Am Abgrund des Krieges - Arkady Martine - E-Book

Am Abgrund des Krieges E-Book

Arkady Martine

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Beschreibung

Das Imperium von Teixcalaan erstreckt sich über unzählige Sternsysteme. Nichts entkommt seinem Einfluss, und niemand widersteht seiner Militärmacht – bis auf die unabhängige Station Lsel. Als Mahit Dzmare, Lsels Botschafterin beim Imperium, in einen drohenden Krieg gegen eine mysteriöse Alien-Zivilisation hineingezogen wird, muss sie um alles kämpfen: um die Unabhängigkeit der Station, um ihre politische Zukunft, um ihre große Liebe und um ihr Überleben.

  • Die Fortsetzung zum Hugo-Award-Gewinner »Im Herzen des Imperiums«
  • Die Botschafterin einer kleinen Raumstation wird in die Intrigen und Machtkämpfe des Sternenimperiums von Teixcalaan hineingezogen und muss einen Krieg verhindern
  • »Eine komplexe Space Opera, vermischt mit einzigartigen Kulturen und mitreißenden Figuren – ich habe die Teixcalaan-Romane sehr genossen!« (Martha Wells)

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Seitenzahl: 844

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Das Buch

Das Imperium von Teixcalaan erstreckt sich über unzählige Sternsysteme. Nichts entkommt seinem Einfluss, und niemand widersteht seiner Militärmacht – bis auf die unabhängige Station Lsel. Mahit Dzmare ist Lsels Botschafterin beim Imperium. Nach ihrer entscheidenden Rolle bei der Vereitelung eines Staatsstreichs gleich zu Beginn ihres Antrittsversuchs in Teixcalaan ist ihre Position politisch umstritten. Nicht jeder Beamte im Imperium ist von Mahits wohlwollenden Absichten überzeugt, und auch sie selbst hat mit widerstreitenden Gefühlen gegenüber der alles erdrückenden militärischen und kulturellen Übermacht Teixcalaans zu kämpfen. Als sie als Beraterin in einem Konflikt mit einer mysteriösen Alien-Zivilisation hinzugezogen wird, die keinerlei Kommunikation zuzulassen scheint, steht Mahit vor einer Entscheidung. Wie kann sie sich für den Frieden in der Galaxis einsetzen, ohne ihre Heimatstation zu verraten – und ohne ihre Faszination für die teixcalaanische Kultur aufzugeben? Für Mahit und für das Imperium geht es um nicht weniger als um ihr Überleben.

Die Autorin

Arkady Martine schreibt als Schriftstellerin und unter dem Namen Dr. AnnaLinden Weller als Byzanz-Historikerin und Stadtplanerin über Grenzpolitik, Rhetorik, Propaganda und die Grenzen der Welt. Sie wuchs in New York City auf, verbrachte einige Zeit in der Türkei, Kanada und Schweden. Sie ist verheiratet und lebt in Baltimore. Für ihren Debütroman Im Herzen des Imperiums wurde sie mit dem renommierten Hugo Award ausgezeichnet.

Mehr über Arkady Martine und ihr Werk erfahren Sie auf

ARKADY MARTINE

AM ABGRUND DES KRIEGES

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Bernhard Kempen

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: A DESOLATIONCALLEDPEACE

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Deutsche Erstausgabe 08/2022

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2020 by AnnaLinden Weller

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung einer Illustration von Jamie Jones

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-23669-4V001

www.diezukunft.de

Dieses Buch ist für all die Verbannten:

die Vertriebenen, die Geflüchteten, die Staatenlosen,

die Verlassenen und die Verlassenden,

die verstoßen und die freigesetzt wurden.

(Und für Stanislaw Petrow, der wusste,

wann ein Befehl infrage gestellt werden sollte.)

Zuerst wurde die Realität aufgehoben. Alle Verstöße gegen das Protokoll der Inka ereigneten sich gleichzeitig, die Regeln für persönlichen Kontakt (visuell, mündlich und körperlich), Trinken und Essen wurden gebrochen. Als Ciquinchara den Eroberern erstmals begegnete, wurde ihm erlaubt zu tun, was kein Indianer konnte, und nun wendete sich das Blatt. Da es keinen sinnvollen Kontext für die Gestaltung ihrer Interaktionen gab, setzten sich die Akteure einem unendlichen Risiko aus. Atahualpa hätte abgeschlachtet oder Soto und Hernando vergiftet werden können …

– Gonzolo Lamana, »Beyond Exoticization and Likeness: Alterity and the Production of Sense in a Colonial Encounter« (»Zwischen Exotisierung und Ähnlichkeit: Anderssein und die Herstellung von Sinn in einer kolonialen Begegnung«), in Comparative Studies in Society and History 47, Nr. 1 (2005), S. 4–39

Wegschaffen, Niedermetzeln und Rauben nennen sie irreführenderweise Herrschaft, und wo sie Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden.

– Calgacus, zitiert von Tacitus, Agricola 30

Vorspiel

Zu denken, jedoch nicht Sprache. Nicht Sprache zu denken. Wir zu denken, ohne einen Zungenlaut oder Ruf für seine kristallinen Tiefen zu haben. Zungenlaute aufgegeben zu haben, wo sie ungeeignet sind. Als eine Person zu denken und nicht als wollende Stimme, nicht als starräugiges, hungerndes Tier, nicht wie ein Kind denkt, nur in Gesellschaft des eigenen Ichs und der Schreie seines Mundes. Hinauszuschauen aus dem Zweiring oder Dreiring eines unserer Sternenflieger und jeden Lichtpunkt zu sehen, jeden Stern mit Fusionsherz. Die Muster zu sehen, die diese Sterne in unseren Augen erzeugen, die die Muster unserer Augen im Dunkel auf dem alten Planeten reflektieren. Wie unser Augenglanz in der Bodenheimat glomm, in der Blutheimat! Wie wir sie schlossen und unsichtbare Finsternisräuber, Geheimnisjäger waren! Wie unsere Sternenflieger in der Leerheimat glühen, in unserer Lichtheimat! Wie wir zur Seite gleiten – wie ein sich schließendes Auge – und unsichtbar sind! Als eine Person zu denken, mit dem singenden fraktalen Schwarm des Wir, und diese Orte zu sehen, die wir noch nicht geplündert haben, noch nicht aufgerissen haben, mit Klauen so zart wie chirurgische Skalpelle, um an ihre Geheimnisse zu gelangen!

Ach, der andere Hunger, der Hunger des Wir, der nichts mit dem Körper zu tun hat. Der Hunger des begierigen Wir.

Dieser Körper oder jener Körper: Fleisch voller Gene für Stärke und Wildheit, Fleisch voller Gene für Geduld und Mustererkennung. Dieser Körper ein neugieriger Körper, ein Beobachterkörper, gut trainiert für Himmelsnavigation und Erkundung, seine Klauen durchwebt von Filamenten aus Metall, die ihm erlauben, nicht nur für das Wir zu singen, sondern für jeden Sternenflieger, den er berührt. Dieser Körper ein Körper, der beinahe nicht wir geworden wäre, der stattdessen beinahe Fleisch geworden wäre, der dennoch wir ist und wir singt, und der ein Körper ist, der andere Körper zu Fleisch macht, der auch mit sich selbst andere Körper macht: dieser Körper voller Werkzeug, geschickt mit den Händen auf den Auslösern der Energiekanonen eines Sternenfliegers.

Diese Körper, die im Wir singen, die gemeinsam vom Fleisch von Körpern singen, die nicht wir sind, aber Sternenflieger und Energiekanonen gebaut haben. Körper, die Fleisch sind und nicht singen können! Körper, die Sprache denken, die mit dem Mund schreien und Wasser aus den Augen rinnen lassen, die klauenlos, aber in ihrem eigenen begierigen Hunger bösartig sind. Die schon so viel von der Leerheimat berührt haben und darin wohnen und so nahe an die Sprungtore herangekommen sind, hinter denen all unsere Blutheimatländer liegen, die neuen und die alten.

Diese Körper singen: Das kluge Fleisch stirbt wie jedes andere Fleisch, genau wie wir, doch es erinnert sich nicht daran, was sein totes Fleisch wusste. Also haben wir unsere Geschwisterkörper auf einen ihrer Planeten hinuntergebracht, keine Blutheimat, sondern eine Bodenheimat, voller plünderbarer Ressourcen, und wir haben sie zur Nutzung hergegeben, sowohl das Fleisch als auch die Ressourcen.

Den gestillten Hunger zu singen. Verständnis zu singen. Ausgenommen:

Ein anderer Körper steuert den Kontrapunkt bei, einen dissonanten Akkord. Dieser Körper ein neugieriger Körper, ein Beobachterkörper, ein störrischer und patrouillierender Körper, der sich seitlich in und außer Sichtweite hereingeschlichen hat, im selben Sektor der Leere während so vieler Zyklen, und dennoch bleibt er ein neugieriger Körper. Dieser Körper singt im Wir, singt von ein paar klugen Fleischkörpern, die sich sehr wohl erinnern, was ihr totes Fleisch wusste. Aber nicht alle. Nicht alle haben das gleiche Wissen. Nicht wie das Singen des Wir.

Ein Wir zu denken, das fragmentiert! Das sich nicht zusammentut, das sich erinnert, sich jedoch nicht im Formationsflug halten könnte. Wir singen Unruhe, und wir singen den begierigen Hunger, den Gedanken an Fragmentierung! Wir singen auch: Was hat dieses kluge Fleisch, das wir nicht haben? Welch ein Gesang ist ihr Gesang, dass wir ihn nicht hören können?

Und wir schicken unsere Sternenflieger wirbelnd hinaus, wirbelnd nahe. Nahe genug, um sie zu schmecken.

