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»Huch! Was war das denn? Hat da jemand geschrien? Was ist denn da los? Mein Gott, das …! Nein! Da fällt was aus dem Fenster da drüben, aber … aber … Ein Mensch! Da fällt ja ein Mensch aus dem Fenster! …« Waltraud Friese, Rentnerin und Witwe aus dem Bremer Stadtteil Peterswerder, wird eines Nachts aus ihrem eintönigen Dasein gerissen und Zeugin eines Mordes im Haus gegenüber. Hat der Täter sie auch gesehen? Getrieben durch ihre Angst spürt Waltraud neuen Lebenswillen und ungeahnte Kräfte. Das ist auch dringend nötig, denn sie gerät zunehmend in Gefahr, als sie entdeckt, dass ihre Nachbarn zu einem verbrecherischen Netzwerk gehören.
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Seitenzahl: 255
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Martha Bull
Frau Friese und der Fenstersturz
1
Was macht denn dieser dicke Hund da vor der Tür? Ach je, wie nass der ist! Armes Tier! Der hat ja gar kein Halsband. Ob der niemandem gehört? Ob ich mir den einfach hochholen kann?
Ich ziehe das Fenster auf und rufe mit gedämpfter Stimme hinunter: »He, Hund, willst du raus aus dem Regen?«
Der Hund hebt seinen breiten gelben Kopf und sieht mich lange an. Er spitzt die dreieckigen Ohren, wedelt verhalten mit dem Schwanz. Ja, er wedelt mit dem Schwanz. Das ist doch das Zeichen.
»Willst du raufkommen?«, frage ich.
Unschlüssig stehe ich am Fenster, der Regen weht mir ins Gesicht. Laufe ich nun runter, um ihm die Tür zu öffnen, oder gucke ich weiter von oben, was er tut? Bis ich unten bin, kann er wer weiß wohin sein, ich wohne im dritten Stock, Altbau, und bin seit diesem Unfall mit dem Fahrrad nicht gut zu Fuß. Aber er wird ja nicht zum Fenster hochfliegen. Doch ich bin zu langsam. Noch während ich das Fenster schließe, senkt er wieder den Kopf und trabt weiter, biegt am alten Backsteinhaus gegenüber um die Ecke und ist verschwunden. Ich seufze auf. Wieder eine Chance vertan.
Waltraud, sei vernünftig. Was willst du mit einem Hund? Hier oben im dritten Stock?
Traurig sehe ich mich um, das winzige Wohnzimmer reicht gerade für ein Sofa, einen Tisch und meinen alten Sessel am Fenster. Ach ja, das Regal mit den Büchern an der Wand, aber das steht in der Nische. Die Dachschräge macht es auch nicht besser, sieht gemütlich aus, ich mag das, nimmt aber doch viel Platz weg. Der dicke Hund würde den letzten Rest des Fußbodens einnehmen.
»Unrealistisch, Waltraud«, sage ich mir. Und seufze wieder.
Müde lasse ich mich in den Sessel zurücksinken und starre weiter hinaus auf die Straße. Dabei gibt es nichts zu sehen. Es ist halb fünf in der Frühe. Da ist nie etwas zu sehen. Aber bald werden die ersten Autos durch die kleine Straße rollen. Ich kenne sie alle, den roten Kombi von dem Handwerker von Nummer dreiundzwanzig oder die Frau mit dem weißen Cabrio, im Sommer kann ich ihr ins Auto spucken, hihi. Sieht teuer aus. Obwohl, wer sich ein teures Auto leisten kann, muss der schon vor sechs aus dem Haus? Wer weiß, vielleicht arbeitet sie in einer anderen Stadt. Gegen sieben wird es dann lebendig, wenn die Kinder zur Schule müssen. Aber dann döse ich oft ein, denn irgendwann muss ich ja schlafen. Eigentlich ist das dumm, mitten in der Nacht wach zu sitzen und dann einzuschlafen, wenn es sich lohnt, wachzubleiben. Aber ich kann es mir nicht aussuchen, nicht wirklich. Es geschieht mir. Manchmal denke ich, mein ganzes Leben geschieht mir nur, nichts passiert wirklich. Nichts habe ich selbst angeregt.
