilfe ruft? Spontan halte ich ihm meinen Schirm über den Kopf. Ich habe nicht den Eindruck, dass er das mitbekommt. Er zittert am ganzen Leib, bestimmt nicht vor Kälte oder Nässe, wette ich.

»Das ist ein Dieb!«, stammelt er mit vor Aufregung piepsender Stimme. »Er hat meine Frau angelogen. Dass er ihr Enkel sei. Geld solle sie ihm geben. Mein Gott, Ursula ist ein bisschen … naja, da hat sie alles abgehoben. 60.000 Euro. Ich kam gerade dazu, als sie es ihm gab. Wenn sie nur vorher mit mir darüber gesprochen hätte. Schrecklich. Unsere ganzen Erspar-nisse.«

Ach nee, denke ich.

»Das ist gelogen«, erklärt der Dieb ungerührt. »Ich habe niemandem gesagt, dass ich ein Enkel bin.«

»Bei mir wollten sie 50.000«, platze ich raus. »Da habe ich aufgelegt.«

Der junge Bursche wirft mir einen kalten Blick zu. Abschätzend.

Vorsicht, hättest du mal besser den Mund gehalten. Dem möchte ich nicht wieder begegnen. Waltraud, Waltraud. Du lernst es nie.

Die Polizisten kommen endlich angebraust, hören sich Baumanns Geschichte nur kurz an. Sie wollen sicherlich schnell wieder raus aus dem Regen. Sie notieren sich Jamals und meine Adresse.

»Die Kollegen von der Kriminalpolizei benötigen noch Ihre Aussage. Sie werden sich bald bei Ihnen melden.«

Mit diesen Worten ziehen die Polizisten wieder ab, den Mann nehmen sie mit. Hoffentlich halten sie ihn schön lange fest. Unheimlich ist er mir.

Ich fröstele, bin inzwischen völlig durchgeweicht, will nur nach Hause, etwas Heißes trinken. Jamal kommt mir zuvor.

»Frau Friese, Sie sind ganz nass. Kommen Sie, wir haben Tee fertig. Wärmen Sie sich auf. Oh! Haben Sie sich verletzt?« Er weist auf meine Hand.

Herrje, ich blute! Das habe ich gar nicht bemerkt.

»Sie brauchen ein Pflaster«, bestimmt Jamal energisch.

Ehe ich widersprechen kann, hat er meine schwere Tasche aufgehoben, trägt sie ins Haus und schiebt mich mit höflicher Geste hinein. Lisa steht auf der Schwelle, die Arme in die Seiten gestemmt. Hugo lugt mit ängstlich aufgerissenen Augen – halb hinter Mamas Rücken versteckt – auf seinen Vater. Der sieht wirklich abenteuerlich aus, tropfnass und verdreckt.

»Junge, Junge, Jamal, hast du dich geprügelt? Ärger mit der Polizei?«, fragt seine Frau unwirsch, sieht kritisch an ihm rauf und runter.

»Klar. Sollte er weglaufen? Mit allem Geld von Baumanns?«, antwortet er nun ebenfalls etwas verärgert. Och, Ehestreit, da gehöre ich nicht hin, ich will nach Hause. Verpflastern kann ich mich selbst.

»Geld? Was war denn eigentlich los?«, murrt Lisa.

»Frau Friese braucht ein Pflaster«, unterbricht Jamal und hebt vorsichtig meine verletzte Hand.

»Na, na«, murmele ich verlegen. »Ist bloß eine Schürfwunde.« Erst jetzt spüre ich den brennenden Schmerz. Auf dem Handrücken ist die Haut aufgeplatzt. Bin wohl gegen das Autoblech geknallt.

»Oje, sorry, Frau Friese. Kommen Sie erst mal ins Bad, ich kümmere mich drum. Und um etwas Trockenes zum Überziehen. Ich habe Tee gemacht, den brauchen Sie jetzt; am besten mit ’nem kleinen Schuss, sonst liegen Sie morgen auf der Nase.« Sie wendet sich zu Jamal, lächelt ein bisschen verlegen. »Und dann erzählst du mal, was los war. Ich, äh, ach Mist, ich habe mir Sorgen gemacht, Jamal.«

»Ich muss erst umziehen«, wehrt Jamal jede weitere Diskussion ab, verschwindet schnell in einem Zimmer.