1

… ABRIEGELUNGAUFGEHOBEN – Für die Dauer von vier Monaten, durch Ratsbeschluss erweiterbar, ist die Abriegelung bezüglich teixcalaanischer Militärtransporte durch den Stationssektor aufgehoben. Allen Schiffen mit teixcalaanischen Rufzeichen ist es gestattet, das Anhamemat-Tor zu passieren. Diese Aufhebung ist keine Berechtigung für teixcalaanische Schiffe, ob militärisch oder nicht, ohne zuvor erteilte Visa, Genehmigungen oder Zollabfertigung an die Lsel-Station anzudocken. – AUFHEBUNGERTEILTDURCHDENRATDERBERGLEUTE (DARJTARATS) – Wiederholung der Nachricht …

– dringliche Mitteilung, über diplomatische, kommerzielle und universelle Frequenzen im Bardzravand-Sektor ausgegeben, 52. Tag, 1. Jahr in der 1. Epoche des Imperators Neunzehn Breitaxt von ganz Teixcalaan

Euer Brillanz, Sie haben mir die ganze Welt hinterlassen, und doch bin ich verarmt. Ich würde Ihren von den Sternen verfluchten, besitzergreifenden Geist nehmen, Sechs Vektor, wenn er mich nur lehren könnte, nicht zu schlafen.

– private Notizen Ihrer Brillanz der Imperatorin Neunzehn Breitaxt, undatiert, unter Verschluss und chiffriert

Neun Hibiskus beobachtete, wie der Kartograf ein drittes Mal die aufgezeichneten Entwicklungen der vergangenen Woche abspielte, und schaltete ihn dann aus. Ohne die schimmernden Lichtpunkte und Bögen der Flottenbewegungen war der Strategietisch auf der Brücke der Auswuchtung des Rades eine ebene schwarze Fläche, genauso ungeduldig auf neue Informationen wartend wie ihr Kapitän.

Doch es kamen keine. Neun Hibiskus musste nicht erneut den Kartografen konsultieren, um sich daran zu erinnern, wie die dargestellten Planetenpunkte zuerst in Notfallrot geblinkt hatten und dann das Schwarz des Kommunikationsabbruchs angenommen hatten. Sie verschwanden, als wären sie von einer Flutwelle verschluckt worden. Ganz gleich, wie dicht gestaffelt die Reihen der anrückenden teixcalaanischen Schiffe von diesem Kartografen angezeigt wurden, keines von ihnen war in die Flut der leeren Stille vorgestoßen. Was wir jenseits dieses Punktes sehen, dachte Neun Hibiskus nicht ohne eine schimmernde Vorahnung, macht uns einige Angst.

Ihre Auswuchtung des Rades war das Raumschiff, das der kommunikationslosen Schneise am zweitnächsten war. Sie hatte nur ein einziges Schiff weiter hinausgeschickt, als sie sich mit ihren eigenen Leuten vorwagen würde. Es war der bewaffnete Hybridaufklärer Neuntes Erblühen der Messerspitze, ein nahezu unsichtbarer Splitter, der aus dem offenen Maul des Hangars ihres Flaggschiffs in die lautlose Schwärze geglitten war. Es hinauszuschicken könnte Neun Hibiskus’ erster Fehler als neueste yaotlek Ihrer Brillanz der Imperatorin Neunzehn Breitaxt gewesen sein, als Kommandantin der Flottenkommandanten, der zahlreiche teixcalaanische Legionen unterstanden. Ein Imperator ernannte neue yaotlekim, wenn dieser Imperator in den Krieg ziehen wollte, das eine zog das andere nach sich. Neun Hibiskus hatte diesen alten Spruch zum ersten Mal als Kadettin gehört und dachte ungefähr einmal pro Woche selbst daran, in Ermangelung einer Bestätigung durch die absolute beobachtete Wahrheit.

Neunzehn Breitaxt, frisch gekrönt, hatte unbedingt in den Krieg ziehen wollen.

Nun an vorderster Front dieses Krieges, hoffte Neun Hibiskus, dass die Entsendung der Messerspitze nicht doch ein Irrtum gewesen war. Es wäre hilfreich, unerzwungene Fehler zu vermeiden, in Anbetracht der Tatsache, wie neu sie als yaotlek war. Vor allem wäre es hilfreich, Fehler unbedingt zu vermeiden, doch Neun Hibiskus war lange genug eine Offizierin der Sechs Greifenden Hände gewesen, des teixcalaanischen Militärs, das seine Hände in alle Richtungen ausstreckte, um zu wissen, dass Fehler in einem Krieg unvermeidbar waren. Bislang trieb die Messerspitze so still wie die toten Planeten vor ihr dahin, und vom Kartografen war seit vier Stunden keine Aktualisierung gekommen.

Also ließ sich der weitere Verlauf des Spiels nicht vorhersagen.

Sie stützte die Ellenbogen auf den Strategietisch. Später würde sie Abdrücke hinterlassen, wenn das Öl der weichen aufliegenden Haut ihrer Arme auf der matten Oberfläche zurückblieb und sie ein Bildschirmreinigungstuch holen musste, um es wegzuwischen. Doch Neun Hibiskus mochte es, ihr Schiff zu berühren, es zu kennen, auch wenn es nur auf Befehle wartete. Auch so weit entfernt vom Triebwerkskern das Summen der großen Maschine zu spüren, dem sie als Gehirn diente. Oder zumindest als Gangliencluster, als Zentralpunkt. Ein Flottenkapitän war schließlich ein Filter für all die Informationen, die zur Brücke gelangten – und ein yaotlek umso mehr; ein yaotlek hatte größere Reichweite, mehr Hände, die er in jede mögliche Richtung ausstrecken konnte. Mehr Schiffe.

Neun Hibiskus würde jedes Einzelne benötigen, das sie bekommen hatte. Die Imperatorin persönlich hatte vielleicht einen Krieg gewollt, um erste Erfahrungen im Rahmen ihrer Herrschaft zu sammeln, doch der Krieg, den Neun Hibiskus für sie gewinnen sollte, war schon jetzt hässlich, hässlich und geheimnisvoll. Eine giftige Flut, die gegen die Ränder von Teixcalaan schwappte. Es hatte mit Gerüchten begonnen, Geschichten von Aliens, die zuschlugen, zerstörten, ohne Warnung oder Forderungen verschwanden und verstreute Schiffsteile in der Leere zurückließen, sofern sie überhaupt etwas zurückließen. Doch es gab immer wieder Horrorgeschichten über Gespenster in der Schwärze. Jeder Flottensoldat wuchs damit auf, gab sie an neue Kadetten weiter. Und diese speziellen Gerüchte hatten sich allesamt von den Nachbarn des Imperiums hereingeschlichen, von Verashk-Talay und der Lsel-Station, von keiner zentralen oder bedeutenden Stelle, nicht bevor der alte Imperator gestorben war, der sternengleiche Sechs Vektor … und im Sterben verkündet hatte, dass all die Gerüchte der Wahrheit entsprachen.

Danach war der Krieg unausweichlich geworden. Es wäre ohnehin dazu gekommen, sogar bevor fünf teixcalaanische Kolonieaußenposten auf der anderen Seite des Sprungtors im Parzrawantlak-Sektor stumm und öde wie Steine geworden waren, genau dort, woher diese Horrorgeschichten stammen mussten, falls sie überhaupt aus dem schwarzen Raum zwischen den Sternen hervorgekrochen waren. Es wäre lediglich langsamer geschehen.

Ihre Brillanz Neunzehn Breitaxt war seit zwei Monaten Imperatorin; und Neun Hibiskus agierte seit fast der Hälfte dieser Zeit als yaotlek für diesen Krieg.

Um sie herum war die Brücke gleichzeitig zu betriebsam und zu still. Jede Station war von ihrem zugehörigen Offizier besetzt. Navigation, Antrieb, Waffen, Kommunikation. Alles war um sie und ihren Strategietisch herum angeordnet wie eine solide, maßstäblich vergrößerte Version des holografischen Arbeitsplatzes, den sie mit ihrem Cloudhook aufrufen konnte, der Scheibe aus Glas und Metall, die ihr rechtes Auge verdeckte und die sie selbst hier am Rand des teixcalaanischen Reichs mit den großen Daten- und Geschichten-Netzwerken verband, die das Imperium zusammenhielten. Jede einzelne Brückenstation war besetzt, und jeder Offizier versuchte den Eindruck zu erwecken, etwas zu tun zu haben, außer zu warten und sich zu fragen, ob die Streitmacht, die sie besiegen sollten, sie überraschen und das tun würde, was auch immer diese Aliens taten, um die planetaren Kommunikationssysteme auszulöschen wie Flammen im Vakuum. All ihre Brückenoffiziere waren nervös, und alle hatten genug davon, sich in Geduld zu üben. Sie waren die Flotte, die Sechs Greifenden Hände von Teixcalaan. Eroberung war ihr Stil, nicht konzentriertes Warten am Rand des Unvermeidlichen, nicht das Innehalten in besorgter Stille an vorderster Front von sechs Raumschiffslegionen, der Gefahr am nächsten und dennoch weiterhin regungslos.

Immerhin hatte Ihre Brillanz Neunzehn Breitaxt, als sie Neun Hibiskus zu ihrer yaotlek gemacht hatte, ihr gestattet, ihr eigenes Schiff als Flaggschiff zu behalten. All ihre Offiziere waren Teixcalaanlitzlim, mit denen sie zusammengearbeitet und gedient hatte, die sie befehligt und beim Aufstand im Kauraan-System vor weniger als drei Monaten zum Sieg geführt hatte. Sie gehörten ihr. Sie würden ihr noch etwas länger vertrauen. Nur noch etwas länger, bis die Messerspitze mit nutzbaren Informationen zurückkehrte, dann konnte sie diese Leute ein wenig von der Leine lassen. Um ein wenig Blut, ein wenig Staub und Feuer zu kosten, das aus dem Tod eines Alienschiffs erblühte. Eine Flotte konnte sehr lange Zeit durchhalten, genährt von diesen Schlucken aus Zuckerwassergewalt, solange alle daran glaubten, dass ihre yaotlek wusste, was sie tat.

Zumindest hatte Neun Hibiskus es bislang so empfunden, als sie unter Flottenkapitän Neun Antrieb gedient hatte, bevor Neun Antrieb zum Piloten eines planetengebundenen Schreibtischs in der Stadt geworden war. Unter dem letzten, dem toten, seligen Imperator war sie den weiten Weg zur Kriegsministerin aufgestiegen, und Neun Hibiskus, die ihren Namen mit derselben Zahlenglyphe schrieb, die auch Neun Antrieb benutzte, und diese spätjugendliche, blauäugige Wahl, wie sie sich in geschriebener Form präsentieren wollte, noch nicht bereut hatte, hatte gedacht, voraussichtlich Ministerin unter der neuen Imperatorin zu werden. Hatte es erwartet.