»Waltraud, tu doch mal was«, so spreche ich mich manchmal selbst an. Andere bewundern meine Gelassenheit. Ja, Gelassenheit nennen sie es. Noch kürzlich sagte Frau Kellner von gegenüber im Mini-Shop zu mir:
»Wie Sie da so am Fenster sitzen, so gelassen alles betrachten, Frau Friese, da bewundere ich Sie für, wissen Sie, ich hätte ja die Zeit und die Ruhe gar nicht dafür. Bei mir ist immer jemand, der was von mir will. Aber Sie können da so sitzen, herrlich, Frau Friese, herrlich.«
»Ja, ja«, habe ich geantwortet.
Was hätte ich ihr denn sagen sollen? Dass ich gerne jemanden hätte, der was von mir will. Dass da aber niemand mehr ist, seit Hans-Georg gestorben ist vor zwölf Jahren. Vor zwölf Jahren. Da hatten wir gerade seinen Sechzigsten gefeiert, ganz groß sollte das sein. Junge, wie haben wir da gestritten. Hans-Georg wollte doch unbedingt eine Band einladen, eine richtige Band, die sollte aufspielen. Aber die Jungs wollten allein für eine Stunde zweitausend Mark haben, war ja alles noch D-Mark damals.
»Aber das sind die wert, Waltraud«, hat mich Hans-Georg beschworen. Ich wollte nicht, wir haben dann den Ein-Mann-Musiker mit seinem Synthesizer genommen, der spielte für dasselbe Geld den ganzen Abend. Und der holte da auch alles raus aus dem Ding, den »Schneewalzer« zuerst, da mussten wir zwei alleine tanzen, na ja, es ging so, ich habe mich schon etwas geschämt, weil, also, Hans-Georg hat ja seit seinem Abschlussball keinen Walzer mehr getanzt. Aber dann hat der Mann auch andere Sachen gespielt, also, Rock ’n’ Roll, Hans-Georgs Lieblingsmusik. Ich mag die wohl auch gerne, erinnert mich an früher, als wir noch jung waren. Als ich noch viel rausgegangen bin zum Tanzen und so. Immer unterwegs. Anders als heute. Aber als Hans-Georg dann nur ein paar Wochen nach dem großen Fest eines Abends einfach tot umfiel, Herzinfarkt, da tat es mir doch leid, dass er seine Band nicht gekriegt hat. Andererseits war das ganze Fest ja teuer genug gewesen, Schulden hatten wir deswegen sogar gemacht, und nun noch das Geld für die Beerdigung, und das alles auf einmal, mit der Witwenrente. Ja, einfach war das nicht damals, wirklich nicht. Aber ja, zwölf Jahre ist das jetzt her. Ich musste ja dann umziehen, ging ja nicht mehr, das schöne große Haus für mich alleine, war ja noch nicht mal ganz abbezahlt. Hat gerade gereicht für diese kleine Wohnung hier.
»Willst du wirklich in den dritten Stock?«, hat Helga mich gefragt. »Und kein Lift, wirst doch auch nicht jünger.« Dabei hat mir doch ihr Rainer die Wohnung vermittelt.Derfand da nichts bei.
Und das hier konnte ich eben bezahlen. War ja gerade eine schlechte Zeit, um Häuser zu verkaufen, hat mir zumindest Rainer damals erklärt. Musste der doch wissen als Immobilienmakler.