Lisa seufzt. »Oha«, murmelt sie. »Wenn er sein Deutsch verlernt, ist er wütend. Ob ich ihn erst mal in Ruhe lasse?« Unentschlossen legt sie die Hand auf die Türklinke, runzelt die Stirn, weiß wohl nicht, ob sie ihren Mann jetzt alleine lassen soll. Sie reißt sich los, schüttelt den Kopf. »Sie sind dran, Frau Friese.«

Hugo zieht an meinem Mantel und ruft: »Bagga-Oma, komm. Hugo muss was seigen. Komm, Oma.« Seigen? Oh, er will mir etwas zeigen.

»Erst ein Pflaster für Oma Friese«, bestimmt Lisa. »So lange wartest du.«

Der Junge schiebt die Unterlippe vor, gleich heult er los, denke ich. Dann sieht er meine kaputte Hand. »Aua!«, ruft er. »Bagga-Oma has du Aua.« Und dann streichelt er tatsächlich meinen Arm. Ach nee, der kleine Pöks, nich doch, kommen mir ja die Tränen.

»Gleich, mein Kleiner, ich bin ganz nass, muss erst mal den Mantel ausziehen. Ich komme gleich, mein Kleiner.« Das ist ganz gut, da können die beiden sich aussprechen, denn irgendetwas steht da zwischen ihnen, das ist nicht zu übersehen.

Zum Glück ist ein Haushalt mit Kleinkind bestens für Platzwunden gerüstet, und so sitze ich wenig später in Jamals dicke Fleece-Jacke gehüllt in Hugos Zimmer. Mmm, ist die kuschelig warm, die Jacke! Ich streiche sanft über den Stoff. So eine sollte ich mir auch mal kaufen. Ilse trägt oft solche Sachen, fällt mir ein. Jetzt fordert Hugo meine ganze Aufmerksamkeit. Ich muss sein neues Bilderbuch bestaunen und natürlich vorlesen. Häschen Karlchen geht einkaufen. Viele Seiten sind es nicht, Hugo kennt sie in- und auswendig. Wehe, ich mache zu schnell oder überspringe etwas.

Kaum sind wir fertig, ruft er: »Nochmaal! Noch-maal!«

Lisa erscheint in der Tür, wirkt entspannter, die bei-den haben sich wohl wieder vertragen. »So, Hugo, nun muss Frau Friese mal eine Pause machen und einen Tee trinken.«

Aber Ruhe ist uns nicht vergönnt. Kaum habe ich den ersten Schluck genommen, klingelt es. Zwei Kriminal-beamte bitten um unseren Bericht.

Ach, den einen kenne ich, wie hieß der noch? Seidelbast? Seidelmeier? Ach ja, Seidelmann. Der hat den Fall mit dem Fenstersturz bearbeitet. Das ist jetzt ein gutes Jahr her. Ein Jahr! Damals habe ich Grete Tietjen kennen gelernt. Wie schnell wir Freundinnen geworden sind. Dabei war ich damals so gehemmt, verstehe ich heute gar nicht mehr. Es blieb nicht aus, dass wir uns nähergekommen sind, wo ich jeden Tag mit ihrem Hund Gottfried Gassigehen musste. Nein, nicht musste, ich habe das gerne gemacht, wollte immer einen Hund, und Grete war so schlecht zu Fuß. Einen Rollator wollte sie sich lange nicht zulegen, fühlte sich noch nicht alt genug dazu. Mit 93.

Ich muss an Ritas »Hackenporsche« denken, wie sie das Ding nennt, – wie heißt das eigentlich richtig, Waltraud? Ist das nun wichtig? – und meinen Widerstand dagegen und werde ein bisschen rot so für mich alleine.

Ach, Grete, ich vermisse dich so. Jeden Tag denke ich an dich, kann noch immer nur mit Mühe an deinem Häuschen vorbeigehen, wenn ich auf dem Weg zur Weser bin.

Da wohnt nun Frau Schneider drin, die ist ausgezogen bei uns aus dem Zweiten, hat sich von ihrem Mann getrennt. Ob der wohl wohnen bleiben wird? Man sieht ihn nie im Haus. War wohl der Grund für die Trennung – was will man mit einem Mann, der nie zu Hause ist?

Grete, warum hast du damals nicht bei Karin Groote angerufen, als du dich krank fühltest? Die ist Ärztin. Kannst doch nicht einfach so tot sein. Nee aber auch. Ich seufze. Da ist es mit einem Mal still im Raum. Ich sehe auf. Alle gucken mich an.

Oh, Waltraud, du träumst hier rum, und die Polizei will mit dir reden. Ausgerechnet dieser Seidelheini, der hat dich bereits damals für senil gehalten, nur weil du alt bist. Jetzt konzentriere ich mich besser.