Doch stattdessen war Neun Antrieb in den Ruhestand getreten, praktisch unmittelbar nach Neunzehn Breitaxts Aufstieg. Sie hatte die Stadt völlig verlassen, war in ihr Geburtssystem zurückgekehrt, ohne eine Chance für eine ehemalige Untergebene, vorbeizuschauen und zu fragen, wozu und warum jetzt, und ohne all den üblichen Tratsch. Neun Hibiskus wurde der Vorteile einer Mentorschaft beraubt, wenngleich sie sich glücklich schätzen konnte, sie so lange genossen zu haben, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Doch dann war sie zu Beginn einer Schicht aufgewacht und hatte einen dringenden Infofiche-Stick von der Imperatorin persönlich vorgefunden. Eine Dienstanweisung.

Falls dieser Krieg gewinnbar ist, will ich, dass Sie ihn gewinnen. Die dunklen Wangenknochen der Imperatorin wie Messer, wie die Schneiden der Eruptionen des Sonnenspeerthrons, auf dem sie saß.

Und nun wurde sie in genau diesem Augenblick aus ihren Gedanken gerissen, von einer leisen Stimme unmittelbar links von ihr. Es war eine, die sie aus dieser Entfernung nicht erschrecken würde, und die einzige, die sich dennoch so nahe heranschleichen durfte. »Also immer noch nichts, yaotlek?«

Zwanzig Zikade, ihr Erster ikantlos, der ranghöchste Offizier, der direkt der Flottenkapitänin und keiner anderen Verwaltungsinstanz unterstellt war. Er war ihr Adjutant und Stellvertreter, was eine der Möglichkeiten war, wie dieser Rang ihr dienen konnte. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemand anderen als ihn auf dieser Position zu haben. Er hatte die Arme ordentlich über der ausgezehrten schmalen Brust verschränkt, eine Augenbraue zu einem ausdrucksvollen Bogen hochgezogen. Wie immer war seine Uniform tadellos, perfekt teixcalaanisch, ein vorbildlicher Soldat in einem Propaganda-Holofilm, wenn man den kahl geschorenen Kopf ignorierte und die Tatsache, dass er aussah, als hätte er einen Monat lang nichts gegessen. Die gekräuselten Ränder von Tätowierungen in grüner und weißer Tinte waren gerade noch an den Handgelenken und am Hals zu erkennen, wo die Uniform verrutscht war, während er sich bewegt oder geatmet hatte.

»Nichts«, sagte Neun Hibiskus laut genug, um von allen anderen auf der Brücke gehört zu werden. »Absolute Stille. Die Messerspitze fliegt abgeschirmt, und bei ihrer üblichen Geschwindigkeit werden sie frühestens nach eineinhalb weiteren Schichten zurückkehren, sofern sie nicht vor etwas Üblem davonlaufen. Und es gibt nicht viel, wovor die Messerspitze davonlaufen würde.«

Zwanzig Zikade wusste das alles. Es war nicht für ihn gedacht. Es war für Achtzehn Meißel an der Navigation, die ihre Schultern ein paar Zentimeter sinken ließ, und für Zwei Schaum an der Kommunikation, die nun tatsächlich die Nachricht abschickte, die sie die letzten fünf Minuten zurückgehalten hatte, eine Meldung an den Rest ihrer Mehrlegionenflotte über weiterhin klaren Himmel.

»Ausgezeichnet«, sagte Zwanzig Zikade. »Dann wird es dir sicher nichts ausmachen, wenn ich ein wenig von deiner Zeit beanspruche, yaotlek.«

»Wenn du mir nicht erzählen willst, dass wir immer noch Probleme mit den entflohenen Haustieren in den Luftschächten auf Deck Fünf haben, darfst du mich gern beanspruchen«, antwortete Neun Hibiskus und riss in freundlichem Spott die Augen auf. Diese Haustiere waren kleine pelzige Wesen, die angenehm vibrierten und Ungeziefer fraßen, eine spezielle Varietät von Katzen, die auf Kauraan heimisch war. Dort waren sie während ihrer letzten Landung an Bord gekommen, als Neun Hibiskus Flottenkapitänin von der Zehnten Legion und noch keine yaotlek gewesen war. Die Haustiere waren kein Problem gewesen, nicht einmal etwas, von dem Neun Hibiskus überhaupt gewusst hatte, bis sie beschlossen hatten, sich fortzupflanzen, und zu diesem Zweck in einen Luftschacht auf Deck Fünf eingezogen waren. Zwanzig Zikade hatte sich lautstark darüber beklagt, wie sie die Homöostase der Lebenserhaltung an Bord der Auswuchtung des Rades störten.

»Es geht nicht um die Haustiere«, sagte Zwanzig Zikade. »Versprochen. Konferenzraum?«

Wenn er unter vier Augen besprechen wollte, was auch immer es war, konnte es nicht gut sein. »Perfekt«, sagte Neun Hibiskus und stemmte sich hoch. Sie war doppelt so breit wie Zwanzig Zikade, doch er bewegte sich in ihrer Nähe, als wäre er von ebenbürtiger Stabilität. »Zwei Schaum, Ihre Brücke.«

»Meine Brücke, yaotlek«, rief Zwei Schaum, und so sollte es auch sein. Also machte sich Neun Hibiskus auf den Weg, um zu sehen, was jetzt schon wieder mit ihrem Schiff oder ihrer Flotte nicht stimmte.

Die Auswuchtung des Rades hatte zwei Konferenzräume gleich neben der Brücke, einen großen für strategische Besprechungen und einen kleinen für Problemlösungen. Neun Hibiskus hatte Letzteren, eine ehemalige Ersatzwaffen-Kontrollstation, umfunktionieren lassen, nachdem sie zur Kapitänin ernannt worden war. Ein Schiff brauchte einen Raum für offizielle private Unterhaltungen, hatte sie damals gedacht, womit sie größtenteils richtiggelegen hatte. Der kleine Konferenzraum war der beste Ort, um Personalangelegenheiten zu klären, die von den Schiffskameras aufgezeichnet wurden und zugleich sichtbar und unsichtbar blieben. Sie führte Zwanzig Zikade hinein, öffnete die Tür mit der Mikrobewegung eines Auges, das ihren Cloudhook anwies, mit der algorithmischen KI des Schiffs zu kommunizieren.

Zwanzig Zikade neigte nicht zu Vorreden. Neun Hibiskus hatte ihn die ganze Zeit als effizient, schnell, sauber und gnadenlos direkt gekannt. Er ging ihr durch die Tür voraus, und zu ihrer Überraschung drehte er sich nicht zu ihr um. Stattdessen ging er direkt zum schmalen Sichtfenster im Raum und legte eine Hand auf den Plastikstahl, der seinen Körper vom Vakuum trennte. Angesichts der Vertrautheit dieser Geste spürte Neun Hibiskus Wärme aufwallen, Wärme, in die sich eine unangenehme Furcht mischte. Zwanzig Zikade berührte das Schiff, wie auch sie es tat, doch er berührte es, als sehnte er sich danach, dass der Weltraum hereinkam und ihn an der Hand nahm.

Das hatte er schon getan, seit Neun Hibiskus ihn kannte, und die beiden waren sich bereits bei ihrem allerersten Einsatz begegnet.

Was inzwischen lange genug zurücklag, dass Neun Hibiskus keine ausgesprochene Lust verspürte, die Jahre zu zählen.

»Schwärmchen«, sagte sie, benutzte den Spitznamen, den man ihm bei jenem Einsatz verpasst hatte, auf den sie aus Rücksicht auf die Offiziershierarchie jedoch zumeist verzichtete, »spuck es aus. Was ist los?«

»Yaotlek«, sagte er, während er weiterhin in die Schwärze hinausstarrte, ein dezentes Korrektiv für die Kameras, obwohl niemand außer ihr selbst je die Aufzeichnungen aus diesem Raum zu Gesicht bekommen würde, und wer stand im Rang höher als ein yaotlek? Doch er war ein so korrekter Flottenoffizier, der teixcalaanischste Teixcalaanlitzlim, makellos in seiner Rolle als Erster ikantlos und Adjutant. Ein Mann, der der Geschichte der Expansion oder den Gedichten über die Erweiterung der Grenzen entsprungen sein könnte, nur dass das System, aus dem er stammte, noch gar nicht von Teixcalaan absorbiert worden war, als diese beiden Werke geschrieben wurden. Davon abgesehen, dass er einige der besonderen kulturell-religiösen Praktiken jenes Systems beibehalten hatte, auch wenn Zögerlichkeit nicht dazu gehörte. Zumindest nicht, soweit ihr bekannt war.

»Ja, ikantlos? Bericht!«

Endlich drehte er sich um, riss die Augen in ironischer und resignierter Belustigung auf und sagte: »In etwa zwei Stunden wirst du ein offizielles Kommuniqué erhalten, ausdrücklich adressiert an dich als yaotlek, die diese kombinierte Flotte befehligt, abgeschickt von Flottenkapitänin Sechzehn Mondaufgang auf der Parabolische Kompression von der Vierundzwanzigsten Legion, mit der Aufforderung, den Grund für die Verzögerung des Einsatzes mitzuteilen. Es wird von Flottenkapitän Vierzig Oxid von der Siebzehnten und Flottenkapitän Zwei Kanal von der Sechsten gegengezeichnet sein. Wir haben ein Problem.«

»Die Siebzehnte und die Sechste?«, fragte Neun Hibiskus nach. »Sie hassen sich gegenseitig. Diese Rivalität ist zweihundert Jahre alt. Wie hat Sechzehn Mondaufgang die beiden zur Unterzeichnung gebracht?«

Sie hatten in der Tat ein Problem. Ihre kombinierte Flotte war sechs Legionen stark, ihre eigene Zehnte und fünf weitere, jede mit einem eigenen Flottenkapitän, der erst vor Kurzem ihrer Autorität unterstellt worden war. Die traditionellen sechs Legionen eines yaotlek, sowohl taktisch effektiv wie symbolisch gefestigt, wenngleich mit etwas zu wenig Besatzung, um damit einen Krieg gewinnen zu können. Doch genug, um einen Krieg zu beginnen, was, wie es Neun Hibiskus verstand, der Grund für ihr Hiersein war. Zu beginnen und zu gewinnen, mit allen Mitteln, die sie dazu aus dem Herzen von Teixcalaan abrufen musste, falls solche Mittel notwendig wurden.