»Und so klein, Waltraud, willst du denn gar nicht mehr dran denken, dich wieder zu verheiraten, du bist doch noch jung genug. Nicht sofort natürlich, entschuldige, ich weiß, Hans-Georg ist ja noch, also, du verstehst schon. Nur …«
»Ich heirate nicht mehr«, habe ich ihr erklärt. »Einmal reicht.«
»Komm, so schlimm war Hans-Georg doch nicht. Ich habe mit Rainer aber mehr Streit.«
»Vielleicht ist es das, was gefehlt hat, Helga, der Streit.«
»Wie? Verstehe ich nicht, ihr wart doch so ein harmonisches Paar.« Und ich dachte, Helga wäre meine Freundin. Man lernt eine Menge über die Menschen, wenn sie in so einer Situation wie einem Trauerfall auf einmal reden, was sie sonst immer versteckt gehalten haben. War sie wirklich so blind, oder wollte sie nur was Nettes sagen? Ich fand es aber nicht nett. Unerträglich fand ich es. Hat sie denn nie gemerkt, dass Hans-Georg keinen Widerspruch dulden wollte? Immer musste er recht behalten. Nur bei der Band habe ich mich durchgesetzt, weil, Hans-Georg war auch noch geizig. Wenn ich was wollte, musste ich nur sagen, dass man dabei was spart, schon kriegte ich’s. Hähä, das hat der nie gemerkt.
Helga. Was die jetzt wohl macht? Hab ich auch seit fast zwölf Jahren nicht mehr gesehen. Ob ihr Rainer noch lebt? Der müsste dann doch, äh … ja, etwa Mitte siebzig müsste der sein, wenn er denn noch lebt, der war ja auch kein Kostverächter, und siebzig, das ist so ein Alter, stehen immer ganz viele in den Todesanzeigen vomKurier, Frauen leben ja ein bisschen länger, hab ich ja noch ein bisschen Zeit.
Wozu nur? Die Zeit, meine ich. Um aus dem Fenster zu gucken? Ich kann doch nicht immer nur lesen, werden die Augen so müde von. Also, ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich mir doch ein Tier anschaffen, vielleicht eine Katze, da muss ich nicht dauernd mit rausgehen. Mit Hunden ist das so lästig, vor allem jetzt, wo man die Hundeköttel wegmachen muss, wo mir doch das Bücken so schwerfällt. Nee, nee, besser wäre schon eine Katze. Aber in dieser kleinen Wohnung? Die will doch spielen. Vielleicht doch eher einen Vogel oder einen Fisch. Ach, Waltraud, was für ein Unsinn, Vögel in Käfigen waren dir schon immer ein Gräuel, und Fische findest du sterbenslangweilig. Hör auf damit.
Ich schrecke hoch, bin eingedöst. Sollte ich nicht tun in diesem Sessel. Da kriege ich nur einen steifen Hals von. Kaffee. Ich brauche einen Kaffee. Ich stütze mich auf der Fensterbank ab und recke meinen steifen Körper. Aua. Überall ziept es. Wäre ich doch nur nicht bei dem rutschigen Wetter mit dem Rad losgefahren. Fast sechs Monate ist das jetzt her und seitdem bin ich steif. Wird vielleicht nicht mehr, sind eben alte Knochen. Obwohl, Doktor Hagen hat das anders gesehen.
»Sie müssen sich mehr bewegen«, meinte der, als ich bei ihm war, weil ja mein Bein nicht besser wurde nach dem Sturz.
»Das ist alles gut verheilt, nur müssen Sie sich wieder ans Bewegen gewöhnen.«
Als ob ich nicht genug zu laufen hätte, wenn ich immer vom Dritten runtermuss und wieder hoch, und das ohne Lift. Ist doch wirklich genug Bewegung, da reicht meine Puste nicht, um noch viel rumzulaufen. Radfahren trau ich mich ja nicht mehr.
Na ja, hat die Helga ja schon recht gehabt. Würde ich ihr aber nie zugeben. Nie! Vor der nicht.
So. Ein Glück, dass Hans-Georg zu seinem Sechzigsten diese wunderschöne Kaffeemaschine bekommen hat, die tut es noch immer. Wertarbeit eben, wurde damals noch gemacht. Heute geht doch alles gleich kaputt. Hab ich denn noch Milch? Oh weh, das reicht gerade mal fürs Frühstück, ach ja, dann muss ich doch gleich zum Einkaufen. Dann meckern wieder die Leute, wenn ich an der Kasse nicht schnell genug bin. Die werden auch mal alt. Aber das glauben sie nicht. Hab ich ja auch nicht geglaubt. Wäre ich doch nie in den Dritten gezogen ohne Lift.
Dass die Maschine so laut ist. Hoffentlich stört es die Nachbarn nicht, so früh am Morgen. Aber gesagt hat noch nie einer was.