»Frau Friese«, schreit dieser Seidelmensch. Warum schreit er so, bin schließlich nicht taub. Er setzt sein »Ich-muss-Geduld-haben«-Gesicht auf. »Schildern Sie bitte Ihre Begegnung mit dem des Diebstahls Verdäch-tigten.« Liebe Güte, redet der geschraubt.

Waltraud, lass das.

Ich erzähle, berichte nun auch von dem Betrugs-versuch bei mir, kann wenig zu dem Anrufer sagen. Nur widerwillig gebe ich zu, dass ich ihn sympathisch fand, seine Stimme und alles. Auch wenn er sich nicht vorgestellt hat. Der jüngere Beamte beruhigt mich.

»Frau Friese, diese Menschen sind bestens geschult, die reagieren auf jeden Hinweis und wickeln Sie ein. Warum, glauben Sie, dass so viele vor allem einsame Senioren darauf hereinfallen? Sie haben richtig gehandelt. Nur, beim nächsten Mal informieren Sie uns bitte. Wie Sie jetzt sehen, versuchen die Täter es gerne mehrmals im gleichen Stadtteil. Das entspricht unseren Erfahrungen. Da hätten wir warnen können.«

Ich denke über seine Worte nach. Bin ich einsam? Habe ich mich darum so einlullen lassen? Aber das stimmt gar nicht mehr, ich habe in den letzten Monaten so viele neue Freundschaften geschlossen. Wozu brauche ich Enkel?

4.

Jamal ist an der Reihe, das Kind ins Bett zu bringen. Lisa lässt es sich nicht nehmen, mir meine Einkäufe bis in die Wohnung zu tragen.

»Hatten Sie Streit?«, frage ich vorsichtig, während ich um die riesigen Pfützen herumeiere. Fehlt noch, dass ich mir wieder nasse Füße hole, bin gerade so schön trocken geworden. »Jamal hat es bestimmt gut gemeint.«

»Ich weiß, Frau Friese. Nur, als ich die Polizei sah, habe ich das Schlimmste befürchtet.« Sie zuckt die Achseln. »Afrikaner und Polizei, das geht oft nicht gut zusammen, da gibt es Vorurteile auf beiden Seiten. Dazu kommt, äh …«, sie zögert, spricht leise weiter. »Jamal kann unter bestimmten Umständen völlig ausrasten. Er verliert total die Kontrolle und schlägt blind zu.«

Ungläubig sehe ich sie an. Der sanfte Jamal?

»Ja, ja, das glaubt mir niemand. Normalerweise ist er eine Seele von Mensch. Wie ich sage, unter Umständen.«

Wir sind in meiner Küche angelangt. Lisa beginnt, meine Tasche auszupacken. »Das müssen Sie nicht«, will ich abwehren, aber sie scheint gar nicht zu merken, was sie tut. Ihr Blick ist in eine weite Ferne gerichtet.

»Jamal ist als Jugendlicher aus dem Kongo nach Deutschland gekommen. Alleine. Da war er 14 oder 15. Seine Eltern wurden bei Kämpfen verschiedener Milizen ermordet. Wenn er volljährig gewesen wäre, hätte man ihn schnell wieder abgeschoben. Er fiel immer wieder durch Gewalttätigkeiten auf. Dann hat er sich gefangen, sogar eine Lehre gemacht. Aber es sitzt ganz tief in ihm. Manchmal fürchte ich, er ist wie ein ruhender Vulkan.«

»Haben Sie Angst, dass er Ihnen etwas antun wird? Oder dem Kind?«, frage ich verstört.

»Nein, nein, das ist undenkbar. Aber wehe, jemand anderes würde mich oder Hugo bedrohen. Dann gnade dem Gott.«

Mir läuft es kalt den Rücken runter. Das ist also auch Jamal, denke ich erschüttert.

»Ich kenne ihn seit fast acht Jahren, Frau Friese. In all der Zeit ist nie etwas geschehen. Trotzdem, sein Blick vorhin, sein plötzlich hundsmiserables Deutsch, es hat mich erschreckt.« Sie atmet tief durch. »Ihnen, Frau Friese, wird er nie etwas zuleide tun, niemals. Sie gehören für ihn zur Familie. Seit Hugo Sie zur Oma erklärt hat, hat Jamal Sie adoptiert. Vielleicht war er darum vorhin so wütend, weil dieser Kerl Sie angegriffen hat. Ich glaube, das vermisst er am meisten hier in Deutschland, seine Familie.«

Schweigend sehen wir auf die Lebensmittel, die sich auf dem Tisch stapeln. Was für eine traurige Geschichte. Wie gut geht es mir, trotz knirschender Gelenke und allem.