Aber wenn drei ihrer ursprünglichen sechs schon jetzt bereit waren, eine Eröffnungssalve gegen ihre Autorität als yaotlek abzufeuern? Sie musste es nicht aussprechen. Zwanzig Zikade wusste genauso wie sie, was ein solcher Brief bedeutete. Es war ein Test, um sie auf Schwachstellen abzuklopfen, ein leichtes Sperrfeuer, um den besten Punkt für einen konzentrierten Angriff in Keilformation zu finden. Es war schon schlimm genug, dass sie zugleich die Sechste und die Siebzehnte Legion als Teil ihrer Flotte bekommen hatte, doch sie hatte erwartet, dass sich mögliche Konflikte zwischen den beiden entwickelten, was sich sorgfältig handhaben ließ, indem die besten Missionen gleichberechtigt verteilt wurden. Aber nicht diese überraschende Demonstration politischer Einigkeit durch Missmut.

»Nach den Informationen, die ich von meinen Kollegen an Bord ihrer Schiffe erhalten habe«, sagte Zwanzig Zikade, »appellierte Sechzehn Mondaufgang einerseits an Vierzig Oxids lange Erfahrung im Vergleich zu deiner und andererseits an Zwei Kanals innigen Wunsch, sie wäre an deiner Stelle zur yaotlek ernannt worden, und keiner der beiden wusste, dass der andere zugestimmt hatte, bis kurz vor ihrem Einverständnis, die Nachricht abzuschicken.«

Es gab Gründe, warum Zwanzig Zikade den Spitznamen Schwärmchen erhalten hatte, und das hatte nicht nur mit seinem besonderen Namen zu tun, der lebende Kreaturen enthielt statt eines tatsächlichen Gegenstands oder einer Farbe oder einer Pflanze. Schwärmchen hieß so, weil er überall gleichzeitig war. Auf jedem Schiff der Flotte kannte er irgendjemanden, und diese Personen neigten dazu, ihn über alles zu informieren. Neun Hibiskus klackte nachdenklich die Zähne zusammen. »Politik«, sagte sie. »Nun gut. Wir hatten bereits mit Politik zu tun.«

Neun Hibiskus war schon mehr als einmal von der Politik eingeholt worden. Das geschah mit jedem, der es zum Flottenkapitän brachte, in dieser Position bleiben und Siege für seine Legion erringen wollte. Solche Teixcalaanlitzlim machten sich Feinde. Eifersüchtige Feinde.

Doch bislang hatte Neun Hibiskus jedes Mal, wenn es um Politik gegangen war, als letztes Mittel mit Neun Antrieb im Ministerium drohen können. Die neue Kriegsministerin Drei Azimut war mit niemandem enger befreundet, zumindest war sie nicht Neun Hibiskus’ Freundin.

»Zwei Kanal und Vierzig Oxid sind ohnehin nicht der springende Punkt«, sagte Zwanzig Zikade. »Sechzehn Mondaufgang ist es. Sie ist die Anstifterin. Sie ist diejenige, die du entschärfen musst.«

»Vielleicht hätte sie gern die Spitzenposition, wenn wir vorrücken sollten.«

Worauf Zwanzig Zikade sagte – so trocken wie die aufbereitete Schiffsluft: »Dann ordne es an.«

Unwillkürlich musste sie grinsen, mit gebleckten Zähnen wie eine Barbarin, ein unzivilisierter Gesichtsausdruck. Doch er fühlte sich gut an. Wie tätig zu werden, statt zu warten und zu warten und zu warten. »Schließlich deuten sie an, ich wäre übertrieben zögerlich.«

»Ich kann diesen Befehl vorbereiten lassen. Zum Schichtwechsel wird die Vierundzwanzigste mit Gebrüll in die Leere geworfen, die unsere Planeten frisst, wenn du möchtest.« Eins der Probleme mit Zwanzig Zikade war, dass er ihr genau das bot, was sie wollte, genau so lange, bis sie sich daran erinnerte, dass es eine schlechte Idee war. Es war die Art von Problem, warum Neun Hibiskus nie daran gedacht hatte, ihn durch einen Soldaten zu ersetzen, der von einer stärker assimilierten Welt stammte.

»Nein«, sagte sie. »Wir sollten etwas Besseres machen. Der Ruhm, als Erste für das Imperium zu sterben, ist zu gut für Sechzehn Mondaufgang, meinst du nicht auch? Wir laden sie stattdessen zum Essen ein. Wir behandeln sie wie eine favorisierte Kollegin, eine künftige Co-Kommandantin. Eine neue yaotlek wie ich braucht Verbündete, nicht wahr?«

Zwanzig Zikades Ausdruck war undeutbar geworden, als würde er irgendeinen Wert in einer umfangreichen Kalkulation eines komplexen Systems anpassen. Neun Hibiskus dachte, falls er Einwände hätte, würde er sie sofort vorbringen, und sprach weiter, da sie davon ausging, dass er keine hatte.

»In der vierten Schicht. Das gibt ihr genug Reisezeit, um zur Auswuchtung herüberzukommen. Sie und ihr Adjutant. Wir werden eine Strategiediskussion führen, wir vier.«

»Sobald der Brief offiziell eintrifft, werde ich mit dieser Einladung antworten – und die Bordküche vorwarnen, dass wir Gäste erwarten.« Zwanzig Zikade hielt inne. »Das gefällt mir nicht. Nur fürs Protokoll. Es ist zu früh, dass irgendwer dich auf diese Weise bedrängt. Damit habe ich nicht gerechnet.«

»Mir gefällt es auch nicht«, sagte Neun Hibiskus. »Aber seit wann hat das je eine Rolle gespielt? Wir machen weiter, Schwärmchen. Wir werden gewinnen.«

»Dazu neigen wir.« Wieder ein Aufflackern dieser trockenen Belustigung. »Doch das Rad dreht sich …«

»Deshalb sind wir die Auswuchtung«, sagte Neun Hibiskus, als wäre sie eine schlichte Soldatin in der Messe mit irgendeiner Schiffsparole, und lächelte. Spiel weiter, dachte sie. Sechzehn Mondaufgang, was auch immer du von mir willst, komm und spiel mit mir.

Dann meldete sich Zwei Schaums körperlose Stimme über die Kommunikation: »Yaotlek, ich habe Sichtkontakt mit der Messerspitze. Drei Stunden zu früh. Sie nähert sich schnell. Und sie ist … heiß.«

»Verdammte Sterne!«, spuckte Neun Hibiskus aus, ein instinktiver Fluch, den nur sie und Zwanzig Zikade hören sollten. Dann signalisierte sie ihrem Cloudhook, sie in die Kommunikationsfrequenz einzuklinken. »Bin unterwegs. Feuern Sie auf nichts, bevor wir wissen, dass wir es müssen.«

Die Lsel-Station war eine Art Stadt, wenn man sich Städte als belebte Maschinen vorstellte, als Organismen aus ineinandergreifenden Teilen und Menschen, zu dicht gepackt, um irgendeine andere Form von Leben sein zu können. Dreißigtausend Stationsbewohner auf Lsel, alle in Bewegung, die im Dunkeln in ihrer Gravitationssenke rotierten, sicher im Innern der dünnen Hülle aus Metall, der Stationshaut. Und wie jede andere Stadt war die Lsel-Station, wenn man wusste, wohin man gehen und was man vermeiden sollte, ein geeigneter Ort, um lange genug spazieren zu gehen und zu viele Gedanken loszuwerden.

<Eine faszinierende Theorie>, sagte Yskandr, <die du genau in diesem Moment zu widerlegen im Begriff bist.>

Mahit Dzmare, aufgrund gewisser Formalitäten weiterhin die Botschafterin von Lsel in Teixcalaan, selbst nachdem sie zwei Monate für die Rückkehr von ihrem Posten benötigt hatte und ein weiterer Monat vergangen war, seit sie gewissermaßen in Ungnade wieder auf Lsel weilte, hatte die Kunst perfektioniert, die Empfindung des Augenrollens zu denken. Ich bin noch nicht weit genug gelaufen, sagte sie zu ihrer Imago – zu ihren beiden Imagos, dem alten Yskandr und den fragmentarischen Resten des jüngeren. Gib mir Zeit.

<Du hast noch zwanzig Minuten, bis Ratsherrin Amnardbat dich erwartet>, sagte Yskandr. Heute war er überwiegend der jüngere Yskandr, schelmisch und amüsiert, hungrig nach Erfahrungen, voller Prahlerei und neu erworbener Vertrautheit mit teixcalaanischen Manieren und politischen Angelegenheiten. Die Yskandr-Version, die sie durch die Sabotage der Imago-Maschine größtenteils verloren hatte, was ihn überhaupt erst zu ihr gebracht hatte, in ihre Schädelbasis eingebettet, erfüllt von den lebendigen Erinnerungen und der Erfahrung, die sie brauchte, um eine gute Botschafterin von Lsel zu sein, auf dem glitzernden Stadtplaneten im Herzen von Teixcalaan. Eine Sabotage, die möglicherweise, auch wenn es weiterhin ungewiss war, von derselben Ratsherrin ausgeübt worden war, mit der sie in zwanzig Minuten zum Essen verabredet war.

Es gab ein anderes Leben, dachte Mahit, in dem sie und Yskandr in der Stadt geblieben wären, inzwischen zu einer einzigen kontinuierlichen Persönlichkeit integriert.