Ich gehe langsam ans Fenster, lasse aber die Gardinen vorgezogen. Hier aus dem Küchenfenster hat man keinen schönen Ausblick, nur auf die Häuser gegenüber. Ist ja nur die Rückfront, vorne zur Straße sind die ganz schön, Altbauten eben, aber hier nach hinten raus, wo doch keiner hinguckt, da sind die langweilig. Viel Platz ist ja auch nicht zwischen den Häusern. Unten der Hof, da passen man eben die Mülltonnen hin, aber die Nachbarn reden stolz von ihrem »Garten«. Ich sitze lieber drüben im Zimmer am Fenster. Hier stehen mir die Häuser zu dicht. Kriegt ja jeder alles mit. Aber wenn ich kein Licht mache, kann mich auch niemand begucken. Andrerseits, was gibt es bei mir schon zu sehen?
Nanu, heute ist es gar nicht so dunkel. Wo kommt das Licht her um die Zeit? Von gegenüber aus der Dachwohnung? Da wohnt doch so ein junger Kerl. Die kümmern sich nicht um uns Alte. Der schläft immer in den Tag rein, hat wohl nichts zu tun, arbeitslos sicher, sind ja so viele heutzutage, ach ja, nur gut, dass ich Rentnerin bin. Abends wird der oft ein bisschen laut, da feiert der mit seinen Freunden. Ich hör ja nicht mehr so gut, mich stört es nicht weiter. Ich setze mich ins Wohnzimmer und mache die Tür zu. Nur die Berger von unter mir aus dem Zweiten, die meckert regelmäßig. Hat auch schon mal die Polizei gerufen, ja, da war es aber auch besonders wild, da haben sie mit Sachen geschmissen, immer aus dem Fenster raus in den Hinterhof. Macht man doch nicht. Kann ja so arm nicht sein, wenn er zu viel hat, um es rauszuwerfen. Lümmel sind das. Nee, nee.
Aber komisch, jetzt ist da schon Licht bei dem. Jetzt. Ist doch erst kurz nach fünf. Wieso ist der denn jetzt schon auf, das hab ich ja in den ganzen Monaten nicht erlebt, die der da schon wohnt. Wie lange ist das nun? Ach, egal, irgendwann im Sommer war das. Vielleicht hat er ja doch jetzt Arbeit, wird er sich erst mal ganz schön umstellen müssen. Aber ist ja noch jung, könnte mein Enkel sein, nur hab ich ja keine, weil, Kinder haben wir ja nicht gehabt, Hans-Georg und ich. Klappte wohl nicht, ach, wer weiß, wozu es gut ist.
So, was sagt die Kaffeemaschine? Ausgerödelt? Na fein. Erst mal einen guten Schluck Kaffee. Mmm. Das tut gut.
Huch! Was war das denn? Hat da jemand geschrien? Was ist denn da los? Was …?
Mein Gott, das …!
Nein!!
Da! Da! Da fällt was aus dem Fenster da drüben, aber … aber …
Ein Mensch! Da fällt ja ein Mensch aus dem Fenster!
Um Himmels willen, wie der mich anstarrt!
Der Junge! Nein!
Aus dem Dritten, das kann doch nicht gut gehen.
Schnell das Fenster aufmachen, herrje, der arme Junge, schnell, ach, die Kaffeetasse. Stell sie ab, Waltraud, na, mach schon!
Aber da ist ja noch einer, guckt da drüben aus dem Fenster. Ein Fremder. Und dann starrt er rüber, genau in meine Küche. Ich halte die Luft an. Ich habe ein ganz mulmiges Gefühl, ganz komisch ist mir. Gut, dass ich kein Licht gemacht habe.
Ob der durch die Gardinen sehen kann? Himmel, hilf, das nicht. Der ist ja unheimlich, der Kerl! Besser, der sieht mich nicht.
Jetzt guckt er weiter an unserm Haus runter. Was gibt es denn da zu gucken?
Ruf den Krankenwagen! Polizei!
Steht der da und guckt.
Na ja, Krankenwagen ist wohl nicht mehr nötig, aus dem dritten Stock. Der Arme, wie kann denn so was passieren?