»Bei mir ist das ganz anders«, stelle ich leicht erstaunt fest. »Familie hat mir nie viel bedeutet. War auch nicht viel. Ich erinnere mich nicht an Verwandtenbesuche, als ich Kind war. Einer meiner Onkel ist gefallen, ein anderer gleich 1945 nach Argentinien ausgewandert. Ich habe mich oft gefragt, ob er wohl Dreck am Stecken hatte, sind ja viele Nazis nach Südamerika gegangen. So etwas wurde bei uns totgeschwiegen. Tabu. Geschwister habe ich keine, meine Eltern sind lange tot. Sonst war da niemand. Familie? Nein, Lisa, die vermisse ich nicht.«

Unwillkürlich fällt mir Karin Groote aus dem ersten Stock ein. Nenne ich sie nicht heimlich meine Wunschtochter? Male mir manchmal wunder was aus? Na, Waltraud, sei ehrlich.

Geht das Lisa was an? Die Stimmung ist gerade so, da kann ich es aussprechen: »Frau Groote ist für mich Familie. Grete, die gehörte auch dazu. Und …«, jetzt lächle ich, »Hugo, mein ›Schokoladenenkel‹, so nenne ich ihn bei mir. Sie nehmen es mir nicht übel, Lisa?«

Sie lacht, fasst mich am Arm. »Nein, das ist er. Einfach zum Anbeißen. Na gut, meistens.«

»Dann adoptiere ich Sie hiermit zurück, und Sie sind ab sofort ebenfalls meine Familie, Lisa, wollen Sie? Nennen Sie mich ›Waltraud‹. Äh, ist einfacher so.«

Stumm drückt die junge Frau meine gesunde Hand und nickt. Dann wirft sie einen Blick auf die Wanduhr, der Moment ist vorbei.

»Ich muss rüber, sonst ruft Jamal die Terrorfahnder«, dabei zwinkert sie mir zu und läuft winkend aus der Wohnung, tänzelt um die Pfützen herum nach Hause.

Ganz langsam schließe ich die Haustür. Du sagst aber auch Sachen, Waltraud. »Adoptieren«. »Familie«. Erst willst du einen Telefonenkel, jetzt Lisa. Ich schüttle den Kopf. Das hättest du vor einem Jahr nicht einmal im Traum gedacht, geschweige denn, ausgesprochen. Werd mal nicht rührselig auf deine alten Tage.

Na und? Nimmt mir keiner was weg, wenn ich mich ein bisschen mehr öffne.

Jamals Geschichte will mir nicht aus dem Kopf. Während über den Fernsehschirm irgendeine komische Klamauksendung flimmert, schiebt sich immer wieder ein kleiner schwarzer Junge vor mein inneres Auge, eine Mischung aus dem kleinen Hugo und dem erwachsenen Vater. Ich male mir aus, wie er durch einen dichten Urwald flieht, verfolgt von wilden Tieren und bösen, schwerbewaffneten Männern.

Unsinn, Waltraud, ist da überhaupt Urwald? Du siehst zu viel dummes Zeug im Fernsehen, war bestimmt ganz anders.

Wieder läuft mir die Fantasie davon. Da verwandelt sich der 15-jährige Jamal plötzlich in den ebenfalls etwa 15-jährigen Herrmann Niemeyer, dessen Skelett Gottfried im Sommer aus der Bunkerbaustelle nebenan ausgebuddelt hatte. Igittigitt, unwillkürlich ziehe ich bei der Erinnerung die Schultern hoch. Dieses Kind wollte in den Krieg ziehen, wollte Leute umbringen, 1941 war das. Jamal hätte er glatt ermordet, war ein fanatischer Nazi. Mit 15. Zwei so verschiedene Leben, Opfer waren sie eigentlich beide. Da bilden wir uns wunder was auf unsere menschliche Überlegenheit ein. Machen Tiere das mit ihren Jungen?

Waltraud, Vorsicht, es gibt sogar Tiermännchen, die fressen ihre Jungen auf, lass gut sein.

Hugo hat mich damals zu seiner Oma gemacht, als der riesige Bagger den Bunker abgerissen hat. Darum nennt er mich »Bagga-Oma«. Ich kichere, wird er sicher noch als erwachsener Mann tun, solche Namen haften wie Pech.