Mahit war zu viele Leute, seit sie ihre beschädigte Imago mit jener desselben Mannes zwanzig Jahre weiter in der Zukunft überlagert hatte. Sie hatte eine ganze Weile darüber nachdenken können. Sie hatte sich fast daran gewöhnt, wie es sich anfühlte, wenn sich die Verwerfungslinien zwischen den drei Persönlichkeiten wie tektonische Kontinentalplatten aneinanderrieben. Ihre Stiefel machten vertraute leise Geräusche auf dem Metallboden der Stationskorridore. Sie hatte fast den Rand dieses Decks erreicht; hier konnte sie kaum noch die Krümmung des Bodens erkennen, der sich nach oben wölbte. In endlosen Schleifen durch die Station zu laufen hatte als Taktik der Wiedereingewöhnung begonnen und sich dann zu einer Gewohnheit entwickelt. Yskandr kannte die Geografie der Station nicht mehr. In der Stadt war er entweder seit fünfzehn Jahren oder seit drei toten Monaten nicht mehr auf dem neuesten Stand gewesen, doch hier zu Hause war er nur ein Fremder nach langem Exil. In fünfzehn Jahren hatten sich die internen, nicht tragenden Wände hin und her bewegt, die Decks waren umfunktioniert, kleine Geschäfte eröffnet und geschlossen worden. Jemand vom Kulturerbe hatte die Schrifttypen auf allen Orientierungsschildern geändert, ein Wechsel, an den Mahit sich kaum erinnerte – damals war sie acht gewesen – , doch nun starrte sie darauf, ein völlig unverfängliches Schild mit der Aufschrift KLINIKSEKTOR: NACHLINKS, das plötzlich unwiderstehlich faszinierend geworden war.

Wir sind beide im Exil, hatte sie in jenem Moment gedacht und sich selbst für diesen Gedanken gehasst. Sie war ein paar Monate fort gewesen. Sie hatte kein Recht auf diesen Titel. Sie war zu Hause.

Doch sie wusste, dass sie es nicht war. Einen solchen Ort gab es nicht mehr. Aber die Spaziergänge erweckten den Anschein, und sie erinnerte sich wirklich daran, wo sich einige Dinge befanden, an die Gestalt und den Rhythmus der Station, lebendig und voller Menschen; Yskandr und sie hatten die gleiche Freude daran, neue Orte zu entdecken. In dieser Hinsicht hatten die Eignungstests sie völlig richtig eingeschätzt.

Dieses Deck war eines, das sie gar nicht gut kannte. Es enthielt die Büros des Kulturerbes, hinter der Wohnsektion, die Mahit nun durchquerte, wo die individuellen Kapseln in warmen, knochenfarbenen Reihen hingen, unterbrochen durch Gemeinschaftsbereiche. Es war voller Kinder, älterer Kinder, die den Weg zu ihren Imago-Eignungstests zu drei Vierteln zurückgelegt hatten und entspannt auf Querstreben saßen oder sich in schwatzenden Gruppen um Verkaufsstände drängten. Die meisten ignorierten Mahit völlig, was beruhigend war. Einen Monat wieder in der Station, und die Hälfte der Zeit lief sie alten Freunden über den Weg, ihren Krippengeschwistern oder Klassenkameraden, und alle wollten, dass sie ihnen alles über Teixcalaan erzählte. Aber was konnte sie schon sagen? Etwa Ich liebe es oder Es hätte mich und euch alle beinahe verschlungen oder Ich kann dir überhaupt nichts erzählen?

<Propaganda ist faszinierend, wenn man sie im eigenen Kopf hat>, murmelte Yskandr. <Es überrascht mich immer wieder, wie gut die Stadt darin ist, zwanghaftes Schweigen hervorzurufen.>

Du bist dort gestorben, statt zurückzukommen und uns in deine Pläne mit unserer Station einzuweihen, und nun willst du mir Vorträge über Schweigen halten?, erwiderte Mahit und spürte, wie ihre kleinen Finger Funken sprühten. Neurologische Nachbilder der Sabotage. Diese Nebenwirkung hatte nicht aufgehört. Es war offensichtlicher, wenn sie über eine der Stellen stolperte, die Yskandr und sie noch gar nicht hatten integrieren können. Doch ihr Gefühl seiner Anwesenheit zog sich zu einem eingedämmten und aufmerksamen Brodeln zurück. Sie war neben einem der Verkaufsstände gelandet, während sie zu sehr damit beschäftigt war, mit ihrer Imago zu reden, sodass sie nicht bemerkt hatte, wohin sie ging. Vielleicht sollte sie besser auf diese Patzer achten. Diese Patzer, bei denen sie nicht ganz sie war, nicht ganz in ihrem Körper. Nun stand sie in einer Schlange für das an, was dort verkauft wurde.

Dabei schien es sich um handgebundene Literatur zu handeln. Der Kiosk trug die Aufschrift ABENTEUER/DÜSTERVERLAG. Die Auslage war voller grafischer Geschichten, nicht auf stets wandelbarem Infofiche, sondern auf Papier, das aus planiertem Lumpenzellstoff gemacht war. Mahit berührte das Cover der nächstliegenden Ausgabe. Es fühlte sich grob unter ihren Fingerspitzen an.

»He!«, sagte die Kioskbetreiberin. »Gefällt der Ihnen? Die gefährliche Grenze!«

»Was?«, fragte Mahit, die sich plötzlich genauso verloren fühlte wie zu jener Zeit, als jemand ihr zum ersten Mal eine Frage auf Teixcalaanli gestellt hatte. Fehlender Kontext: Welche Grenze? Sind nicht alle gefährlich?

»Wir haben sämtliche fünf Bände, falls Sie auf Erstkontaktsachen stehen. Ich liebe sie. Der Künstler in Band drei zeichnet Kapitän Camerons Imago wie die von Chadra Mav, nur auf spiegelnden Oberflächen sichtbar, und der Zeichenstil …«

Die Kioskbetreiberin konnte nicht älter als siebzehn sein, dachte Mahit. Kurzes, dicht gelocktes Haar über einem Grinsen aus hellen Zähnen, achtfache Ohrringe am Rand eines Ohrs. Das war die neue Mode. Als Mahit in diesem Alter gewesen war, hatten alle auf lange Ohrringe gestanden. Ich bin alt, dachte sie mit einem eigenartigen Vergnügen.

<Uralt>, stimmte Yskandr zu, staubtrocken und amüsiert. Er war etliche Jahre älter.

Ich bin alt, und ich habe keine Ahnung, was die Jugendlichen auf Lsel gern lesen. Selbst als ich ein Kind auf Lsel war, wusste ich es eigentlich nicht. Es war ihr nicht wichtig erschienen. Wozu die Mühe, wenn es so viel teixcalaanische Literatur gab, in die man sich vertiefen konnte? Um zu lernen, in Poesie zu sprechen.

»Ich habe sie noch nicht gelesen«, erklärte Mahit der Kioskbetreiberin. »Könnte ich den ersten haben?«

»Klar«, antwortete sie, duckte sich unter den Tresen und holte einen hervor. Mahit überreichte ihr ihren Kreditchip, den die Kioskbetreiberin einlas. »Sie werden genau hier auf diesem Deck gezeichnet«, sagte sie. »Wenn es Ihnen gefällt, kommen Sie in zwei Tagen zur zweiten Schicht zurück, dann können Sie den Künstler kennenlernen. Da machen wir eine Signierstunde.«

»Danke. Falls ich die Zeit finde …«

<Du hast noch zehn Minuten bis zum Dinner mit Ratsherrin Amnardbat.>

»Ja.« Die Kioskbetreiberin grinste, als wollte sie sagen: Erwachsene, ernsthaft, was soll man machen? »Wenn Sie Zeit haben.«

Mahit winkte, ging weiter. Lief ein wenig schneller. Die gefährliche Grenze! passte in ihre Jackentasche, als wäre es ein politisches Pamphlet. Genau die gleiche Größe. Das war für sich genommen interessant. Selbst wenn es sich als furchtbar stumpfsinnige Geschichte erwies, war allein das interessant.

Die Büros des Kulturerbes waren ein ordentlich ausgeschildertes Labyrinth, etwa sieben Türen zu beiden Seiten des Deckkorridors, der sich nach dem weitläufigen Wohnbereich zu etwas verengt hatte, das eher einer Straße ähnelte. Hinter diesen Türen dürfte all der zusätzliche Raum voll mit den Büros der Leute sein, denen Jobs im Kulturerbe zugewiesen worden waren, hauptsächlich Analysten. Analysten für historische Präzedenzfälle, für Gesundheit, Kunstproduktion und Bildung, für die Anzahl von passenden Imagos in einem bestimmten Bevölkerungsbereich. Analysten und Propaganda-Autoren.

Wie sehr Teixcalaan sie verändert hatte und wie schnell. Als Mahit das letzte Mal in die Büros des Kulturerbes gekommen war, zu ihrem letzten Bestätigungsinterview, bevor sie sowohl ihre Imago als auch ihre Ernennung zur Botschafterin erhielt, hatte sie nie darüber nachgedacht, dass das Kulturerbe in der Propagandabranche tätig war. Doch was sonst tat man hier, wenn man Schulungsmaterial für eine bestimmte Altersgruppe anpasste, damit die Eignungstests in fünf Jahren mehr Piloten oder mehr medizinisches Personal ausspuckten? Wenn man Kinder manipulierte, damit sie nicht mehr so waren, wie sie sein wollten.

Sie zögerte, verharrte vor der mittleren Tür mit dem ordentlich beschrifteten Namensschild, auf dem AKNELAMNARDBAT, RATSHERRINFÜRDASKULTURERBE stand. Im neuen Schrifttyp, dachte sie, und wann werde ich aufhören, den verdammten neuen Schrifttyp zu bemerken, Yskandr, es ist gar kein neuer Schrifttyp, er ist nur neu für dich. Sie zögerte, weil sie Ratsherrin Amnardbat seit diesem letzten Bestätigungsinterview nicht mehr gesehen hatte und sie immer noch nicht verstand, warum die Frau, der sie damals begegnet war, Mahits Imago-Maschine hatte sabotieren wollen. Um sie zu ruinieren, bevor sie auch nur versuchen konnte, sich korrekt in der Imago-Reihe zu verhalten, der sie angehörte. Falls Amnardbat überhaupt dafür verantwortlich war. Mahit hatte diesbezüglich nur das Wort eines anderen Ratsherren, Dekakel Onchu, Ratsherr für die Piloten, weil sie Briefe empfangen hatte, die Onchu an Yskandr geschrieben hatte, während sie Teil des teixcalaanischen Hofes gewesen war.