Der Kaffee spritzt über den Tassenrand auf meine Hand. Autsch, heiß. Mir zittern die Hände und jetzt auch die Knie. Endlich stelle ich die Tasse klirrend ab. Setz dich mal hin, Waltraud, sonst fällst du noch um. Aber das geht doch nicht, hinsetzen und nichts tun, da ist einer aus dem Fenster gefallen.
Wie kann er denn gefallen sein? Aus dem Fenster? Wenn er nun geschubst wurde?
Du siehst zu viele Krimis. Ich lache mühsam, während meine Hände sich an der Tischplatte festkrallen. Noch immer starre ich auf das Haus gegenüber. Der Fremde hat jetzt das Fenster zugeknallt und den Vorhang vorgezogen.
Ächzend plumpse ich auf den Küchenstuhl. Mein Herz rast. Ich lege eine Hand auf die Brust, gib Ruhe, Herz. Mein Gott, wenn mich jetzt der Schlag trifft, wie Hans-Georg damals, findet mich hier doch keiner. Wenigstens schließe ich die Haustür nie ab, sicher ist sicher. Und das nur wegen dem Bengel da drüben.
He, Waltraud, der ist aus dem Fenster … also, der ist doch sicher tot jetzt. Tot, Waltraud.
Und dieser andere, wie der aussah! Ganz verzerrt war das Gesicht und rot, sicher vor Wut. Werden sich gestritten haben. Böse sah der aus, irgendwie böse, trotz der blonden Locken und dem jungen Gesicht. Wie ein böser Engel, denke ich. Ach, Waltraud, jetzt spinnst du aber, böser Engel.
Waltraud, tu endlich was!
Langsam mit den wilden Pferden. Wenn der den Jungen gestoßen hat, und ich rufe die Polizei? Wird der sich freuen, dass so ne alte Schachtel ihn gesehen hat. Nein, das ist mir viel zu gefährlich. Aber wenn er den umgebracht hat, muss doch die Polizei sich kümmern. Die müssen ja nicht sagen, wer ihn gesehen hat. Oder? Was tu ich nur? Vielleicht ruft ja jemand anders die Polizei. Vielleicht.
Immer noch zitternd trinke ich den Kaffee. Waltraud, tu endlich was.
Mühsam reiße ich mich los und schlurfe zum Telefon. Aber die sollen meinen Namen nicht sagen, denke ich, während ich eins eins null wähle.
2
Die Skepsis im Blick der Polizistin entgeht mir nicht. Sie glaubt mir die ganze Geschichte nicht. Aber der Junge liegt im Hof und ist tot, das ist eine Tatsache, das kann sie nicht abstreiten.
»Haben Sie denn nicht runtergesehen, Frau Friese?«, fragt sie nun. Ich schüttle nur den Kopf. Wie soll ich das erklären, diese Angst vor dem, was mich erwartet hätte – und die Angst vor dem bösen Engel? Wenn ich das sage, bringen die mich doch gleich in die Klapse.
»Nein«, flüstere ich nun, schüttle den Kopf.
Da winkt sie mich zum Fenster, öffnet es weit und deutet nach unten. Zögernd sehe ich runter. Und erstarre.
Leer. Der Hof ist blank und leer. Nur nass.
Ich glaube es nicht. Wo ist der Junge? Wie ist das möglich? Wo kann der denn hin sein, ist doch kein Vogel.
»Sehen Sie selbst, Frau Friese, da ist niemand. Wir haben keine Spuren gefunden.«
Sie redet nun mit dieser Ich-muss-Geduld-haben-Stimme. Und ein bisschen zu laut. Als ob ich blind, blöd und taub wäre. Aber recht hat sie. Ich will was sagen, erklären, aber ich bringe kein Wort raus, schüttle nur immer wieder den Kopf. Bis ich merke, was ich tue.
Hör auf damit, Waltraud. Die hält dich ja für bekloppt, wenn du so mit dem Kopf wackelst. Kein Wunder, dass die dir nicht glaubt, wenn du dich so aufführst.