Ach, Waltraud, wenn Hugo erwachsen ist, liegst du längst unter der Erde, rechne nach. Nix da, ich werde 90 wie Mutti, dann ist er, äh, knapp 20. Na gut, fast erwachsen, schließe ich einen Kompromiss mit mir. Es reicht für heute. Ohne weiter hinzusehen, mache ich den Fernseher aus und gehe ins Bett. Hoffentlich schlafe ich gut nach all der Aufregung.

5.

Ich stehe in einem dichten Regenwald, um mich herum Bäume, Lianen, kein Durchkommen. Vögel kreischen, irgendwo brüllt ein Tier. Ein Jaguar, woher weiß ich das? Egal. Da kracht das Gehölz neben mir. Eine riesige schwarze Gestalt bricht durchs Gebüsch, eine Machete in der erhobenen Hand.

Das ist Jamal! Hass in seinen Augen. Er fletscht die Zähne, stürzt auf mich zu. Hilfe! Ich torkele zurück, presse die Hände vors Gesicht und schreie. Werfe mich panisch herum. Aua. Meine Hand tut weh. Hat Jamal mich geschlagen? Mit der Machete? Meine Hand, ist sie noch dran?

Ich reiße die Augen auf. Wo ist er hin? Wieso hat er …

Um mich ist Dunkelheit. Stille. Mein Herz rast. Mein Atem fliegt, kalter Schweiß rinnt über meinen Rücken. Was war das?

Nur ein Traum, Waltraud. Himmel, danke, nur ein Traum.

Allerdings schmerzt meine Hand ganz real. Stöhnend richte ich mich im Bett auf, taste nach der verletzten Hand. Vorsichtig bewege ich die Finger. Alles funktioniert noch. Ich muss mich draufgelegt haben. Hoffentlich blutet es nicht wieder. Ächzend knipse ich die Nachttischlampe an, betrachte den gründlichen Verband.

Nichts, Waltraud, nun mach kein Drama draus, das ist eine Schürfwunde, keine Amputation. Igitt, Waltraud, was du manchmal denkst!

Na, komm, nach diesem Traum.

An Weiterschlafen ist nicht zu denken, dazu bin ich zu aufgewühlt. Dann mache ich mir einen Schlummertrunk und versuche es noch mal. »Nochmaal«, höre ich Hugo wieder rufen. Ich lächele, aber nur mühsam. Zu übermächtig hält sich das grausam verzerrte Gesicht seines Vaters in meinem Gedächtnis. Nee, nee, ich wusste es, diese Geschichten vertrage ich nicht. Langsam stehe ich auf, werfe mir den Morgenmantel über und schlurfe in die Küche. Irgendetwas beunruhigt mich, ich weiß nicht, was. Als ob das alles nicht nur ein Traum war.

Waltraud, bitte, gibt es hier Regenwald? Glaubst du, dass Jamal …? Nein, nein, das ist es nicht, aber …

Ob Baumanns wieder den Fernseher laut aufgedreht hatten mit irgendeinem Horrorfilm? Wo mein Bett doch genau an der Zwischenwand zu deren Wohnzimmer steht. Hellhörig, wie diese Häuser sind, hört man ja die Flöhe nebenan husten. Ob mich das im Traum beeinflusst hat? Kann alles sein, weiß man ja. Schon mehrmals habe ich darüber nachgedacht, mein Bett umzustellen. Nur, was ist das für ein Aufwand! Ist schließlich nicht damit getan, das Bett an die andere Wand zu schieben, weil, da steht der Kleiderschrank. Ach nee, was das für Umstände machen würde.

Trotzdem muss ich mit Baumanns reden, nehme ich mir jedes Mal vor, wenn ich wieder nicht einschlafen kann. Dann traue ich mich doch nicht. Ich kenne sie kaum, sie wohnen erst ein paar Wochen hier. In der letzten Zeit sind so viele Nachbarn hier in der Umgebung ein- und ausgezogen, da verliert man völlig den Überblick. Gefällt mir nicht, so viele fremde Leute auf einmal.

Das kommt alles nur wegen dieser blöden Baustelle. Da haben die Leute schnell ihre Häuser verkauft, ehe man den Bunker abgerissen hat. »Glauben Sie etwa der Versicherung, dass man was für Schäden am Haus bekommt?«, hat mich der Wie-hieß-er-noch? gefragt, ehe er an Baumanns verkauft hat. Andere sind ausgezogen, weil sie den Lärm nicht mehr ertragen haben. Wenn man sich das leisten kann, einfach so ausziehen, Haus verkaufen, mit Verlust womöglich.