Sie vermisste jemanden, mit einem hässlichen und abrupten stechenden Gefühl. Drei Seegras, ihre frühere Kulturreferentin, die Frau, die der armen Barbarin in ihrer Obhut inkongruente Erfahrungen verständlicher machen sollte. Drei Seegras hätte die Tür einfach geöffnet.

Mahit hob die Hand und klopfte an. Rief ihren Namen – »Mahit Dzmare!« – im Lsel-Stil der Einhaltung von Verabredungen. Hier gab es keine Cloudhooks, um Türen mit Mikrobewegungen eines Auges zu öffnen. Nur sie, die sich selbst ankündigte.

<Du bist nicht allein>, sagte Yskandr, ein Murmeln in ihrem Kopf, Geistergedanken, fast ihre eigenen Gedanken.

Nein, das bin ich nicht. Und Amnardbat weiß nicht, dass du zu zweit bist, wir zu dritt sind, was ein eigenes Problem darstellt.

Die Tür öffnete sich, also hörte Mahit auf, über gefährliche Lügen nachzudenken, die sie erzählt hatte. Nicht daran zu denken machte es leichter, sie zu verbergen. Auch das hatte sie irgendwo im Imperium gelernt.

Ratsherrin Amnardbat war immer noch schlank und mittleren Alters, das Haar in einer Raumfahrerfrisur aus silbrigen Ringellocken angeordnet, schmale, lang gezogene graue Augen in einem Gesicht mit breiten Wangenknochen, die stets aussahen, als wäre sie zu großer Sonnenstrahlung ausgesetzt gewesen. Sie wirkten spröde, aber auf eine robuste Art. Sie lächelte, als Mahit eintrat, und dieses Lächeln war freundlich und warm. Falls sie vor Mahits Ankunft mit ihren Leuten gearbeitet hatte, waren sie nicht unmittelbar zu sehen. Das Kulturerbe war ohnehin eine kleine Institution. Ratsherrin Amnardbat hatte einen Sekretär, der ihre Korrespondenz verfasste, der auch Mahit diese Einladung über die interne elektronische Post der Station geschickt hatte, doch nun sah Mahit überhaupt niemanden im Büro. Nur Stühle und einen Schreibtisch, der mit Infopapier überhäuft war, und einen Bildschirm an der Wand, der irgendeine Kameraaufzeichnung dessen zeigte, was sich in diesem Moment außerhalb von Lsel befand. Eine langsame Rotation von Sternen.

»Willkommen zu Hause«, sagte Ratsherrin Amnardbat.

<Sie hat einen Monat gewartet, um dir das zu sagen?>

Es ist ein Spiel, dachte Mahit. Sie spürte, wie Yskandr zu einem aufmerksamen Summen abklang, wacher, als er seit Langem gewesen war. Sie fühlte sich genauso. Wacher, präsenter. Während einer gefährlichen Unterredung mit einer mächtigen Person in deren eigenem Büro. Genauso wie sie es auf Teixcalaan hätte tun sollen.

»Ich bin froh, wieder hier zu sein«, sagte Mahit. »Was kann ich für Sie tun, Ratsherrin?«

»Ich habe versprochen, mit Ihnen zu essen«, sagte Amnardbat, immer noch lächelnd, und Mahit spürte ein Echo von Yskandrs Zusammenzucken, seine erinnerte Furcht, wie der Wissenschaftsminister in Teixcalaan ihm ein Essen als Vorwand für eine Vergiftung anbot. Sie drängte es zurück. Nicht ihre eigene endokrine Traumareaktion. Sie wünschte, sie hätte den Integrationstherapeuten von Lsel das Geheimnis anvertraut, was sie getan hatte, als sie zwei Yskandr-Imagos überlagert hatte. Mahit hatte keine mit Erinnerungen verbundenen Traumareaktionen, wahrscheinlich nicht, aber Mahit und Yskandr waren verwischt, verschwammen immer mehr miteinander, und sie wusste nicht, was sie mit seinen machen sollte.

»Nicht dass ich das nicht zu schätzen wüsste«, sagte Mahit, »aber ich bin sicher, dass Sie genug zu tun haben, um nicht lediglich eine Mahlzeit mit einer zurückgekehrten Botschafterin teilen zu wollen.«

Ratsherrin Amnardbats Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Sie strahlte angenehme und lebhafte gute Laune aus, durchsetzt von einer fast elterlichen Besorgnis. »Kommen Sie und setzen Sie sich, Botschafterin Dzmare. Wir werden reden. Ich habe gewürzte Fischkuchen und Fladenbrot – ich dachte mir, dass Sie die Kost von Lsel vermissen.«

So war es, aber Mahit hatte das in der ersten Woche nach ihrer Rückkehr nachgeholt, war zu einem ihrer alten Lieblingslokale gegangen und hatte hydroponisch gezüchteten flockigen weißen Fischeintopf gegessen, bis es ihr Schmerzen bereitet hatte, worauf ihr übel geworden war und sie von dort geflüchtet war, bevor jemand von ihren Freunden zufällig auftauchen und sie mit Fragen willkommen heißen konnte. Etwas an Ratsherrin Amnardbats emotionaler Zeitlinie war verzerrt. Vielleicht absichtlich verzerrt. Doch welchem Zweck sollte das dienen? Suchte sie nach irgendeiner teixcalaanisch beeinflussten Geschmacksverirrung? Und was wäre, wenn Mahit zu jenen Stationsbewohnern gehörte, die Fischkuchen nicht ausstehen konnten, obwohl er von vielen bevorzugt wurde?

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, es bringen zu lassen«, sagte sie und setzte sich dem Schreibtisch der Ratsherrin gegenüber an den Konferenztisch, während sie ein weiteres Mal den Schauer aus Adrenalinsignalen ihrer Imago unterdrückte. Hier würde keine Gefahr vom Essen ausgehen. Es roch sogar so gut, dass Mahit das Wasser im Mund zusammenlief. Der flockige Fisch, gewürzt mit Chilischoten, das Kohlearoma des leicht angebrannten Fladenbrots, gebacken aus echtem Weizen und daher kostbar. Amnardbat nahm ihr gegenüber Platz, und gute zwei Minuten lang waren sie einfach nur zwei Stationsbewohner, die Fisch in Fladenbrot einrollten, den ersten verschlangen und den Vorgang wiederholten, um den zweiten langsamer zu essen.

Die Ratsherrin schluckte den letzten Bissen des ersten aufgerollten Fladenbrots herunter. »Schaffen wir am Anfang die unangenehme Frage aus dem Weg, Mahit«, sagte sie. Mahit bemühte sich, die Augenbrauen nicht allzu weit hochzuziehen, was ihr einigermaßen gelang. »Warum sind Sie so früh zurückgekehrt? Ich stelle diese Frage in meiner Eigenschaft als Ratsherrin für das Kulturerbe. Ich möchte wissen, ob wir Ihnen etwas nicht mitgegeben haben, das Sie gebraucht hätten, da draußen im Imperium. Ich weiß, dass der Prozess der Integration verkürzt war …«

<Außerdem hast du mich sabotiert>, sagte Yskandr, und Mahit war froh, dass er unhörbar war, solange sie nicht zuließ, dass er vernehmlich wurde. Oder es unabsichtlich geschah.

Möglicherweise hat sie uns sabotiert, rief sie ihm ins Gedächtnis. Falls wir Onchu glauben wollen. Mit dem wir auch nicht gesprochen haben …

Davor hatte sie zu große Angst gehabt. Angst, dass Onchu recht hatte oder dass Onchu unrecht hatte. Und sie war zu sehr von der plötzlichen und unabänderlichen Fremdheit dessen, was ihr Zuhause gewesen war, erschöpft gewesen, um dieses Angstgefühl zu überwinden.

»Nein«, sprach sie laut aus. »Es gab nichts, das ich gebraucht hätte, nichts, das Lsel nicht versucht hätte, mir zu bieten. Natürlich hätte ich gern mehr Zeit mit Yskandr gehabt, bevor wir abreisten, aber was mit mir geschah, war sicherlich nicht die kürzeste Integrationsperiode in unserer Geschichte.«

»Warum dann?«, frage Amnardbat und nahm einen weiteren Bissen vom Fisch. Frage gestellt, Zeit zum Essen, Zeit zum Zuhören.

Mahit seufzte. Zuckte mit den Schultern, reumütig und darum bemüht, sich selbst zu missbilligen, irgendein Echo ihrer Ahnung, wie unbehaglich teixcalaanische Dinge einem Stationsbewohner sein sollten, wenn es nach dem Kulturerbe ging. »Ich wurde in einen Aufstand und eine Thronfolgekrise verwickelt, Ratsherrin. Es war gewalttätig und schwierig, sowohl persönlich als auch professionell, und nachdem ich von der neuen Imperatorin das Versprechen erhalten hatte, das Imperium würde unsere Unabhängigkeit weiterhin respektieren, wollte ich mich ausruhen. Nur für eine Weile.«

»Also kehrten Sie zurück.«

»Also kehrte ich zurück.« Zu einer Zeit, als ich es noch wollte.

»Sie sind seit einem Monat wieder hier. Und dennoch haben Sie sich für Ihren Nachfolger noch nicht in eine neue Imago-Maschine hochladen lassen, Botschafterin. Obwohl Sie sehr wohl wissen, dass unsere letzte Aufzeichnung überaus veraltet ist, und von Ihnen haben wir überhaupt keine.«

Mist. Das will sie also. Um zu erfahren, ob die Sabotage funktioniert hat …

<Also glaubst du doch, dass sie uns sabotiert hat.>

Im Moment schon.