»Vielleicht hat ihn jemand weggeschafft. Der andere.«
Ich sehe auf die Uhr. Kurz nach sechs. »Hätte ja Zeit gehabt«, füge ich an.
Die Polizistin schließt das Fenster mit einem Ruck. Sie seufzt leise, aber deutlich genug, dass ich merke, wie genervt sie ist. Ich kenne die Tour, und sie macht mich wütend und hilflos.
Was soll ich denn noch sagen? So schnell es auch ging, ich habe den Jungen fallen sehen. Ich habe seinen Blick gesehen, dieses ungläubige Staunen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich es wieder vor mir. Seinen Blick. Mich graust dabei. Wie kann er denn verschwunden sein? Ich begreife es doch nicht.
»Frau Friese, sehen Sie, wenn jemand aus dieser Höhe abstürzt, dann, nun ja, dann gibt es Spuren, glauben Sie mir. Selbst wenn der Körper weg ist. Aber da ist nichts.«
Ja, ja, ich weiß, was du meinst, deshalb habe ich ja auch nicht rausgeguckt. Ich bin immer noch wütend und verwirrt.
»Es regnet«, muffele ich. »Sehr.«
Die Frau geht zur Haustür.
»Ich habe Ihre Aussage notiert, Frau Friese und wir werden den Fall prüfen.«
Sie geht. Ich bin froh, dass sie endlich weg ist. Manchmal regen mich diese jungen Leute auf, tun so, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, nur weil ich alt bin.
Plötzlich überfällt mich eine schwere Müdigkeit, ich schaffe es gerade noch, mich auf dem Sofa auszustrecken, da bin ich auch schon eingeschlafen.
Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Ich schrecke hoch, weil mich der Junge im Fallen so furchtbar anschaut, so verzweifelt. Und unten im Hof sitzt dieser dicke gelbe Hund und grinst.
Verwirrt reibe ich mir die Augen. Habe ich das Ganze etwa nur geträumt? Ich schlurfe in die Küche und öffne das Fenster, sehe hinunter in den Hof. Da ist keine Spur von einem Toten, keine Polizei, niemand.
Waltraud, jetzt fängst du an zu spinnen, murmele ich und schließe ganz vorsichtig das Fenster wieder. Lange sehe ich in den trüben Morgen und versuche zu klären, was eigentlich los ist. Ob überhaupt etwas los ist. Gegenüber verdecken weiterhin die Vorhänge das Fenster, als sei nie etwas geschehen.
»Der hat nie die Vorhänge zugezogen«, platzt es aus mir raus. »Das war der andere.«
Ich sehe mich in meiner Küche um, als sähe ich sie zum ersten Mal. Was geht hier vor?, frage ich mich.
Mechanisch stelle ich die schmutzige Kaffeetasse in den Ausguss. Milch muss ich holen, erinnere ich mich. Milch gehört in den Kaffee, Milch ist alle, ich muss also Milch kaufen. Gut, dass es ein paar Dinge gibt, die einfach und klar sind.
Geh Milch holen, Waltraud, da bist du auf der sicheren Seite.
3
Mein Atem geht schwer, als ich endlich im Erdgeschoss angekommen bin. Ich halte mich einen Moment am Treppengeländer fest. Vielleicht sollte ich mir doch eine andere Wohnung suchen, eine, die nicht so weit oben liegt, eine wie die von Kalli, der hier unten wohnt. Wie kann sich ein Mann in den Fünfzigern noch Kalli nennen lassen. Manche Leute werden nie erwachsen.
Wenn man vom Teufel spricht… Er reißt die Haustür auf, poltert in den Flur. Er füllt ihn ganz aus mit seinen breiten Schultern und dem dicken Bauch. Alles an ihm tropft, die langen Haare, die Jeansjacke, die Brötchentüte und sogar derKurier, den er unter den Arm gequetscht hat. Na prima, eine nasse Tageszeitung. Geht es mich was an? Nein, Kalli ist so.
»Guten Morgen, Frau Friese«, röhrt er und neigt sogar leicht seinen Kopf. Höflich ist er, muss man ihm lassen. »Was war denn bei Ihnen los? Polizeibesuch?«
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