»Es kam mir nicht in den Sinn«, sagte Mahit. »Es ist noch nicht einmal ein Jahr her. Verzeihen Sie, aber dies ist mein erstes Jahr, dass ich überhaupt eine Imago habe. Ich dachte, es gäbe einen Zeitplan. Mit Terminerinnerungen.«

In bürokratischer Unwissenheit Zuflucht suchen. Was ihr außerdem als Schutzschild dienen würde, wie kurzzeitig und fadenscheinig er auch immer sein mochte, damit Amnardbat nicht herausfand, dass sie zwei Imagos hatte. Das Hochladen würde kurzen Prozess mit diesem kleinen Betrug machen. Und Mahit hatte keine Ahnung, welche Regeln auf Lsel galten, wenn jemand so etwas tat. Oder ob es überhaupt irgendwelche Regeln gab. Sie vermutete, dass es keine gab. Es war so offenkundig eine schlechte Idee. Es hatte ihr auf jeden Fall etliche Skrupel und Bedenken bereitet, bevor sie es getan hatte.

<Bereust du …?>

Nein. Ich habe dich gebraucht. Uns. Ich brauche uns immer noch.

»Oh, natürlich gibt es einen Zeitplan«, sagte Amnardbat. »Aber wir im Kulturerbe … nun, insbesondere ich, aber ich spreche hier für alle, wir folgen der Richtlinie, Menschen, die bedeutende Ereignisse oder Leistungen erleben, zu ermutigen, ihre Imago-Aufzeichnungen häufiger zu aktualisieren, als der automatisierte Kalender dies empfiehlt.«

Höflich nahm Mahit einen weiteren Bissen von ihrer Fladenbrotrolle. Kaute und schluckte gegen die psychosomatische Verengung ihrer Kehle an. »Ratsherrin«, sagte sie, »natürlich kann ich einen Termin mit den Maschinisten machen, nachdem mir nun Ihre Richtlinien bekannt sind. Ist das wirklich alles? Es ist sehr freundlich von Ihnen, so viel Fisch für uns zubereiten zu lassen, obendrein echtes Fladenbrot, nur um einen administrativen Gefallen zu erbitten, den Sie mir schriftlich hätten mitteilen können.«

Sollte sie sich mit der Andeutung beschäftigen, sie würde verschwenderisch mit Lebensmittelressourcen umgehen. Vor Generationen wurden Ratsherren des Kulturerbes schon wegen geringerer Korruption abgesetzt. Diese Imago-Linie wurde nicht mehr an neue Ratsherren weitergegeben. Irgendwo eingemottet und konserviert in den Speichern mit aufgezeichneten Erinnerungen, die als ungeeignet erachtet wurden. Alle, die ihre eigenen Interessen über die seit Langem bekannten Interessen der Station stellten, sollten nicht den Ratsherren beeinflussen, der sich dem Erhalt der Kontinuität dieser Station widmete.

<Du bist irritierend gescheit.>

Ein paar sehr nette Teixcalaanlitzlim und meine Imago haben sich verschworen, mir beizubringen, Anspielungen als Waffe zu nutzen.

Doch Amnardbat sagte gerade: »Das ist kein Gefallen«, und während sie es sagte, erkannte Mahit, dass sie die Ratsherrin unterschätzt hatte, dass sie die Gründe für ihr Verhalten unterschätzte, weil sie erwartete, dass sie sich wie ein Teixcalaanlitzlim durch Andeutungen und Narrative manipulieren ließ. »Das ist eine Anweisung, Botschafterin. Wir brauchen eine Kopie Ihrer Erinnerungen. Um sicherzustellen, dass sich das, was auch immer Yskandr Aghavn dazu gebracht hat, so lange auf ein Hochladen zu verzichten, nicht auf Sie übertragen hat.«

Wirklich faszinierend, wie kalt sie sich fühlte. So kalt, mit einem eisigen elektrischen Prickeln in den Fingern, ohne Empfindung, während sie den Rest ihres Fladenbrots hielt. So kalt und doch sirrend konzentriert. Furchtsam. Lebendig. »Übertragen?«, fragte sie nach.

<Sind wir nicht vergiftet?>, flüsterte Yskandr, ohne dass Mahit ihn beachtete.

»Es ist furchtbar, einen Bürger an Teixcalaan zu verlieren«, sagte Amnardbat. »Sich Sorgen zu machen, dass es im Imperium etwas gibt, das unsere Besten raubt. Die Maschinisten und ich werden Sie in dieser Woche erwarten, Mahit.«

Als sie wieder lächelte, glaubte Mahit zu verstehen, weshalb die Teixcalaanlitzlim so nervös auf gebleckte Zähne reagierten.

Die Messerspitze war in Sichtweite, als Neun Hibiskus wieder auf der Brücke eintraf, kurz außer Atem vom Tempo während dieses kurzen Transits. Sie nahm tiefe Atemzüge, als wäre sie eine Rednerin, beruhigte ihre Lunge, bemühte sich darum, irgendwelche Adrenalinreaktionen einzuschränken. Jetzt war es ihre Brücke, ihre Brücke und ihr Kommando. All ihre Offiziere drehten sich zu ihr herum, als wären sie Blumen und sie selbst ein willkommener Sonnenaufgang. Für einen Moment fühlte sich alles korrekt an. Und dann bemerkte sie, wie schnell sich die Messerspitze dem Rest der Flotte näherte, wie sie an Größe zunahm, noch während sie das Schiff durch die Fenster beobachtete. Man schien die Triebwerke auf das absolute Maximum hochgefahren zu haben. Die Messerspitze war ein Aufklärer und konnte solche Geschwindigkeiten erreichen, sie aber nicht allzu lange aufrechterhalten, und wenn ihr Pilot beschlossen hatte, so schnell wie möglich zu fliegen, wurde sie auf jeden Fall gejagt.

»Wissen wir, was sie verfolgt?«, fragte sie, und Zwei Schaum von der Kommunikation schüttelte in rascher Verneinung den Kopf.

»Alles ist leer«, sagte sie. »Nur die Messerspitze und völliges Nichts dahinter. Aber sie werden in zwei Minuten in Rufweite sein …«

»Legen Sie sie auf den Holografen, sobald es möglich ist. Und starten Sie die Scherben. Wenn etwas hinter ihnen her ist, werden wir es nicht allzu weit heranlassen.«

»Sie starten, yaotlek«, sagte Zwei Schaum, deren Augen in schneller Bewegung hinter ihrem Cloudhook flatterten. Um sie herum ertönte das hohe, klare Heulen des Alarms durch die Auswuchtung des Rades. Die erste Verteidigungslinie einer Flotte war ein Schwarm aus kleinen Schiffen mit einem Piloten, nichts außer Waffen- und Navigationssystemen, von kurzer Reichweite und absolut tödlich. Neun Hibiskus war selbst Scherbenpilotin gewesen, bei jenem Einsatz vor langer Zeit, und sie empfand bis heute den Startalarm wie eine köstliche Vibration in ihren Knochen: Los, los, los. Los jetzt, und wenn ihr sterbt, sterbt ihr sternenhell.

Während der Alarm durch sie sang, sagte Neun Hibiskus: »Und wir sollten die oberen zwei Energiekanonenstaffeln hochfahren, nicht wahr?« Sie ließ sich wieder auf ihrem Kapitänssessel nieder.

Fünf Distel, der diensthabende Waffenoffizier, antwortete ihr mit einem breiten, strahlenden Grinsen. »Verstanden«, sagte er.

Sie alle wollten es so sehr. Auch sie. Das Feuer und das Blut, sie wollten aktiv werden. Eine richtige Schlacht, wenn blaue und weiße Energiewaffen durch das Schwarz schnitten, zerstörten und versengten.

Sobald sich die ersten Scherben glitzernd im Sichtbereich des Fensters verstreuten, erschien das Ding, vor dem die Messerspitze flüchtete.

Es kam nicht in Sicht. Es erschien, als wäre es schon die ganze Zeit da gewesen, unter einer Art Tarnkappe verborgen. Das schwarze Nichts des Weltraums, in diesem Sektor, wo es nur wenige Sterne gab, kräuselte sich, wand sich wie eine Nacktschnecke, die von einem Finger berührt wurde, ein gewaltiges und organisches Zusammenzucken, und dann war es da, das erste Schiff ihrer Feinde, das teixcalaanische Augen je gesehen hatten. Zumindest die teixcalaanischen Augen, die überlebt hatten, um es beschreiben zu können. Drei graue Reifen, die rasch um eine Zentralkugel rotierten. Es fiel schwer, es zu betrachten, und Neun Hibiskus wusste nicht, warum. Etwas von dieser zuckenden, sich windenden visuellen Verzerrung haftete daran, ließ das graue Metall des Rumpfes ölglatt und verschwommen erscheinen.

Es war nicht da gewesen, und nun war es da. Der Messerspitze auf den Fersen, genauso schnell, und es kam näher …

»Hier ist die yaotlek Neun Hibiskus«, sagte sie über Breitbandfunk. »Schneiden Sie den Vektor dieses Dings und umzingeln Sie es. Feuern Sie nicht, bevor auf Sie gefeuert wird.«

Als wären sie Erweiterungen ihres Willens, ihres ausgestoßenen Atems, rasten die Scherben auf Annäherungskurs hinaus und dem fremden Objekt entgegen, das es wagte, so überaus nahe zu kommen. Sie brauchten einen Moment, um sich rings um das Alienschiff zu positionieren. Es war keine Form, die sie kannten, und es bewegte sich auf unerwartete Weise, ein schlüpfriges Rollen wie ein geschmiertes Kugellager. Doch die Scherben waren schlau, sie waren vernetzt, und sie lernten schnell. Jedes Schiff ermöglichte ein positionelles und visuelles Biofeedback, nicht nur für den eigenen Piloten über seinen Cloudhook, sondern für alle Piloten des Schwarms. Die Messerspitze schoss aus ihrem glitzernden Gefunkel heraus wie ein Shuttle, der die Atmosphäre durchstieß, und wurde sicher vom weitreichenden Netz des Hangars der Auswuchtung des Rades aufgefangen.

Zwei Schaum hatte den Kapitän der Messerspitze auf das Holo gelegt. Er wirkte gehetzt, seine Augen blickten wild, und er atmete hektisch, seine Fingerknöchel traten sichtlich weiß hervor, während er die Kontrollen seines Schiffs umklammerte.

»Gut gemacht«, sagte Neun Hibiskus zu ihm, »ohne dass Sie einen Kratzer abbekommen haben. Geben Sie uns eine Minute, uns mit dem Ding auseinanderzusetzen, das Sie uns mitgebracht haben, dann lasse ich Sie sofort für Ihren Bericht heraufholen …«

»Yaotlek«, unterbrach er sie, »sie sind unsichtbar, solange sie es sein wollen. Dieses Schiff ist vielleicht nicht das einzige, und sie haben Feuerkraft …«

»Wegtreten, Messerspitze«, sagte Neun Hibiskus. »Das ist jetzt unser Problem, und auch wir haben Feuerkraft.« So war es. Die Energiekanonen und die kleinere, bösartigere und hässlichere Macht der nuklearen Kernbomben. Falls nötig.

»Ich habe eine Kommunikation abgefangen«, sagte er, als hätte er sie gar nicht gehört.

»Ausgezeichnet. Fügen Sie sie Ihrem Bericht hinzu.«

»Es ist nicht Sprache, yaotlek.«

»Zwei Schaum, kümmern Sie sich darum? Wir haben jetzt doch ein wenig zu tun.« Das Alienschiff verfügte in der Tat über Feuerkraft, etwas, das wie eine recht standardmäßige, aber sehr präzise Staffel von Energiekanonen aussah, angeordnet am äußersten dieser drei rotierenden Reifen. Lautlose Lichtausbrüche blendeten sie durch das Sichtfenster, und als sie die Nachbilder weggeblinzelt hatte, waren es drei Scherben weniger. Sie zuckte zusammen.

»Gut, die Zurückhaltung ist aufgehoben. Fünf Distel, sagen Sie den Scherben, dass Sie den Weg für die Artillerie frei machen sollen.«

Im besten Fall mussten die Offiziere von Neun Hibiskus nicht bestätigen, dass sie sie verstanden hatten. Stattdessen handelten sie. Fünf Distels Hände gestikulierten innerhalb des holografischen Arbeitsbereichs der Waffenstation, bewegten Schiffe und Vektordarstellungen im eingebetteten Sternenfeld, eine Miniaturversion ihres kartografischen Tisches, und die Scherben reagierten darauf, bildeten ein neues Muster, machten Platz, damit die Hauptkanonenstaffeln der Auswuchtung des Rades zielen und feuern konnten.

Stahlblau. Das Licht, das, wie Neun Hibiskus sich immer vorgestellt hatte, jemand sah, der versehentlich in einen industriellen Strahler trat, im kurzen Moment, der ihm blieb, um überhaupt etwas zu sehen. Todeslicht, mit seinem Summen wie ein Startalarm, so vertraut wie atmen oder aufhören zu atmen.

Für einen Sekundenbruchteil fragte sie sich, ob sie nicht zuerst hätte versuchen sollen, das Ding einzufangen, es mit gezielten elektromagnetischen Pulsen auszuschalten, während es noch weit genug entfernt war, dass die EMPs nicht ihre eigenen Schiffe rösteten, und es an Bord zu ziehen. Doch die Messerspitze hatte gesagt, dass man eine abgefangene Kommunikation hatte, und dieses Ding hatte bereits drei ihrer Soldaten getötet. Vier, als eine weitere Scherbe in einer lautlos zerstäubenden Flamme erlosch, eine Kerze, die in schneller Abfolge an- und ausging.

Volle Kanonenkraft erhellte das Alienschiff wie ein Leuchtfeuer, erschütterte es, schälte einen Teil jener glatten und sich windenden Visualität ab. Die Teile des äußeren Rings, die abgesprengt wurden, sahen wie Metall aus, wie Weltraumtrümmer, völlig normal. Doch volle Kanonenkraft konnte es nicht zerstören. Das Schiff rotierte schneller, es schwirrte. Neun Hibiskus bildete sich ein, sie könnte die Drehung hören, obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, und kurz bevor die zweite Kanonensalve die innere Kugel traf, sie zu Nichts und totaler Zerstörung zerschmetterte, emittierte es vom zweiten der beschädigten Ringe eine dunkle zähe Substanz, die in seltsamen Strängen durch die Nullgravitation fiel.

Spucke, dachte Neun Hibiskus angewidert.

Fünf Distel rief bereits den Rückzugsbefehl auf allen Kanälen, und die großen, vom Reaktor gespeisten Triebwerke der Auswuchtung des Rades erwachten zum Leben, zogen sie fort von dort, wo die Stränge sich wie ein flüssiges Netz verhedderten, dort, wo das Alienschiff gewesen war. Welche Art von Flüssigkeit bewegte sich auf diese Weise? Als würde sie … suchen, beweglich, viel zu kohäsiv. Die Oberflächenspannung war nicht so, dass sie sich zu einer Kugel zusammenzog, aber stark genug, um sich in dünner werdenden, ausgreifenden Fäden zu verbreiten.

Eine der Scherben, ein glitzernder Keil, der mühelos den Kurs wechselte, mit feuernden Korrekturdüsen, traf auf einen dieser Spuckefäden. Neun Hibiskus sah, was geschah. Sie sah, wie all der Glanz des kleinen Jägers verschwand, als er vom Speichel des Alienschiffs überzogen wurde, ein fraktales Netz, das an ihm festklebte, auch als sich die Scherbe vom Strang löste. Sie sah fassungslos, wie das Netz allmählich durch den Rumpf der Scherbe brodelte, wie es korrosiv das Metall und den Plastikstahl zerfraß, als wäre es eine Art hyperoxidierender Pilz.

Die Pilotin der Scherbe schrie.

Sie schrie auf dem offenen Kanal, den Fünf Distel benutzt hatte, sie schrie und rief dann: »Töten Sie mich, töten Sie mich sofort! Es wird das Schiff zerfressen, es ist hier drinnen bei mir, lassen Sie nicht zu, dass es irgendjemand anders berührt.« Ein kontrollierter und verzweifelter Ausbruch von Tapferkeit.

Neun Hibiskus zögerte. Sie hatte viele Dinge getan, die sie bereute, als Pilotin und Kapitänin und als Flottenkapitänin der Zehnten Teixcalaanischen Legion – unzählige Dinge, sie war eine Soldatin, es lag in der Natur dessen, was sie war, kleine Gräueltaten zu begehen, wie es die Natur der Sterne war, Strahlung abzugeben, die genauso verbrannte und vergiftete, wie sie Wärme und Leben spendete. Doch sie hatte nie den Befehl gegeben, dass ihr Schiff auf ihre eigenen Leute feuern sollte. Noch nie.

Auf dem gleichen Kanal ertönte ein qualvoller Chor. Alle Scherbenpiloten, die durch Biofeedback vernetzt waren, alle spürten den Tod ihres Schwesternschiffs, das lebend verschlungen wurde. Es war zu hören, wie sie schluchzten, wie sie nach Luft schnappten, wie sie hyperventilierten. Ein tiefer Klageschrei, der widerhallte, von anderen Stimmen aufgenommen wurde …

»Tun Sie es«, sagte Neun Hibiskus. »Erschießen Sie sie. Wie sie es verlangt hat.«

Todeslichtfeuer, präzise und barmherzig. Ein Blitz in Blau, und eine Teixcalaanlitzlim wurde in Asche verwandelt.

Stille auf allen Kanälen. Neun Hibiskus hörte nichts außer dem scheußlichen Pochen ihres eigenen Herzschlags.

»Nun«, sagte Zwanzig Zikade schließlich. Sie klang genauso erschüttert wie alle anderen, aber lebhaft erschüttert. »Das dürften schätzungsweise acht neue Dinge sein, die wir vor zehn Minuten noch nicht über diese Leute wussten.«

2

[…] und natürlich eilt Ihr Ruf Ihnen voraus, wie ein Erdbeben einer Welle vorausgeht, die Städte verschlingt. Die Erschütterungen Ihrer Ankunft versetzen das Ministerium bereits jetzt in Vibration, als würden wir alle aus Tlini-Fasern bestehen und als wären Sie der Bogen. Natürlich bedauern wir die Abwesenheit der vorherigen Ministerin Neun Antrieb. Ihre Führung war ein warmer Seidenhandschuh, der nun abgezogen wurde, nachdem sie sich zur Ruhe setzte (und das so abrupt!). Doch vor allem freue ich mich auf die Besprechungen mit der ersten erfolgreichen Gouverneurin des Nakhar-Systems. Wir haben viel zu tun. Ich verbleibe in Erwartung […]

– Brief des Dritten Untersekretärs Elf Lorbeer vom Kriegsministerium an die neue Kriegsministerin Drei Azimut, datiert auf den 21. Tag des 1. Jahres der 1. Epoche des Imperators Neunzehn Breitaxt von ganz Teixcalaan

Briefe an Tote sind eine schlechte Gepflogenheit. Ich würde mir selbst einen Dienst erweisen, wenn ich lediglich Tagebuch führe wie die Hälfte der Imperatoren, die vor mir in diesem Bett geschlafen haben. Doch seit wann bin ich dafür bekannt, mir selbst einen Dienst zu erweisen? Immerhin bist du wirklich tot. Oder ist es nur leichter für mich, jetzt so von dir zu denken? Ich halte all die Sterne in meinen Händen, Yskandr, und es ist schrecklich einfach, sie durch einen fingerbreiten Spalt rinnen zu lassen. Insbesondere wenn einige von ihnen dunkel werden, verschlungen von der Bedrohung durch Aliens, die für deinen Vorgänger allzu vorteilhaft war. Damals hast du hier häufiger geschlafen als ich, häufiger, als ich es jetzt tue, wenn wir jeden Schlaf und nicht jede Nacht zählen. Wie oft hast du dir die Annehmlichkeit gewünscht, dass sich Geschichten deinen Launen unterordnen? Häufiger oder seltener als unsere Imperatorin, die wach neben dir lag?

– private Notizen Ihrer Brillanz der Imperatorin Neunzehn Breitaxt, undatiert, unter Verschluss und chiffriert

Der Kapitän der Messerspitze